Nachtrag zu einer nicht mehr stattgefundenen Diskussion über Dieter Wolfs Papier: Wie der Waren-, Geld- und Kapitalfetisch den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein bestimmt »

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Auf dem Abschieds-Kolloquium der Marx-Gesellschaft im März dieses Jahres sollte diese verkürzte Version eines längeren Textes D.W.s diskutiert werden, den zu lesen, weil zu spät verschickt, die Zeit nicht mehr gereicht hatte. Aber auch diese verkürzte Fassung wurde dort nicht referiert, sondern D.W. hatte sich entschieden, einen weiteren Text vorzutragen, der sich hauptsächlich mit einer Kritik an Christoph Liebers Papier befaßte. Für das Kolloquium war auch die gemeinsame Lektüre von Abschnitten aus dem Kapital, darunter Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis geplant gewesen, wofür aber die Zeit nicht mehr reichte. Das wurde von D.W. wie auch von mir nachträglich bedauert, denn dadurch wäre es möglich gewesen, unsere unterschiedlichen Auffassungen miteinander zu konfrontieren. Daß diese Debatte nicht mehr zustande kam, entsprach aber auch dem Wunsch vieler Kolloquiumsteilnehmer und der verbreiteten Stimmung, auf einen versöhnlichen Ausgang dieser Veranstaltung hinzuwirken, deren Hauptzweck ohnehin in der formell korrekten vereinsrechtlichen Liquidation der M.-G. bestand, bevor man sich sehr zur Freude der RLS und der Studentenorganisation der PDL aus dem unübersichtlichen Gelände des theoretischen Klassenkampfes hinter die schützenden Mauern des akademischen Marxismus zurückziehen und gemeinsam dafür Sorge tragen wird, daß ‚Marx an die Uni‘ kommt und alle als sog. Kritiker auftretenden ‚Meckerer‘ und ‚Moserer‘ schnellstmöglich in die Wüste geschickt werden… Ich hatte einigen Diskussionsteilnehmern versprochen, meinen Teil zu dieser nicht mehr stattgefundenen Auseinandersetzung in schriftlicher Form nachzureichen, was hiermit geschieht. Allerdings ist meine Kritik an D.W.s 37-Seiten-Papier zunächst nicht über dessen erste 11 Seiten hinausgekommen, umfaßt also lediglich die ‚Prolegomena‘ zu einer Kritik an seiner Interpretation des Fetischcharakters der Ware. Die an der Diskussion Beteiligten hatten außerdem verabredet, über die Mailing-Liste der zu dem Kolloquium eingeladenen Teilnehmer weiter in Kontakt zu bleiben. Das soll mit dem Versenden dieser ‚Prolegomena‘ geschehen. Der Rest wird in absehbarer Zeit, auch auf parteimarx.org, zu finden sein.

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Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König werden »

Inhalt

Aus einem spontanen Zwischenruf, mit dem ich mich als engagierter aber nicht unbedingt ebenso kompetenter Zuhörer auf dem Höhepunkt der Debatte zwischen Helmut Reichelt und Dieter Wolf über das Wertgesetz im Marxschen Kapital auf der Frühjahrstagung der Marx-Gesellschaft 2002 spontan zu Wort gemeldet hatte, sind diese beiden Texte aus den Jahren 2005 und 2006 entstanden, die nachträglich, um zwischen all den akademischen Marx-Experten nicht in Teufels Küche zu geraten, als non-papers in die Debatte geworfen wurden. Die Streitgespräche waren protokolliert worden, später dann nicht mehr; inzwischen hat sich die Marx-Gesellschaft im Frühjahr 2013 aufgelöst, wohl auch deshalb, weil die Crème des akademischen Marxismus den Kolloquien zunehmend fernblieb.

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Vorbemerkung

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BLogbuch 1 2012: Eine offene Antwort an einen (ungenannt bleiben müssenden) (Zeit-) Genossen »

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Inhalt

In der Offenen Antwort an einen (ungenannt bleiben müssenden) (Zeit-) Genossen wird anhand von hier eingegangen Artikeln des Neuen Deutschland (ND) untersucht, warum Die Linke sich nicht entschieden hat, ob sie auf der Seite des Völkermörders Assad oder des syrischen Volkes stehen will. Die beiden Großmächte Rußland und China stellen bisher das Haupthindernis bei einer Lösung dieses Konflikts im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Völkerrechtsgemeinschaft und des syrischen Volkes dar, weil ihre ‚Friedens‘vorschläge lediglich dazu angetan sind, dem Assad-Regime Zeit zu kaufen und die syrische Bevölkerung weiterhin dessen Mörderbanden auszuliefern.

Die Linke hat sich die Forderung Rußlands und China zu eigen gemacht, daß die Opfer dieses Völkermords mit dem Täter in Verhandlungen eintreten sollen. Ihre bewußte Verkennung der Situation hat eine lange Vorgeschichte und beruht letzten Endes darauf, daß sie historisch keine Unterscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution trifft und eine solche daher auch nicht in ihrer Politik treffen kann. Weil die ‚Anti‘-Faschisten mit den Faschisten auf der anderen Seite die Parenthese auf der ‚roten‘ Seite der Gleichung ‚Rot‘ = Braun gemeinsam nicht zur Kenntnis nehmen, hat das für jene gravierende Folgen, insbesondere für die Frage, wie sich Die Linke die Transformation der kapitalistischen Verhältnisse in diesem Land vorstellt, ein Sozialismus der auf die Alternative zwischen Auschwitz oder Gulag hinausläuft. Diese Perspektive schimmert durch die Beschreibung der syrischen Verhältnisse in den hier eingegangenen ND-Artikeln bereits durch und scheint in die sozialistischen Zukunftsvorstellungen Der Linken fest eingepreist zu sein.

Die Zeitungslektüre führt zu folgendem Ergebnis:

1. Das ND hat sich nicht von dem Völkermord des Assad-Regimes distanziert, sondern es fordert ebenso wie China und Rußland lediglich, daß beide Seiten in diesem angeblichen Bürgerkrieg ihre Kampfhandlungen einstellen und miteinander in Verhandlungen treten sollen. In dieser Forderung werden absichtlich Ursache und Wirkung vertauscht, um zu verschleiern, daß die syrische Regierung von Anfang an unbewaffnete (anfangs ausschließlich aus Jugendlichen bestehende) Demonstrationen des Arabischen Frühlings zusammengeschossen hat und dadurch bewußt einen Bürgerkrieg provozieren wollte; daher dient die Forderung nach Verhandlungen zwischen dem Mörder und seinen Opfern dem leicht durchschaubaren Ziel, für das Überleben des Regimes in Damaskus Zeit zu schinden.
2. Das ND, das sich in diesem Krieg Assads gegen ‚sein‘ Volk als ‚Friedenspartei‘ darzustellen versucht, bestreitet der syrischen Bevölkerung, deren friedliche Demonstrationen weiterhin von der Armee, den Geheimdiensten und staatlich organisierten marodierenden ‚Geistern‘ (shabiha) angegriffen werden, zwar nicht das Recht, sich gegen diese Angriffe, bei denen inzwischen sehr viel mehr als 10.000 Menschen umgebracht wurden, zur Wehr zu setzen. Im gleichen Atemzug werden die Teilnehmer am bewaffneten Widerstand des Volkes pauschal als Agenten des Auslands dämonisiert, mit deren Hilfe das syrische Volk angeblich vom ‚Westen‘ versklavt werden soll, obwohl es Assad selbst ist, der sich in Syrien wie eine Marionette des Auslands aufführt und im Auftrag fremder Mächte ‚sein‘ Volk tyrannisiert und abschlachtet.
3.Das ND unterstützt Rußland, China, den Iran und die übrigen BRICS-Staaten bei der Torpedierung des von den ‚westlichen‘ Staaten im Weltsicherheitsrat beantragten UN-Mandats zum Schutz der syrischen Bevölkerung vor dem Völkermord des syrischen Staates mit dem Argument, die NATO hätte bereits das Libyen-Mandat dazu mißbraucht, einen Krieg gegen das libysche Volk und nicht wie behauptet gegen Gaddafi zu führen, wovon allein der ‚Westen‘ profitiert habe. Dasselbe habe bereits für das Afghanistan-Mandat gegolten. Die in dieser Argumentation zum Ausdruck gebrachte Mißachtung der UN-Charta und die Parteinahme (ob offen oder verdeckt) für Völkermörder wie Assad, Gaddafi oder das Taliban-Regime, (dessen Anhänger inzwischen mehr Zivilisten umgebracht haben als die sogenannten ‚westlichen Eindringlinge‘ Feinde des afghanischen Volkes), unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem völkerrechtlichen Nihilismus rechter Sozialpopulisten.
4. Das ND hüllt den üblichen Linken Manichäismus, von dem ausgehend die Welt in den bösen imperialistischen ‚Westen‘ einerseits und die guten ‚östlichen‘ und ‚südlichen‘ ‚anti-kapitalistischen‘ Feinde des ‚Neoliberalismus‘ andererseits gespalten sein soll, in ein pluralistisches Mäntelchen, damit auch die in Syrien zwischen den Fronten stehenden ‚friedlichen Oppositionskräfte‘ als ‚Stimme der Vernunft‘ Gehör finden sollen. Bei diesen handelt es sich zu einem großen Teil um die politischen Erben jener Seilschaften, die als ‚kommunistischer‘ Wurmfortsatz von ‚anti-imperialistischen‘ Henkerregimes, wie demjenigen Saddam Husseins, Gaddafis oder Assads, den Rückzug des großrussischen Sozialimperialismus aus der ‚Dritten Welt‘ überlebt haben und jetzt die Zeit für gekommen halten, sich in den anti-‘westlichen‘ Kampf der BRICS-Staaten gegen den Popanz des ‚Neoliberalismus‘ einzureihen, wozu auch die Verteidigung des Assad-Regimes gehört.
5. Daher zeigt das Eintreten des ND für die hinhaltende Verteidigung anti-‘westlicher‘ Henkerregimes, daß der ‚Bruch‘ mit dem ‚Stalinismus‘ zwar verbal erfolgt sein mag, dieser aber im Linken Sozialimperialismus und anti-‘westlichen‘ Nationalchauvinismus fortlebt und -webt, sodaß unter dem Zwang der Ereignisse und Verhältnisse eines Tages der provisorisch übergetünchte ‚demokratische‘ Lack durchaus wieder abblättern und darunter die alte sozialfaschistische Fratze zum Vorschein kommen könnte. Daher gibt es auch zwischen dem ND als Sprachrohr der ‚Friedenspartei‘ und dem ‚prinzipienfesten‘ Linken Sozialimperialismus der jungen Welt (jW) keine ernsthaften Differenzen. Eher scheint zwischen beiden Blättern so etwas wie eine pazifistisch-‘anti-imperialistische‘ Arbeitsteilung zu existieren, bei der unter Wahrung ‚linker‘ Solidarität der anderen Seite kein Härchen gekrümmt wird.

Diese antihumane Gemeinsamkeit drückt sich auch in dem zynischen Kommentar des ND zu der Forderung der deutschen Bundeskanzlerin anläßlich ihres Staatsbesuchs in China nach Einhaltung der bis jetzt noch in der bürgerlichen Gesellschaft einklagbaren Menschenrechtsstandards aus, die vom ND nicht an den tatsächlich in China vorherrschenden politischen Verhältnissen gemessen werden, sondern durch ihre Gegenüberstellung mit den ökonomischen Interessen Deutschlands relativiert werden. Damit wird jegliche Forderung nach Einhaltung dieser Standards, gleichgültig, von wem sie erhoben wird, und zumal gegenüber einem ‚sozialistischen‘ Staat, in die Nähe der Unterstützung ‚neoliberaler‘ Interessenpolitik gerückt.

Als Schlußfolgerung aus dieser Zeitungslektüre sind zwei im höchsten Grade alarmierende Tendenzen zu registrieren; zum einen gewisse Gemeinsamkeiten des Linken mit dem rechten Sozialpopulismus, die aus den Verlautbarungen der beiden neuen Vorsitzenden herauszulesen sind und zum anderen nach der eindimensionalen Deutung des Massakers in Hula durch die bürgerliche Presse (hier der FAZ) deren Anpassung an die ‚Linie‘ des ND zugunsten Assads und der von den BRICS-Staaten vertretenen ‚Friedens‘politik; diese Tendenz läuft seit der deutschen Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat anläßlich der Einrichtung einer Flugverbotszone gegen die drohende Abschlachtung der libyschen Bevölkerung durch Gaddafi auf die Neutralisierung Deutschlands im neuen globalen ‚Ost-West-Konflikt‘ hinaus.

Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen dem hohen moralischen und menschheitsbefreienden Anspruch der Politik Der Linken und der brutalen politischen Realität bisher so deutlich zutage getreten wie in den untersuchten ND-Artikeln und -Kommentaren zur arabischen Revolution in Syrien. Mag der eine oder andere Leser in der Lateinamerika-Politik Der Linken oder der von ihr dominierten Anti-Globalisierungsbewegung noch einen ‚emanzipatorischen‘ Rest wahrgenommen haben, den sich diese aus der Erbmasse der antiimperialistischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre auf äußerst clevere Weise zu eigen gemacht hat, so erweist sich ihre eindeutig positive Stellungnahme zugunsten der ‚Friedens‘vorschläge Chinas und Rußlands, die nur darauf gerichtet sind, einem Völkermörder für sein faschistisches Handwerk Zeit zu kaufen, als ein durch und durch sozialimperialistisches Manöver.

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VORTRAG Marx und Černyševski – die revolutionäre Bewegung in Russland und die commune rurale »

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Inhalt

Anders als zunächst im Höhlenplan (REAKTIONEN 22.03.2011) angekündigt, beschäftigt sich dieser Text zunächst nicht mit der Differenz Černyševskij – Herzen, sondern mit dem Verhältnis Marx – Černyševskij, sodaß darin auch nicht näher auf den Bruch Černyševskijs mit Herzen Ende der 50er Jahre eingegangen wird, obwohl der enge Kontakt zwischen der Marxschen Partei und der Partei Narodnaja Volja, die sich Černyševskij gegenüber weiterhin verpflichtet sieht, ohne dessen Bruch mit A. Herzen und den Slawophilen wahrscheinlich niemals zustande gekommen wäre. Etwa zur gleichen Zeit beginnt Černyševskij sich mit der politischen Ökonomie und dem Utilitarismus J.S. Mills zu beschäftigen. Beides, seine Kritik an Mill und sein Bruch mit A. Herzen und den Slawophilen, bildet die Grundlage für die politische Neubewertung der russischen Populisten (Narodovolcen), die Marx und Engels im Verlauf der 70er Jahre, angestoßen durch den Streit zwischen zwischen Friedrich Engels und P.N. Tkačev vorgenommen haben.

An dieser Stelle geht es zunächst darum, den Grund für die positive Aufnahme herauszufinden, die Černyševskij Anfang der 60er Jahre mit den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von J.S. Mills Principles of Political Economy im Marxschen Nachwort zur 2. Auflage des Kapital gefunden hat. Anhand einer Analyse der Anfangskapitel von Mills Principles und Černyševskijs Anmerkungen zu denselben wird die Frage untersucht, ob es sich bei Černyševskijs positiver Erwähnung im Marxschen Nachwort lediglich um eine Gefälligkeitsadresse aus Solidarität für einen in der sibirischen Verbannung verkümmernden großen russischen Gelehrten gehandelt hat oder ob Marx mit dem Mill-Kritiker auch bestimmte theoretische Gemeinsamkeiten teilt, die in den Brief-Entwürfen an Vera Zasulič, d.h. in seiner eindeutigen Parteinahme für die commune rurale Anfang der 80er Jahre zum Ausdruck kommen? Daraus ergäbe sich ein zusätzliches Indiz für die veränderte politische Rezeption des russischen Populismus durch Marx und Engels.

Wenn es gelingt, diese innere Übereinstimmung durch die Analyse der Texte Černyševskijs zu verdeutlichen, dann hätte das auch Auswirkungen auf das Marxsche Parteiverständnis, das im Unterschied zum sozialdemokratischen Parteiverständnis Plechanovs und Lenins daraus abzuleiten wäre. Fakt ist jedenfalls, daß die Narodovolcen, anders als Vera Zasulič in ihrem Brief an Marx zu unterstellen scheint, nicht etwa die Bildung einer reinen Bauernpartei, sondern einer Arbeiterpartei vor Augen haben, wobei sie sowohl die Arbeiter als auch Bauern als unmittelbare Produzenten begreifen, die , ob auf dem Land oder in der Stadt, nur auf verschiedenem Terrain arbeiten und um ihr Überleben kämpfen.

Aus der Analyse der Anmerkungen Černyševskijs an den ersten drei Kapiteln von J.S. Mills Principles läßt sich auch ableiten, daß es sich hierbei bis zu einem gewissen Grad um eine vor der staatlichen Zensur versteckt gehaltene politische Ökonomie der commune rurale handelt. Darin könnte einer der Gründe für Marxens Interesse an diesem Text, den er im Original studiert hat, bestanden haben. Zu den weiteren Gemeinsamkeiten wäre Černyševskis Hypothetische Methode zu rechnen, die ähnlich strukturiert ist wie häufig die Marxsche Vorgehensweise im Kapital.

Damit wäre auch der Einwand aus dem Weg geräumt, daß Černyševskijs positive Stellungnahme zum Millschen Utilitarismus Marx eigentlich hätte davon abhalten müssen, sich vorbehaltlos zu diesem großen russischen Gelehrten zu bekennen. Bei genauerer Beobachtung wird sich herausstellen, daß die Mängel der hedonistischen Werttheorie, an denen der Utilitarismus leidet, weil dieser ohne eine Analyse der Ware auszukommen scheint, woraus folgt, daß die Produzenten keine Waren, sondern Nutzen produzieren, sich in einer Gesellschaft, die so gut wie keine Warenproduktion kennt, sich materialistisch gewendet als Tugend erweisen müßten, weil sich darin die politische Ökonomie der russischen Dorfgemeinde exakt widerspiegelt, für die die Verwirklichung der Hauptforderung des Utilitarismus nach dem größten Glück der größten Zahl im Gegensatz zu Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise eine revolutionäre Forderung dargestellt hätte.

Das sind exakt jene Argumente, die Marx in seinen Brief-Entwürfen Vera Zasulič entgegenhält und die, wie sich im einzelnen nachweisen läßt, im wesentlichen auf Černyševskij zurückgehen. Marx scheint diese Argumente offenbar ganz bewußt verwendet zu haben, um der von der Partei Narodnaja Volja abgesprungenen Revolutionärin klarzumachen, was sie mit ihrer ausschließlichen Hinwendung zur Arbeiterklasse eigentlich aufgeben werde. In einer Brief-Passage geht Marx über Černyševskij hinaus, wenn er erklärt, daß die Dorfgemeinde Zeitgenossin der kapitalistischen Produktion geworden sei zu einem Zeitpunkt, da sich »dieses kapitalistische Gesellschaftssystem in Westeuropa ebensogut wie in den Vereinigten Staaten, im Kampf befindet gegen die Wissenschaft, gegen die Volksmassen und gegen die Produktivkräfte, die es erzeugt. Mit einem Wort, sie findet den Kapitalismus in einer Krise, die erst mit seiner Abschaffung, mit seiner Rückkehr der modernen Gesellschaften zum „archaischen“ Typus des Gemeineigentums enden wird…«.

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Reaktionen (2011) »

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


Ulrich Knaudt an H.B. (22.01.2011)

Betreff: BLogbuch 3 2010

Lieber H., gerade eben habe ich die letzte Ausgabe des BLogbuchs für das Jahr 2010 ins Netz gestellt.[1] Die Lokomotive der Weltgeschichte hat manchmal Verspätung, weil der Heizer zu viele Jobs zur gleichen Zeit erledigen muß… Wenn Du auch wenig Zeit hast und der Text auch keine Gute-Nacht-Lektüre ist, würde ich ihn Dir empfehlen, […] gerade was den Antifa angeht, der darin in einem etwas anderen Licht erscheint. Nach dem Vortrag [2], den ich jetzt unter Volldampf vorbereite (dieses Textmonster hat mich viel Zeit und Nerven gekostet!), werde ich eine 2. Auflage machen, in der dann bestimmte technische Mängel verschwunden sein werden. Inhaltlich steht der Text. Besonders fachliche Ratschläge sind willkommen.

[…] Sehr wichtig war für mich der Kongreß von Anfang Dezember, von dem ich Dir ausführlich berichtet habe, durch den ich einen sinnlichen Eindruck vom momentanen Zustand bestimmter Teile der Linken erhalten habe. [3]

[…]
Herzliche Grüße

Ulrich

[1] BLogbuch 3 2010.
[2] DEBATTE 4 Das Marxsche Kapital und die Marxsche Parteilichkeit – Marx, Engels, Lenin und ihre Auseinandersetzung mit Nikolai-on, die Narodniki/Volkstümler und die Revolution in Rußland.
[3] REAKTIONEN 2010Ulrich Knaudt an H.B. (04.12.2010) ff.


Ulrich Knaudt an H.B. (14.02.2011)

Betreff: WARE UND SOZIALISMUS

Nachtrag: beim Nachschlagen eines Zitats stieß ich bei Roman Rosdolsky (Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital) auf das 28. Kapitel: »Die historische Schranke des Wertgesetzes. Marx über die sozialistische Gesellschaftsordnung 3. Das Absterben des Wertgesetzes im Sozialismus.« Es enthält eine Menge Hinweise und Zitate. Allerdings bleibt die Frage des Wertgesetzes im Sozialismus in Gestalt der S[owjet]U[nion] (bezeichnenderweise) ausgeklammert. Als einziges ein Hinweis auf Preobraženskij ‒ ausgerechnet! [1] Aber vielleicht auch typisch für den Zustand dieser Debatte bis heute.

Gruß Ulli

[1] Vgl. DEBATTE 3 Wertgesetz und Sozialismus.


Ulrich Knaudt an H.B. (22.03.2011)

Betreff: HÖHLENPLAN

Lieber H., ich vermute, Du bist gut nach hause gekommen…

Anbei schicke ich Dir, wie gewünscht, den Höhlenplan. Um ein gründliches Resümee zu ziehen, bin ich etwas zu müde. Auf jeden Fall ist mir klar geworden, daß in dieser ganzen Debatte über die Drei Ersten Kapitel [von KAP I], die Passage aus dem Staatsrecht,[1] die Du zitiert hast, des Rätsels Lösung ist, um die Probleme, die sich D.W[olf]. und H.G.B[ackhaus]. auf je verschiedene Weise machen, sich in Luft auflösen zu lassen…

[…]

Tschüß Ulli

[1] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333), 295,296:
»Hegels Hauptfehler besteht darin, daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im Wesen, in der Idee faßt, während er allerdings ein Tieferes zu seinem Wesen hat, nämlich einen wesentlichen Widerspruch, wie hier z.B. der Widerspruch der gesetzgebenden Gewalt in sich selbst nur der Widerspruch des politischen Staats, also auch der bürgerlichen Gesellschaft mit sich selbst ist.«


Anhang:

Höhlenplan

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich eigentlich eher um eine Einführung in ein großes Thema, das zunächst aus der Vogelperspektive dargestellt wird, während gleichzeitig zu wichtigen Punkten eine Sonde herabgelassen wird, um die Gegend näher zu erkunden. Im Mittelpunkt meines Erkundungsprojekts steht die Kontroverse zwischen der ‚Partei Marx‘ und den ‚Marxisten‘, die bis heute andauert und spätestens seit Beginn des vorigen Jahrhunderts von den ‚Marxisten‘ dominiert wird. Weil dem so ist, kann der Ausgangspunkt, von dem ausgehend die Position der ‚Partei Marx‘ inhaltlich und historisch zu bestimmen ist, nur grob zu fixiert werden. Das wird in dem vorliegenden Text versucht.

Wer sich der Tortur unterzogen hat, diesen Text zu lesen, wird feststellen, daß auch dieser wie meine früheren Texte um das gleiche Thema kreist: Die Sassulitsch-Briefe [1] und der Marxsche Kommunismus im Vergleich mit dem seit 1917 praktizierten Sozialismus, der sich auf den Marxschen Kommunismus berufen hat. Es ist mit diesem Text wie mit der Betrachtung der Mona Lisa: es ergeben sich immer wieder andere Aspekte, je nach dem, aus welcher Perspektive ich an diesen Text herantrete und je tiefer ich in die Materie eindringe, um die es in dem Text geht.

Stein ins Wasser geworfen

Für mich war das wie einen Stein ins Wasser werfen und dann die sich ausbreitenden Welle zu beobachten: der ins Wasser geworfene Stein war die ‚Entdeckung‘ der Differenz Lenin-Marx, die ja schon lange vorher von ‚marxistischen‘ und ‚nicht-marxistischen‘ Autoren analysiert wurde, aber in den seltensten Fällen ausgehend von der Position der ‚Partei Marx‘. Was ich versuchen will, ist also, diese Differenz sowohl historisch als auch inhaltlich zu rekonstruieren, wozu ich alle Interessierten und Parteigänger der ‚Partei Marx‘ einlade.

Abstieg und Wiederaufstieg (= weitere Themenstellung)

Die in meinem Papier vorgenommenen Sondierungen [2] beziehen sich auf die erste Hälfte meines Arbeitsplans, den ich jetzt vorstellen will.

Zunächst der Abstieg:

1. Aktueller Ausgangspunkt ist die Beerdigung der Theorie des ‚nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges‘, die Ende Januar Anfang Februar von der Facebook-Jugend auf dem Al Tahrir Platz gefeiert wurde und der Hinweis, daß diese Theorie in der 2.-Juni-Bewegung in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Diese Theorie beruft sich auf die Sassulitsch-Briefe, ob berechtigterweise oder nicht, was ich an einer in den 60er Jahren stattgefundenen Kontroverse in meinem Papier beleuchte.

2. Die Theorie des „nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges“ ist aber nur eine relativ spät stattfindende politische Nutzbarmachung der Sassulitsch-Briefe, deren Sprengkraft, die eigentlich in ihnen steckt, entschärft wurde. Wie das geschehen ist, wird am Beispiel von Verbotsschildern gezeigt, die aus den Reihen der ‚Marxisten‘ aufgestellt werden, um die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie von der Politik der ‚Partei Marx‘ zu trennen und zu isolieren.

3. Dann rekurriere ich noch einmal auf Preobraženskij, [3] einen ‚marxistischen‘ Autor der Zwanziger Jahre, der die für den Aufbau des Sozialismus erforderliche Akkumulation mit dem Wertgesetz begründet, wobei sich herausstellt, daß die von ihm als solche bezeichnete „sozialistische Akkumulation“ nichts anderes ist als

a) eine Fortsetzung des Kriegskommunismus mit friedlichen Mitteln, die

b) voll auf der Linie der 1861 dekretierten sog. Bauernemanzipation liegt.

Der Kriegskommunismus war daher ein Krieg der Bolschewiki gegen den Kommunismus der »commune rurale«, der mit ökonomischen Mitteln, aber auch mit außerökonomischem Zwang gegen diese geführt wurde. [4]

4. Die ‚Marxisten’ setzen also das Vernichtungswerk gegen die russische Dorfgemeinde, das mit dem Manifest des Zaren 1861 in Szene gesetzt wurde, ungebrochen fort. Diese fatale Entwicklung spiegelt sich in den Debatten seit Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts wider, die um die Frage kreisen, ob die Dorfgemeinde nicht schon längst so kaputt sei, daß sie nicht mehr, wie Marx in den Sassulitsch-Briefen [noch] annimmt, zum Ausgangspunkt des Kommunismus werden kann.

5. Dies hat vor allem Konsequenzen für den Parteibildungsprozeß, der zur Gründung einer Arbeiterpartei, nicht aber einer kommunistischen Partei auf der Grundlage des KM [Manifests der Kommunistischen Partei] führt. Eine solche Parteigründung wäre wegen des Vorhandenseins zweier revolutionärer Klassen in Rußland, die beide den Kommunismus anstreben, eigentlich angebracht gewesen. In dem Parteibildungsprozeß der Bolschewiki widerspiegelt sich die bis dahin geführte Auseinandersetzung der ‚Marxisten‘ mit den Narodniki, die einseitig und dogmatisch geführt wurde, weil die ‚Marxisten‘ die Bildung einer im ‚Westen‘ üblichen Arbeiterpartei anstreben, die sie dem ‚narodničestvo‘ [Volkstümlerbewegung] schematisch gegenüberstellen.

6. Die wenigen überlieferten Aussagen, die Marx im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der akademischen und revolutionären russischen Intelligenz zur »commune rurale« [5] gemacht hat, die auf seinen in den 70er Jahren und bis zu seinem Lebensende durchgeführten Forschungen zu den Folgen der sog. Bauernemanzipation in Rußland und den ethnologischen und anthropologischen Wurzeln dieser Produktionsform beruhen, vergleiche ich mit den seit der Februarrevolution tatsächlich stattgefundenen Wiederbelebungsversuchen der »commune rurale« durch die Bauern, die in der Vernichtung der Bauernaufstände in den Wäldern an der Mittleren Wolga enden.

7. Schließlich versuche ich mir auszumalen, ob es praktisch möglich gewesen wäre, unter der Voraussetzung der Existenz einer kommunistischen Partei, die die beiden revolutionären Klassen in sich vereint, auf der Grundlage der Politik dieser Partei die in der Februarrevolution praktisch wieder auferstandene »commune rurale« mit dem Marxschen Kapital als Blaupause zu reorganisieren, und ob es vermittels einer »Selbstregierung der Produzenten« möglich gewesen wäre, die »Commune« von Paris unter den besonderen russischen Verhältnissen in der »commune rurale« fortzusetzen. Woraus die These folgt, daß bei Realisierung der Politik der ‚Partei Marx‘ und des Marxschen Kommunismus die revolutionäre Entwicklung in Rußland nicht den Verlauf nehmen mußte, der sie in den Wäldern an der Mittleren Wolga und der Kommune von Kronstadt hat enden lassen.

8. Die Wurzeln zu dieser Kontroverse über die tatsächliche und mögliche Entwicklung der Revolution in Rußland finden sich bereits in der Differenz zwischen Tschernyschewski und Herzen, die wiederum von Marx aufgenommen wurde und ihn zu einem Umdenken in seiner Einschätzung der russischen Dorfgemeinde gezwungen hat. Dieser Umorientierungsprozeß und die dadurch eingeleiteten Überlegungen und Untersuchungen hatten zur Folge, daß Marx die Arbeit am 2. und 3. Buch des Kapital zurückstellte, was ihm Engels wahrscheinlich sehr verübelt, sich aber der Realität gebeugt und der Pflicht unterzogen hat, das vorhandene Material zu den beiden Bänden in eine lesbare Form zu bringen und drucken zu lassen, womit er der Marxschen Partei seine Referenz und einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat.

Soweit in Thesenform der Abstieg zu den Wurzeln des ‚nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges‘ und back to the roots [6] der ‚Partei Marx‘.

Der Wiederaufstieg, der uns schließlich wieder zurück auf die Al Tahrir Plätze der ‚Dritten Welt‘ führen wird, sieht grob gefaßt so aus:

Ausgangspunkt wäre die Auseinandersetzung zwischen Tschernyschewski und Herzen, von der ausgehend die getrennten Wege Tschernyschewskis zur ‚Partei Marx‘ und von dieser zur Annäherung an die Narodniki zu verfolgen wären, wobei es sich konkret zeigen läßt, daß es der ‚Partei Marx‘ offenbar gelingt, die Narodniki zu politisieren und sie dadurch vom Bakunismus loszueisen. Ausgehend von der Untersuchung dieses Politisierungsprozesses kämen wir dann zum Parteibildungsprozeß der russischen ‚Marxisten‘, der zur Verabsolutierung der russischen Arbeiterklasse führt und einen Rückschritt gegenüber der durch den Einfluß der ‚Partei Marx‘ gelungenen Politisierung der Narodniki darstellt. Dabei spielen die Beziehungen, die Engels zu den ‚Marxisten‘ um Plechanow auf der einen und Danielson als gemäßigtem Volkstümler auf der andern Seite unterhält, eine wichtige Rolle. Dem würde sich die Auseinandersetzung Lenins mit den Volkstümlern unter der Fragestellung anschließen, ob sich das Marxsche ‚Kapital‘ bruchlos auf das kapitalistische Rußland hat übertragen lassen. Wenn dies aber nicht oder nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich war, mußte das unmittelbar Auswirkungen auf die von den ‚Marxisten‘ theoretisch konzipierte und praktisch realisierte Rekonstruktion und Transformation der russischen Gesellschaft mit dem Ziel des Kommunismus haben. Das wäre anhand der Untersuchung dieses Prozesses im Vergleich mit den ökonomischen Gegebenheiten zu überprüfen und die tatsächlich stattgefundene der von der ‚Partei Marx‘ aus möglichen und den realen Gegebenheiten Rußlands eher entsprechenden alternativen Transformation gegenüberzustellen.

Konkrete Widersprüche und Probleme

Abschließend werde ich stichpunktartig einige Differenzen und Widersprüche benennen, die sich beim Aufstieg aus der Höhle als Problem stellen werden und zu bearbeiten sind:

a. Die Differenz in der Einschätzung der Narodniki durch Marx bzw. Lenin;

b. Die Differenz zwischen dem Kommunismus der »commune rurale« und dem Sozialismus der Leninschen Genossenschaften.

Zur Klärung dieser Differenzen sind erforderlich:

1. Textanalyse und Textsituation der Sassulitsch-Briefe.

2. Ein Vergleich zwischen den Versuchen, die »commune rurale« wiederherzustellen mit dem Transformationsproblem bei Preobraženskij u.a., worin von einer (ursprünglichen) »sozialistischen Akkumulation« ausgegangen wird.

3. Der Weg der Bolschewiki zum Kommunismus über die Vernichtung der »commune rurale« in den Wäldern von Tambow und des Sowjetcharakters der Revolution in Kronstadt 1920/21.

4. Die Frage der Ursprünglichen Akkumulation:

a. bei Preobraženskij als Fortsetzung von 1861 = ursprüngliche Akkumulation mit nicht-außerökonomischer Gewalt. Werkzeug: Werttheorie + 24. Kapitel im KAP.

b. als „Zweite Revolution“ Stalins, die darüber hinausgehend einen Bruch mit 1861 nach rückwärts = Tartarisierung der Bauern (siehe Rudi Dutschke) vollzieht.

5. Vorläufiges Fazit: der für die Zerschlagung der Politik der ‚Partei Marx‘ und die Exekution der Vernichtung der Bauern als Klasse verantwortlich gemachte ‚Stalinismus‘ läßt sich nicht ‚demokratisieren‘ sondern nur komplett ‚abschalten‘.

Zum Vergleich Pariser »commune« und »commune rurale«:

Die »commune rurale« befindet sich [seit Februar 1917] von mindestens zwei Seiten her im Belagerungszustand zwischen Revolution und Konterrevolution. Daß sie sich nicht für die [Oktober-] Revolution entscheidet, liegt nicht primär an ihrem konterrevolutionären Charakter, der sie daran gehindert hätte, dies zu tun, sondern an der Proletarischen Revolution, die sich nicht für die »commune rurale« entschieden hat. Dadurch wurde der Kampf gegen den zaristischen Patriarchalismus innerhalb der Dorfgemeinde erschwert und die spontane Hinneigung zum archaischen Kommunismus, der in der Produktionsform der »commune rurale« angelegt ist, gedämpft. Die russische „Commune“ wird nicht von der Konterrevolution, mit der sie ganz gut selbst fertig werden konnte, sondern von der Revolution zerstört, worin die negative Entwicklung der [Oktober-]Revolution vorweggenommen ist und worin Lenins böse Vorahnungen bestätigt werden.

Der Kriegskommunismus der Bolschewiki ist ein Krieg gegen den Kommunismus der »commune rurale«, weil sie diesen als Konkurrenzunternehmen zu ihren im Ansatz scheiternden Genossenschaften (in der Tradition Lassalles und Kautskys) verstehen, und in deren Wiederauferstehung sich die Aussagen, die Marx zur russischen Dorfgemeinde gemacht hat, bestätigt werden.

Marx und die »commune rurale« (Textprobleme)

1. Das Problem der textlichen Hinterlassenschaften und deren wissenschaftliche Aufarbeitung: verstreute Texte, Exzerpte, Briefe, Notizen.

a. Sassulitsch-Briefe und Brief an Otečestvennyje Sapiski (Vaterländische Aufzeichnungen) und Nachwort in KAP I zur russischen Ausgabe gehören zu den wenigen zusammenfassenden Texten.

b. Briefwechsel

− mit Russen (wie Danielson, und den russischen Mitglieder der Internationale und führenden Narodniki)

− mit Dritten über Rußland.

2. Diese textlichen Zeugnisse werden seit langem aufgearbeitet und historisch und inhaltlich abgehandelt und in ihrem inneren Zusammenhang gedeutet. Sowohl im akademischen wie politischen Bereich.

3. Das Material der wichtigsten russischen Autoren, das eine wichtige Quelle darstellt, wurde, angefangen von Tschernyschewski und Herzen nur zu einem Bruchteil in westeuropäische Sprachen übersetzt. Gerade die politischen Texte [!] sind nicht übersetzt worden.

4. In der 2.-Juni-Bewegung gab es unterschiedliche Motivationen und Ausgangspunkte dafür, sich mit dieser Frage zu beschäftigen − 60er Jahre: ‚nicht-kapitalistischer Entwicklungsweg‘ (NKE)

− „Studentenbewegung“: Volkstümler

− ML-Bewegung: Von der Oktoberrevolution zum Realen Sozialismus

− SDS: Für eine neue K[ommunistische]I[nternationale] etc.

Kommunistische oder Arbeiterpartei:

Hinter den in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend enger werdenden Beziehungen zwischen der Marxschen Partei und den Narodniki steht die Differenz Herzen – Tschernyschewski. (Panslawismus-Antizarismus)

Zugleich wird in der Zeit nach der Pariser Commune mit dem Studium der »commune rurale«, zwischen 1871 und 1881 (Attentat auf Alexander II.), das durch ethnologischen Studien vertieft wird, [von Marx] der einzigartige kommunistische Charakter (i.G. zu dem von Herzen festgestellten einzigartigen russischen Charakter) der russischen Dorfgemeinde verstärkt wahrgenommen. Um die Sassulitsch-Briefe in einen größeren Zusammenhang zu stellen und ihnen den zufälligen Charakter zu nehmen (Rjasanov: …K.M. wäre gerade schlecht drauf gewesen…), muß die Differenz Herzen – Tschernyschewski in Hinblick auf die Verschmelzung der Marxschen Partei mit derjenigen Tschernyschewskis aufgearbeitet werden.

Was heißt heute Erforschung des Kommunismus?

Der Weg in die Höhle:

− Entweder eine Neuauflage der Oktoberrevolution vs. einen durch R[osa].L[uxemburg]. demokratisierten ‚Stalinismus‘ mit der Perspektive eines Kommunismus auf der Grundlage eines modernisierten asiatischen Kapitalismus (Asiatische Produktionsweise)

− Oder eine Weiterentwicklung des Marxschen Kommunismus mit dem KM [Manifest der kommunistischen Partei] als programmatischer Grundlage und dem KAP [Kapital] als Blaupause für den Kommunismus, dessen Erforschung weitestgehend wegen der Hegemonie des Lenin-Stalinschen gegen die »commune rurale« gerichteten Entwicklungsweges verstellt und unerforscht ist.

− Der Irrweg des ‚Marxismus‘ zeigt sich z.B. in der N[ationalen]F[rage] (worin sich Leninismus und Proletarischer Internationalismus oberflächlich miteinander vereinbaren lassen, wobei aber durch die Behandlung derselben als Demokratie-Problem die Tiefendimension in Gestalt der B[auern]F[rage] verdeckt wird).

− Die Differenz Marxsche Partei – ‚Marxismus‘ ist in Breite und Tiefe in dieser Hinsicht (in Bezug auf den zukünftigen Kommunismus) unerforscht.

− Nicht zuletzt die Frage: was ist Marx an der Klärung seiner Differenz mit Herzen und der Erforschung der Bauernfrage so wichtig gewesen, daß er seinen Genossen, Freund und Mäzen Engels das KAP nur als Torso hinterlassen hat?

Der Weg aus der Höhle

Rekonstruktion der Zukunft des Kommunismus aus seiner (primären und sekundären) Vergangenheit als Kampf zwischen dem (kollektiven) Marx und dem ‚Marxismus‘ macht das Vorhandensein eines Höhlenplans (Kritik der politischen Ökonomie) für die Erforschung und die Rückkehr der Menschheit aus der Höhle des Kapitalismus notwendig und dringend erforderlich.

Epilog

Mit Tschernobyl wurde das Ende des Realen Sozialismus eingeläutet. Wird mit dem GAU in Fukushima eines Tages dasselbe über das Ende des Kapitalismus gesagt werden können? Bezeichnend ist, daß die Börsenkurse der europäischen Energieunternehmen bei der Explosion der AKW-Dächer gefallen, die Kurse für japanische Industrieunternehmen dagegen gestiegen sind. Noch nie stand der Kapitalismus bis auf den Kern seiner Widersprüche entkleidet so nackt da.

Aber wenn die Atomkraft mit dem Kapitalismus unvereinbar ist, wäre sie dies dann auch mit dem Kommunismus? 1986 wurde ihre tatsächliche Unvereinbarkeit mit dem Realen Sozialismus von der Ökobewegung verdrängt.

Aber was war das für ein Sozialismus? Heute haben bestimmte Kreise der Bevölkerung, die sich in dem puren Vorhandensein eines AKWs darin gestört sehen, sich im real existierenden Kapitalismus weiterhin wohnlich einzurichten, schon eine klare Meinung dazu. Für mich ist diese Frage noch nicht endgültig geklärt. Ich tendiere aber, weil es sich um eine Frage der Naturbeherrschung handelt, dazu, daß auch der Kommunismus, der die gesellschaftlichen Widersprüche beherrschbar gemacht hat (was ja sehr viel schwieriger ist, wie bisher die Vergangenheit zeigt), auch die Widersprüche mit und in der Natur zu beherrschen lernen wird. Allerdings könnte dabei auch die Menschheit zugrunde gehen. Aber mit diesem Risiko müssen wir lernen zu leben und die dazu passenden Produktionsformen erkämpfen.

[1] Vgl. dazu STREITPUNKT 1 Über die folgenschwere Folgelosigkeit der Einschätzung der russischen Bauerngemeinde und ihres Verhältnisses zur Revolution in Westeuropa durch Karl Marx; DEBATTE 4 Das Marxsche „Kapital“ und die Marxsche Parteilichkeit. Siehe die dortigen Literaturangaben zu in diesem Text nicht näher erläuterten Begriffen.

[2] Siehe DEBATTE 4 Das Marxsche „Kapital“ und die Marxsche Parteilichkeit.

[3] Siehe auch DEBATTE 3 Wertgesetz und Sozialismus. Nachtrag.

[4] DEBATTE 3, 25; DEBATTE 4, 17.

[5] DEBATTE 4, 21 ff.

[6] KOMMUNISMUS [2001] Ein Gespenst geht um in Europa.


Ulrich Knaudt an H.B. (16.04.2011)

Betreff: BLUTMILCH

Lieber H.,

herzlichen Dank für die »Blutmilch«. [1] Nach der Lektüre der ersten Seiten wird für mich überdeutlich, wie unterschiedlich das Leben, das der Autor als eine sich über Generationen erstreckende Reihe von bäuerlichen Biographien wahrnimmt und dasjenige eines Städters, wie ich einer bin, sich darstellt. Ich bin zwar (von 3 bis 13) auf dem Land groß geworden, habe aber ‚inhaltlich‘ erstaunlich wenig von der Landwirtschaft mitbekommen, weil ich als „Zugereister“ die ganze Angelegenheit nur von außen wahrnehmen konnte. Welch eine Erlösung war der Umzug in die Großstadt, dazu noch das Berlin von vor der Mauer…

Aber ganz stimmt das natürlich nicht. Unterschwellig habe ich, abgesehen von der üblichen und typischen (auch ganz schön schmerzlichen) Diskriminierung der „Flüchtlinge“ durch die Dorfbewohner, wohl doch eine Menge Bäuerliches in mich aufgenommen, ohne mich damit bewußt beschäftigt zu haben…

Zu Deinen Notizen: In Punkt 4 würde »unmittelbar« im Zusammenhang mit »kommunistische Entwicklung« die Sache auch in Deinem Sinn verdeutlichen. Thesen sind immer Verkürzungen und gleichzeitig der Versuch, vieles unter einen Begriff zu subsumieren. Zu Punkt 3: »nicht-äquivalenter Tausch«. Dieser ist keine Erfindung von mir, sondern stammt von Preobraženskij.

Dazu Zitate aus meinen Exzerpten zu seiner »Neuen Ökonomik«: [2]

Zu den Begriffen »Ausbeutung«, »Kolonie« und der angeblichen Behauptung, der Arbeiterstaat besäße Kolonien (253):

Zunächst bekennt sich E. Preobraženskij zu dem Prinzip, daß der Arbeiterstaat den nicht-äquivalenten Tausch mit den ehemaligen Kolonien einstellen und Beziehungen auf neuer Grundlage herstellen muß; damit werden koloniale Sklaverei, nationale Ungleichheit und nicht-äquivalenter Tausch abgeschafft. »Der nicht äquivalente Tausch wird aber insofern bestehen bleiben, als er mit den allgemeinen Verhältnissen zwischen dem Sozialismus und den vorsozialistischen Wirtschaftsformen zusammenhängt. Mit anderen Worten: nicht die | bäuerliche Wirtschaft befindet sich in der Lage einer Kolonie, sondern alle Kolonien befinden sich in der Lage einer bäuerlichen, kleinbürgerlichen Wirtschaft im allgemeinen, insofern die Wirtschaftsstruktur einer Kolonie mit diesem Wirtschaftstyp wegen ihrer Rückständigkeit identisch ist.«

(39): »Wir führen nichtäquivalenten Tausch mit dem Dorf durch, wir haben einen genau festgelegten Importplan, mit dem Ziel, das gegebene System zu reproduzieren…«

Es finden sich noch eine ganze Reihe weiterer Zitate dieser Art, die eindeutig die Auffassung vom »nichtäquivalenten Tausch« bei Preobraženskij belegen. Ich denke, das Prinzip, das dahintersteckt, ist klar, was durch die Gegenargumente des Gegenspielers Preobraženskijs, Bucharin, zusätzlich verschleiert wird, da auch dieser über kein Mittel verfügt, dieses aufzuheben. Soweit dazu (genauer und ausführlicher: DEBATTE 3 Vortrag und Nachtrag).

Ich hatte zunächst technische Schwierigkeiten, Deine Mail zu entziffern.[3] […] Dein Duktus erinnert mit an Thomas Müntzer (was ja auch gut in den Zusammenhang paßt). Aber Frage: reicht das politische Instrumentarium eines Thomas Müntzer hin, um die Probleme des Kommunismus im 21. Jahrhunderts zu klären? Ich habe bei aller Sympathie für Deinen leidenschaftlichen Müntzer-Stil da meine Zweifel. Durch all die staatlicherseits bekundete [Atom-]Ausstiegsheuchelei und Irrationalität fühle ich mich geradezu provoziert, dafür zu votieren, daß neue AKWs gebaut werden, aber nur unter der Voraussetzung der eindeutigen Klärung der Endlagerfrage, die die Grünen (+SPD) äußerst geschickt und mit großer Perfidie jahrzehntelang auf die lange Bank geschoben haben. In diesem Zusammenhang erscheint der ‚Klimawandel‘ und die ‚erneuerbare Energie‘ tatsächlich als eine einzige „große Erzählung“ von Regierung, Staat und Kapital, als ein Programm zur Kapitalvernichtung bzw. ein new deal, um dem Kapital über die Weltwirtschaftskrise hinwegzuhelfen! Seien wir nicht naiv und sehen wir die Sache mit den Augen des Kapitals: Fukushima hat gezeigt, daß die windfall profits aus den bereits abgeschriebenen AKWs als Gelddruckmaschine unter den bisherigen Voraussetzungen nicht mehr zu haben sind, sondern größere Risiken als gedacht für das Kapital in sich bergen. Tepco wird verstaatlicht oder kommt unter den Hammer wegen des Schadensersatzes, den die Firma zahlen muß. Also muß das Kapital auch in Deutschland vorsichtshalber den Fuß vom Gas nehmen und kleinere ‚erneuerbare‘ Brötchen backen…

Es ließe sich sehr leicht die ‚große Erzählung‘ der Ökologie-Debatte in die entsprechenden schlichten wirtschaftlichen Tatsachen rückübersetzen und dann sehen, wie diese von den politischen Parteien in kleine Häppchen zerlegt an die Wähler verfüttert werden. Aber das en détail vorzuführen, verschieben wir auf später…

Sei mir herzlich gegrüßt und noch einmal herzlich bedankt für das Buch, das jetzt auf meinem

Nachttisch liegt.

Ulli

[1] Romuald Schaber: Blutmilch. Wie die Bauern ums Überleben kämpfen, München 2010.

[2] E. Preobraženskij: Die neue Ökonomik, Berlin 1971.
[3] Strafanzeige gegen die Bundesregierung wegen Atomkraft bei 3. Mahnwache auf dem Stadtplatz in Traunstein am Montag, 28.3.11 um 18 Uhr. http://gradaus.de


H.B. an Ulrich Knaudt (16.04.2011)

Betreff: AW: BLUTMILCH

Lieber Ulrich,

nur ganz kurz – leserlich.

1. Unterscheidung zwischen Theoriearbeit und deren Umsetzung in sog. „Massenbewegungen“, besser mit sog. „einfachen“ Leuten mit „dem Herzen am richtigen Fleck“. Man muß ihnen aufs Maul schauen, besser in die „Seele“, d.h. in die andere Seite derselben hinein (die eine ist’s „Kapital“! – bei allen, allein um ihrer „scheinselbstständigen“ Existenz willen: »..wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man Es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben … Aber wenn man von Arbeit spricht ….«; [MEW] EB 1 S. 521). [1]

2. Ich bin lieber mit Leuten vom Schlag Th. Müntzer zusammen als mit Attaci’s, Grünen oder Linken und Linken Theorieschwätzern. Ich lern‘ – mit Marx – von ihnen mehr als anderswo…

3. Die »Frage: reicht das pol.[itische] Instr.[ument] eines Th.[omas]M.[üntzer] hin…« stellt sich für mich gar nicht, denn zweifelsohne natürlich nicht– der Unterschied zu ihnen, ihnen gegenüber (ja auch „Gegensatz“ und womöglich „Widerspruch“) ist wesentlich, genau so aber auch die Basis von Gemeinsamkeit des Empfindens, unmittelbaren (aber noch unvermittelten) Denkens. Ohne jene gemeinsame Basis mit jenen Gebeutelten kannst den ganzen Kommunismus vergessen, findest ihn nirgends, schon gar nicht als die „objektive Bewegung“ (Marx) außer in einem „theoretischen“ Himmel eines verbürgerlichten Akademismus. Meine »Leidenschaftlichkeit« teile ich mit jener Basis – Marx: der Mensch ist ein »leidenschaftliches Wesen«, da von seinesgleichen und der gegenständlichen Natur abhängig, wovon, wodurch er ist, lebt. Und dies spüren zweifelsohne – noch – die Müntzers, im Unterschied zu anderem „Gesinde“.

4. Jene Müntzers nehmen die Ideale von „Brüderlichkeit“ noch immer ernst – zu Recht. Man darf sie qua Kapital-Besetzung/Okkupation nicht verwerfen. Marx macht gerade nicht den Fehler – wie so viele elitäre Linke, das Kind mit dem Bade auszuschütten: »Wir sehn hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist« (ebenda, S. 577). Und ihrer beide »vereinigende Wahrheit« besteht in einer vom Kapital gepanzerten unmittelbaren (unvermittelten) Unmittelbarkeit – die sich womöglich nur noch als naive regredierte „Sehnsucht“ in Kitsch und sonstigen Vergnügungsmist ausdrückt. »Hegels Hauptfehler« ([MEW] Bd. 1, S. 292 ff.) [2], daß die »Idee« ein Tieferes zu seinem Wesen hat, nämlich »einen wesentlichen Widerspruch«, heißt, diesen Widerspruch deutlich zu machen, dem wir alle unterliegen (allerdings mit einem zugleich wesentlichen Unterschied / Widerspruch: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Prol.[etariats] stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber …« ! ([MEW] Bd. 2, [Die] Hl. Fam.[ilie], S. 37,38) Es wäre fatal, den Widerspruch gegen die (negative wie die positive) Einheit – der durch sie und sie durch ihn ist – auszuspielen. Der ganze „linke“ wie „rechte“ sog. „Kommunismus“, seine ganze Korruption läßt sich daran, damit und dadurch erklären.

5. Dein Zitat von Pr.[eobraženskij] unter Punkt 3 ist „super“, grundlegendst. »Nicht-äquivalenter Tausch« als solcher aber zumindest doppeldeutig: Einmal auf der Grundlage eines bereits allgemeinen Waren-/Äquivalententauschs. Und eines diesem vorgängigen noch nicht; daher die Thematik des (feudalen) „Tributs“ oder wie auch immer. Wir hatten bereits die Diskussion. Beiden allerdings ist gemeinsam, daß „Tausch“ doch stets den Schein von Äquivalenz erzeugt, damit den Tatbestand der Ausbeutung verdeckt!

6. »Leidenschaft«muss überhaupt nicht auf Kosten von Klarheit in puncto Theorie und Analyse gehen.

Im Gegenteil.

Deine Einschätzung, was Du nach Endlagerung und Grüne/SPD sagst, geht völlig in Ordnung, richtig, sehr gut, völlig „dakor“.

Aber wenn Du mit der Wahrheit nicht in Deinem Kämmerlein hocken bleiben willst, sondern draußen mit Menschen als Menschen umgehen willst, dann geht es schlicht und einfach nicht anders als daß du da anzusetzen hast, was in den Köpfen (zunächst) dominiert, um daran dann die Dinge auf den Punkt, d.h. auf den tieferen Widerspruch zu bringen, um dann Marx-Partei dagegen zu halten…

Hab’s versucht mit »Kapitalismus von Staats wegen!«…

Ich brech‘ jetzt einfach ab. Milchblut liegt auf Deinem Nachttisch ‒ richtig.

Natürlich reicht’s nicht. Aber was erwartest Du ? Soll Dir denn der Kommunismus der Menschen, solcher, die ihn noch wenigstens irgendwie im Herzen haben, wie im Schlaraffenland die Früchte schon mundgerecht zufallen?

Haben nicht wir selber auch noch genug Mauern einzureißen ebenso wie sie, nicht weniger als sie, zusammen mit ihnen, angesichts der ganzen wirklichen Scheiße um und in uns herum ?

Stehen wir nicht ganz genau so mitten drin ?

Leider fühlen sich noch viel zu viele darin noch viel zu wohlstandsgerecht „cool“ und wohl, über jene stehend, über sich, über allem ‒ ihre Entfremdung von sich selbst, vom anderen … von seiner und seiner äußern Natur, deren Teil, Wesen er doch selber ist, gar nicht mal mehr wahrnehmend.

Ganz herzlichen Gruß

H.

[1] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte MEW EB 1 I (467-588).
[2] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).


Ulrich Knaudt an H.B. (24.04.2011)

Betreff: ÖKOSOZIALISTISCHER STAMOKAP

Lieber H.,

[…] Du schreibst unter 6., daß Du mit meiner Einschätzung zu den Grünen, Endlagerung usw. vollkommen einverstanden bist. Wenn dem so ist, frage ich Dich, welchen politischen Sinn dann Deine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen die Merkel gehabt haben soll? Eine Aktion, die nach meiner Einschätzung einen qualitativen Sprung in Deiner mir bisher geschilderten politischen Praxis darstellt! Denn es macht einen entscheidenden Unterschied, ob wir auf öffentlichen Versammlungen unseren Marxschen Standpunkt vertreten, wobei man sich den dort herrschenden pluralistischen Spielregeln zu unterwerfen hat oder ob wir uns auf dem reißenden politischen Mainstream mit seinen links-sozialimperialistischen Strudeln und reaktionären Untiefen und seinem ökofaschistischen Gegurgel treiben lassen oder meinen, gefahrlos darauf herumsurfen zu können. Was das eine betrifft, habe ich meine skeptischen Einwände mehrfach vorgetragen. Zu dem anderen habe ich bisher (weil reichlich geschockt) geschwiegen, bzw. bisher nur zu dem Müntzerschen Duktus Deiner halsbrecherischen Höllenfahrt Stellung genommen.
Da wir bisher ein offenes (= undiplomatisches) Verhältnis zueinander unterhalten haben, lasse ich auch jetzt jede Diplomatie beiseite und komme zum politischen Kern der Sache, zu dem Du bereits als Reaktion auf meine skeptischen Interventionen zum Thema: Statements auf öffentlichen Versammlungen, vorbeugend reagiert hast, wenn Du schreibst: »Ohne jene gemeinsame Basis mit jenen Gebeutelten kannst Du den ganzen Kommunismus vergessen, findest ihn nirgends, schon gar nicht als die „objektive Bewegung“ (Marx) außer in einem „theoretischen“ Himmel eines verbürgerlichten Akademismus.« Frage: Muß ich dieses »Du« so deuten, daß es sich dabei um unseren Hauptwiderspruch handelt, den Du Dich jetzt entschlossen hast bei den Hörnern zu packen, um ihn nach der ‚praktischen‘ Seite hin zu lösen, weil dessen Lösung durch unsere bisherige Beschränkung auf den »verbürgerlichten Akademismus« verstellt war? Ich hoffe, daß das nicht der Fall ist. Denn das widerspräche allem, worin wir bisher über das Projekt partei Marx Übereinstimmung erzielt haben (bei naturgemäß offenen Differenzen in dieser oder jener theoretischen Frage). Der ganze Sinn dieses politischen Projekts besteht doch darin, gerade jenen Scheinantagonismus wie er von Dir zwischen der angeblich gemeinsamen »Basis mit jenen Gebeutelten« und dem »verbürgerlichten Akademismus« politisch aufgestellt wird, aufzuheben. Das wird aber nicht funktionieren, wenn man sich auf Deine Alternative »verbürgerlichter Akademismus« vs. gebeutelte ‚Wutbürger‘ überhaupt einläßt. Damit wäre jede kommunistische Strategie den Bach runter gegangen.

Zweifellos gehören jene »Gebeutelten« als Angehörige der zwischen den antagonistischen Klassen stehende Schichten momentan zu den Hauptverlierern der, wie es den Anschein hat, sich alle 80 Jahre wiederholenden Großen Weltwirtschaftskrise, auf deren Höhepunkt wir uns mit wachsender Geschwindigkeit zubewegen. Aber anders als Anfang der 30er Jahre, scheint die Arbeiterklasse diesmal auf der sicheren Seite zu stehen, weil sie noch an der allein in Deutschland (und vielleicht noch in Frankreich) vorherrschenden Scheinkonjunktur ‚teilhaben‘ darf. (Aber gerade wenn die Arbeiterklasse zeitweise Zugang zu der Luxuskonsumtion der Bourgeoisie hat, ist dies nach Marx ein sicheres Zeichen für den bevorstehenden Crash!) Wer anderes hat die bei 36% liegenden Schwarzen in Ba-Wü gewählt als diese lohnarbeitenden Luxuskonsumenten? Auf jeden Fall nicht die ‚Wutbürger‘ und rebellischen Bauern (allenfalls deren ‚rechter‘ Bodensatz), sondern jene noch in Lohn und Brot stehenden Lohnarbeiter, die die Partei ihres Patrons wählen, der ihnen bisher ‚Arbeit gab‘. Und wenn Du Dich (im Gegensatz zu dem wieder einmal stattfindenden deutschen Sonderweg) in ganz Europa umschaust, wurde in den letzten 5 Jahren überall ‚Rechts‘ gewählt, selbst in dem aus Tradition rebellischen Italien oder dem traditionell sozialdemokratischen Schweden und England. Und selbst wenn Sozialisten, wie in Griechenland oder Portugal und Spanien die Regierung stellen, unterscheidet sich ihre Politik kaum von der Merkelschen. Fazit: diese arbeiteraristokratischen Lohnarbeiter stellen zwar in ihrer Mehrheit keinen revolutionären Faktor dar, aber auch keinen konterrevolutionären – im Gegensatz zu dem ‚linken‘ Konglomerat aus grünen ‚Wutbürgern‘ und radikalen ‚Parkwächtern‘!

Soll die Masse der Lohnarbeiter, die für die Produktion und Reproduktion des Kapitals ‚sorgen‘, etwa zusätzlich jene grün-rosa-rote neue Bourgeoisie und deren neue Elite aushalten, von der sie nicht nur die Steigerung ihrer Abzüge über die magische Grenze von 50%, sondern zusätzliche ‚umweltfreundliche‘ Einschränkungen ihrer unmittelbaren Lebensbedingungen (Rauchverbot, Sparlampen, Energiewindmühlen, ökologische Verpackung der Mietshäuser und weiteren ‚wutbürgerlichen‘ ökofaschistischen Quatsch!) zu erwarten haben?[1] Sarrazins Nicht-Hinauswurf aus der SPD als deutliches Indiz, daß der Kurs der Parteilinken gescheitert ist und die SPD das Ruder wieder rumzureißen versucht hin zu ihren abhanden gekommenen Wählerschichten!

Aber nach Fukushima ist jene neue gemeinsam mit der alten Elite dabei, in einer Großen Super-Koalition die alte BRD zu Tode zu regieren, indem sie den gescheiterten Versuchen der politischen Quadratur des Kreises weitere hinzufügt, wofür sich haufenweise Beispiele anführen lassen. Hier nur eine kleine Auswahl: Der von den Grünen aus ‚klimakatastrophalen‘ Gründen zur Norm gemachte Biosprit erzeugt außer einer ‚negativen Klimabilanz‘ vor allem endemische Hungersnöte in Ländern wie Mexiko etc. Abgesehen davon werden durch die damit einhergehenden Monokulturen die Böden ausgelaugt und zusätzlicher Urwald in Brasilien gerodet. Es wird also, das, was man eigentlich verhindern wollte (Klimakatastrophe), eher potenziert. Die Windmühlenenergie macht den Bau von zusätzlichen Staubecken in idyllischen Bergregionen erforderlich, um Energiespitzen auszugleichen, bei dem all die possierlichen Tierarten, die der BUND immer ins Feld führt, um z.B. ein halbfertiges Kohlekraftwerk in Datteln zur Neubauruine zu machen, auf einmal keine Rolle mehr spielen. Ganz abgesehn von dem Landschaftsverbrauch, der für zusätzliche Stromtrassen und Windmühlenparks erzeugt wird, woran die örtliche Tourismus-Industrie, die nicht zuletzt ein Zubrot für Niedriglohn-Regionen darstellt, vor die Hunde geht… Die Liste ließe sich beliebig verlängern.[2] Die neue grüne Bourgeoisie ist wie die alte eine Metaphysikerin. Sollten wir denn nicht die Dialektiker gegen all diesen metaphysischen Unsinn sein?

Während die Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert sich auf bestimmte Kernregionen konzentrierte, wird Deutschland durch diese neue New-Deal-Wirtschaftspolitik (FAZ: New Deal [3]) zu einem riesigen Industriepark umgebaut. Gleichzeitig zerfallen die klassischen Industrieregionen im Ruhrgebiet, Saarland etc. Was heißt das? Die neue und die alte schwarz-gelbe/rosa-rote/rot-grüne Elite scheint heute nicht nur in der UNO Rußland, China und einem Gangster wie Gaddafi politisch näher zu stehen als dem ‚Westen‘. Ihre ganze Politik scheint darauf hinauszulaufen, sich als bisher vom ‚Westen‘ im Zaum gehaltene ehemaligen faschistische Weltmacht ökosozialistisch (‚Abschalten!‘) und politisch von der Gnade Rußlands (Gazprom) und Chinas direkt abhängig zu machen. (FAZ, 21.04. [4]) Dem entspricht auf der anderen Seite des Atlantiks ein wachsender Isolationismus, der sich bei der bisherigen deutschen Anlehnungsmacht ausbreitet. Dadurch wird auch von dieser Seite der vorherrschende politische Trend noch verstärkt. (Obama war zwar als Wahlkämpfer in Berlin, aber nicht als Präsident…) Dieser neue ‚Ost-West-Konflikt‘ entscheidet sich momentan in Libyen und Syrien, den bisherigen russisch-chinesischen Satrapien im Nahen Osten und in Nordafrika… (AJ: China – Libyen [5])

Deutschland als einstige treibende Kraft bei der Auslösung des Zweiten Weltkriegs (der eine unmittelbare Folge der Zweiten Großen Weltwirtschaftskrise war) hat keinen Friedensvertrag, sondern nur eine gewisse Scheinsouveränität in einem lächerlichen paper of understanding zwischen den bisherigen Besatzungsmächten zugestanden bekommen. Mehr nicht! [6] Die Facharbeiter (aus denen der Großteil der modernen Arbeiterklasse in den „imperialistischen Metropolen“ nun einmal besteht), die bisher die Schwarzen und immer weniger die SPD gewählt haben, wollten sich dadurch bei der Bourgeoisie gegen den Status quo und für die Stärkung des ‚Standorts Deutschland‘ rückzuversichern, indem sie z.B. [1990] nicht Lafontaine (eine Agentur von wem auch immer!), sondern die ‚Wiedervereinigung‘ wählten. Aber die Bourgeoisie betreibt kein Rückversicherungsgeschäft. Diese Illusion kann die deutsche Facharbeiterklasse nach der Libyen-Stimmenthaltung in der UNO gut und gerne abhaken. Das Kapital hat den ‚Standort Deutschland‘ nach China verlegt, dessen ‚Wirtschaftswunder‘ ihm bisher über die unmittelbaren Folgen der ‘Finanzkrise‘ hinweghalf und für den dieses nun bereit ist, einiges moralisches Kapital zu opfern, mit dem es bisher solche Staaten mit mehr oder weniger Erfolg politisch erpreßt hat. (FAZ: Kotau [4])

Während die alten Ententemächte (GB., Fr.) und die alte Kolonialmacht (It.) für einen Sturz Gaddafis plädieren, orientiert sich das pazifistische Deutschland angesichts des Menetekels von Fukushima an russischem Erdgas (Abschaltung der AKWs + Gaskraftwerke statt Kohlekraftwerken) und an der erhofften Fortsetzung des chinesischen ‚Wirtschaftswunders‘ (das es durch die bevorstehende Jasminblüte in wachsendem Maße gefährdet sieht), in der Erwartung (oder mit dem Kalkül), vielleicht auf diesem Weg dem 1945 verloren gegangenen Großmachtstatus einen Schritt näher zu kommen (wobei der zionistische durch einen großrussisch sowjetischen Antifa unter tätiger Mithilfe der LINKEN zu ersetzen wäre)…?

Die Strategie der Marxschen Partei war immer an den tatsächlichen Machtverhältnissen in Europa und den USA orientiert und gegen linke und kleinbürgerliche politische Wunschvorstellungen gerichtet (Lassalle, Proudhon, Bakunin etc.). Diesen Anspruch heute zu realisieren, ist einigermaßen schwierig, allein schon, weil es in Deutschland aus historischen Gründen (Umschlag der Oktoberrevolution in eine Konterrevolution und deren Konkurrenz mit der Konterrevolution in Deutschland) weder eine revolutionäre Arbeiterklasse noch eine Marxsche Partei gibt, die dem Original auch nur andeutungsweise nahekäme. Es gibt nur die politische und soziale Demagogie der neuen Bourgeoisie, die auf die Knochen der in die Produktion und Reproduktion des Kapitals eingespannten Lohnarbeit die Positionen der neuen Elite austestet, um den alten faschistischen Großmachtstatus Deutschlands durch einen ‚antifaschistischen‘ zu ersetzen. Darin besteht die tatsächlich bevorstehende politische Alternative, die vom Kapital auf die Tagesordnung gesetzt wurde und nicht der von Dir ins Feld geführte Scheingegensatz: ‚Wutbürger‘ vs. verbürgerlichter Akademismus. Ein Scheingegensatz schon allein deshalb, weil sich darin nur verschiedene Varianten bürgerlicher Politik und Strategie die Klinke in die Hand geben.

Der ‚Wutbürger‘ des 20. Jahrhunderts hängte sich als rettenden Strohhalm an die Nazis, der des 21. Jahrhunderts an den durch den alten Antifa pädagogisch gewürzten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, einer gelungenen Mischung aus Stalin und Asiatischer Produktionsweise, die in Nordafrika und dem N[ahen] O[sten] gerade (hervorgerufen durch die Große Weltwirtschaftskrise) politisch auf der Kippe steht…

Im Sinne der Marxschen Partei haben wir zu entscheiden, ob wir unseren Teil dazu beitragen. Diese Entscheidung hast Du mit Deiner politischen Initiative nicht gerade vorangetrieben. Das einzige, das ich mir (berechtigterweise!) vorwerfen könnte, wäre, daß ich nicht mehr getan habe, um mich an dieser politischen Entscheidungsschlacht mit meinen Mitteln und Möglichkeiten angemessen zu beteiligen…

Viele herzliche Grüße

Ulli

[1] FAZ 11.04.2011 Lastesel der Nation. Die Bezieher von Arbeitseinkommen haben es nicht leicht.

[2]Siehe das Interview mit einem amerikanischen Umweltschützer, der, um das Klima zu schützen, für Atomkraftwerke plädiert als Indiz für die genannten unlösbaren Dilemmata. FAZ 09.04.2011 Ihr Deutschen steht allein da.
[3] FAZ 05.04.2011 Schneller als Schröder und Trittin:

»1. Wir brauchen einen Minimalkonsens von Ökologie und Ökonomie, hinter dem sich die ganze Gesellschaft versammeln kann… 2. Die Diskussion über diesen neuen Gesellschaftsvertrag (New Deal) sollte gemeinsam organisiert werden – von den Medien, den Institutionen der Politik, den Nichtregierungsorganisationen, den Gewerkschaften und der Wirtschaft… «
[4] FAZ 16.04.2011 Kriecherei in Fernost. Die Wirtschaft schweigt. Wie das Regime selbst, fürchtet der Westen Instabilität in China und hält deshalb still.
[5] Al Jazeera 14.04.2011 China‘s interests in Gaddafi. Huge oil and financial deals play major part in Beijing‘s support for Libya‘s despot and halt to foreign intervention.
[6] FAZ 21.04.2011 Grenzfragen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist 20 Jahre alt. Er ist ein Friedensvertrag. Doch auch die „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ konnte nicht alles klären.


Ulrich Knaudt an H.B. (18.05.2011)

Betreff: TECHNISCHES

Lieber H., […] Zu unserer Debatte empfehle ich einen kurzen Text von Engels, der exakt meine heutige Position ausdrückt.  Die Arbeiterbewegung in Amerika, MEW 21 (335-343).

Warum?

1. Die deutsche Arbeiterklasse gleicht nach ihrer Amerikanisierung seit 1945 in vielem der amerikanischen in ihrer Frühzeit. Dabei sind die drei Formen, die die Arbeiterbewegung in den USA eingenommen hatte, vielleicht auch typisch für uns:

a. die radikale Farmerbewegung zur Verteidigung des eigenen Stücks Land. (Siehe Milchbauern, Krabbenfischer [1])

b. die buntscheckige Bewegung aus allen möglichen proletarischen Sozialromantikern. (Vgl. die uns bekannte Praxis-Gruppe [2])

c. die deutschen Sozialisten, von denen F.[riedrich]E.[ngels] verlangt, sie mögen zuallererst Amerikaner werden. (Eine Forderung, die in gewisser Beziehung an die gesamte Linke zu richten wäre im Sinne ihrer politischen Verwestlichung!)

Zu diesen Bewegungen zählt F.E. übrigens nicht die Sklaven und das Lumpenproletariat, die er zu keiner eigenen Initiative für fähig hält. (Auch hiermit hätte die Linke große Probleme!)

2. Das Zitat am Ende aus dem K[ommunistischen]M[anifest] drückt exakt die Position aus, die Parteigänger der Marxschen Partei heute einzunehmen haben. [3]

3. F.E.s Charakterisierung der Unterscheidung zwischen der Fesselung der Fronbauern an den Boden im Hochmittelalter und der Verjagung der Bauern von demselben im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft im 16. Jahrhundert paßt sehr gut auf Rußland nach 1861, wo vom Zarentum eine Kombination aus beidem als Prozeß durchgeführt wurde. (Das aber nur als Nachtrag zu meinem letzten Vortrag).[4]

1a. betrachte ich als Vorboten für (möglicherweise) 1b. unter der Voraussetzung von 1c.

Im Anhang schicke ich Dir was zu den Krabbenfischern und eine Rezension zu Blutmilch. [5]

Viele Grüße

Ulli

[1] FAZ 07.05.2011 Krabbenkrieg an der Küste. Fast unbemerkt vom Rest der Republik streiken die Krabbenfischer an der Nordseeküste für höhere Preise. Mit teils rabiaten Methoden kämpfen sie um ihr wirtschaftliches Überleben.

[2] Gemeint ist die Gruppe Praktischer Sozialismus. Siehe REAKTIONEN 2009 An H.B. (10.08.2009).

[3] »Die Kommunisten« „ das war der Name, den wir damals angenommen, und den wir auch heute noch weit entfernt sind, zurückzuweisen “ »die Kommunisten sind keine besondre Partei gegenüber den andren Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des übrigen Proletariats getrennten Interessen. […] Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus… Sie kämpfen also für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.«
[4] DEBATTE 4 Das Marxsche „Kapital“ und Marxsche Parteilichkeit.
[5] FAZ 09.05.2011 Der grüne Wutbauer. Ein wunderbar wütendes Pamphlet eines Milchbauern.


H.B. an Ulrich Knaudt (23.05.2011)

Betreff: Frage

Lieber Ulrich, unser Gespräch vom letzten Samstag war gut, danke.

Es hat uns – denke ich – wieder ein kleines Stückchen weitergebracht.

Studier‘ in diesem Zusammenhang und, wie ich sagte, in Zusammenhang mit meiner Strafanzeigen-Begründung, Marx‘ Abschnitt zur »entfremdeten Arbeit« [MEW] EB [1], S. 510 ff., Satz für Satz – Verhältnis des Arbeiters zur Natur, »Lebensmittel« im doppelten Sinne und der »doppelten Seite hin« (S. 512/513 f.).

S. 513 – letzter Absatz: »Das Verhältnis des Vermögenden zu Den Gegenständen der Produktion Wir werden diese andre Seite später betrachten.«

S. 519 – unten: »Wir haben bis jetzt das Verhältnis nur von seiten des Arbeiters, und wir werden es später auch von seiten des Nichtarbeiters betrachten.«

Siehe dann S. 522 – die letzten drei Abschnitte und: »Betrachten wir näher diese drei Verhältnisse. [Fn.:] Hier bricht der Text des unvollendet gebliebenen ersten Manuskripts ab.«!

Frage: gibt‘s dazu was, irgendwo weiter oder auch speziell später dazu geäußertes von Marx ?

»Der Nichtarbeiter tut alles gegen den Arbeiter, was der Arbeiter gegen sich selbst tut, aber er tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut.«

Erster Halbsatz, das Gemeinsame, Gleiche: gegen die »äußere, sinnliche Natur« qua »entfremdeter Arbeit«:

»In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen.« (S. 512).

Geben die MEGA-Ergänzungen speziell dazu etwas her ? (natürlich ist mir klar, daß auch das ganze „Kapital“ darum sich dreht). Kann doch der »nützliche Gebrauchswert« um des T[ausch]W[erts]/Werts wegen lebens-, menschendienlich wie Menschen gefährdend, zerstörend verwertet werden (z.B. medizinisches Gesundheits-, Heil-Mittel oder Kriegswerkzeug/-Mittel) ‒

Allemal um Verwertung des Werts, also ungeachtet von Mehrwert-Ausbeutung, also Mensch schlechthin, menschliche Arbeit schlechthin, welche/r sich an der Natur, »an den Gegenständen der Natur«, an denen er die Arbeit »ausübt« (512/513), um seiner Existenz als Spezies »zu bewähren« (Marx) hat, jedoch die kapitalistische Produktionsweise nach der Seite der Mensch gefährdenden, zerstörenden »Seite hin« »die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (KAP I, S. 530) – Natur und Mensch, schlechthin, qua Gleichgültigkeit des Werts gegenüber Mensch, Natur, schlechthin – (so gleichgültig wie der äußer[en] Natur [der] Mensch selbst ist, würde sie nicht auf seine Eingriffe/Umformungen ‒ gesetzmäßig – reagieren) und wenn‘s dem Menschen um seine Existenz schlechthin geht, nolens volens ein ‚Umdenken‘ sich einstellt, wirksam quasi als die sogenannte „List der Vernunft“, gesetzmäßig als Teil, als Element eines (unbestimmten) Ganzen, der „Natur“, die sich als „Ganzheit“ zwar denken, aber nicht auf einen Begriff bringen läßt (vgl. Marx‘ Diss., [MEW ]EB [1], Seite 230: »würde allerdings seine Begriffsbestimmung aufheben«.

Und die Verwertung des Werts/Mehrwerts, um die sich alles dreht, beinhaltet eben den doppelten G[ebrauchs]W[ert] der Ware Arbeitskraft: Produkt / GW, Lebensmittel des Menschen einerseits, Mehrwert für den Produktionsmitteleigner und Aneigner des produzierten Produkts andererseits –

unsere Disk. zur Klassenkampfbedingtheit:

»Braucht die Weltgeschichte viele Zeit, um hinter das (dieses, am Produkt unsichtbare, ausgelöschte) Geheimnis zu kommen, so ist dagegen nichts leichter zu verstehen als die Notwendigkeit … dieser Erscheinungsform.« (KAP I. S. 562:) »…Resultat, daß der Tauschwert der Arbeit kleiner ist als der Tauschwert ihres Produkts:«

Klar, logisch, eine ‚green economy’ läßt diesen Tatbestand unberührt ! Aber durch diesen Tatbestand ist zugleich das Verhältnis des Menschen zur Natur bedingt, die crux, dass eine kapitalistische Produktionsweise und damit die herrschenden Produktionsverhältnisse der herrschenden konkurrierenden Bourgeoisien weltweit keine menschengerechte menschheitliche Perspektive, Zukunft bieten kann, keine Zukunft der sich als Gattung der Natur begreifenden Menschen – außer Krieg untereinander, Krieg gegen die Natur, gegen die menschliche selbst.

Im Verhältnis der Menschen zur Natur (Gebrauchswerte) liegt damit zugleich das Potential der »Bewegung des Kommunismus«, ungeachtet von Partei, Klasse, Nation, Rasse, Geschlecht, Religion, Weltanschauung – dank schlichter, bloßer Tatsachen, Allgemeinwissen: der Mensch, Teil der Natur, samt seiner physischen und geistigen Wesenskräfte (der Natur), in der er sich durch sie »zu bewähren« hat.

Es gibt also auch eine positive Reduktion/ Abstraktion, „positiver als aller Positivismus“ – Mensch, nichts als »Mensch«, als Teil der Natur, im besonderen die »menschliche Arbeit«,im Austausch mit ihr als sein Lebensmittel, seine Lebensgrundlage und Grund (selbst die großen Kirchen sagen (zuletzt mal J. Ratzinger) unter Anerkennung der Evolutionstheorie zumindest insofern, als die „Kreationstheorie“ zu ihr nicht in Widerspruch stünde).

Wenn Kommunisten sich an und für sich selbst nicht die Perspektive der Menschheit als Gattung zu eigen machen, stellen sie sich so scheinbar über alles wie Gläubige ihre Gottheiten und hätten so selbst auf dem Misthaufen der Geschichte nichts verloren.

Und nochmal (unsre Disk.[ussion]): ohne positive Perspektive – positiver als aller Positivismus/Empirismus – holst du nicht mal einen Hund hinterm Ofen hervor, erst recht keinen Menschen, der, wenn nicht bodenlos borniert, antizipativ, bewußt auf Zukunft hin leben könnte, möchte.

Er hat sich als Mensch zu bewähren – wir.

Muß jetzt abbrechen.

Wir bleiben weiter dran, unbedingt.

Wir lösen den Knoten

Bis bald wieder,

H.

PS: Spruch von Epikur, Goethe, Frankl – sinngemäß:

»Wir sollten einander nicht begegnen wie wir sind, sondern wie wir sein könnten«

freilich, allerdings nicht ohne die Ursachen unserer selbstbedingten Existenz wahrzuhaben.

Klassenkampf-Logik und Gattungs-Logik sind zueinander nur widerspruchsfrei zu kapieren auf der Grundlage und Anerkennung ihres unentrinnbar unvereinbaren, unversöhnbaren Widerspruchsverhältnisses; es macht die Gemeinsamkeit, ja, so absurd oder paradox es sich anhören mag, die Gemeinschaftlichkeit der Menschheit als Gattung aus.

Die bewußte, gemeinsame, ja gemeinschaftliche Anerkennung der Realität, der Wirksamkeit dieser allgemeinen Widersprüchlichkeit an sich, in sich, mit sich und durch sich (jedes einzelnen an sich und allen) dieses „performativen“ Widerspruchs (vgl. Marx in StR zu Staat) ist die Bedingung der Möglichkeit einer anderen, menschlichen Welt ‒

»sobald die Arbeit als das Wesen des Privateigentums erkannt…, d.h. über diese entfremdete und entäußerte Gestalt der menschlichen Tätigkeit als Gattungstätigkeit.« (S. 557).

Klar ist, wie wir feststellten, auch, wie verheerend es ist, Klassenkampf versus Gattung zu stellen, das eine gegen das andere zu verabsolutieren/zu negieren ‒ die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse treiben allerdings stets ganz praktisch dazu ‒ Klasse verabsolutiert sich, Klassen“feind“ gilt nicht mehr als Mensch versus Klassen sind nicht mehr, wir alle sind doch Menschen, brüderlich, geschwisterlich, „Menschheitsfamilie“, und wer das nicht wahr hat, stellt sich außerhalb. Das Zugleich beider widerlegt weder das eine noch das andre so wenig wie es den Widerspruch zwischen beiden aufhebt.

Solange Klassen und Klassenkampf, in welcher Form auch immer, nicht wirklich praktisch aufgehoben ‒ und das ist doch das eigentliche positive Ziel, auch und inbesondre allen Klassenkampfes!, konfundieren beide, untrennbar, in gesellschaftlichen, menschlichen Bewegungen. Und nur in Hinsicht auf die Antizipation des eigentlichen (positiven) Zieles hin kommt beiden in ihrer gegenseitigen Ausschließlichkeit zugleich auch wesentlich positives Moment zu, das beiden eigen, beiden inhärent, immanent ist, das beide zusammenkommen läßt, das »zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist«. (Marx „verwirft“ nicht Hegel, schüttet dessen Idealität, „Allgemeines“, nicht mit dem Bade aus, sondern erklärt dessen bedingten Selbstwiderspruch. Realiter, s. [MEW] EB 1, S. 577, z.B. Kr.[itik] d. H.[egelschen] St[aats]R[echts], S. 210 ff. 244 u.a.).

Übrigens: die sog. Globalisierung ist in ihrem Kern nicht[s] anderes als eine extensive Durchdringung der weltweit menschlichen Arbeit zu T[ausch]W[ert] / Ware ‒ als der Erscheinungsform des »Werts«, Produktion um der Verwertung des Werts, Mehrwerts, Grundlage: private Aneignung menschlicher Arbeitsproduktivität, menschlicher Wesenskräfte, gegen die an sich es überhaupt nichts einzuwenden gibt (fälschliche Gleichsetzung), im Gegenteil. Nur als Mensch vermögen wir diese auf die Selbstgestaltung unseres Lebensbedingungen und unseres Selbst selbst zu nutzen.

Muß jetzt sofort abbrechen ‒

les‘ auch nicht noch mal durch ‒

unfertig,

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (24.05.2011)

Betreff: WEITERE FRAGEN

Lieber H., vielen Dank für Dein Echo auf unser brainstorming. Fertige Antworten habe ich, wie Du Dir denken kannst, nicht. Ich könnte höchstens darauf hinweisen, womit ich mich in der letzten Zeit intensiv beschäftigt habe. Das ist in der MEGA II/1, 367 (= Grundrisse) die Frage der ursprünglichen Akkumulation und ab 378: Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen. (Im Raubdruck [Grundrisse] ab S. 363.) Dort findest Du das, was Marx in den [Ökonomisch-philosophischen]…Manuskripten noch anthropologisch (Feuerbach) und nationalökonomisch (Smith, Ricardo) abzuleiten versucht, historisch entwickelt, im Sinne von: ausgefaltet. Wir Linken tragen von ’68‘ her das Erbe mit uns herum, mit dem KAP[ital] (meistens nur dem Ersten Abschnitt [desselben]) als Vademecum alle Probleme der bürgerlichen Gesellschaft abstrakt beantworten zu wollen und konkret nicht beantworten zu können. Auf Seite 511 …Manuskripte kritisiert Marx die Nationalökonomen, die alles aus einem erdichteten Urzustand erklären wollten. Das hielt Marx 1857 aber nicht davon ab, konkrete Überlegungen zur historischen Anthropologie anzustellen und sich in den 70er Jahren immer intensiver damit zu befassen. 1844 ist er auch noch sehr weit von der wirklichen Arbeiterbewegung entfernt, wovon seine Ausführungen auf den Seiten 520/21 über die Erhöhung des Arbeitslohns zeugen. Allerdings scheint auch schon damals (zumindest in Frankreich) der blanke Ökonomismus vorgeherrscht zu haben, wenn es auf S. 520 heißt: »Eine gewaltsame Erhöhung des Arbeitslohns …wäre also nichts als eine bessere Salairierung der Sklaven.« Das erzähl mal unseren heutigen Linken… Aber die hältst Du ja sowieso für irrelevant ‒ ich nicht!

Ich will damit sagen, daß der Satz der Luxemburg (mit der ich i.ü. immer große Probleme hatte) richtig und gut ist: „Die Wahrheit ist immer konkret!“ Das betrifft auch Deine Überlegungen zu Ratzinger und [über] die Kommunisten. Zu dem gestandenen Jesuiten Ratzinger würde ich sagen, daß ihm das Schicksal seiner Kirche über dasjenige der Menschheit geht und daß er damit als Verbündeter bei dem Versuch, die Menschheit vor dem Untergang zu retten, schon mal ausfällt. Den folgenden Satz auf Deiner Seite 3 würde ich umkehren: Wenn die Menschheit als Gattung sich nicht als ultima ratio die Perspektive des Kommunismus zu eigen macht, wird sie mitsamt den Kommunisten und Herrn Ratzinger auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. [1] Mal sehen, wer dann unsere Geschichte machen wird… Damit das nicht passiert, dafür haben wir als ‚geistige Erben‘ des kommunistischen Vermächtnisses von Marx und Engels (und ein ganz klein wenig von Lenin und Mao) konkret zu sorgen. Diese Aufgabe läßt sich aber nur realisieren, wenn wir von den Abstraktionen, die wir aus dem KAP[ital] und der Marxschen Theorie einst gemeinsam mit unseren ehemaligen linken Mitkämpfern gezogen haben, herabsteigen. (Dazu zähle ich auch die Grünen, die es meisterlich verstehen, diesen Job im Sinne der Bourgeoisie zu erledigen. Lernen wir von unseren ehemaligen Genossen, wie man gegenüber der Bourgeoisie konkret wird, ohne selbst grün und bourgeois zu werden!)

Hier mache auch ich erst mal Schluß und überschlafe meine Antwort nicht, zumal es sich um eine vorläufige Antwort mit weiteren Fragen handelt.

Gruß Ulrich

P.S. Zur Frage der Entfremdung habe ich mich nicht geäußert. U.a. deshalb, weil diese Frage im KAP I-III von Marx konkret beantwortet wird, so daß allein auf dieser Grundlage, diese Frage neu aufzurollen wäre… Stichwort: Blaupause. [2]

[1] H.B. an Ulrich Knaudt (23.05.2011): »Wenn Kommunisten sich an und für sich selbst nicht die Perspektive der Menschheit als Gattung zu eigen machen, stellen sie sich so scheinbar über alles wie Gläubige ihre Gottheiten und hätten so selbst auf dem Misthaufen der Geschichte nichts verloren.«

[2] DEBATTE 2 Marx und „Marxismus“ in Deutschland. Anhang.


Ulrich Knaudt an H.B. (24.05.2011)

Betreff: NACHTRÄGLICHES

Ergänzungen

1. Ich halte den Schritt in den [Ökonomisch-philosophischen] Manuskripten, Feuerbachs Hegel-Kritik über den Begriff der Arbeit (Aneignung der Natur) auf den wesentlichen Widerspruch zu bringen (Gattung-Natur, Natur-Gattung) für ganz entscheidend, selbst wenn Marx sich auf diesem Wege nicht von den engen Fesseln der Philosophie und der Nationalökonomie befreien kann (siehe Feuerbach-Thesen).

2. Der wichtigste Text, in dem genau das wenige Jahre später geschieht, ist Das Elend... [der Philosophie]. Obwohl schon wieder eine Weile her, daß ich ihn gelesen habe, würde ich pauschal urteilend sagen, daß es Marx darin gelingt, den Schritt von der Gattung zur Klasse, der ihm in den Manuskripten (der individuelle Arbeiter) verwehrt war, zu vollziehen, ohne sich im Gestrüpp einerseits des Ökonomismus und andererseits des Bakunismus zu verfangen. Diesen Text würde ich Dir auf Deine Frage hin ans Herz legen, falls Du ihn noch nicht intensiv studiert hast.

3. In den GR[rundrissen] wird nicht nur die Nationalökonomie dialektisch auseinander genommen (Wertgesetz), sondern in den von mir genannten Passagen [1] wird auch das Gattungsproblem, nun aber historisch, untersucht und auf den konkreten Begriff gebracht. Die Neue Marx-Lektüre versteift sich auf die Kritik der Nationalökonomie unter Bewunderung der dialektischen Folterwerkzeuge, mit denen Marx die bürgerlichen Ökonomen traktiert; sie hat aber die andere Seite vollständig ignoriert: die Anthropologie, mit der Marx das ganze Entfremdungsproblem auf den wesentlichen Widerspruch bringt (ich sage nicht: reduziert, obwohl das naheläge). Schon aus diesem Grund sollte man sie immer wieder mit der Nase auf die Manuskripte stoßen. Bloß bleibt das auch ein moralischer Appell, der sie wahrscheinlich nicht von ihrem Ökonomismus (Die Linke) und Bakunismus (…‚Ums Ganze‘), wenn es konkret wird, abhalten wird. [2]

4. Der wesentliche Widerspruch in den bezeichneten GR-Passagen besteht einerseits im Privateigentum (Kapital = nationalökonomische Seite) andererseits im Eigentum der Produzenten an den Produktionsbedingungen, d.h. in der historischen Konkretisierung von Produktionsverhältnissen, in denen der Mensch als Gattungswesen ganz bei sich ist = nicht entfremdet leben und arbeiten muß. Die Feuerbachsche Anthropologie wird historisch konkretisiert (Stichwort: Dorfgemeinde). Bei diesen Produktionsformen handelt es sich nicht um ein ‚Modell‘, das sich Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler ausdenken und auch benötigen, um die komplizierten Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise auf ein abstraktes Ur-Verhältnis (der Wilde, der Jäger) atomistisch zu reduzieren, sondern darum zu zeigen, wie die wirkliche historische Menschheit den Widerspruch zwischen Natur und Gattung in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen ‚Milieu‘ konkret gelöst hat. Die „mögliche …andere Welt“ hat es hier wirklich gegeben!

5. An diese positive Real-Utopie haben die Nationalsozialisten mit äußerstem Geschick angeknüpft und  diese ‚den Menschen‘ in der großen Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren als Rückkehr in die vergangene Wirklichkeit einer „möglichen anderen Welt“ verkauft, die in deren kollektiver Erinnerung noch konserviert war und versprochen, ihnen durch einen salto mortale in diese nicht entfremdete Vergangenheit den notwendigen Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise zu ‚ersparen‘. Die grüne Linke und die linken Grünen treiben im Prinzip des gleiche Spiel. In meinem 2. Emmely-BLogbuch (BL310) [3] bin ich darauf gestoßen, daß die Produzenten in der Sowjet- und NS-Wirtschaft die gleiche Position einnehmen. Sie werden vom jeweiligen Staat vor dem Kapital geschützt und metaphorisch zu Eigentümern an den Produktionsbedingungen erklärt, ohne dies konkret zu sein, weil an ihrer Stelle der Staat diese Position einnimmt. (Hier ließen sich all jene Bestimmungen, die in den Manuskripten die Entfremdung des Menschen = Produzenten ausmachen, nach Belieben einsetzen. Siehe: die Beliebtheit der Frühschriften bei bestimmten Marxisten in der DDR! Und die Bemühungen der Staatsmarxisten, deren Bedeutung zu minimieren! Auch hätten die Bakunisten hier ein weites Betätigungsfeld, wenn sie aufhörten, den historischen Faschismus ausschließlich unter politischen Voraussetzungen zu bekämpfen…). Der Antifa Der Linken, der sich ebenfalls hauptsächlich an die politischen Erscheinungsformen des NS (Zerschlagung der Demokratie und der Koalitionsfreiheit) hält, umgeht aus verständlichen Gründen diesen entscheidenden Punkt, der sein eigentliches Wesen ausmacht. Und deshalb kann der Antifa jederzeit aus der Negation der einen faschistischen Form in eine andere umschlagen. Entscheidend ist, daß die Produzenten ihrer konkreten Möglichkeiten, gegen das Kapital Widerstand zu leisten, unter allen Formen des vorgeblichen ‚Schutzes der Menschen vor dem Kapitalismus‘ von Staats wegen beraubt werden. Allein unter dieser Voraussetzung ist jeder Satz aus den Manuskripten konkret wahr und, den roten, grünen, braunen Faschisten an den Kopf geworfen, ein Volltreffer! Ohne diese konkrete Voraussetzung bleibt die Passage, die Du [aus den Manuskripten] zitierst, ein zwar aufwühlender, aber moralischer Appell an die Menschheit, den auch die S.J. (fast! ‒ wenn bestimmte Dinge nicht beim Namen genannt werden) unterschreiben könnte.

Dies alles habe ich mit dem Luxemburg-Zitat (das auch Lenin gefallen hat) gemeint. Ob sie selbst das so gemeint hat, bleibe dahingestellt. Ich würde es bezweifeln. Dennoch ist dieser Satz sehr richtig und besitzt einen hohen Wahrheitsgehalt.

Viele Grüße

Ulli

[1] Ulrich Knaudt an H.B. (24.05.2011).WEITERE FRAGEN.

[2] DEBATTE 2 Marx und „Marxismus“ in Deutschland. Anhang.
[3] BLogbuch 3 2010 Der Fall „Emmely: ein Sieg der Linken über die alte Bourgeoisie – ein Pyrrhus-Sieg über das Kapital.


H.B. an Ulrich Knaudt (12.06.2011)

Betreff: AW: TELBIM

Lieber Ulrich,

darf ich Dich daran erinnern:

meine Frage bzw. Bitte in Bezug auf den Abbruch des Textes in [MEW] EB I, S. 519, 522 – »gibt’s dazu was, irgendwo weiter…?« (s. mein Mail vom 23.5.), nämlich in dieser dezidierten Weise:

»Betrachten wir näher diese drei Verhältnisse …geben die MEGA-Ergänzungen speziell dazu (!) etwas her?« ‒ was der »Nichtarbeiter … tut nicht gegen sich selbst, was er gegen den Arbeiter tut«?

Es geht mir darum, beider Tun zu messen an der Unvereinbarkeit des Widerspruchs zu: »Gesetzt den Fall, wir hätten als Menschen produziert…« Es betrifft übrigens nicht nur das „Wie“, sondern ebenso, implizit, das „Daß“ – überhaupt Arbeit zu haben, d.i. Teilhabe an der (Re-)Produktion der Mittel des eigenen Lebens, und das „Was“ –

der »nützliche Gebrauchswert kann zweckgerichtet bzw. wirksam sein, menschendienlich, – verträglich wie auch –unverträglich, -zerstörerisch … «, an sich,

seinesgleichen, an der (äußern) Natur (eine Art „trinitarischer“ Kreislauf: bei dem das Verhältnis des Menschen zur Natur – z.B. privateigentümlich / gemeineigentümlich – immer zugleich auch untrennbar verknüpft, verschränkt ist mit dem zu seinesgleichen und zu sich selber; jedes bzw. je beide der drei sind durch ihr je anderes dekliniert (,‚gebeugt“).

Also,

was der Arbeiter wie ebenso der Nichtarbeiter gegen sich selbst, was der Nichtarbeiter gegen den Arbeiter ohne gegen sich selbst?

Ohne diese Frage persönlichst an sich und zugleich unter Bestimmung des Gemeinsamen aller Subjekte in [zu]mindest dieser doppelten Hinsicht, zum einen, was der Nichtarbeiter i. U. z. Arbeiter »nicht gegen sich selbst tut«und was zum anderen jeder, alle in Widerspruch zu sich selber, allgemein, tun, das ganze Kapital-Verständnis hohl, abstrakt – wie es es selbst zugleich ist und nicht ist. Wieder mal auf die Schnelle, bis bald wieder,

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (13.06.2011)

Betreff: DER ARBEITER UND DAS KAPITAL

Lieber H., wie Du aus dem Anhang entnehmen wirst, habe ich mich in den letzten 20 Tagen mit dem BLogbuch 111 befaßt. Es enthält im Prinzip inhaltlich das, was ich in meinem Brief vom 22.04. an Dich geschrieben habe. Daher bin ich, was Deine Fragen angeht, etwas aus dem Tritt. Ich hatte mich in zwei weiteren Mails speziell mit dem von Dir genannten Text versucht auseinanderzusetzen. Um das noch mal zu präzisieren: die [Ökonomisch-philosophischen]…Manuskripte können nur mit Gewinn an besserer Einsicht gelesen werden, wenn wir sie von der im KAP[ital] von Marx erreichten Position lesen, was wiederum Rückwirkungen auf die akademische Neue Marx-Lektüre hat. Meiner Meinung nach stehen sie nicht für sich. Das wissenschaftliche Hauptwerk von Marx heißt nicht umsonst „Das Kapital“ und nicht „Der Arbeiter und das Kapital“. Die letztere Perspektive nehmen bereits die Klassiker ein, wobei es ihnen im wesentlichen um das Kapital geht. Diese Perspektive nimmt Marx völlig korrekt von seiner kritischen Position ausgehend ebenfalls zunächst ein ([MEW EB 1, 510: »Wir sind ausgegangen von den Voraussetzungen der Nationalökonomie…«). Aber diese erweist sich, für sich genommen als unzureichend (oder auch nicht, aber nur dann, wenn man sie in einen neuen konkreten – [R.] Luxemburg! – Zusammenhang stellt). Im Grunde, das habe ich beim Studium von D.W.[olf]s Anti-Reichelt/Knaudt-Paper [1] bisher bemerkt, benutzt die Neue Marx-Lektüre (und gerade auch D.W.!) die Marx-Texte durch die Bank als Steinbruch, um aus bestimmten Versatzstücken ein neues System zusammenzustricken. Ich habe den schlichten Anspruch, das, was Marx schreibt zu verstehen, und zwar im Kontext unserer heutigen politischen Verhältnisse. Und dazu können mir auch seine Frühschriften verhelfen. Aber ich habe nicht vor, daraus ein neues System zu machen. Außerdem wird bei der Analyse der Frühschriften in den meisten Fällen abgesehen vom KAP der Zusammenhang mit Marxens späteren anthropologischen Untersuchungen ignoriert. Auch darin sehe ich eine konkrete Weiterentwicklung der anfangs an Hegel und Feuerbach orientierten, aber bereits materialistischen (philosophischen) Anthropologie. Ein weiteres Argument, warum die Frühschriften nicht für sich zu lesen (und auch nicht zu verstehen) sind.

Entschuldige daher, daß ich auf Deine Fragen nicht intensiver eingehen konnte. Ich bin in der nächsten Woche ohne Internet und Telefon. Aber vielleicht kannst Du in der Zwischenzeit Deine Fragen bezogen auf meine Einwände noch ein wenig konkretisieren und zuspitzen!

Herzliche Grüße

Ulli

[1] Dieter Wolf:Qualität und Quantität des Werts (Makroökonomischer Ausblick auf den Zusammenhang von Warenzirkulation und Produktion. Bemerkungen zu Ulrich Knaudts Papier „Unter Einäugigen ist der Blinde König“, zu Helmut Reichelts Papier über seine Geltungstheorie und wie darüber in einer Sitzung der Marx-Gesellschaft diskutiert wurde).


H.B. an Ulrich Knaudt (13.06.2011)

Betreff: AW: DER ARBEITER UND DAS KAPITAL

Lieber Ulrich,

ich versteh Deine ganzen Ausführungen, Ansichten

1. zu »… präzisieren: die … Manuskripte …«‒ daß sie längst nicht auf der Ebene der unüberbietbar wissenschaftlichen Darstellung des „Kapitals“ geschrieben sind;

2. zu »Im Grunde, …«‒ dass die »Steinbruch« -Lamentierer dessen „ganzheitlichen“ Ansatz verwässern, eliminieren;

3. zu »Aber ich habe nicht vor …«– s. Bemerkung zu 1.); aber ich verstehe nicht, bringt mich meinerseits »aus dem Tritt«, wie Du mit allgemeinsten Grundsatzüberlegungen einfach nicht auf meine ganz einfache, banale, konkrete Frage antwortest, »drei Verhältnisse«, Besonderheit des Unterschieds zwischen »Nichtarbeiter … Arbeiter«, möglichst in der einfachen, grundlegenden Diktion à la Frühschriften-Zitat (519,522), nach Möglichkeit sogar dem Kapital selbst oder wie ich frage, irgendwo der MEGA entnehmend!

Mir geht’s nur darum, das Einfachste, Grundlegendste in jenem zitiertem Kontext, wo’s in den Frühschriften abbricht, ebenso einfach und grundlegend auf den Punkt zu bringen. Ich bin dabei, es mir selbst zu stricken –

den schlicht in der »negativen Einheit« wirksamen eigentlichen Antagonismus / »Gegenverhältnis« (Kant’s »Realrepugnanz«, der diese nur math.[ematisch] bzw. an äußern Naturvorgängen beschreibt, s. Colletti [1]), der nicht nur den »Nichtarbeiter« vom »Arbeiter« trennt, abspaltet und umgekehrt, sondern die ganze Spezies, Gattung Mensch einseitig von der Natur abspaltet (als ihrer Lebensgrundlage, ihrem Lebensmittel i.w.S., sowie ihrem Lebensgrund– gänzlich unspekulativ!, als schlichte Tatsache/n !) und damit die ganze Gattung an sich, in sich, mit sich und durch sich selbst gespalten ist …; ebenso wie jeder Staat, jedes Unternehmen, wie jedes Individuum selber, jeder »Arbeiter« im Verhältnis zu seinem Eigentum an sich, nichts als seinem Arbeitsvermögen, und wenn es nicht kraft-entäußernd verkauft werden kann, dies Stück Natur gänzlich nichts, Nichts ist, sofern es nicht noch wenigstens als Sozialballast gehalten konsumierend, sich selbst produzierend an der (Re-)Produktion des Kapitals selber noch „partizipiert“.  

Nur darum, um die Bedeutung dieser einfachen, allgemeinsten Tatsache geht’s mir, „wert“ – bzw. „kapital“–logisch bedingt.

Deine Gesamt-Beurteilungen sind mir dabei zwar nicht unwichtig, aber bringen mich für meinen schlichten Zweck nicht weiter.

Bis bald wieder,

herzlichen Gruß

H.

[1] Lucio Colletti: Marxismus und Dialektik, Frankfurt M. Berlin. Wien 1977.


Ulrich Knaudt an H.B. (25.06.2011)

Betreff: ÖK PHIL MAN

Lieber H., gerade als ich Dir schreiben wollte, warum ich so lange nichts von mir hab hören lassen, kamen Deine ‚Gemeingüter‘. Dazu sage ich erst mal nichts ‒ zumal von meinen ‚Erbfeinden‘ gesponsert (obwohl sie die Libyen-Intervention der UN unterstützen)! [1]

Ich wollte Dir eigentlich nur mitteilen, wie weit ich mit den Ök Phil Man gekommen bin und daß ich vorhabe, Dir was dazu zu schreiben, worin ich zu Deinen Fragen Stellung nehmen werde, nachdem Du geschrieben hast, daß Dir meine bisherigen Stellungnahmen nicht ausreichen. Dazu habe ich die Ök phil Man zu Ende studiert und lese gerade den Fulda [2] (den Du mir mal geschickt hast und der mir bis dato wenig gesagt hat): was er darin als Fachphilosoph von sich gibt, ist sehr brauchbar, was als Theoretiker, geht in Richtung Sprechakt-Theorie und Habermas und ist dann wohl eher zu vergessen. (Interessant, daß es hier bereits von „Strukturen“ nur so wimmelt… War das des Pudels Kern bei D.W.[olf]?)
Also würde ich sagen, wie sollten uns, was dieses Thema angeht, […] gedulden, bis ich mein Zeug fertig habe. Außer Du möchtest mir erklären, was es mit den Gemeingütern auf sich hat. Aber dazu muß ich das auch erst mal gelesen haben.

Viele Grüße

Ulli

[1] Gemeingüter stärken. Jetzt! Thesenpapier entstanden im Rahmen des Interdisziplinären politischen Salons der „Heinrich-Böll-Stiftung“. („Zeit für Allmende“).

[2] H.F. Fulda: Dialektik als Darstellungsmethode im „Kapital“ von Marx; in: Ajatus, Helsinki 1978 (H. 37).



Ulrich Knaudt an H.B.
(30.06.2011)

Betreff: WELTERNÄHRUNG

Lieber H., Deine Nachbetrachtung […] werde ich jetzt nicht unmittelbar beantworten, sondern im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit den Ök[onomisch-] phil[osophischen] Man[uskripten]. Ich habe zu Deinen Stichworten […] geforscht. War aber nicht sehr ergiebig.


H.B. an Ulrich Knaudt (30.06.2011)

Betreff: AW: G 8

[…]

Übrigens, nochmal:

Wenn alles, was sich auf Erscheinungs-/Symptomebene praktisch irgendwie gegen Wert/Kapital richtet, nichts ist, letztlich nur auf dessen Mühlen geht, bleibst nicht nur zuschauender Kommentierer, von draußen, drüber; schulmeisternde Erklärungen verkommen zu Lamentieren …. hast nicht als Subjekt ‒ als Kommunist ‒ selbst auch ein wirkliches Interesse an diesem und jenem das eigene Dasein verbesserndem oder zu verhinderndem Sachverhalt, punktuell oder bestimmten Bewegungen oder Entwicklungen dieser Art ?

Andernfalls würde man doch auf einer rein verbal belehrenden bzw. erklärenden Metaebene, in der Abstraktion von sich selbst verbleiben, von der realen Prozeßhaftigkeit der geschichtlichen Bewegung, in der wir uns befinden, mit der wir in ihr es zu tun haben.

Wenn »Komm.[unismus]« die »wirkliche Bewegung«‒ der Menschen ! ‒ ist, dann verdichten sich, konfundieren alle Widersprüche, die der »Ware« wie der »Arbeit« immanent sind, im Subjekt selbst (das nach Marx »die Ware« selbst »ist«; und nochmal: der »Gebrauchsgegenstand oder Gebrauchswert« selbst bereits kann als solcher als menschlich nützlicher wie auch zu unmenschlichen Zwecken produziert werden, letzteres qua Konkurrenz des Privateigentum[s], des »Eigennutzes« der Subjekte, der Privateigentümer, angefangen beim Subjekt als einzelnem Individuum, einzelnem Unternehmen, Staat, Staatenbünde … der Gleichgültigkeit im doppelten Sinne (gleichgültig, wenn es nicht tangiert, so wie gleich gültig, wenn es um es / sich seiner selbst [willen] geht, auf Kosten andrer), aller, allgemein

so versteh ich Marx‘ »rohen Kommunismus«, zugleich an einem Kulminations-(Bifurkations-)punkt anlangend, an dem der Allgemeinheit dies, nämlich das allgemeine Wesen des (exklusiven) Privateigentums (bellum omnium contra omnes) schon auf [der] Erscheinungsebene augenfällig erkennbar, sichtbar wird…

als Widerspruch der Menschheit, Gattung a n sich, in sich, mit sich, durch sich !

und durch denselben zugleich der Widerspruch derselben zur Natur inkl. zu ihrer eigenen bedingt ist, und v.v., sie sich also gegenseitig, wechselwirkend hervorbringen, bedingen ‒

eben aufgrund der Privateigentümlichkeit des (Aneignungs-) Verhältnisses der Menschen:

gegenüber der Natur

gegenüber seinesgleichen,

gegenüber sich selbst;

es ist nicht die Gattung als »Teil«, als Wesen, als Gemeinwesen der Natur, mit ihren »physischen und geistigen Kräften«, durch die sie »mit sich selbst zusammenhängt« (vgl. [MEW] EB 1, S. 516 oder: der Mensch »in seinem individuellsten Wesen« = »Gemeinwesen«, EB 1, S. ?). [1]

Ist nicht heute mehr und mehr allgemeines Thema „global“ die Menschheit, die Gattung selbst, ihr Leben, Überleben als solche, Zweck ihrer an sich um ihrer selbst willen, Selbstzweck ‒ als Teil, als Wesen der Natur? (wenngleich der Begriff von Natur sich dem Begriff entzieht) Bedingung dieser Möglichkeit
praktisch ist die Aufhebung ihres Widerspruch an sich, in sich…, ihr einhergehend zugleich der zur Natur?

Gäb‘s darüber heute nicht -zig Ansätze zur Verdeutlichung des Individuums, des Subjekts und allgemein der Gattung selbst als Subjekt in seiner (gemeinsamen, allgemeinen) Widersprüchlichkeit an sich, in sich … für sie / sich selbst…?

Entspricht nicht Marx‘ »kategorischer Imperativ« bzgl. der Aufhebung vom geknechteten, gedemütigten, erniedrigten Menschen ‒ durch sich selbst verursacht qua »Wert« / »Tauschwert«, der »Wertform« qua Privateigentum / –Verhältnis, qua allgemeinem privateigentümlichen
Verhalten der Menschen zu …, welche die gesellschaftliche Struktur als wirkliche, allgemein
geltende real konstituieren! ‒

der Möglichkeit und noch mehr der Notwendigkeit, diesen für die Menschheit, für die Gattung insgesamt, menschheitlich für das Gemeinwesen Mensch schlechthin zu postulieren ?

Klassen / Klassenkampf‒ nicht um seiner selbst willen, sondern zu diesem Zweck!?

Zur Aufhebung der Lohn- / »Wert« -Sklaverei überhaupt, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, der Entfremdung des Menschen schlechthin von sich, seinesgleichen, der Natur…

Deshalb Gemeineigentum! ‒ dem (objektiven) Gemeinwesen der Individuen, Subjekte entsprechend, und v.v., Mensch sich als Mensch »bewährend«, damit zugleich, endlich, sich selbst

wirklich »Wert«, »Würde« verleihend!?

Gäb’s nicht neben dem erdrückend Negativen, in der »negativen Totalität«, der Totalität der »Negation« seiner selbst nicht mannigfaltig Positives in den verschiedensten Sphären der Welt der Menschen, das es zu erkennen gilt, um es in einem zu verteidigen wie zu entfalten, in der einen, dann wäre die Marxsche Erkenntnis vom »Kommunismus« als der »wirklichen Bewegung« hohl, leer, Phrase.

»Die Diremtion der Welt ist erst total, wenn ihre Seiten Totalitäten«…, »denn riesenhaft ist der Zwiespalt, der Ihre Einheit ist« ([MEW] EB I, S. 215, 217).

Der »Zwiespalt« macht ihre Gemeinsamkeit, Einheit aus. Also kommt’s drauf an, denselben an uns, den Menschen, der menschlichen Gattung an sich als einen ihr »gemeinschaftlichen« begreifbar werden zu lassen ‒

Das wäre wenigstens schon mal die halbe Miete.

Brech‘ jetzt einfach ab ‒

heute Morgen ist bald die Nacht rum.

Vielleicht ein weiteres kleines Stückchen Bruchstück.

herzlichen Gruß,

bis bald wieder,

H.

[1] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte MEW EB I, 535: »In ihm [Verhältnis des Menschen zum Menschen] zeigt sich also, in[wie]weit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm zum natürlichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist. In diesem Verhältnis zeigt sich auch, in[wie]weit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.«


H.B. an Ulrich Knaudt (01.07.2011)

Betreff: AW: WELTERNÄHRUNG

Danke, Ulrich, für Deine weitere Recherche.

[…]
In gewisser Weise geht es doch um Planung einer globalen Grundnahrungs-Mittel-Sicherung, also um eine immerhin notwendige globale Produktionsmenge (inkl. Bevorratung), und vor allem doch auch darum, unnötige, nicht rentable Überproduktionen zu vermeiden angesichts rentabler Erträge aus anderweitigen Nutzungen des Bodens der Erde ‒ an sich doch ein sehr ernst zu nehmendes Vorhaben, Planungen, wie es einerseits jedes beliebige Unternehmen vornimmt bzgl. seines wahrscheinlichen Marktanteils, jenes Vorhaben jedoch auf den Gesamtbedarf der Menschen, der Menschheit, also der Spezies bzw. Gattung Mensch überhaupt ausgerichtet und dabei Kosten- bzw. Preiskalkulationen durch Börsenspekulationen bzw."Spekulationsderivate" behindern[d] sind!?

Wie mit diesem Faktum umgehen? Möglichkeiten, Stellung zu beziehen?

Oder etwa nicht? Sich dies etwa entgehen lassen?

Zur Mitteilung von heute Nacht ‒

bitte leg sie vorerst zur Seite, werde solche Nachtproduktionen künftig unterlassen ‒ halte sie für nicht zumutbar.

Es sind paar Gedanken anvisiert, Versatzstücke, an deren Vermittlung ich wieder mal wie schon so oft scheitere.

Aber, ich komm dadurch doch meist paar Millimeter weiter, und auch damit wieder. Heut Nacht aber nicht, nicht wieder.

Nur kurz Folgendes:

Im Mail vom 23.5. konnte ich die Einheit der Bewegung / Entwicklung von Klassenkampf- und Gattungslogik insoweit auf den Punkt bringen, als ich ausdrückte,

‒ daß das »eine nicht gegen das andere zu verabsolutieren / zu negieren« ist und

‒ [daß] »das Zugleich beider weder das eine noch das andre so wenig [widerlegt] wie es den Widerspruch zwischen beiden aufhebt.«

Damit handelt es sich aber um eine nur negative Bestimmung deren Verhältnisses, Beziehung zu einander.

Und hab weiter gefolgert:

»Und nur in Hinsicht auf die Antizipation des eigentlichen (positiven) Ziels hin kommt beiden in ihrer gegenseitigen Ausschließung zugleich auch ein wesentlich positives Moment zu, das beiden eigen, inhärent, immanent ist, das beide zusammenkommen läßt, das „zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist“ (…).«

Um die weitere eigentlich positive Bestimmung dieses Verhältnis[ses], um Vertiefung, Vermittlung, soweit möglich, geht’s mir vor allem, um es in der »wirklichen Bewegung« zu erfassen, und damit und dadurch bewußtes Handeln in ihr logisch und historisch vermittelt begründen und ableiten zu können. Ich halte das für möglich, für unbedingt notwendig (warum Marx übrigens ausdrücklich nicht von „Ziel“ spricht ‒ wie ich an dieser Stelle, dazu ein ander mal).

Zunächst also nur die Frage, lieber Ulrich, inwieweit es Dir möglich ist, diesen vorerst drei Bestimmungen zuzustimmen? ‒ wenn nicht, inwieweit bzw. warum nicht. Übereinstimmungen sollten wir festhalten, um nicht immer wieder dahinter zurückzufallen und wenn, dann mit weiterem guten Grund bzw. Argument. Einverstanden?
Bis bald wieder, ich bleib dran, bohr weiter, mit Dir, dank Dir,

H.
PS: Fulda und [von Karl Marx] die Judenfrage geh ich am Wochenende an. [1]

[1] H.F. Fulda: Dialektik als Darstellungsmethode im „Kapital“ von Marx; in: Ajatus, Helsinki 1978 (H. 37); Karl Marx: Zur Judenfrage MEW 1 (347-377).


Ulrich Knaudt an H.B. (04.07.2011)

Betreff: NICHTS ODER ALLES

Lieber H., gestern war ich auf Einladung des aus max. 4 Leuten bestehenden „Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts in Bochum“ (GiB) bei einem Vortrag von M. Clemens (siehe die an Dich weiter geleitete Mail [1]). Der Referent bewegt sich (wie Du den beiden Heften, die ich Dir schicken will, entnehmen kannst) in etwa auf der Wellenlänge unserer Diskussion. In einem Nebensatz erwähnte er auch Debatten, die er mit R. Kurz und D. Wolf über die Werttheorie geführt hat. Vielleicht kennst Du ihn ja.

Die Zuhörer bestanden aus den mir bekannten „üblichen Verdächtigen“ o.g. Instituts (bei C. Bauer hatte ich […] 2 Semester lang ein wenig Marx studiert) und dem Anhang, den der Referent aus Duisburg mitgebracht hatte: einer fragte mich gleich, ob ich denn vor einer Woche beim Pressefest der UZ war, was ich brüsk verneinte ‒ also alles DKP und [die Partei] Die Linke jenseits der Pensionsgrenze. Mir ist noch nie so klar geworden, weil ich mit diesen Leuten sonst nichts zu tun habe, auf welch niedrigem theoretischen und politischen Niveau diese ‚Marxisten‘ meinen, die Welt verändern zu sollen. […] Das klingt arrogant, ist aber die traurige Wahrheit.

Der Vortrag basierte auf einem „Thesenpapier“ (s.o., das man bei dem Referenten anfordern konnte), auf das er aber gar nicht mehr zurückkam, und einer überaus detaillierten Schilderung des gesellschaftlichen und politischen ‚Milieus‘ aus dem heraus Feuerbach, die Junghegelianer und M.[arx]u.E.[ngels] vor 1848 zu verstehen sind (s. „Materialien“). Im Grunde handelte es sich um zwei Vorträge (wobei der historische Teil als einzelner Vortrag nicht besonders interessant gewesen wäre).

Zu den „Materialien“ und dem „Thesen-Papier“: Viele Zitate werden Dir daraus sehr bekannt vorkommen, gehen aber in ihrer Interpretation nicht über das hinaus, worüber wir schon seit längerer Zeit debattieren. Den Kern soll Feuerbachs Hegel-Kritik bilden, der sich der Referent mit einigen kritischen Anmerkungen im großen und ganzen anschließt und dabei das Vorhandensein eines Geist-Materie-Dualismus bei Feuerbach behauptet. (Ich habe zu wenig Feuerbach gelesen, um das bestätigen oder das Gegenteil behaupten zu können.) Dabei blieb unterbelichtet, welche Stellung Feuerbach zum französischen Materialismus und englischen Empirismus einnimmt und damit die Hegelsche Empirismus-Kritik z.B. in der Ph[änomenologie des] G[eistes] und auch die der Frankfurter Schule (Positivismus-Streit), die diese Position (wenn auch einseitig, aber zu Recht) stark gemacht hat, auf der Strecke.

Das war auch der Punkt, über den die anschließende Debatte nicht hinauskam. Einziger Lichtblick: eine gesalzene Kritik des Referenten an H.H. Holz‘ neo-scholastischer Position zum mittelalterlichen Universalienstreit (die Kategorien sind [danach] genauso real wie die Sachen), dem er „Neo-Stalinismus“ bescheinigte (was ihm einige Buh-rufe einbrachte), so daß er sich daraufhin leider später wieder von seiner angeblich überzogenen Kritik an Holz distanzierte. Man einigte sich auf Sohn-Rethels „Realabstraktionen“ sozusagen als goldenen Mittelweg aus diesem Dualismus.

Zwei Dinge haben die meisten überhaupt nicht verstanden: zum einen, daß Marx in den Ersten drei Kapiteln des KAP I diesen Streit mit dem Fetischcharakter der Ware durch das Ad-absurdum-Führen der Hegelschen Kategorien erfolgreich beendet, wobei er sich der bei Hegel vorgefundenen „Verselbständigung“ bedient (durch ihre gesellschaftliche Bedeutung werden die sich verselbständigenden Paradoxien real, und daher bleiben [sie] nicht nur schlichte Realabstraktionen!). Das zu erkennen, erfordert allerdings einen Restbestand an Dialektik, der aber wegen der ‚Ebenen‘-Konstruktionen in der linken Logik nicht verfügbar ist. Zweitens zitiert der Referent in dem Materialband (S. 32) zwar die von Dir gerühmte Stelle aus [der Marxschen Kritik am Hegelschen …] „Staatsrecht“ , aber als ich die Zuhörer auf die Bedeutung des »wesentlichen Widerspruchs« aufmerksam machte, war das Echo = 0. Sie haben diese Dialektik entweder nicht kapiert oder zumindest nicht zur Kenntnis nehmen wollen. (Kann auch sein, daß ich sie nicht überzeugend dargestellt habe.) Man einigte sich statt dessen darauf, das ganze als Problem der Unterscheidung zwischen „antagonistischen“ und „nicht-antagonistischen Widersprüchen“ abzuhaken, wobei derjenige, der deren Vorhandensein feststellt, entscheiden kann, um welche Sorte Widersprüche es sich im konkreten Fall gerade handelt. Also der Idealfall des DeKaPistischen Dezisionismus!

Zu guter Letzt habe ich dem Auditorium nahegelegt, die Marxsche Hegel-Kritik am Ende der ÖkphilMan noch einmal aufmerksam zu studieren, weil dort die Hegelsche Empirismus-Kritik nicht einfach [von Marx] liquidiert, sondern „aufgehoben“ wird ‒ womit wir bei unserer Debatte angelangt sind und ihrem letzten Stand ausgelöst durch Deine Mails vom 30.06 und 01.07.!

(Ich muß mich erst mal sammeln, um den politischen und theoretische Sumpf, in den ich gestern gestiegen bin, wieder aus den Kleidern zu schütteln oder wie die Anthroposophen sagen, meine arg zerknautschte Geistseele wieder glatt zu bügeln ‒ deshalb schlafen sie nicht auf dem Boden, weil sie dabei ihre Seele zerdrücken könnten…)

Im Gegensatz zu Dir finde ich Deine erste Mail sehr gut, weil darin der Widerspruch, mit dem wir es zu tun haben, klar zum Ausdruck kommt, während der Versuch in Deiner zweiten Mail, mir einen Handel vorzuschlagen, der auf den darin aufgezählten 3 Essentials (1. Klassenkampf vs. Gattungslogik; 2. ihrer Gleichwertigkeit; 3. daher ihrer Nicht-Aufhebbarkeit) gegründet werden soll, uns wahrscheinlich nicht weiterbringen wird…

Ich schicke Dir als Anhang meine spontanen Überlegungen zu Deiner ersten Mail, worin der Widerspruch, den wir zu lösen haben, klar ausgesprochen ist. Diesen würde ich folgendermaßen zusammenfassen:

Es ist hinreichend, daß wir uns über Marx und Engels verständigen, (da es sich bei dem unsrigen nicht um einen akademischen Disput handelt, worin das KM [Manifest der kommunistischen Partei] naturgemäß nur als historisches Dokument verstanden wird), und gleichzeitig für die (Anerkennung und) Positionierung der ‚Partei Marx‘ (die wir gleichfalls nicht, wie im ‚akademischen Diskurs‘ üblich, als historisches Detail auffassen) kämpfen als notwendige Voraussetzung und Ausgangspunkt künftiger Klassenkämpfe. Ob das unmittelbare Resultat dieser Auseinandersetzung (kleingeschrieben!) ‚partei Marx‘ heißen wird, ist völlig sekundär. Ich klebe nicht an diesem Projekt, werde es aber, solange es nichts Vergleichbare gibt, weiter betreiben.

Für uns kommt es darauf an, die in Deiner ersten Mail zum Ausdruck kommende Entgegensetzung unserer Positionen in eine kontrollierte Kernspaltung zu überführen, woraus sich die notwendige Energie für die Erneuerung der Politik einer neuen Marxschen Partei gewinnen ließe.

Der Kern unseres Streits ist, wie es in Deiner ersten Mail heißt, der Dualismus „Nichts oder Alles“. Darin wird das Subjekt entweder zum Weltgeist (U.K. = „Nichts“) oder zur Menschheit (H.B. = „Alles“) aufgeblasen. Die Aufhebung dieses Widerstreits findest Du in der Einl[eitung zur]Kr[itikder]Heg[elschen]R[echts]ph[ilosophie] ([MEW] 1,390), worin die Antwort auf die Frage nach der »positiven Möglichkeit der deutschen Emanzipation? … In der Bildung einer Klasse mit  radikalen Ketten« usw. gesehen wird, »…welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat

Ich denke, daß in dieser Auflösung auch das mögliche Ergebnis unserer kontrollierten Kernspaltung steckt. Nicht allein zwecks Energiegewinnung für die Fortsetzung unserer Debatte, sondern im Sinne der Verteidigung der Zukunft der Menschheit auf diesem Planeten, deren Lebenskräfte und diejenigen der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise langfristig zugrunde gerichtet werden.

Viele herzliche Grüße

Ulli

Anhang:
Wissenschaft vom Kommunismus [01.07.]

 „Ein Nichts zu sein tragt es nicht länger…“

H.B.s entscheidender Fehler besteht darin, daß er der Ansicht ist, die Menschheit werde qua Menschheit die Welt vom Kapitalismus befreien können. Dies zu versuchen, hätte eine terroristische Diktatur zur Folge, gegen die die stalinsche ein wahres Paradies gewesen ist.

H.B. übersieht auf der von ihm angeführten Stelle in den ÖkphilMan die Arbeiter, in denen die Entfremdung des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft wesentlich in Erscheinung tritt und nicht im Menschen überhaupt. Wenn er an die Stelle des Arbeiters »den Menschen« stellt, wird überhaupt nicht einsichtig, warum sich K.M.[arx] mit der trockenen Materie der politischen Ökonomie herumgeschlagen hat. Aus seinen Zitaten [aus den Werken bürgerlicher Ökonomen] wird ersichtlich, daß es ihm beim Studium der Nationalökonomie zentral um die Stellung des Arbeiters zum Kapital geht. Das führt zu dem entscheidenden Satz in der KrHeRphil, daß im Dasein des Proletariers (und nicht des Menschen) die Menschheit vernichtet ist. Menschheit muß man aber naturalistisch lesen: des Menschen als natürlichem Wesen, also auch der Natur im Menschen. Davon wird sich der Mensch nur qua Arbeiter befreien können. Davon kann ihn, wie es in Marxens Auseinandersetzung mit [Arnold] Ruge heißt, auch nicht die Bourgeoisie befreien. Die politische Emanzipation ist die Bedingung für die Emanzipation als Klasse. Aber auf der anderen Seite wird sich die Klasse nicht emanzipieren, ohne die politische Emanzipation bis zu dem Punkt voranzutreiben, (zuzuspitzen! Revolution in Permanenz), der ihr die Emanzipation als Klasse ermöglicht. F.E.[ngels] (in den 80er Jahren): Ohne politische Emanzipation der europäischer Nationen qua Nationen kein proletarischer Internationalismus! [2] H.B. macht also den entscheidenden Schritt, den Marx in den ÖkphilMan vom gesellschaftlichen Ur-Verhältnis zweier sich liebender Menschen (James Mill [3]) zu den Ursachen für die unmenschlichen Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft macht, indem er den wesentlichen Widerspruch in dem Verhältnis des Arbeiters zum Kapitalisten in den Theorien der bürgerlichen Ökonomen analysiert, nicht mit. Er bleibt bei Arnold Ruge stehen. (Siehe Ökphil Man: die Gemeinschaft der Pariser Arbeiter als proletarischer Adel.[4])

Das, was Marx schließlich im Hegelschen Weltgeist vorfindet, daß dieser, um zu sich selbst zu kommen, die Gegenstände wissenschaftlich in Nichts verwandeln muß, kippt bei H.B. in eine All-Bestimmung um. Die Menschheit als universale Allheit wird die Menschheit befreien, indem sie die große Dichotomie (Diss: Diremtion [5]) in der allmenschheitlichen Gattenliebe aufgehoben sehen will. Das führt politisch bestenfalls zum kommunistischen Tugendterror aber nicht zum Kommunismus. Wie die O[ktober]R[evolution] zeigt, liegt auch hier der Teufel im Detail: wie en détail das Proletariat als sich emanzipierende Klasse zu begreifen ist und sich selbst begreift (Pariser Kommune, O[]ktober]R[evolution]). In letzterer gab es in der Tat eine große Diremtion, eine Spaltung des Proletariats in die Verteidiger und die Angreifer von Kronstadt, wodurch die Menschheit um Jahrhunderte zurückgeworfen worden ist. Eine proletarische Staatsmacht, die sich und ihren Staat aus Gründen der Staatsraison vor dem Proletariat schützen muß, hat von der Pariser Kommune Entscheidendes nicht mitbekommen.

Alles oder Nichts ist nicht mal ein guter Tip in einer Spielbank, genauso wenig wie im Börsenspiel, wie jeder Zocker weiß. Also sollten wir uns über diese Dichotomie nicht streiten wie um des Kaisers Bart, sondern den Schritt, den Marx gemacht hat, an diesem entscheidenden Punkt nachvollziehen.

[1] Thema des von Martin Clemens am 02.07.2011 gehaltenen Vortrags: Rolle und Bedeutung der Feuerbachschen Philosophie für die Herausbildung des Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels in den Jahren 1841 bis 1845. www.gi-bochum.de
[2] STREITPUNKT 2 Warum Lenins letzter Kampf gegen den linken Sozialimperialismus nicht zu gewinnen war, 23ff.

[3] Karl Marx: Auszüge aus James Mills Buch „Élémens d‘économie politique“ MEW EB 1 I (445-463).

[4] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte MEW EB 1 I (467-588), 554: »Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.« [5] Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie MEW EB 1 I (259-375), 215,217.


Ulrich Knaudt an H.B. (26.07.2011)

Betreff: GRUNDRISSE

Lieber H., […] Mir ist aufgefallen, daß K.M.[arx] hinsichtlich der Bestimmung des Kapitals als aufgehäufter Arbeit eine kritische Korrektur zu den Ök[onomisch-] phil[osophischen] Man[uskripten] vornimmt, worin er den Arbeitsbegriff, wenn auch in Konfrontation mit den bürgerlichen Ökonomen, noch eindeutig anthropologisch bestimmt [hat]: [d.h.] durch die entfremdete Arbeit entfernt sich der Mensch von seinen noch nicht entfremdeten Ursprüngen, was sein Verhältnis zur Natur und dem Menschen betrifft usw. Aber gleichzeitig ist [dort] die Arbeit bereits die »Substanz des Privateigentums«. In den GR[undrissen der Kritik der politischen Ökonomie] sind dagegen Arbeit und Kapital vom Wertgesetz bestimmt. Gemessen am KAP[ital] bleibt das aber noch in einer erst später endgültig zugespitzten Bestimmung stehen. Dennoch muß man wohl von einem Sprung von der (anthropologisch bestimmten) entfremdeten zu der durch den Wert bestimmten Arbeit sprechen (K.M.s Selbstkritik in den GR: nicht jede Arbeit ist per se Kapital [1]). Diesen Sprung bezeichnet Althusser als epistemische Wende, [2] wodurch der frühe vom späteren Marx dichotomisch getrennt wird. (Den Stalinfreunden war der frühe Marx immer ein Klotz am Bein…) Außerdem findet sich hier ein weiteres Indiz für das Vorgehen der ‚marxistischen‘ Steinbrucharbeiter, die ihre Zitate unabhängig von der Entwicklung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie (in den [Ökonomisch-philosophischen] Manuskripten findet sich diese in ihrer Urform) ohne inneren Zusammenhang neu kombinieren, um damit eine eigene Kritik der politischen Ökonomie in den Stil zu stoßen, die mit der Marxschen nur noch dem Namen nach etwas zu tun hat. Dazu gehört auch unser gemeinsamer Freund D.W.[olf], der wegen seiner enormen Belesenheit weiß, wo er Passendes findet, das er dann, nicht immer mit den erforderlichen Gänsefüßchen versehen, als eigene Thesen vertritt…

Mich hätte sehr interessiert, worin Du bezogen auf die genannte Textpassage Hinweise auf die Vorgehensweise D.W.s konkret vorfindest. Einige Sätze habe ich jedenfalls mit einem gewissen Schmunzeln gelesen, in denen gewisse Mißverständnisse, die bei D.W. auftauchen, bereits kritisch vorweggenommen zu sein scheinen. [3] Das werden wir hoffentlich Gelegenheit haben, uns noch genauer anzuschauen.

[…]

Herzlich Ulli

[1] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie:,168 ff: »Wenn gesagt wird, daß das Kapital „aufgehäufte (eigentlich vergegenständliche Arbeit) ist, die als Mittel zu neuer  Arbeit (Produktion) dient“, so wird die einfache Materie des Kapitals betrachtet, abgesehn von der Formbestimmung, ohne die es nicht Kapital ist. Es heißt weiter nichts als Kapital ist – Produktionsinstrument, denn im weitesten Sinn muß jeder, auch der rein von Natur gelieferte Gegenstand, wie Steine z.B. durch irgendeine Tätigkeit erst angeeignet werden, eh es als Instrument, als Produktionsmittel dienen kann. … Wird so von der bestimmten Form des Kapitals abstrahiert, und nur der Inhalt betont, als welcher es ein notwendiges Moment aller Arbeit ist, so ist natürlich nichts leichter als zu beweisen, als daß das Kapital eine notwendige Bedingung aller menschlichen Produktion ist. … Der Witz ist, daß wenn alles Kapital vergegenständlichte Arbeit ist, die als Mittel zu neuer Produktion dient, nicht alle vergegenständlichte Arbeit, die als Mittel zu neuer Produktion dient, Kapital ist. Das Kapital wird als Sache gefaßt, nicht als Verhältnis
[2] Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt M. 2011, 34 f. Dort wird dieser Begriff als »epistomologischer Einschnitt« übersetzt.

[3]Karl Marx: Grundrisse, 169;170: »Wird andrerseits gesagt, Kapital ist eine Summe von Werten, angewandt zur Produktion von Werten, so heißt das, Kapital ist der der sich selbst reproduzierende Tauschwert. Aber formell reproduziert sich der Tauschwert auch in der einfachen Zirkulation. In dieser Erklärung ist zwar die Form festgehalten, wodurch der Tauschwert der Ausgangspunkt ist, aber die Beziehung zum Inhalt (die beim Kapital nicht wie beim einfachen Tauschwert gleichgültig ist), fallen gelassen. … Um den Begriff des Kapitals zu entwickeln, ist es nötig, nicht von der Arbeit, sondern vom Wert auszugehn und zwar von dem schon in der Bewegung der Zirkulation entwickelten Tauschwert.«


Ulrich Knaudt an H.B. (03.08.2011)

Betreff: NÄCHSTE „SITZUNG“

Lieber H., […] Zusätzlich zu unserer Korrespondenz würde ich Dich bitten, Dir das letzte BLogbuch [1-2011] anzuschauen (zumindest [darin] die Monate Mai und Juni, das davor kennst Du schon aus meinem Vortrag [1]). Ich würde gerne über meine These von den drei Bourgeoisien diskutieren, weil ich denke, daß daran auch unsere ungelöste Klassenfrage und die Faschismusfrage hängt.

Zur Anthropologie: die [Ökonomisch-philosophischen] Manuskripte bilden die Grundlage für die spätere Formulierung des Manifests [der kommunistischen Partei], eine Auftragsarbeit, worin die Klassenfrage zum ersten Mal politisch entwickelt wird (politischer Klassenkampf). Selbstverständlich betreibt Marx in den [Ökonomisch-philosophischen] Manuskripten keine reine Anthropologie, wogegen schon seine Kritik an den zeitgenössischen bürgerlichen Ökonomen spricht. Die Manuskripte sind der erste Schritt aus dem junghegelianischen Sumpf durch seine Kritik an der bürgerliche[n] Ökonomie; die weiteren Etappen sind die Feuerbach-Thesen und die Auseinandersetzung mit Arnold Ruge über den Weber-Aufstand sowie die Einleitung zur Rechtsphilosophie: die Menschheit ist im Proletarierdasein vernichtet… (Hinzu kommt die Kritik an Proudhon zwecks Ausrichtung der praktischen Arbeit im Brüsseler Korrespondenz-Komitee.) Diese Entwicklung begreife ich als eine vom naturalistisch und humanistisch definierten entfremdeten Menschsein im Sinne Feuerbachs zum Proletarierdasein, in dem das Menschsein konkret negiert ist. Insofern würde ich stark vergröbernd von einem anthropologischen Ausgangspunkt sprechen im Gegensatz zu dem sich daraufhin entwickelnden (politischen) ‚Klassenstandpunkt‘ (eigentlich ein Unwort, das durch etwas Präziseres zu ersetzen und zu aktualisieren wäre!) Wie man es auch immer formuliert, würde ich auf dieser Differenz: Humanum – Klasse (– politischer Klassenkampf) in der fortschreitenden Marxschen Entwicklung bestehen!

Gruß Ulli

[1] DEBATTE 4 Das Marxsche „Kapital“ und Marxsche Parteilichkeit.


Ulrich Knaudt an H.B. (24.08.2011)

Betreff: REAKTIONEN 2010 2011

Lieber H., ich schicke Dir die REAKTIONEN 2010 noch einmal, weil mein Bericht über die Sommerschule im letzten Jahr noch nicht darin enthalten war. [1] Zu unserer abgebrochenen Diskussion über Ök[onomisch-]Phil[osophischen]Man[uskripte] solltest Du vielleicht noch mal reinschauen, wegen der Architektonik. REAKTIONEN 2011 geht [bisher] bis Anfang Juni. Nach meiner redaktionellen Arbeit daran ist mir klar geworden, daß wir auf diesem Terrain mächtig aneinander vorbei diskutieren. Damit das anders wird, müßte ich mir den Colletti noch mal ranholen, weil ich schon an seiner Realrepugnanz einiges auszusetzen hatte. [2] Ich bin aber mit Dieter [Wolf]s Reichelt/Knaudt-Kritik [3] beschäftigt, wobei ich davon ausgehe, daß D.W. gegenüber K.M.[arx] ein ganz neues System errichtet hat, das mit dem Marxschen Ausgangspunkt nichts mehr zu tun hat, weil es wieder zu den Klassikern zurückführt. In den ÖkPhilMan bestimmt Marx die Arbeit zum Wesen des Privateigentums als Ausgangspunkt der Bestimmung des Verhältnisses von Arbeiter und Kapitalist. Diese Bestimmung findest Du auch bei Smith und Ricardo. Sie wird aber in dieser Form mit der Formulierung des Wertgesetzes aufgehoben. Das Wertgesetz das in der Gesellschaft wie ein Naturgesetz wirkt (REFLEXIONEN 1). Um den Prozeß der Ausformung des Wertgesetzes über die GR[undrisse] bis zu den beiden Auflagen des KAP und bis zu [den Randglossen zu Adolf] Wagner zu verfolgen, mag Deine "Trinitarische Formel" eine wichtige Grundlage sein, aber sie hilft mir nicht weiter, um die wissenschaftliche Bedeutung des Wertgesetzes als Blaupause für den Aufbau des Sozialismus vollständig zu erfassen. Stalin hatte recht: es spielt zwar für den Aufbau des Sozialismus eine bestimmte Rolle; nur wurde da leider kein Sozialismus aufgebaut, was erst klar wird, wenn man die Geschichte dieser Konterrevolution studiert und mit Stalins ‚Anwendung‘ des Wertgesetzes vergleicht. Da es seiner Ansicht nach in der SU seine Wirkung verloren haben soll, kann Stalin auf Marx verzichten (die Eigentumsfrage ausgenommen, zur theoretischer Legitimierung des Stalinschen Gangster-Sozialismus). Darum geht es mir. Und darin unterscheiden sich unsere verschiedenen Ansätze. Das Einzige, worauf wir uns bisher tatsächlich geeinigt haben, ist, daß wir beide unsere Diskussion für äußerst fruchtbar halten und sie daher unbedingt fortsetzen wollen.

Gruß Ulli

[1] REAKTIONEN 2010 Ulrich Knaudt an H.B. (29.10.-31.10.2010).
[2] Lucio Colletti: Marxismus und Dialektik, Frankfurt M. Berlin. Wien 1977.

[3] REAKTIONEN 2010 Ulrich Knaudt an H.B. (25.07.2010).


H.B. an Ulrich Knaudt (25.08.2011)

Betreff: Nachtrag

Unser »aneinander vorbei diskutieren« liegt – und das muß uns unbedingt klar sein, in der Natur der Sache, wenn wir das (verdoppelte) Verhältnis des Menschen zur Natur und zu seinesgleichen in seiner untrennbaren Einheit begreifen und darüber und nur darüber quasi eine Meta-Erkennntis-Position (Hegel spricht spekulativ von den Gedanken Gottes, als Mensch allerdings auch immer nur relativ, als endliche Wesen/Wissenschaft, Marx‘s. St[aats]R[echt]!) einnehmen, um [uns] als (menschheitliches) Subjekt in diesen seinen Widersprüchen zu »bewähren« , was ohne Aufhebung sowohl der Wertformen-Logik als auch der Klassen schlechterdings unmöglich zu bewerkstelligen ist. Das »aneinander Vorbei« läßt uns, so paradox es scheinen mag, zusammenrücken, wahrhaft.


H.B an Ulrich Knaudt (25.08.2011)

Lieber Ulrich, hab soeben Dein Mail gesehen, gelesen – nur ganz kurz, grundlegend, was Dir auf[fällt]: auch mein Eindruck, »daß wir … mächtig aneinander vorbei diskutieren« – immer wieder, von Anfang an! natürlich muß Colletti’s Sicht auf Kant’s »Realrepugnanz« kritisiert werden, erfaßt sie doch ganz schlicht und einfach nicht das »Ausgangs«-/Grund- »Verhältnis« als privateigentümliches »von Arbeiter und Kapitalist« gleichermaßen, des einen wie des anderen, je an und für sich, »abstrakt«, eben auch als Klassen ! – als solches eben unvereinbar mit/zu Kommunismus !völlig richtig, in der Logik  des Werts sowie an dessen »Substanz«, der (abstrakten) Arbeit, ist es konkret allemal ausgeblendet, annihiliert, »aufgehoben« – allerdings i.S. ihrer praktisch realen (Fort-) Existenz, als real fortexistierendes! ebenso in der „Vaterländischen Volksgemeinschaft“ Stalins – ein Rückfall hinter die Warenproduktion, hinter »bei mir ist das Subjekt die Ware« (K. Marx, [Randglossen zu Adolf] Wagner-Kritik), das Subjekt selbst nicht in seinem Warenstatus (Eigentümer seines Arbeitsvermögens als Zivilisationsfortschritt und notwendig naturwüchsige Bedingung, als Durchgangsstadium seines gemeinschaftlichen Subjekt(bewußt)seins!

die eigentliche „Eigentumsfrage“ – des Menschen an sich und seiner selbst, im bürgerlichen Sinne, geschweige denn der Befreiung von jeglicher bornierten – scheint mir bei Stalin noch gar nicht mal angekommen. 
die daraus folgende »Paradoxie« (Schein) ist Folge der »Antinomie« als Widerspruch innerhalb der Erscheinungsformen, diese wiederum Folge des »Antagonismus« zwischen dem privateigentümlichen Verhältnis einerseits und dem gemeineigentümlichen andererseits als einander ausschließende, unvermittelbare Seiten, ohne die Antizipation des einen in und durch die andre Seite (siehe S. 292 Marx:
Kritik des H.[egelschen] St[aats]R[echts], der H.[egelschen] Dialektik, deren »Grenzen« (Marx, GR[undrisse])!

»darin unterscheiden sich unsere verschiedenen Ansätze« deshalb, weil sie zu unterscheidende, verschiedene Gegensätze der widersprüchlichen Wirklichkeit selbst widerspiegeln, reflektieren!

Deshalb: »unsere Diskussion … äußerst fruchtbar …. unbedingt fortsetzen«, um der Erfassung unserer Wirklichkeit willen, ihrer Widersprüche an, in und durch uns selber, und das ist gut so.

Einfach Schluss; bis dann, bis bald wieder herzlichst,

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (28.09.2011)

Betreff:ABSTRACTS

Tja lieber H., den Brief wollte ich Dir bereits gestern schicken. Ich hatte ihn schon fertig geschrieben und wollte noch den Anhang dranhängen, da hab‘ ich durch irgendeinen Blödsinn den gesamten Mail-account gelöscht und natürlich auch meinen Brief an Dich. Also versuch ich es noch mal von vorn. Ich habe Kronstadt bestellt [1] und Deine Mails dankend erhalten. Im Anhang befinden sich die ABSTRACTs, die ich möglich bald ins Netz stellen will.[2] Es wäre schön, wenn ich auch Dein O.K. für die REAKTIONEN [2011] bekäme, damit ich mich danach intensiver auf meinen Vortrag vorbereiten kann.

Im Zug nach hause saß, wie gesagt, Manfred Lauermann. […]. Wir unterhielten uns dann noch über seine These, daß es doch einen Unterschied zwischen Hitler und Stalin gebe. Letzterer habe, [so M.L.], nachdem er seine halbe Armee hat über die Klinge springen lassen, die militärische Befehlsgewalt wieder an die Generäle abgegeben. Ich meinte, daß das daran liege, daß [auch] die alten Zaren durchaus zu gewissen Reflexionen und zur Selbstkritik fähig gewesen seien, warum dann nicht auch der Neue Zar…?

Er mußte mir schließlich noch mitteilen, daß er für die j[unge]W[elt] ("pfui, wie kann man nur…"!) einen Bericht über die Konferenz schreiben muß.[3] Warum er mir das erzählt hat, weiß ich nicht. Ich erzählte ihm auch, daß ich mit einigen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen Probleme gehabt hätte, so auch mit seinen Einlassungen zu Marxens Russophobie.

Weiter ging unsere Diskussion leider nicht. Ich hatte ein ähnliches Gefühl wie damals mit Christoph Lieber.[4] Ich finde ja beide ganz sympathisch, aber mit dem, was sie politisch draufhaben, kann ich überhaupt nicht sympathisieren…

Ich hoffe, mir ist alles wieder eingefallen, was gestern im elektronischen Nichts zerronnen ist. Ach ja, ich habe mit dem gemeinsam diskutierten Text angefangen und hoffe, daß die Musen mir weiterhin hold sind. Und noch was, weil ich bei unserem Abschiedstrubel, den die DB verschuldet hat, vergessen hatte, mir ‘ne Zeitung zu kaufen, las ich den Harbach weiter.[5] Die Affinitäten zu D.W[olf]. betreffen nicht nur ein paar Seiten, sie durchziehen offenbar das ganze Buch. Was das bedeutet, ist mir für beide Seiten noch nicht klar: möglicherweise dient D.W.s System der politischen Argumentation Harbachs, daß der Reale Sozialismus irgendwie doch noch reformierbar gewesen sein könnte. Dann hätte dieses System plötzlich eine wichtige politische Bedeutung bekommen. Das ist meine Vermutung, die sich erst nach der vollständigen Lektüre bestätigen wird oder nicht.

So, das war’s jetzt aber, viele herzliche Grüße

Ulli

[1] Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt, Berlin 2011.
[2] Im Zusammenhang mit der Überarbeitung von parteimarx.org.
[3] junge Welt 29.09.2011 Marx in Rußland: Eine Wiederkehr. Kein orthodoxer Retrosalat: Eine Tagung in Berlin verhandelte die Sicht von Marx und Engels auf die russische Entwicklung. Siehe auch Neues Deutschland 27.09.2011 Mr. Marx brillant und bissig. Marx-Engels-Forscher feierten in Berlin nicht nur neuen MEGA-Band.
[4] REAKTIONEN 10.12.2010.
[5] Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Berlin 2011.


Ulrich Knaudt an H.B. (19.10.2011)

Betreff: PANSLAWISMUS

Lieber H., […] Zu dieser Veranstaltung [1] ist mir, leider erst nachträglich, noch ein wichtiger Punkt eingefallen: der Panslawismus. F[riedrich].E[ngels]. bezeichnet ihn als einen großen Betrug. Vor allem aber spielt der Panslawismus in der Auseinandersetzung zwischen K[arl].M[arx]. und der russischen Emigration eine zentrale Rolle. Tschernyschewski ist ein ausgesprochener Gegner der Slawophilen, was ihm in den Augen von K.M. große Hochschätzung einträgt. Wie kann man über K.M. und Rußland sprechen, ohne den Panslawismus, soweit ich mich erinnern kann, auch nur zu erwähnen…!?

Ich habe D.W[olf].s Reichelt/Knaudt-Papier über die Hälfte studiert und frage mich inzwischen, ob sich die Mühe gelohnt hat.[2] D.W. wiederholt seine 2, 3 Fehlinterpretation in -zig Variationen und gibt dabei gleichzeitig den ‚Marxismus‘-Papst. Er hat etwas Querulatorisches an sich. Solche Typen gibt es überall in der scientific community. Dort werden sie als Luft behandelt. Gibt es außer dem guten Harbach, der uns D.W. als einen wichtigen Theoretiker verkaufen will, irgendjemanden, der eine ernstzunehmende Kritik an ihm geübt hat? Auch nicht in der MG (Knaudt ausgenommen [3])? Vielleicht sollte ich ihn einfach ignorieren unterstützt durch die Tatsache, daß er an Knaudt nichts konkret zu kritisieren hat, es sei denn, daß dieser seine "bedeutsame" Autorität nicht anerkennt.

Ich habe meine Herbstgrippe und schaue mir jetzt Borussia im Fernsehen an.

Herzliche Grüße

Ulli

[1] REAKTIONEN 28.09.2011.
[2] Dieter Wolf: Qualität und Quantität des Werts. Makroökonomischer Ausblick auf den Zusammenhang von Warenzirkulation und Produktion. (Bemerkungen zu Ulrich Knaudts Papier „Unter Einäugigen ist der Blinde König“, zu Helmut Reichelts Papier über seine Geltungstheorie und wie darüber in einer Sitzung der Marx-Gesellschaft diskutiert wurde.) www.marx-gesellschaft.de
[3] Ulrich Knaudt: Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König sein. Nachtrag und Ergänzungen zur Wolf-Reichelt-Kontroverse. www.marx-gesellschaft.de


Ulrich Knaudt an GdS (28.10.2011)

Hallo Buchladenkollektiv,

vielen herzlichen Dank für die mir zugesandten verschiedenen Materialien, darunter schon vor längerer Zeit die GdS mit den 4 Sarrazin-Artikeln.[1] Nun ist ja seit dem Norwegischen Una-Bomber Breivik und dem nicht stattgefundenen Rausschmiß von Sarrazin aus seiner Partei zu diesem Thema im Blätterwald Ruhe eingetreten. Politiker und Presse sind mit der der Weltwirtschaftskrise Zweiter Teil ausreichend in Atem gehalten.

Das soll mich aber nicht daran hindern, nachdem ich Sarrazins Buch und Eure Artikelsammlung gelesen habe, dazu einiges anzumerken […]:

Es ist Euch nicht gelungen, den von Sarrazin aufgestellten Dualismus zwischen ‚uns‘ hier oben und ‚denen‘ da unten zu durchbrechen und diesen mit Hilfe einer Klassenanalyse der Verhältnisse im heutigen Kapitalismus bezogen auf den Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital aufzuheben. Ihr habt den Sarrazinschen Dualismus einfach nur umgedreht, sodaß ‚die‘ da unten (oder ‚die‘ Moslems) ‚die Guten‘ und ‚die‘ da oben (‚die‘ deutschen »Herrenmenschen«) als die Bösen dabei herauskommen. Dieses Schema wird auch von der Partei Die Linke gerne verwendet, wenn auch verbunden mit einer weniger drastischen Ausdrucksweise (gegen deren sachbezogene Verwendung ich grundsätzlich nichts einzuwenden hätte).

Wenn Ihr Euch auf einen solchen Dualismus einlaßt, verfehlt ihr die Dialektik des Klassenkampfes und begebt Euch auf das Niveau des globalen Rassenkrieges, wie wir ihn seit dem 11.09.2001 erleben, der   als Ausdruck der Konkurrenzkämpfe innerhalb der Weltbourgeoisie zu interpretieren ist. Dadurch seid Ihr nicht in der Lage, zwischen dem Proletariat und seiner Reservearmee auf der einen Seite und dem Lumpenproletariat und dem muslimischen Großstadtmob auf der anderen eine klare Unterscheidung zu treffen. In Ermangelung dessen versucht Ihr Euch auf der gegen Sarrazin bezogenen Position bei dem Großstadtmob anzubiedern und scheint gar nicht zu merken, daß Ihr von Eurer Gegenposition aus ähnlichen Vereinfachungen erliegt, wie Sarrazin sie betreibt.

Der Niedergang der westdeutschen Linken ist von derartigen politischen Scheingefechten ständig begleitet gewesen, die das Fehlen einer auch nur andeutungsweise versuchten dialektischen Aufhebung derartiger Dualismen und der Herausarbeitung ihres materiellen Kerns bezeugen. Solange davon die wirklichen Klassengegensätze überdeckt bleiben, kann sich das Kapital in Scheinwidersprüchen sonnen, wie sie im Dualismus zwischen dem türkisch-libanesischen Großstadtmob und der Ohrläppchen angelegt habenden Arbeiteraristokratie zutage treten; wie also in den Augen dieses Mobs alle Deutschen christliche Herrenmenschen und Rassisten und in den Augen der Arbeiteraristokratie alle türkisch-arabischen Immigranten Schmarotzer sind, deren Unterhalt hauptsächlich von ihren Steuergroschen bestritten wird. ‚Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil‘, sagt Sarrazin, das ist aber auch der Grundtenor Eurer 4 Sarrazin-Kritiken.
Wenn aber darin der Begriff der »Herrenmenschen« eine derartig pauschale und inflationäre Verwendung findet, frage ich mich, warum diese Charakterisierung nicht auch für den großstädtischen türkischen Mob gelten soll?

Die Türkei, der die meisten Angehörigen dieser »Herrenmenschen« sich verpflichtet fühlen, hat als ehemalige Weltmacht im Nahen Osten und auf dem Balkan einen ähnlichen Schrumpfungsprozeß hinter sich gebracht wie das ehemalige Deutsche Reich. Zur Herrenmenschen-Mentalität der Türken schreiben Marx und Engels zur Zeit des Krimkriegs:

»Wir können die Türken schwerlich als die herrschende Klasse in der Türkei bezeichnen, da die Beziehungen der verschiedenen Gesellschaftsklassen daselbst ebenso verwirrte sind wie die verschiedenen Rassen. [Gemeint sind damit zur damaligen Zeit die Angehörigen verschiedener Völker.] Der Türke ist je nach Umständen und Örtlichkeit, Arbeiter, Landmann, kleiner Pächter, Handelsmann, feudaler Gutsbesitzer in dem niedersten und barbarischsten Stadium des Feudalismus, Zivilbeamter und Soldat; aber welche soziale Stellung er auch einnehmen mag, er gehört der bevorrechteten Religion und Nation an – er allein hat das Recht, Waffen zu tragen, und der höchstgestellte Christ muß dem niedrigsten Moslem den Weg freigeben, wenn er ihm begegnet.«

Daran scheint sich bis heute wenig geändert zu haben, auch wenn Kapital und Lohnarbeit in der türkischen Gesellschaft inzwischen eine dominierende Position einnehmen und die feudalen Gutsbesitzer sich dem englischen Typ des gutsbesitzenden Kapitalisten angeglichen haben. Die Denkweise, »einer bevorrechteten Religion und Nation« anzugehören, scheint sich aber gerade seit der Reislamisierung der Türkei durch Erdogan nicht geändert zu haben und gerade im heutigen islamischen Großstadt-Mob verstärkt in Erscheinung zu treten. Von dessen »eingebildeter Überlegenheit« wußten schon Marx und Engels in demselben Aufsatz zu berichten, zu einer Zeit, als der Balkan noch ganz unter osmanischer Herrschaft stand:

»Die Hauptstütze der türkischen Bevölkerung in Europa ist – abgesehen von der stets bereiten Reserve in Asien – der Mob Konstantinopels und einiger anderer großer Städte. Er ist vorwiegend türkischer Abkunft, und obgleich er seinen Unterhalt hauptsächlich durch die Beschäftigung bei christlichen Kapitalisten verdient, hält er doch eifersüchtig an der eingebildeten Überlegenheit und an der tatsächlichen Straflosigkeit für alle Exzesse fest, die ihm der privilegierte Islam gegenüber den Christen verleiht. Es ist wohl bekannt, daß dieser Mob bei jedem wichtigen Coup d‘état durch Bestechung und Schmeichelei gewonnen werden muß. Dieser Mob ist es, der, abgesehen von einigen kolonisierten Distrikten, die Hauptmasse der türkischen Bevölkerung in Europa bildet. Und sicherlich wird sich früher oder später die absolute Möglichkeit herausstellen, einen der schönsten Teile des europäischen Kontinents von der Herrschaft eines Mobs zu befreien, mit dem verglichen der Mob des römischen Kaiserreichs eine Versammlung von Weisen und Helden war.«[2]

Wie ein solcher Mob von der herrschenden Oligarchie gegen Revolutionäre eingesetzt wird, ließ sich anläßlich der Angriffe desselben auf die Besetzer des Tahrir-Platzes in Kairo oder ein anderes Mal auf Gemeindemitglieder der koptische Kirche eindringlich beobachten.

Selbstverständlich lassen sich die von Marx und Engels geschilderten Einschätzungen nicht 1:1 auf unsere Großstädte übertragen, zumal der Kapitalismus in der Türkei inzwischen ein zahlreiches Proletariat hervorgebracht hat, das mit jenem Großstadtmob nicht identisch ist. Auf der anderen Seite ist die oben beschriebene Mentalität des »bevorrechteten« Muslims aber durchaus auch in den Köpfen bestimmter Angehöriger heutiger türkischer, kurdischer, libanesischer ‚Einwanderer‘ in Deutschland und der EU hängengeblieben, sodaß die in den 4 Sarrazin-Artikeln aufgemachte Gegenüberstellung von Hie der christliche deutsche Herrenmensch und Da der diskriminierte und unterdrückte Moslem allein schon deshalb nicht paßt, weil ein Angehöriger des moslemischen Großstadt-Mobs kaum eine Gelegenheit vorübergehen läßt, den christlichen deutschen ‚Schwuchteln‘ mal zu zeigen, wer hier das Sagen hat.

Beschränken wir uns auf einen derartig engen Argumentationszusammenhang, dann sind schematische Gegenüberstellungen wie: Arbeiteraristokratie – Lumpenproletariat, christliche ‚Herrenrasse‘ – islamische Herrenmenschen, Faschismus – Antifa, Zionismus – Antisemitismus usw. innerhalb eines solchen Dualismus nicht aufzulösen. Wir begeben uns zur Freude der (alten und neuen) Bourgeoisie und des imperialistischen Kleinbürgertums (Grüne und sonstige Gutmenschen), die in diesen Dualismen genußvoll leben und weben und sich dabei äußerst wohlfühlen, auf eine schiefe Ebene, auf der wir uns immer weiter von dem uns selbst gesetzten Anspruch entfernen, dazu eine revolutionäre Position zu beziehen. Als rettendes Ufer zeigt sich dann für gewöhnlich entweder die Philanthropie oder die wundersame Entdeckung eines neuen revolutionäres Subjekts, in diesem Fall des islamischen Großstadtmobs, dessen fragwürdiger Befreiungsanspruch dann noch ein wenig antifaschistisch aufgemotzt werden muß. Das ist eine prima Falle, die es den Kapitalisten erleichtert, von den wirklichen Klassenwidersprüchen abzulenken und sich diese auf höchst billige Art vom Halse zu schaffen.

Das kommt dabei heraus, wenn in einem Widerspruch die Extreme voneinander getrennt und verabsolutiert werden und jedes Extrem losgelöst (als Abstraktum) von dem ihm zugrunde liegenden Widerspruch, in diesem Fall der Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln in Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, für sich betrachtet wird.

Ihr habt die von Sarrazin herausgestellten Dualismen (z.B. die Extreme der Stereotype ‚fleißiger Deutscher‘ – ‚fauler Türke‘) nicht aufgelöst, indem Ihr ihnen auf den Grund gegangen wäret, sondern Ihr nehmt diese Dualismen zum Nennwert und kehrt die Extreme einfach in ihr Gegenteil um: christlicher deutscher »Herrenmensch«– türkischer, wegen seines Glaubens unterdrückter Moslem. Was dabei völlig unter den Tisch fällt, ist sowohl das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital, das in dem Import türkischer ‚Gastarbeiter‘ in Erscheinung tritt, als auch das Verhältnis des ‚Immigranten‘ zum türkischen Staat.

Und was das deutsche Kapital betrifft, wäre in erster Linie von dessen ‚Wachstumswünschen‘ (Akkumulation) auszugehen, die nicht erst durch die türkischen ‚Gastarbeiter‘, sondern in den Jahrzehnten davor von 15 Millionen ‚Heimatvertriebenen‘ aus Osteuropa und von den sog. DDR-Flüchtlingen aus der ‚Sowjetzone‘ befriedigt wurden. Und nicht zufällig wurde im selben Jahr, als der Flüchtlingsstrom aus der DDR abbrach, in aller Stille das Abkommen der BRD mit der Türkei unterzeichnet (dessen Abschluß sich gerade zum 50. Mal jährt), mit dem das deutsche Kapital den Rahm auf dem türkischen Arbeitskräftepotential für sich abzuschöpfen verstand, wovon, wie wir nun erfahren, ein nicht geringer Teil in der süddeutschen Autoindustrie ‚Verwendung‘ fand und nicht etwa hauptsächlich als Müllwerker oder in anderen Jobs dieser Art. (Siehe die beiliegenden FAZ-Artikel [3]). Nicht zuletzt dadurch wurde die alte Hierarchie zwischen den Facharbeitern und den Zwangsarbeitern aus den 40er Jahren in abgewandelter Form wiederhergestellt, worin die Wurzeln für die Entstehung unserer heutigen Arbeiteraristokratie zu suchen sind. Ganz nebenbei konnte durch den kostengünstigen Import der ‚Gastarbeiter‘ für das Kapital die eigentlich fällige, aber auch teure Rationalisierung in der Autoindustrie um mehrere Jahre hinausschoben werden.

Als Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal wieder eine deutlich wahrnehmbare Konjunkturkrise ausbrach, wurde von der sozialliberalen Regierung ein Anwerbestopp verhängt, der u.a. bewirkte, daß die ursprüngliche Zweckbestimmung der importierten Arbeitskräfte in den Hintergrund trat und aus den ‚Gastarbeitern‘ zunächst ‚Asylanten‘ und danach ‚Einwanderer‘ und ‚Immigranten‘ wurden.

Allerdings war Deutschland bis dahin kein ‚Einwanderungs-‘, sondern vom 13. Jahrhundert bis zu Hitlers faschistischem Weltkrieg ganz im Gegenteil ein ‚Auswanderungsland‘ gewesen. (Siehe z.B. Einleitung zur 2. Auflage der russischen Übersetzung des Manifests der kommunistischen Partei.[4]) Ein entscheidender Grund dafür, daß die verschiedenen Nachkriegs-Regierungen des deutschen Kapitals über kein den nächsten Tag überdauerndes politisches Konzept verfügten, was denn nach den 2 Jahren vertraglich vereinbarter ‚Gastarbeit‘ mit diesem Arbeitskräftepotential zu geschehen hatte, das dann planlos und sukzessive von ‚Gastarbeitern‘ zu ‚Ausländern‘, ‚Einwanderern‘, ‚Migranten‘ und schließlich zu ‚Mitbürgern‘ umgewidmet wurde. Die westdeutsche Linke hatte übrigens auch keins, höchstens, daß sie in den ‚Migranten‘ ein geeignetes Potential erkannt zu haben glaubte, um dem angeblich faschistischen deutschen Volkscharakter ein, wie sie glaubte, ‚anti-rassistisches‘ Pendant demographisch entgegenzusetzen…

Dies nur einige vorläufige Überlegungen, wie mit Sarrazins Muslim-Schelte historisch und materialistisch umzugehen wäre. (Seine Hartz-Vierer-Schelte müßte auf ähnliche Weise analysiert werden, was ich mir aber zunächst erspare. Dazu verweise ich auf BLogbuch 1 2010 und 3 2010, wo ich mich mit der Stellung der Linken u.a. zu Hartz IV beschäftige.[5] Die beiliegenden FAZ-Artikel zu dem Thema ‚Gastarbeiter‘ erklären dieses keineswegs sehr tiefschürfend, es lassen sich aber, wenn man das Kapitalverhältnis zugrunde legt, daraus gewisse Zusammenhänge entnehmen, die in Euren 4 Artikeln zu Sarrazins Buch kaum Erwähnung finden und woran auch der völlig abstrakt bleibende kommunistische ‚Schwanz‘ am Schluß des 4. Artikels nicht mehr viel ändert.

Abschließend möchte ich versuchen, bezogen auf die oben genannten methodischen Einwände die Ergebnisse  meiner Sarrazin-Lektüre zusammenzufassen:

Sarrazin betrachtet die muslimischen Einwanderer aus der Perspektive des deutschen Arbeiteraristokraten und Kleinbürgers (Wut- und Gutmenschen), der sich von ‚den‘ Türken – gemeint ist wohl eher die türkische Regierung, was er aber für sich behält – über den Tisch gezogen fühlt, weil diese über ‚uns‘ Deutsche den Bodensatz ihrer Gecekondus ausgeschüttet und sich dadurch eines drängenden Problems entledigt haben. Er betrachtet die muslimischen Einwanderer aber auch aus der Perspektive des deutschen Kapitals, dessen Regierung die Lieferung von gesunden möglichst nicht fortpflanzungswilligen Junggesellen (im produktivsten Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren) mit der Türkei vereinbart hatte, aber sehr bald einsehen mußte, daß es sich nicht rechnet, wenn man die gerade frisch eingearbeiteten ‚Gastarbeiter‘ nach 2 Jahren wieder in die Türkei zurückschicken soll. Also blieben ‚die Türken‘ hier, wogegen wiederum die Massenpresse ihre Hetztiraden losließ, obwohl durch einen hektisch verabschiedeten Einwanderungsstopp der Hauptzufluß der ‚Gastarbeiter‘ bereits wieder abgestellt worden war, diese jedoch eine durch den Familiennachzug eintretende Türkisierung Deutschlands drohen sah.

Im Zentrum von Sarrazins nicht enden wollender Frustration steht die von ihm ständig wiederholte Befürchtung, die er mit den verschiedensten Erklärungsversuchen und Statistiken zu untermauern sucht, daß sich ‚Deutschland‘ durch die Folgewirkung der allzu starken Fortpflanzungswilligkeit türkischer Familien zunehmend ‚entdeutschen‘ und seiner ethnischen Konsistenz berauben werde. Nun fragt sich nach fast tausend Jahren deutscher Auswanderung seit der Zeit der Ostkolonisation und der Rückkehr eines nicht geringen Teils der Nachkommen dieser Auswanderer in das Nachkriegsrestdeutschland nach 1945, was denn, rein ethnisch betrachtet, das typisch Deutsche an der autochthonen deutschen Bevölkerung ausmachen soll? Aber Sarrazin ist nicht so dumm, daß er diese Frage beantworten würde. Ihm geht es ausschließlich darum zu zeigen, das das moslemische »Herrenvolk« schrittweise von Deutschland Besitz ergreifen werde, wobei er verschweigt, daß dadurch lediglich das eine durch ein anderes »Herrenvolk« ausgetauscht würde.

Gegen dieses Argument wird in den 4 Aufsätzen nur linkes antifaschistisches und antirassistisches Geschimpfe losgelassen, ohne folgenden Trick in Sarrazins Argumentation wahrzunehmen, geschweige denn zu durchschauen:

1. Sarrazin unterschlägt die schlichte Tatsache, daß der Islam in der von ihm angestrebten politischen Form einen theokratischen Staat verlangt, in dem Religion und Politik zur despotischen Herrschaft verschmelzen müssen, daß aber ein solcher Staat mit der kapitalistischen Produktionsweise, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten über die ganze Welt verbreitet hat, die islamischen Länder eingeschlossen, prinzipiell unvereinbar ist. Ausdruck dieser Unvereinbarkeit ist die Unmenge an islamischen Sekten, die der Islamismus, wenn es nach ihm ginge, zu einer einzigen ‚Staatskirche‘ vereinigen würde, wenn er denn könnte. Dagegen steht neben der Unvereinbarkeit der islamischen Theokratie mit dem Kapitalismus die Unterwanderung des Islam durch jene säkularen Lebensformen, die sich seit den Kulturrevolutionen der 70er Jahre über die Welt verbreitet haben und die, soweit sie mit den Interessen des Kapitals vereinbar sind, von der Bourgeoisie eingemeindet wurden. Der Islam liegt daher in einem Existenzkampf mit der, soweit mit den Bedürfnissen des Kapitals vereinbar, sich säkularisierenden bürgerlichen Gesellschaft, wie die Revolutionen in der arabischen Welt gegenwärtig eindringlich demonstrieren.

2. Sarrazin suggeriert aber seinen Lesern, ‚die Moslems‘ hätten sich dazu verschworen, die ‚deutsche Zivilisation‘ zu zerstören. Aber dies einmal unterstellt, wären als erste Adresse nicht ‚die Moslems‘, sondern die Staaten anzusehen, die ihre islamischen Gemeinden als ‚Staatskirche‘ zu organisieren und zu  beherrschen versuchen (z.B. die türkische Religionsbehörde Ditib im Auftrag der türkischen Regierung). Wenn aber letztlich eine ‚Staatskirche‘ hinter der von Sarrazin beschworenen islamischen ‚Invasion‘ steht, dann handelt es sich um höchst offizielle Politik, die wiederum Ausdruck der Konkurrenz zwischen den als Staaten organisierten Kapitalisten ist, d.h. der Konkurrenzkämpfe innerhalb der Weltbourgeoisie um einen der obersten Plätze in der Weltliga des Kapitalismus.

3. Ich muß nicht ausdrücklich hinzufügen, daß der staatlich betriebene Islamismus zugleich Ausdruck der Politik bestimmter Staaten und ihrer herrschenden Klassen ist (herausragendes Beispiel: Pakistan), um das Elend des Volkes mit dem Opium der Religion zu betäuben, bzw. die Ursachen der sozialen Widersprüche in diesen Ländern auf einen äußeren Feind zu projizieren, gegen den dann die Koranschüler (taliban) losgelassen werden. Wer heute von Faschismus redet, durch den die verelendeten Massen betäubt und ihre Empörung über die herrschenden Verhältnisse von den herrschenden Klassen abgelenkt werden soll, der kann diesen in seiner aktuellen Form in Südasien studieren.

4. Der Weltmarkt ist der Kampfplatz, auf dem die erbitterte Konkurrenz der Weltbourgeoisie ausgetragen wird, ein Kampf, der über das Gewicht, das die einzelnen Staaten einnehmen und deren Rangfolge momentan (noch) auf friedliche Weise entschieden wird. Werkzeuge in diesem Kampf sind die islamischen Gotteskrieger, die von der Weltpolizei des ‚Westens‘ in Gestalt ganzer Armeen (einschließlich Marines, GSG 9 usw.) in Schach gehalten werden. Sarrazin sieht in dieser globalen Auseinandersetzung ausschließlich eine gegen ‚die Deutschen‘ gerichtete Bedrohung, deren Überleben, folgt man seiner Darstellung, wie eine in ihrem Ökotop bedrohte Tierart zu verteidigen sei (nicht zufällig bezieht er den Kernbestand seiner Argumente aus Darwins On Man). Das demographische Gleichgewicht in diesem Ökotop mit Namen ‚Deutschland‘ droht durch das Übergewicht einer ständig von außen in dieses eindringenden Spezies, die sich wie ein Virus extrem schnell vermehrt, zerstört zu werden. Die eine Alternative zur Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichtes wäre ein Rassenkrieg, die andere, zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts, die Förderung der Vermehrung der nicht mehr dominanten Spezies, um die rapide Vermehrung der Zuwanderer in diesem Ökotop auszugleichen. Sarrazins Buch ist ein flammende Aufruf an ‚die Deutschen‘, ihre Anstrengungen in diesem Sinne zu vergrößern, damit ihr Erbmaterial in dem deutschen Genpool qualitativ und quantitativ wieder zunimmt und dadurch verhindert wird, daß ‚Deutschland‘ sich selbst ‚abschafft‘.

5. Seit Hitlers hegemonistischem Rassenkrieg gegen den Rest der Welt ist die Lage der deutschen Bourgeoisie auf dem Weltmarkt noch immer ziemlich prekär. Der ‚rassenreine‘ Staat (die völkische Biokratie!) ist die ethnizistische Variante all jener von der Bourgeoisie unternommenen Anstrengungen zur (letzten Endes vergeblichen) Bewältigung der Widersprüche, von denen die kapitalistische Produktionsweise beherrscht wird, einschließlich des Widerspruchs zwischen der Lohnarbeit und dem Kapital. All jene zu diesem Zweck etablierten Staatsformen dienen in ihrer nicht erreichbaren Idealform dem Aufbau einer widerspruchsfreien kapitalistischen Gesellschaft. Jedoch ist die biokratische Idealform  nicht weniger als die theokratische mit den Widersprüchen, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen, auf die Dauer nicht zu vereinbaren, weil die menschliche Gesellschaft sich nicht auf ein Ökotop reduzieren läßt.

An dieser Stelle beende ich vorerst meine Überlegungen zu Eurer Kritik an Sarrazins Buch. Fortsetzung folgt nach einer Antwort von Eurer Seite. (Es steht von meiner Seite eine Kritik u.a. an GdS 06-07 und 08/2011 aus, wozu einiges anzumerken wäre.) Nur noch eine Bemerkung zum Schluß, die ich für unaufschiebbar halte: nämlich Eure für mich äußerst ärgerliche Forderung, Sarrazins Buch auf den Index zu setzen. (Diese Forderung äußert Ihr auf S. 29 [6] zwar nicht explizit, aber wenn dort auf »verbrecherische Passagen« hingewiesen wird und Ihr Euch fragt, »wie weit ein Bundesbanker und SPD-Mitglied gehen kann, um Elemente rassistischer Ideologie und Nazi-Ideologie als öffentlich diskutierbare Ansichten in Massenmedien und politischen Parteien aller Art einzuführen – von „Bild“ bis Maischberger, von SPD bis NPD«, dann liegt eigentlich der Schluß nahe, daß ein solches Buch verboten werden muß.) Mit solchen unterschwellig geäußerten Verbotsforderungen, die sich letztlich an den bürgerlichen Staat richten, wird der ohnehin in Deutschland herrschende Mainstream bestätigt, alles, was in der öffentlichen Debatte diesem nicht in den Kram paßt, zu reglementieren, auszugrenzen und notfalls aus dem Weg zu räumen. Dahinter steht in Eurem Fall die Strategie des Stalinschen Antifa, d.h. die Anpassung des Kommunismus an das Harmoniestreben der Bourgeoisie und die Harmoniebedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, die in der Selbstzensur ihren höchsten Ausdruck finden. Im Gegensatz dazu sollte unsere Aufgabe darin bestehen, das Proletariat in die Lage zu versetzen, solche Bücher in ihrem historischen Zusammenhang zu kritisieren und die darin herrschenden Gedanken als die Gedanken der herrschenden Klasse zu verstehen und zu entlarven, anstatt sich darauf zu beschränken, über ihren reaktionären Charakter laut zu schimpfen. Wer schimpft und nur laut schreit, hat Unrecht…!

Viele Grüße

[1] Gegen die Strömung November 2010 (Teill 1): Es geht nicht nur um Sarrazin; Dezember 2010 (Teil 2): Sarrazins Programm: „Konsequent durchgesetzter Arbeitszwang“; März 2011 (Teil 3): Sarrazins antiislamische und antimuslimische Hetze in der Pose des deutschen Herrenmenschen; Mai 2011 (Teill 4): Eugenik, Herrenmenschenideologie und Antikommunismus.

[2] Karl Marx; Friedrich Engels: Britische Politik – Disraeli – Die Flüchtlinge – Mazzini in London – Türkei, in: MEW 9, 8; (erschienen in der NYDT am 07.04.1853).

[3] FAZ 26.10.2011: Amerikanischer Druck und türkische Interessen. Deutschland schloß das Anwerbeabkommen nur zögerlich. FAZ 29.10.2011: Gastarbeiter. Die Kunst des Mißverstehens. Sie haben nicht Deutschland, sondern die Türkei gerettet. Warum vor 50 Jahren die ersten türkischen Gastarbeiter kamen und sie keine Opfer waren. FAZ 31.10.2011: Ganz unten. Vor fünfzig Jahren eröffnete die Bundesregierung türkischen Arbeitssuchenden die Möglichkeit, in Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen. Eine Bilanz.

[4] Karl Marx; Friedrich Engels: [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei“] MEW 19 (295-305).
[5] BLogbuch 1 2010: Von Petrograd nach Heiligendamm – Zum Programmentwurf der Partei Die Linke; BLogbuch 3 2010: De Fall ‚Emmely‘: Ein Sieg der Linken über die Bourgeoisie – ein Pyrrhus-Sieg über das Kapital.

[6] Siehe die Broschüre von GdS: Es geht nicht nur um Sarrazin.


Ulrich Knaudt an H.B. (11.12.2011)

Betreff: INFIGHT

Lieber H., ich schicke Dir eine interessante Debatte zwischen Django Schins und mir. Nach unserer Diskussion im Herbst in Berlin über ähnliche Fragen hätte ich gern Dein Urteil über diese Debatte (wenn Dich auch Parteien nicht interessieren – aber es geht nicht nur um Parteien). Wie Du aus den E-Mails ersiehst, hat D.S. das Kriegsbeil zwischen uns begraben (KRITIK 1 und REAKTIONEN 2009), um einen neuen Anfang zu machen. Ich bin ohnehin nicht nachtragend. […] [1]

Außerdem bin ich mit D.W. so gut wie durch und wollte Dir einen Auszug aus meinen Exzerpten schicken; darin wird in nuce deutlich werden, worin sein Marx-Revisionismus, an einem exemplarischen Fall betrachtet, besteht. Ich habe [der Marx-Gesellschaft] angeboten, auf dem übernächsten Kolloquium, das sich mit dem Fetischcharakter [der Ware] beschäftigen wird, einen Vortrag über das Fehlen des Kapitalfetischs bei D.W. zu halten.

Gruß Ulli

[1] {Django Schins hatte nach längerer Unterbrechung wieder Kontakt zu mir aufgenommen, ohne daß sich im Verlauf unserer neuen Korrespondenz die bis dahin bestehenden Differenzen hätten klären lassen. Ganz im Gegenteil haben sich diese so weit zugespitzt, daß er es mir ausdrücklich untersagt hat, unsere E-Mails zu veröffentlichen. Was ihn nicht daran gehindert hat, mir gleichzeitig in regelmäßigen Abständen Bulletins über meinen geistigen Gesundheitszustand zuzusenden. EUK}


H.B an Ulrich Knaudt (24.12.2011)

Betr.: WG: NACHTRAG

Lies im K[APITAL Bd.] 1 (von S. 557) auch 563 und 564.

s. übrigens auch (noch mal) 527 ff., 529, 530.

Sind das nicht Grund-Quintessenzen der Kritik der politischen Ök. d. Kap. Schlechthin ? !

Gut Nacht.


Ulrich Knaudt an H.B. (25.12.2011)

Betr: RE: NACHTRAG

Hab ich gelesen. Sehr instruktiv und erhellend. Aber zuvor ist zu sagen, daß unsere Debatte, die erneut durch ihre Einheit in ihrer radikalen politischen Gegensätzlichkeit glänzte, mehr als erhellend war. Vielleicht haben wir es endlich auf den Punkt gebracht: Rettung der Menschheit durch diese selbst oder Rettung der Menschheit durch proletarische Revolution (wobei Rettung der Menschheit als Abfallprodukt der proletarischen Revolution als Haupt- und Staatsaktion in dieser Abstraktheit endgültig dem vorigen Jahrhundert angehört!).

Die proletarische Revolution als (Neben-)produkt der Haupt- und Staatsaktion aller Retter der Menschheit (O[ccupy] W[all] S[treet]-Bewegung bis Stuttgart 21) halte ich auf der anderen Seite für abgeschmackt und tendenziell sozialfaschistisch (leider eine Kategorie Stalins, obwohl passend) = salatgrüne und wutbürgerliche Kriminalisierung all dessen, was die Weltmarktinteressen des deutschen Kapitals und dessen Maximalprofit potentiell schädigen könnte (ionisierende Strahlung bis Tabakdampf).

Also kann die Befreiung der Menschheit von all dieser Sch… nur ein Nebenprodukt der proletarischen Weltrevolution sein. Aber halt! Es bleibt noch eine dritte Möglichkeit zu überlegen, nämlich daß in diesem Klassenkampf nach Marx (vielleicht kennst Du die Stelle) beide (!) miteinander kämpfende Seiten untergehen. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Aber um eine solche Katastrophe zu vermeiden, ist erst recht eine proletarische Revolution angesagt, weil ‚die Menschheit‘ keine Klasse, sondern eine Totalität ist, in der sich verschiedene Klassen befinden, während sich das Kapital ‚nur‘ aus verschiedenen Kapitalisten zusammensetzt, die trotz ihrer Konkurrenz in konkreten Situationen diese vergessen (siehe P[ariser]K[ommune] oder Bürgerkrieg gegen Sowjetmacht).

Diesen qualitativen Unterschied im Klassencharakter beider Seiten kannst Du nicht einfach so vom Tisch wischen. Die Befreiung der Menschheit vom Kapital muß aus zwei entscheidenden Gründen durch eine revolutionäre Klasse erfolgen. Überleg‘ mal, ob du den spezifischen Zustand der deutschen Arbeiter als Nicht-Klasse (Klassenkonglomerat) nicht zum Maßstab für die heutige Bestimmung des Proletariats machst, was den üblichen Ökonomismus der deutschen Linken zwar negiert, aber nicht aufhebt.

Große Industrie und Agrikultur: Interessant, daß [Seite] 528 der gute Urquhart zitiert wird, den M[arx].u.E[ngels]. vor allem als Verbündeten gegen das russische Zarentum hochschätzten.[1] Seine Schwäche charakterisiert die gesamte heutige Umweltbewegung, die nicht über die Trennung der landwirtschaftlichen und Handelsinteressen hinauskommt, worin K.M. die »Stärken und Schwächen einer Art von Kritik« erkennt, »welche die Gegenwart zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß«. Wichtig ist auch noch der von K.M. festgestellte enge Zusammenhang von bäuerlicher Agrikultur und Manufaktur.

Diesen Zusammenhang nicht entdeckt und fruchtbar gemacht zu haben (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Errungenschaften der Großindustrie, soweit vorhanden), ist eines der Hauptprobleme der Transformationsfrage in der S[owjet]U[nion] gewesen.[2] Die russischen Manufakturbetriebe sind jedenfalls aus der bäuerlichen Hauswirtschaft hervorgegangen und haben diesen Boden, wie sich historisch zeigen läßt, nie endgültig verlassen, woran die Großindustrie auf diesen Gebieten wie Textilindustrie häufig gescheitert ist. Das hat erst das sowjetische Staatskapital zwangsweise vollzogen. (Müßte bei Fortsetzung meiner Vortragsreihe als Grundlage behandelt werden.)

Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft in Arbeitslohn: hier stellt K.M. die Frage zum Wertgesetz, die D.W[olf]. uns immer so gerne stellt und beantwortet sie mit einem Satz (557): der Wert der Ware ist gegenständliche Form (!!!!) der in ihrer Produktion verausgabten gesellschaftlichen Arbeit.[3] Ich werden diesen Satz jetzt nicht interpretieren. Eine weitere Wichtige Bestimmung zum WG (559): die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert (sondern die Arbeitskraft).[4] Der nächste Absatz ist besonders wichtig für mich und meine These von der bewußten Verwendung von Paradoxien in den ersten Drei Kapiteln von KAP I. Der Ausdruck „Wert der Arbeit“ ist ein imaginärer Ausdruck (weil nur die Arbeitskraft einen Wert hat). Dann der entscheidende Satz, der meine Behandlung von [Das] KAP[ital] [Bd.]I. [Abschnitt]I direkt unterstützt: »Diese imaginären Kategorien entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. (!) Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse. Daß in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie.« Und bei D.W[olf].! Die Fußnote 26 [S. 559] wäre eine interessante Kritik an D.W.s Behauptung, die Paradoxien seien einfach nur ‚Metaphern‘…[5]

Ich muß hier leider Schluß machen, weil die Weihnachtsgans verspeist werden muß. Ich werde wohl doch eine Zusammenfassung meiner Erkenntnisse über D.W.s wert-lose Werttheorie zusammenbasteln.

Tschüß Ulli

[1] Karl Marx: Das Kapital I, MEW 23, 528: »Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in die großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewigen Naturbedingungen dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. [Fn.] Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandenen Umstände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.«

[Fn.:] »„Ihr teilt das Volk in zwei feindliche Lager, plumpe Bauern und verweichlichte Zwerge Lieber Himmel! Eine Nation, zerspalten in landwirtschaftliche und Handelsinteressen, nennt sich gesund, ja hält sich für aufgeklärt und zivilisiert, nicht nur trotz, sondern gerade zufolge dieser ungeheuerlichen Trennung“. (David Urquhart: Familiar Words, London 1855, S. 119). Diese Stelle zeigt zugleich die Stärke und Schwäche einer Kritik, welche die Gegenwart zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß.«

[2] DEBATTE 3 Vortrag und Nachtrag.
[3] Karl Marx: Das Kapital I, MEW 23, 559: »Aber was ist der Wert einer Ware? Gegenständliche Form der in ihrer Produktion verausgabten gesellschaftlichen Arbeit. Und wodurch messen wir die Größe ihres Werts? Durch die Größe der in ihr enthaltnen Arbeit. Wodurch wäre also der Wert z.B. eines zwölfstündigen Arbeitstags bestimmt? Durch die in einem Arbeitstag von 12 Stunden enthaltnen 12 Arbeitsstunden, was eine abgeschmackte Tautologie ist. Um als Ware auf dem Markt verkauft zu werden, müßte die Arbeit jedenfalls existieren, bevor sie verkauft wird. Könnte der Arbeiter ihr aber eine selbständige Existenz geben, so würde er Ware verkaufen und nicht Arbeit.«

[4] Ebenda: »Was dem Geldbesitzer auf dem Warenmarkt direkt gegenübertritt, ist in der Tat nicht die Arbeit, sondern der Arbeiter. Was letztrer verkauft, ist seine Arbeitskraft. Sobald seine Arbeit wirklich beginnt, hat sie bereits aufgehört, ihm zu gehören, kann also nicht von ihm verkauft werden. Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie hat keinen Wert. Im Ausdruck „Wert der Arbeit“ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa der Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse. Daß in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie.«
[5] Ebenda, Fn. 26: »Solche Ausdrücke dagegen für bloße licentia poetica [dichterische Freiheit] zu erklären, zeigt nur die Ohnmacht der Analyse. Gegen Proudhons Phrase: „…der Wert der Ware ist ein figürlicher Ausdruck etc.“ bemerke ich [in ders.: Misère de la philosophie] daher: „Er sieht in der Ware Arbeit, die eine furchtbare Realität ist, nur eine grammatische Ellipse…“«.


H.B an Ulrich Knaudt (26.12.2011)

Betr.: AW: NACHTRAG

Lieber Ulrich,

[…]
 – nur ganz ganz kurz:

in Deinem ersten Absatz finde ich mich in keinem Satz wieder. Ich frage mich, mit wem du überhaupt die nächtliche ‚Debatte‘ geführt hast, wenn nur derart hinlänglich Abgeschmacktes verblieben sein sollte. Obendrein ein arger Rückfall in die unsinnige Gegenüberstellung der Interessen von „(proletarischem) Klassenkampf versus Gattung …

»Das Zugleich beider widerlegt weder das eine noch das andre so wenig wie es den Widerspruch zwischen beiden aufhebt …« (mein Mail v. 23.05.11, S. 2). [1] Hätte doch Unser ‚Brennglas‘ – für die verschiedenen Ebenen und ihren Sphären – den Punkt ihrer notwendigen Verbindung zu fokussieren!

Zu Deinem zweiten Absatz: »Diese imaginären Kategorien …«; sie beginnen schon auf der ersten Seite des [Marxschen] Kapitals mit dem »Übersinnlichen« als der »Form« bzw. den »Formen« des Werts bzw. Tauschwerts als »Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse«, der »Produktionsverhältnisse selbst«. Das ganze Kapital ist eine Explikation, eine Abhandlung derselben. Jene Verhältnisse bedingen die Existenz der Gattung in Widerspruch zu ihrem eigentlichen Wesen – idealiter, nach bürgerlicher Lesart, und ebenso nach revisionistischer, stalinistischer, objektiv allerdings, nach Marx!  – der eigentliche antagonistische, nichtdialektische Widerspruch: eine »gesellschaftliche Teilung der Arbeit … ist Existenzbedingung der Warenproduktion, obgleich Warenproduktion nicht (Herv. v. mir) umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung ist« (K[apital], S. 56) – in einem künftig möglichen Kommunismus, wo der »Widerspruch«, jener Antagonismus zwischen der Daseinsweise, der »Existenz« der Gattung und ihrem »Wesen« aufgehoben ist.

Nur so lässt sich ‚Kommunismus‘, mit Marx, als die »objektive Bewegung« begreifen und praktisch dafür eintreten. Ansatzpunkte, an allen Ecken und Enden, gibt’s mittlerweile, heutzutage, zu Hauf, allerdings mit ein wenig ‚Phantasie‘, die jenen, was ihn ausmacht, antizipiert, und davon ausgehend die empirische Wirklichkeit analysiert.

Inhallier doch mal [MEW] EB I, S. 533 – 546 »Privateigentum und Kommunismus«, zum »Widerspruch« zwischen »Existenz«/»Wesen« oder nochmal [MEW ]Bd. 2, [Die] Hl.Fam[ilie]., S. 32 ff., 36-38, demgegenüber zur Hegelschen Ein-Wesens-Logik am Beispiel »Frucht« S. 59 ff. oder oder…

Bis ein ander Mal,

H.

[1]  Im Mail vom 23.5. konnte ich die Einheit der Bewegung / Entwicklung von Klassenkampf- und Gattungslogik insoweit auf den Punkt bringen, als ich ausdrückte,
‒ daß das »eine nicht gegen das andere zu verabsolutieren / zu negieren« ist und
‒ [daß] »das Zugleich beider weder das eine noch das andre so wenig [widerlegt] wie es den Widerspruch zwischen beiden aufhebt.«


Ulrich Knaudt an H.B. (27.12.2011)

Lieber H.,

höchst bedauerlich, daß ich aus Deiner Mail den gleichen entrüstet belehrenden Tonfall heraushöre, mit dem der linke Oberlehrer für gewöhnlich seinem Gesprächspartner klarzumachen versucht, daß hier die Grenze zwischen dem, was gut für ihn sei und dem, was es nicht mehr sein soll, überschritten wurde. (Ich hatte Dir den Schriftwechsel zum Thema ‚Proletariat‘ eigentlich nicht in der Absicht geschickt, daß Du von D.S. lernen mögest, wie man sein Gegenüber am besten in die Pfanne haut, sondern ganz bestimmt aus anderen Gründen…) Auch habe ich von unserer nächtlichen Debatte kein Gesprächsprotokoll angefertigt, sondern unseren Dissens auf den Punkt zu bringen versucht, an welchem wir politisch auseinanderstreben – oder -liegen – wie Du willst, verbunden mit der Frage, wohin die gemeinsame Reise gehen sollte.

Wenn Du Dich in meinem „ersten Absatz in keinem Satz“ wiederfindest, tut es mir herzlich leid. Das einzig Positive, was an der ‚Volksfront‘ des deutschen Wutbürgers gegen das Kapital als positiv zu vermerken wäre, ist vielleicht, daß diesem ad hominem ein wenig Ökonomie beigebracht werden wird, woraus er lernen könnte, daß es eine Bank war, der er seine Ersparnisse ‚anvertraut‘ hat und keiner Wohltätigkeitsorganisation. Als Sozialfaschismus würde ich eine Politik bezeichnen, die darauf aus ist, aus der Summe der Wutbürger eine Allianz gegen ‚das Kapital‘ zu schmieden. Heute sind für den Sozialfaschisten ‚die Reichen‘ das, was Anfang der 30er Jahre das ‚jüdische Kapital‘ war.

Wenn für Dich der Widerspruch zwischen Wesen und Existenz der Gattung eine entscheidende Rolle spielt, dann solltest Du auch die politischen Formen mitbuchstabieren, worin dieser Widerspruch von Auschwitz bis GuLag zum Ausdruck gekommen ist und heute in den chinesischen und nordkoreanischen Straflagern und den Containern der Gangsterregimes von Gaddafi bis Assad seine Fortsetzung gefunden hat. Die bürgerliche (früher: revisionistische – wenn Dir das noch ein Begriff ist…) Linke interpretiert diesen Widerspruch nicht nur unpolitisch, indem sie ihn auf die Verbrechen der Nazis reduziert, sie hat es auch sehr gut verstanden, ihn jeglichen Klassencharakters zu berauben. Und wenn Du die Gattungsfrage auf ihre rein philosophische Bedeutung beschränkst, ohne diese, so sie jedem ins Auge sticht (stechen müßte!) politisch zu konkretisieren, betreibst Du deren Entpolitisierung ebenfalls voran.

Das Marxsche KAP ist kein politisches Pamphlet, aber auch keine „Erklärung“ (D.W[olf].) des Kapitalismus, sondern eine wissenschaftliche Arbeit, die die Etikette der bürgerlichen Wissenschaft dadurch durchbricht, daß sie darin als Wissenschaft beim Wort genommen wird in dem vollen Bewußtsein, daß sie getrieben von dem Zwang der Verhältnisse immer weiter von ihren wissenschaftlichen Grundsätzen abdriften und sich dabei in unlösbare Widersprüche verstricken mußte, die Marx ihr mit aller logischen Konsequenz vor die Nase hält und ihre geheiligten Prinzipien dabei ad absurdum führt. Der Kapitalismus wird darin nicht, wie viele glauben, widerlegt, sondern vorgeführt. Das ist es auch, was Gemütssozialisten auf den Spuren Proudhons oder Bakunins nicht in den Kopf geht und was die revolutionäre Benutzung dieses großen wissenschaftlichen Werks (wofür es letztlich geschrieben wurde!) von seiner philosophischen oder vulgärökonomischen Interpretation unterscheidet. Das bedeutet, daß sich daraus nicht, wie vielleicht noch aus den Frühschriften, der Kommunismus unmittelbar ableiten läßt. Dazu bedarf es der politischen Vermittlung (durch die Marxsche Partei zu Marxens Lebzeiten, die danach keine adäquate Fortsetzung mehr gefunden hat). Indem Du daraus aber so etwas wie eine direkte Ableitung des Kommunismus versuchst, verharrst Du in den alten Fehlern der westdeutschen Linken, die die Ersten Drei Kapitel [des I. Bandes des Kapital] nie anders begriffen hat denn als bereits in diesem Stadium der Argumentation völlig ausgefeilte Kapitalismuskritik. Übrigens benutzt Du den Begriff des „Übersinnlichen“ genauso undialektisch wie D.W. Sowohl in Zur Kritik [der politischen Ökonomie] als auch im Ersten Kapitel [von Kapital I] spricht Marx vom „sinnlich Übersinnlichen“ bei der Verwandlung des G[ebrauchs]werts in den T[ausch]wert im Wechsel aus der Hand des Bäckers in die des hungrigen Käufers und nicht nur vom „Übersinnlichen“ als solchem. Damit gelangst Du auf direktem Weg in »die Nebelwelt« der Religion, [1] d.h. Du fügst Dich gemeinsam mit D.W. willig dem Warenfetisch.

Ich begreife die [Marxschen] Frühschriften als Ausdruck einer philosophischen Revolution, die mit den Feuerbachthesen auf den Begriff und zu Ende gebracht worden ist. In Paris wird Marx zum ersten Mal mit dem Proletariat als Alltagserscheinung der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert, das in Deutschland noch in seinem äußersten Extrem in Gestalt der aufständischen Weber vorzufinden war. Dieses Umschlagen von der Philosophie in die Politik, von einer philosophischen zur proletarischen Revolution, vom Gefühlssozialismus zur bewußt und politisch gewollten Parteilichkeit drückt sich auch in unserem Dissens aus, also darin, ob die Rettung der Menschheit als ein Abfallprodukt der proletarischen Revolution (oder umgekehrt) zu bestimmen sei bzw. ob die Bourgeoisie als Klasse (von Washington über Moskau bis Peking) vielleicht auch durch eine pseudo-proletarische Revolution vor den Widersprüchen, in die das Kapital unlösbar verstrickt ist, möglicherweise durch ein linkes Projekt errettet wird (die anderen Formen des Faschismus sind uns bestens bekannt – eine solche Form noch nicht!).

Ich habe die Anregungen aus unserer gemeinsamen Lektüre von Teilen der Frühschriften immer als mehr denn nur ‚anregend‘ empfunden; aber wir gehen, wie es scheint, immer noch aus einander entgegengesetzten Himmelsrichtungen an diese heran. Für mich befestigen die Frühschriften das Terrain, auf dem man einen großen Schritt zurück machen muß, um die Bedeutung der Marxschen Partei zukünftig in ein neues Licht zu stellen. Für Dich sind sie Dein Ein und Alles, was aber verhindert, den Sprung vom philosophischen zum politischen Marx zu vollziehen.

(Lenin schrieb in seinem „Testament“ Ende 1922 bis Anfang 1923, daß die Partei der Bolschewiki große Schuld auf sich geladen habe, weil sie den proletarischen Internationalismus so geringschätzig behandelte, was dazu führen werde, daß sie ihren proletarischen Charakter verliert. Übrigens erinnert man sich heute in der FAZ auf den Tag genau der Gründung der SU vor 90 und ihrer Auflösung vor 20 Jahren.[2] Etwas Vergleichbares wie zu den klassenbewußtlosen Bolschewiki ließe sich über die westdeutsche Linke sagen, die es allerdings nie auch nur in die Nähe des Leninschen proletarischen Internationalismus gebracht hat, da sie erstens nicht begriff, was das überhaupt ist, und zweitens seine Bedeutung in ihren Augen immer nur ein kümmerlicher Abklatsch dessen war, was die Nachfolger Lenins unter der ‚Wahrnehmung der historischen Rolle der Arbeiterklasse‘ verbreitet haben, um ein günstiges Klima für den großrussischen Großmachtchauvinismus und Welthegemonismus zu erzeugen. Da diese Bastardform des proletarischen Internationalismus bei ihr nicht über den Antiamerikanismus hinausgekommen ist, werden kluge Historiker ihr vielleicht eines Tages ins Stammbuch schreiben, daß sie vor dem internationalen Proletariat und der deutschen Arbeiterklasse ebenfalls große Schuld auf sich geladen hat, weil sie den internationalen Klassenkampf mit klassischem Antiamerikanismus und Anti-Okzidentalismus verwechselt habe. Dieser Verrat würde aber nicht nur das internationale Proletariat, sondern die ganze Menschheit betreffen und dazu führen, daß diese unter Beteiligung der inzwischen gesamtdeutschen Linken in eine asiatische Form der Sklaverei geführt wird, die sich von der faschistischen Sklaverei nicht wesentlich unterscheiden würde.

Wenn Du schon den Widerspruch zwischen Wesen und Existenz der Gattung an die Stelle des Widerspruchs zwischen dem Kapital und den unmittelbaren Produzenten setzt, solltest Du auch die politischen Formen mitbuchstabieren, in denen dieser von Auschwitz bis Sibirien und heutzutage in den chinesischen und nord-koreanischen Straflagern und unter den gangsteristischen Mörderregimes in Gaddafis Libyen und Assads Syrien zum Ausdruck gekommen ist oder gerade zum Ausdruck kommt.)

Diese Absätze wollte ich eigentlich streichen, aber inzwischen denke ich, daß sie sehr gut den Inhalt unseres Gesprächs von neulich Nacht zum Ausdruck bringt, das bei Dir soviel Unbehagen ausgelöst hat. Wie weiter?

Wir haben einen großen Fehler gemacht (teilweise aus Zeitmangel), daß wir die Widersprüche z.B. in der Nationalen Frage oder zum Antiimperialismus der 70er Jahre oder zu Coletti haben stehen lassen. Das rächt sich nun, da ich hoffte, in Berlin einigermaßen kompakt der geballten Front des ‚Revisionismus‘, vertreten durch Harbach und D.W., gegenübertreten zu können. Es bleiben nur noch die Spontaneität und wechselnde Koalitionen, und das ist als Basis eher wie eine Wanderdüne.

Marx bezeichnete das von den reaktionären Teilungsmächten des Wiener Kongresses politisch vernichtete Polen als eine notwendige Nation; in Analogie dazu würde ich Lenin als einen ‚notwendigen Revolutionär‘ bezeichnen.

Damit wünsche ich Dir alles Gute für das Neue Jahr.

Ulli

[1] Karl Marx: Das Kapital I, MEW 23, 86: »Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelwelt der Religion flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit Leben begabte, untereinander und mit dem Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten.«
[2] Da die Sowjetunion am 30. Dezember 1922 gegründet wurde, liegt dieses Ereignis Ende 2011 nicht 90, sondern 89 Jahre zurück.

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 

 


Ulrich Knaudt an H.B. (13.01.2010)

Lieber H.

[…] Deine Kritik an D. W[olf]s Gleichsetzung von abstrakt menschlicher Arbeit = menschliche Arbeit wird ihn nicht gerade ergötzen, weil er schon von mir eins dafür übergebraten bekommen hat. Deine Erwähnung unseres gedanklichen Austausches erst recht nicht.

»Die allgemeine Eigenschaft« ist eine contradictio in adiecto. Eigenschaften beziehen sich (weil konkreten Dingen eigen) immer auf spezifische Attribute eines Gegenstands. Die »allgemeine Eigenschaft« von Metallgeld ist, daß die Münzen in 99% der Fälle aus Metall bestehen. D.h. es handelt sich um eine leere Bestimmung. In Wirklichkeit versteckt D.W. hinter der Formel von den »allgemeinen Eigenschaften« seine Tautologien vom »Gleichsein der Arbeitsprodukte«. Wenn die Arbeitsprodukte alle gleich sind, bedarf es keines Werts mehr, um sie zu vergleichen… Hier höre ich auf und stelle erneut fest, daß sich D.W. in seiner Interpretation der ersten Kapitel von [Karl Marx:] KAP[ital] [Bd.]I von Anfang an verrannt hat und nun versucht, anstatt das zuzugeben, höchst subtile theoretische Rechtfertigungen dafür zu finden. Deine Sätze: »Wenn und solang Theorieaneignung…« sprechen mir aus der Seele, über anderes muß ich, wenn ich mehr Luft habe, nachdenken.

Generell: für mich ist noch nicht geklärt, welchen Stellenwert »die Dialektik« für die Kritik der politischen ökonomie hat. Ist sie nur ein Hilfsmittel, eine Methode oder etwas, was sich nicht vom Inhalt trennen läßt. Egal. Sie steht jedenfalls nicht für sich. Meiner Meinung hat Marx im Fetischkapitel mit der Hegelschen Mystik endgültig abgerechnet und nur das behalten, was für seine große Synthese benötigt wurde. Zwischen den Grundrissen und dem KAP liegt eine kopernikanische Wende. Daher meint [Helmut] Reichelt auch, Marx hätte die Dialektik im KAP »versteckt«. Das kann man nur behaupten, wenn man, mitsamt der Phalanx der Werttheoretiker diese Wende nicht zur Kenntnis nimmt.

Jetzt ist aber wirklich Schluß!

Herzlich

Ulrich

 


Ulrich Knaudt an H.B. (18.06.2010)

Betreff: STELLENWERT DER DIALEKTIK

Lieber H., daß es jemanden gibt, der den NACHTRAG [1] verstanden hat und einiges mehr, hat mich wie gesagt riesig gefreut. Denn es ist in unseren Kreisen eigentlich so, daß das, was den meisten nicht in den Kram paßt, einfach totgeschwiegen wird. Dann kann sich der Autor aussuchen, ob das aus Gleichgültigkeit, Ablehnung oder Entsetzen geschieht. Daher sind Lebenszeichen wie Deines für die weitere Arbeit am Projekt p[artei]M[arx] enorm wichtig. Sonst kommt man sich auf die Dauer vor wie der Fisch auf dem Trockenen, und nicht wie der Fisch im Wasser. Und wir wissen ja, daß es eine beliebte Methode der Konterrevolution ist, bestimmten Fischen das Wasser abzugraben (und das ist auch in akademischen Kreisen sehr beliebt).

Ich schreib Dir diese Mail, um einige Ergänzungen und Illustrationen zu unserer Debatte anzufügen. Das betrifft die Marxsche Reduktion in, erstens, der Kritik der Rechtsphilosophie [2] und, zweitens, in KAP I.

1. In der Kritik der Rechtsphilosophie heißt es auf Seite 231:

»In der Monarchie ist das Ganze, das Volk, unter eine seiner Daseinsweisen, die politische Verfassung, subsumiert; in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar Selbstbestimmung des Volks. Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt.« [Unterstr. v. m.]

Marx stellt also der feudalen Verfassung nicht einfach die demokratische Verfassung gegenüber, sondern bestimmt die Demokratie als Selbstbestimmung des Volks und das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Weil sich aber Hegel bei der Bestimmung der Verfassung auf ihr Wesen beschränkt und nicht zu ihrer Existenz durchdringt (das meinte ich mit ‚Differenz zwischen Wesens- und Seinslogik’), kann diese nicht auf ihren wirklichen Grund reduziert werden: den wirklichen Menschen und das wirkliche Volk, das die Verfassung als ihr eigenes Werk, d.h. selbsttätig (man könnte vielleicht auch sagen:) produziert. Das ist, was ich als eine der Sache auf den Grund gehende Reduktion bezeichnen würde, die bei Marx nicht mehr spekulativ ist (Leibniz), sondern den Grund der Verfassung wirklichkeitsnah bestimmt (wirklicher Grund). Wahrscheinlich (soweit habe ich das noch nicht durchdacht) steckt in dieser Dynamik, die auf die Reduktion auf das jeder wirklichen Verfassung Zugrundeliegende hinausläuft, das, was Du als Spaltung des Wesens, wenn ich Dich richtig verstanden habe, bezeichnest, ohne die eine solche Reduktion inhaltsleer wäre oder gar nicht stattfinden könnte (?).

2. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich nach meiner Einschätzung [in] der ‚Ableitung’ des Werts in KAP I, wie ich sie in den »Einäugigen«-Thesen II (siehe Texte auf der Website der Marx-Gesellschaft), Seite 7 analysiert habe. [3] Die Polemik gegen D.W[olf]. lasse ich hier weg (die Seitenangaben [aus KAP I] in Klammern) [4]:

Bei der Frage, in welchen quantitativen Verhältnissen verschiedene Gebrauchswerte miteinander ausgetauscht werden, erscheint der Tauschwert als ein der Ware intrinsischer Wert, der auf ein ihnen Gemeinsames zu reduzieren ist, wovon die verglichenen Tauschwerte »ein Mehr oder Minder darstellen«. Das Problem besteht aber darin, daß dies »Gemeinsame nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein (kann)« (51), d.h. körperliche Eigenschaften, die sie als Gebrauchswerte charakterisieren, von denen aber gerade in Hinblick auf das Austauschverhältnis zu abstrahieren ist. Worin hat aber dann dieses Gemeinsame zu bestehen? »Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedener Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert« (52) [Unterstr. v. m.]. Das ist der Ausgangspunkt für den Reduktionsprozeß der »abstrakt menschlichen Arbeit«.

Dieser erfolgt in mehreren Schritten:

Erstens als Reduktion der Warenkörper auf Arbeitsprodukte: wenn man vom »Gebrauchswert der Warenkörper« absieht, »so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten«.

Zweitens als Reduktion von einer auf das Produkt verwandten bestimmten produktiven Arbeit auf abstrakt menschliche Arbeit.

Dieser Reduktionsschritt wird nach zwei Abstraktionen vollzogen:

a. der Abstraktion vom Gebrauchswert des Arbeitsprodukts, durch die alle sinnlichen Beschaffenheiten des Gebrauchswerts ausgelöscht werden: »Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir von seinen körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen«, von seiner Eigenschaft als nützlichem Ding, sodaß alle »seine sinnlichen Beschaffenheiten …ausgelöscht« sind.

b. der Abstraktion von der bestimmten produktiven Arbeit, die in dem Arbeitsprodukt verwirklicht ist, wodurch der nützliche Charakter und die konkreten Formen der Arbeiten verschwinden: »Es ist nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit.«

Mit diesen schrittweise vorgenommenen Abstraktionen sind wir auf dem Bodensatz des Reduktionsprozesses angekommen, den Marx so zusammenfaßt: »Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte [erster Reduktionsschritt] verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also die verschiednen konkreten Formen dieser Arbeiten [zweiter Reduktionsschritt], sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit« (52).

Im Gegensatz zum berühmten ‚Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten’ handelt es sich hier um einen Abstieg vom Konkreten zum Abstrakten, bei dem Marx aber nicht stehenbleibt. Denn als »Residuum« dieses Reduktionsprozesses ist von den Arbeitsprodukten nichts übriggeblieben als »eine bloße Gallerte« (vielleicht zu übersetzen mit ‚strukturlose Masse’) »unterschiedsloser menschlicher Arbeit…« Wohlgemerkt: von den Arbeitsprodukten, nicht von der Arbeit! Arbeitsprodukte, die allerdings das Produkt menschlicher Arbeit sind, die sich als »Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung« (Reduktionsschritt 2 b) in dem Arbeitsprodukt vergegenständlicht hat. (Dieser Unterschied ist für die ‚Physiologie’-Debatte von entscheidender Bedeutung!) Daher kann von »diesen Dingen«, (als Ergebnis des ersten Reduktionsschritts) oder diesen Arbeitsprodukten nur noch gesagt werden, »daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen [den Dingen!] gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte« (52). Dann kehrt Marx rückblickend zum Ausgangspunkt des ganzen bisher analysierten Wertbildungsprozesses zurück: im Austauschverhältnis der Waren sei ursprünglich »ihr Tauschwert als etwas von ihren Gebrauchswerten durchaus Unabhängiges« erschienen. Durch die Abstraktion vom Gebrauchswert der Arbeitsprodukte erhält man nun ihren Wert als das »Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Ware darstellt. … Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist« (53) Diese »abstrakt menschliche Arbeit« ist also keine ‚physiologische’, sondern zu einer »gesellschaftlichen Substanz«, zum »valeur intrinsique« des nun als Ware geltenden Arbeitsprodukts kristallisiert, also in eine »contradictio in adjecto« (51).

Durch diesen Reduktionsprozeß hat Marx ein theoretisches Problem gelöst, das von den ‚Klassikern’ nicht gelöst werden konnte, »weil die klassische politische ökonomie nirgendwo ausdrücklich und mit klarem Bewußtsein die Arbeit, wie sie sich im Wert, von derselben Arbeit, wie sie sich im Gebrauchswert ihres Produkts darstellt«, unterscheidet, obwohl sie durchaus zwischen einer qualitativen und einer quantitativen Betrachtung der Arbeit einen Unterschied mache. »Aber es fällt ihr nicht ein, daß bloß quantitativer Unterschied der Arbeiten ihre qualitative Einheit oder Gleichheit voraussetzt, also ihre Reduktion auf die abstrakt menschliche Arbeit« (94, Anm. 31). Marx beginnt also nicht, wie es ein guter Ricardianer täte, das Kapital mit der Analyse der Arbeit, sondern mit der Analyse der Waren als Arbeitsprodukte und der Frage, wie man von deren Gebrauchswert auf den Wert kommt.

Soweit diese beiden Reduktionsformen. In beiden sehe ich eine ähnliche Vorgehensweise. Dabei will ich es erst einmal belassen. […]

Abschließend etwas (nicht) ganz anderes: wie würdest Du diese ganze Gender- und Ethno-Nomenklatur in der Schreibweise der Linken einordnen, ich meine nicht nur politisch (Ethnizismus), sondern auch theoretisch? Dabei geht es um die Vermischung von Gattungs- mit Art- bzw. Geschlechtsbezeichnungen, die bewußt miteinander vertauscht werden. Mir hat das von Anfang an gestunken. Aber eine gute theoretische Erklärung (eine politische schon) habe ich nicht. Wir sollten der Linken nicht mehr alles aus Gleichgültigkeit oder Opportunismus durchgehen lassen. Mir fiel das wieder auf, als ich im jüngsten express las, daß es inzwischen auch keine Arbeiterklasse mehr gibt, sondern nur noch Arbeiter_Innen, obwohl der Klassenbegriff logisch/syntaktisch einen vergleichbaren Status wie der Gattungsbegriff (anthropos, homo sapiens sapiens) hat, mit dessen Nennung jeweils beide Geschlechter diskriminierungsfrei unterstellt sind, wenn man nicht aus lauter Borniertheit bereits in der Sprachregelung des Ethnizismus steckte… Vielleicht hast Du dazu eine Idee.

Soweit erst mal meine Ergänzungen zu … unserem Gespräch, das wie immer höchst informativ und lehrreich war.

Herzliche Grüße

[1] DEBATTE 3 Nachtrag.

[2] Gemeint ist Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

[3] marx-gesellschaft.de/Texte. Ulrich Knaudt: Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König sein. (Frühjahr 2005; Frühjahr 2006).

[4] Karl Marx: Das Kapital Band I MEW 23.

 

 


H.B. an Ulrich Knaudt (26.06.2010)

Lieber Ulrich,

wie gesagt, in aller Kürze zu Deinem Brief vom 18.6.: zu Deinem ersten Absatz:damit sprichst Du auch mir aus der Seele – über das Leiden an der unserer existentiellen Vereinzelung […]

[…] Die ganze Art und Weise der Diskurse innerhalb und zwischen ‚Linken’, ihr Gehabe in Stil und insbesondre inkl. der (Aus-)Wirkung auf Inhalte reproduziert in sich und unter sich nichts andres als das bürgerliche, das kapitalistische, das privateigentümlich individualistisch – egomanisch – narzistische Konkurrenzsystem, den Wahnsinn, Widersinn, Unsinn, Blödsinn desselben selbst ….

Richtiges, Gutes etc. pp. wird beiseite gelassen, um sich auf das Fehlerhafte am Anderen zu stürzen, es, ihn runterzumachen, um selber als Krösus zu brillieren, weil Einsicht und Anerkennung des ersteren den eignen Wert, Selbstwert schmälern, gefährden, beschädigen könnten, ich / Ich damit auf der Strecke bleiben würde und (lies dazu Kritik d[es]. H[egelschen]. St[aats]R[echts] S. 291 u., 292: ab »Wie sollte er das untereinander vermitteln … wechselseitige Bekomplimentierung …« = Schein! [1]) damit aber auch jegliche Gemeinsamkeit, Gemeinschaftlichkeit, die damit übergangslos und untrennbar verbunden ist mit Deiner Fragestellung unter bzw. zu »1. In der Kritik der Rechtsph[philosophie]…«  und zu »2. Eine ähnliche Vorgehensweise …«: auf der Strecke mit »…das Ganze, das Volk, …Verfassung…. Demokratie …« als »Daseinsweisen«, als (politische Ober-) Begriffe, Kategorien sowie »Arbeit« (abstrakt gesellschaftliche), »Substanz«, […] die Unterschiedliches, Verschiedenes auf sich reduzieren, zugleich, gleichzeitig von deren Besonderem, Besonderheiten abstrahieren, d. h. als Abstraktion, deren Essenz, ‚positiv’ gefasst, und als solche realisiert werden, Realität konstituierend– und (in / nur) soweit (nur reicht auch überhaupt die ganze Analogie zwischen der Hegelschen mit der Marxschen Logik und v.v.), auf der Strecke mithin bleibt der Widerspruch, »nämlich« der »wesentliche Widerspruch«, jener also, wie ihn Marx im StR, lies auf S. 295 u. 296 als »Hegels Hauptfehler« … charakterisiert.

Er ist in allem, bedingt, bewirkt alles, ist an und in allem, was erscheint, durch alle Erscheinungsformen hindurch und ohne Berücksichtigung dessen, der Auslöschung, Annihilation dessen Wirksamkeit, »Daseinsweise« an und in allem mittels der Allgemeinbegriffe = gleich das Hegelsche (abstrakte) »Wesen«, ist alles nichts, Essig – unwahr, falsch, verfälscht, hohl, abstrakt, Schein, kurz – die Realität, die Totalität der Realität, unsereins, an uns, in uns, durch uns; er macht die Gemeinsamkeit, ja die Gemeinschaftlichkeit unsrer Existenz aus, ausnahmslos (ursprünglich), ursächlich (historisch) beginnend mit dem »Doppelcharakter« der von einfachen Arbeitsprodukten zu »Waren« in denselben vergegenständlichten bzw. verdinglichten »Arbeit« = Allgemeinbegriff; s. Kap[ital]. Bd. 23, S. 56 ff., dadurch die »zwieschlächtige Natur der … Arbeit« selbst, qua Entwicklung von »gesellschaftlicher Arbeitsteilung«, welche »Existenzbedingung der Warenproduktion« ist, »obgleich …. nicht umgekehrt«! (ebenda); (Tauschwert also nicht ohne Gebrauchswert, aber Möglichkeit, Gebrauchswert ohne Tauschwert!), und dessen überwindung ein Bewusstsein, ein Begreifen desselben an sich selbst voraus-setzt, Voraussetzung, dass das »Arbeitsprodukt« als »Gebrauchswert« – ohne Tauschwert – in Bewusstsein und Sein der Menschen in seiner »Daseinsweise« den ‚Charakter‘ eines »gemeinschaftlichen« angenommen hat (Marx, [MEW] Bd. 19, Kr[itik] an Lehrb[uch]. Wagner) [2], welcher bewusst gemeinschaftlich organisierte und gestaltete Arbeit voraussetzt, durch sie, die Menschen (wen sonst), also durch ihre Wirklichkeit gewordne »gemeinschaftliche Arbeit« versus »gesellschaftlicher Gebrauchswert« / »ges[ellschaftliche] Arbeit«, […] diese, »positiver als aller Positivismus«, und, damit »der Gebrauchswert nicht am Tauschwert stirbt« (Adorno, nach H.J. Krahl), und s. dazu »Gemeineigentum«, Marx’, Dein[e] »commune rurale«»Briefe an Sassulitsch…« im selben Band – ich denke, nicht zufällig!) [3] damit letztlich also die eigentlich menschliche Arbeit beginnt, menschheitlich, die Menschen im Bewusstsein ihrer selbst als »Gattung«, »Gattungswesen« (Marx, ökphM) [4], als notwendige Bedingung, um sich als solches, als »Teil«, als »Wesen der Natur« »zu bewähren« (ebenda));lies bitte noch mal, Satz für Satz: »Gesetzt den Fall, wir hätten als Menschen produziert…« = Resümee von EB 1, ökphM und »Auszüge aus Mills…«, S. 445-463, wenigstens ab S. 459). [5]

Bis dahin: »… riesenhaft ist der Zwiespalt, der ihre Einheit ist”« (Marx, EB 1, Diss., [6] um die Seiten 200 ff.) – gegen die Verabsolutierung und zugleich Affirmation/Positivierung von Abstrakta, (Ober-) Begriffen, Kategorien (Platon, Sokrates, Spinoza bis Hegel), mit dessen Annihilation an sich, Mensch selbst, stets zugleich unweigerlich dessen praktische Liquidation – und diese wirklich, real, ganz praktisch gegenüber dem Anderen, seinesgleichen Mensch – einhergeht (s.o.: beileibe nicht nur die „beliebte Methode der Konterrevolution”, sondern die ganz gewöhnliche, stinkgewöhnliche des herrschenden Verkehrs der Individuen in jeder bürgerlichen Gesellschaft).

Ich muß jetzt einfach Schluß machen.

Zu Deinem letzten Absatz, S. 3 „Abschließend etwas (nicht) ganz anderes ….” In der Tat.

Lies dazu bitte in [MEW] EB 1, zu »Privateigentum und Kommunismus«, »roher Kommunismus«, S. 533 ff., S. 535: Abs. »…Gemeinschaft der Arbeit …«, Abs.  »In dem Verhältnis zum Weib…«.

Damit dürfte die Frage geklärt sein – Du siehst daran, es gibt auch eine positive Reduktion, einen positiven Reduktionismus, ohne Abstraktion, auf der Grundlage der Anerkennung und Achtung von wirklicher (Arten-) Vielfalt, auf der Grundlage der überwindung bzw. des gemeinsamen, gemeinschaftlichen überwindens jenes Marxschen »wesentlichen Widerspruchs«, insofern,

auf dieser Grundlage, alle (100) unterschiedlichen, ja verschiedenen »Blumen zum Blühen« gebracht werden könnten.

Bis ein ander mal

grüß’ Dich ganz herzlich,

H.

[1] Die im Original gesperrten Wörter im Folgenden kursiv. {H.B. hat mich gebeten,die die Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die gedrängte Form seiner Briefe dem Zwang geschuldet sind, zwischen spätem Feierabend und frühem Arbeitsbeginn, möglichst viel auf einmal formulieren zu wollen. Liest man die Briefe aber ein zweites Mal, wird manches klarer. EUK}

[2] Karl Marx: Randglossen zu Adolf WagnersLehrbuch der politischen ökonomie MEW 19 (355-383).

[3] Karl Marx: Entwürfe zu einer Antwort auf den Brief von Vera Sassulitsch MEW 19 (384-406).

[4] Karl Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte MEW EB 1 I (467-588).

[5] Karl Marx: Auszüge aus James Mills Buch „Élémens d‘économie politiqueMEW EB 1 I (445-463).

[6] Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie MEW EB 1 I (259-375).

 


Ulrich Knaudt an H.B. (03.07.2010)

Betreff: nationaler Nihilismus vs. Stolz auf die eigene Leistung

Lieber H., spaßeshalber schicke ich Dir den Auszug aus dem Kommentar der Redaktion des ‚express‘ 5-6/2010 und meine Reaktion:

»Egal welche (politischen Abgänge) die nächsten sein werden, die Lenas, Löws und von der Leyen-Darstellerinnen harren ante portas! Ob das zu einer argentinischen Renaissance in Südafrika oder zum Untergang in und mit Berlin führt, wissen wir nicht. Die Redaktion legt sich jedenfalls nicht fest: Kein Sommermärchen, ob mit oder ohne Titel denn Eigentum ist und bleibt Diebstahl!«

Daraufhin mailte ich am 27.06. : »…Als letztes eine Bemerkung zum letzten ‚express‘: ist der Spruch am Schluß des Kommentars auf Seite 3: ‚Eigentum ist und bleibt Diebstahl‘, Euer wirklicher Ernst? Dann könnt Ihr Euch den ganzen Marx schenken und gleich zu Proudhon und Bakunin übergehen…! Gruß Ulrich.«

Aus der Antwort-Mail vom selben Tag: »Hallo Ulrich, …Ich würde sagen, ja und nein. Es ist einerseits ernst, andererseits nicht. Viele Grüße.«

Meine Antwort vom 28.06.: »Zu ‚Eigentum ist Diebstahl‘. Wenn ich diesen Satz lese, bekomme ich den Tunnelblick! Dabei ging der Zusammenhang verloren, der allerdings höchst ‚komplex‘ ist. Denn mir ist es keineswegs egal, ob Deutschland das nächste Spiel gewinnt oder, sagen wir, Argentinien. Im Zweifelsfall wäre ich jedenfalls nicht für Argentinien, sondern für Deutschland. Internationalismus, der auf nationalem Nihilismus basiert, ist selbst in einem solch banalen Fall ein schlechter Ratgeber. Ob der Joke aber so gemeint ist, bleibt, jedenfalls für mich, unklar. Denn Deutschland ist nicht amtierender Weltmeister, ist also nicht Besitzer dieses Titels, der ihm daher auch nicht genommen werden könnte. Wenn das damit gemeint war, paßt der Spruch nicht, in den ich unter dem Alarmzeichen ‚Proudhon‘ darüber hinaus mal alles mögliche hineingelesen habe… Viele Grüße.«

Daraufhin folgte tiefes Schweigen. Inzwischen hat Deutschland Argentinien in einem hochklassigen Spiel geschlagen. Die »argentinische Renaissance« wurde von der Truppe junger deutscher Spieler zunichte gemacht. Darf man darauf im sportlichen Sinne nicht stolz sein? Natürlich teilen eine Menge Leute, die wir überhaupt nicht mögen, diesen Stolz. Darf das ein Hindernis dafür sein, daß auch wir stolz darauf sind, gleichgültig, welch ein Schindluder auch sonst noch, wie nicht anders zu erwarten, damit betrieben wird? Oder sollen wir vielleicht die Taliban bitten, uns in ihre Gemeinde aufzunehmen oder auf andere Art nationale Selbstaufgabe betreiben? Offenbar verwechselt der nationale Nihilismus der Linken  Internationalismus mit nationaler Selbstaufgabe zugunsten einer x-beliebigen anderen Nation, Glaubensgemeinschaft oder Rauschgift-Mafia. An diesem Strickmuster eines linken Sozialimperialismus hat sie seit Generationen geübt! Ich lasse hier einmal offen, woher dieses ursprünglich stammt…

Vielleicht bist Du ja in der Lage, in dem ‚express‘-Zitat überhaupt einen Sinn zu entdecken und möglicherweise einen anderen als den von mir vermuteten.

Gruß Ulrich

 


Ulrich Knaudt an H.B. (04.07.2010)

Betreff: KOSTPROBEN

Lieber H., nachträglich noch zwei Kostproben, die meine Kritik am ‚express‘ noch als ziemlich harmlos erscheinen lassen, aber auf der anderen Seite bestätigen. [1] Heißt die deutsche Regierungspartei immer noch NSdAP, die es als notwendig erscheinen ließe, alles heutige Deutsche grundsätzlich zu diskreditieren? Auch wenn es sich um dieses ziemlich banale, aber unterhaltsame Fußballgeschäft handelt? Es hat diesen Anschein.

Gruß Ulli

[1] Neues Deutschland 03.07.2010 Einwürfe, Fußnoten (Hans-Dieter Schütt):

»HEUTE GEGEN ARGENTINIEN! Joachim Löw sagte „Ja”. … Löw sprach so zu Journalisten – auf die Frage, ob Deutschland heute siegen würde. Vor dieser Antwort hatte er eine winzige Pause gemacht. Sie war die eigentliche Antwort. … Das ist die Hälfte der Wahrheit. Jetzt nämlich darf man das Lächeln nicht missachten, das Löw aufsetzte. Es erhob das „Ja” in den Hochadel der Ironie. JA! zu Löw. … Die deutsche Elf der Siebziger setzte man ins Verhältnis zur entspannenden Europapolitik Brandts. Vogts verkörperte das aussitzerische System Kohl. Soll man bei Löw nun Merkel mitdenken? Jetzt weiß ich, was diesem Text hier fehlt. Ein entschiedenes, ganz ironiefreies „Nein”«.

Völlig ironiefrei dagegen titelt die junge Welt am selben Tag:

»Alles ist möglich, Diego! Für den Fall, daß Argentinien diese Weltmeisterschaft nicht gewinnt: Offener Brief an Herrn Diego Armando Maradona«.

Dieser Aufruf des argentinischen Journalisten Carlos Malbrán endet mit den pathetischen Sätzen:

»Danke, daß du Maradona bist. Danke, Champion!«

 


Ulrich Knaudt an H.B. (10.07.2010)

Betreff: GEMEINSCHAFT & GESELLSCHAFT

Lieber H., diesen Aufsatz fand ich beim Durchstöbern meines Zeitungsstapels.[1] Unsere Diskussion berührt den Nerv der Linken stärker, als wir das vielleicht bis dahin annehmen konnten. Wir müssen nur noch ein wenig weiterbohren – dann wird das Geschrei groß sein! Den Brief an Dich schreibe ich morgen zu Ende. Gleich muß ich gemeinsam mit unserer Kanzlerin ein letzten Mal die Daumen drücken. Außerdem reduziert sich die Denkleistung bei diesen marokkanischen Temperaturen um mindestens 50 %.

[…]

Entweder verschmelzen Gemeinschaft und Gesellschaft auf den beiden Stufen zum Kommunismus (‚…Gothaer Programm‘) oder dieser ist ein großer Betrug. Genau das meine ich mit ‚Politisierung der Kritik der politischen ökonomie‘. Ruben macht exakt das Gegenteil: er ‚soziologisiert‘ Gemeinschaft und Gesellschaft. Lies selbst. Du wirst dabei viele alte Bekannte wieder entdecken!

über das Verhältnis von politischer ökonomie und Klassenkampf bei Marx empfehle ich: REFLEXIONEN 1 [2005] über Uwe-Jens Heuers ‚Marxismus und Politik‘. Daran läßt sich auch ermessen, daß sich Die Linke ständig im Kreis bewegt. Dort findet sich passendes Bohrmaterial.

Ernst Ulrich Knaudt

[1] Neues Deutschland 26.06.2010 Peter Ruben: „Nur da herrscht völlige Gleichheit”. Von der Notwendigkeit exakter Begriffe und warum auch der Vatikan eine kommunistische Institution ist.


 


H.B. an Ulrich Knaudt (11.07.2010)

Re: GEMEINSCHAFT & GESELLSCHAFT

Lieber Ulrich,

[…]

Ich freu mich auf das morgige Spiel. Die Leistung der dt. Mannschaft fand ich z.T. wirklich Klasse, hab mich sehr erfreut an tollen Spielzügen …, bis hin zu einzigartiger geradezu künstlerischer Perfektion.

Aber »stolz darauf« kann ich irgendwie nicht sein und weiß noch gar nicht so recht, warum eigentlich nicht; muß wohl noch ein wenig »weiterbohren« in mir: vielleicht, weil‘s mir selbst – ich stolz darauf – irgendwie äußerlich, hohl erscheint, vielleicht, weil eine Leistung von Nationalspielern/-Mannschaften heutzutage mehr denn je nicht ohne die weltweiten Leistungs- bzw. Wettbewerbsvergleiche denkbar ist, die über die Glotze schon die Kinder der Welt inhalieren, abschauen, trainieren, will sagen, dies Gefühl des „Stolzseins darauf“ besondert mir zu sehr bzw. schneidet von etwas ab, abstrahiert sozusagen von wesentlichen Entwicklungen, was übrigens auch [für] Wissenschafts-/Forschungs- oder sonstigen Produktivitätsleistungen, sei‘s von Individuen, Unternehmen oder Staaten/Nationen gilt, ohne damit die Leistung als solche von je einzelnen sowie meine Freude darüber im geringsten geschmälert zu empfinden; sie ist an eine noch andere Sichtweise, Dimension geknüpft, jene im Grunde, jener schlichten, wirklichkeitsgemäßen Grundtatsache, wie sie Marx im Abschnitt »Privateigentum und Kommunismus« beschreibt unter »VI. Die gesellschaftliche Tätigkeit … Allein auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin…« ([MEW] EB 1, S.538, 539). Bis bald wieder, herzlichen Gruß H.

 


Ulrich Knaudt an P.T. (12.07.2010)

[…] Ich schicke Dir ein paar Notizen […] zu: Orlando Figes: Peasant Russia, Civil War.The Volga Countryside in Revolution (1917-1920), Oxford 1989, 192, die uns in der Sache vielleicht weiterbringen: »But the failure of the комбеды [kombedy = „Komitees der Dorfarmut”] to unite the poor peasantry can not be simply put down to the influence of the „kulaks”. The ”proletarian class-consciousness” of the poorest peasantry failed to express itself in the комбеды not because it was repressed, but because it did not exist: the natural-patriarchal bonds of the poorest farmers in the village were still much stronger than the socio-economic divisions between them.«

Dazu meine Notiz:

»Aber selbst unter dieser, wenngleich übertriebenen, Voraussetzung sagte den armen Bauern der Klasseninstinkt, daß sie von den „reichen Bauern” im Dorf gegen die Sowjetmacht vorgeschoben wurden und dadurch zwischen die Fronten geraten konnten, wo ihnen niemand mehr raushelfen würde. D.A. geht von dem üblichen linken Klassenschema (entweder „Proletariat oder Bourgeoisie”) aus, das aber hier nicht direkt anwendbar ist. Die Bolschewiki waren wegen eben dieses abstrakten Schemas nicht in der Lage, das industrielle Proletariat mit dem archaischen Kommunismus der Dorfgemeinde (der von den reichen Bauern zu ihren eigenen Gunsten instrumentalisiert wurde, so wie ihn bereits der Zarismus für sich instrumentalisiert hatte), zu einer Klassenfront zu verbinden. In China hat Mao im Gegensatz dazu explizit die Position der Bauern eingenommen, obwohl oder weil er nach sowjetischen Maßstäben aus einer Kulakenfamilie stammte. Das Problem bestand aber darin, daß es in China nicht mal eine mit den russischen Verhältnissen vergleichbare Arbeiterklasse gab, aber genauso wenig eine der russischen entsprechende Dorfgemeinde, sondern nur Pächter der (zumeist beamteten) grundbesitzenden Feudalkaste, denen aber eine kapitalistische Entwicklung wie in England versagt war. (Dengs Linie: anstatt alle Pächter ärmer zu machen, sollen einzelne Pächter reicher werden, von deren Reichtum dann die armen profitieren sollen.) Daher steckte China in einer Sackgasse. War der Bauernaufstand unter chinesischen Verhältnissen nicht viel eher ein Aufstand mit dem Ziel, freier Pächter und freier Parzellenbauer zu werden, eine Entwicklung, die aber durch die asiatische Produktionsweise verhindert wurde? Karl Marx: „im Orient gibt es keinen privaten Grundbesitz”.[1] Daher führt Mao die Staatsfarmen, die, verwaltet von einem beamteten Gutsbesitzer, dem Staat (der Partei) als einzigem Grundbesitzer gehören, ein, um auf dieser Grundlage den Sozialismus aufzubauen. (Sollte die Partei durch die Schaffung von Parzelleneigentum, wie in Frankreich 1789 den Kapitalismus aufbauen?) Der Versuch scheitert, nicht nur weil er sich an das Vorbild der Stalinschen Staatssklaverei anlehnt, sondern weil die Pächterfamilien und Kleinbauern keinen Kommunismus, sondern freie Marktwirtschaft wollen. Dazu hätten ihnen aber privat der Boden gehören müssen, was bis heute nicht der Fall ist. Privaten Grundbesitz gibt es heute nur in der Stadt. Der Jakobinismus des heutigen chinesischen Staates gegenüber den Bauern äußert sich in der Enteignung der Pächter und Parzellenbauern durch den sozialistischen Staat (vertreten durch das lokale Parteikomitee), die tatsächlich rein juristisch betrachtet auch gar keine Enteignung ist, weil der Boden eh dem Staat gehört, und die Basis für die Entwicklung des asiatischen Staatsmonopolismus in der Stadt liefert. …Wenn in China der Bubble platzt, gibt es Bürgerkrieg oder Weltkrieg – oder die Partei tritt als Staatsmonopolist ab und eröffnet den jakobinischen Weg in die Parzellenwirtschaft und einen europäischen Kapitalismus, was sehr unwahrscheinlich ist.«

Soweit meine Notizen. Ich habe dann in meine Exzerpte aus Reinhard Kößler: Dritte Internationale und Bauernrevolution. Die Herausbildung des sowjetischen Marxismus in der Debatte um die „asiatische” Produktionsweise, Frankfurt/M; New York 1982. (Quellen und Studien zur Sozialgeschichte Band 3) geschaut und gefunden, daß d. A. die Marxsche Einschätzung vom Fehlen des Privateigentums in Asien bestätigt, was der Komintern 1920 große Mühe bereitete, Kommunismus und Bauernfrage unter einen Hut zu bringen.

So zitiert Kößler den Punkt 9 aus den Leitsätzen des 2. Kongresses der Komintern 1920:

»9. In der ersten Zeit wird die Revolution in den Kolonien keine kommunistische Revolution sein; wenn jedoch von Anfang an die kommunistische Vorhut an ihre Spitze tritt, werden die revolutionären Massen auf den richtigen Weg gebracht werden, auf dem sie durch allmähliche Sammlung von revolutionärer Erfahrung das gesteckte Ziel erreichen werden. Es wäre ein Fehler, die Agrarfrage sofort nach rein kommunistischen Grundsätzen entscheiden zu wollen. Auf der ersten Stufe ihrer Entwicklung muß die Revolution in den Kolonien nach dem Programm rein kleinbürgerlicher reformistischer Forderungen, wie Aufteilung des Landes usw. durchgeführt werden. Daraus folgt aber nicht, daß die Führung in den Kolonien sich in den Händen der bürgerlichen Demokraten befinden darf. Im Gegenteil, die proletarischen Parteien müssen eine intensive Propaganda der kommunistischen Ideen betreiben und bei der ersten Möglichkeit Arbeiter- und Bauernräte gründen. Diese Räte müssen in gleicher Weise wie die Sowjetrepubliken der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder arbeiten, um den endgültigen Sturz der kapitalistischen Ordnung der ganzen Welt herbeizuführen.«

Die Komintern hatte schlichtweg kein Konzept hinsichtlich der sozialen Verhältnisse in Asien. Und da das nicht der Fall war, wurde statt dessen ein kommunistisch-kleinbürgerlich-reformistisches Konglomerat mit dem Anspruch einer revolutionären Strategie nach dem Muster der Oktoberrevolution zusammengebraut. Ihren Protagonisten war vermutlich nicht mal klar, daß der Staat Grundbesitzer und Inhaber des Gewaltmonopols in einem war, sodaß nach Kößler, 48, die Ausbeutung der chinesischen Bauern »das Bild einer Einheit von Steuer, Rente, Handelsprofit und Wucher« bot. »Staatliche Gewalt und grundherrlicher Apparat fielen so entsprechend der faktischen Identität von Rente und Steuer zusammen.«

Hierbei bezieht sich d.A. auf Marx, [Das] KAP[ital] III [MEW 25], 799: »Es ist ferner klar, daß in allen Formen, worin der unmittelbare Arbeiter „Besitzer” der zur Produktion seiner eigenen Subsistenzmittel notwendigen Produktionsmittel und Arbeitsbedingungen bleibt, das Eigentumsverhältnis zugleich als unmittelbares Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis auftreten muß, der unmittelbare Produzent also als Unfreier; eine Unfreiheit, die sich von der Leibeigenschaft mit Fronarbeit bis zur bloßen Tributpflichtigkeit abschwächen kann. Der unmittelbare Produzent befindet sich hier der Voraussetzung nach im Besitz seiner eigenen Produktionsmittel, der zur Verwirklichung seiner Arbeit und zur Erzeugung seiner Subsistenzmittel notwendigen gegenständlichen Arbeitsbedingungen; er betreibt seinen Ackerbau wie die damit verknüpfte ländlich-häusliche Industrie selbständig. Diese Selbständigkeit ist nicht dadurch aufgehoben, daß, etwa wie in Indien, diese Kleinbauern unter sich ein mehr oder minder naturwüchsiges Produktionsgemeinwesen bilden, da es sich hier von der Selbständigkeit gegenüber dem nominellen Grundherren handelt. Unter diesen Bedingungen kann ihnen die Mehrarbeit für den nominellen Grundeigentümer nur durch außerökonomischen Zwang abgepreßt werden, welche Form dieser auch immer annehme. Es unterscheidet sie dies von der Sklaven- oder Plantagenwirtschaft, daß der Sklave hier mit fremden Produktionsbedingungen arbeitet und nicht selbständig. Es sind also persönliche Abhängigkeitsverhältnisse nötig, persönliche Unfreiheit, in welchen Grad immer, und Gefesseltheit an den Boden als Zubehör desselben, Hörigkeit im eigentlichen Sinn. Sind es nicht Privateigentümer, sondern ist es wie in Asien der Staat, der ihnen direkt als Grundeigentümer und gleichzeitig als Souverän gegenübertritt, so fallen Rente und Steuern zusammen, oder es existiert vielmehr dann keine von dieser Form der Grundrente verschiedene Steuer. Unter diesen Umständen braucht das Abhängigkeitsverhältnis politisch wie ökonomisch keine härtere Form zu besitzen als die, welche aller Untertanenschaft gegenüber diesem Staat gemeinsam ist. Die Souveränität ist hier das auf nationaler Stufe konzentrierte Grundeigentum. Dafür existiert dann auch kein Privateigentum, obgleich sowohl Privat- wie gemeinschaftlicher Besitz und Nutznießung des Bodens.«

Wenn also der Staat Souverän und Grundeigentümer in einem ist, ist die Form der bäuerlichen Produktion, Gemeinwirtschaft wie in Indien, Familienwirtschaft wie in China, relativ gleichgültig. Dies im Unterschied zur russischen Dorfgemeinde…

[…] Was das mit den chinesischen Gewerkschaften zu tun hat, wäre die nächste Frage. Denn auch in diesem Fall ist der Staat Souverän und Arbeitgeber in einem. Die Kommunistische Partei müßte den Kampf zwischen der Lohnarbeit und dem Kapital als Selbstgespräch führen, was einigermaßen schizophren ist…

[1] Karl Marx an Friedrich Engels 02.06.1853 MEW 28 (250-254), 253: »Bernier findet mit Recht die Grundform für sämtliche Erscheinungen des Orients – er spricht von Türkei, Persien, Hindostan – darin, daß kein Privateigentum existiert. Dies ist der wirkliche clef selbst zum orientalischen Himmel. …«


 


Ulrich Knaudt an H.B. (12.07.2010)

Betreff: HISTORISCHES

Lieber H.,

da ich mir vorgenommen habe, die Kritik des [Hegelschen] Staatsrechts [1] bis zu Ende durchzuarbeiten, bin ich noch nicht bis zur berühmten Seite 295ff. durchgedrungen, und daher stellen meine bisherigen überlegungen auch nur nicht zu Ende Gedachtes dar.

Bevor ich auf Deine Kommentierung eingehe, etwas zu dem Thema: ‚Fisch auf dem Trockenen’. Es wäre ein großes Mißverständnis, meine Einlassungen dazu als Gejammer über meine existentielle Vereinzelung, Isolation o.ä. zu verstehen und nicht vielmehr als zwangsläufige Reaktion auf den nicht erklärten Krieg der Linken gegen alles, was ihr an uns nicht in den Kram paßt. Von daher verstehe ich das Wasserabgraben als eine Art Kriegsführung, auf die mit den vorhandenen Mitteln zu antworten ist. Was ihnen 1989 als reale wirtschaftliche und politische Macht abhanden gekommen ist, versuchen sie durch politische Eroberungen zunächst in der westdeutschen Restlinken wettzumachen und gestützt auf diese bei der Bevölkerung zu punkten. Nun besteht ja eines der ‚Geheimnisse’ dieser westdeutschen Linken von vor 1989 darin, daß es ihr nur selten oder im Grunde gar nicht gelang, bei der Bevölkerung anzukommen, was nicht nur an jener, sondern auch an der Bevölkerung lag. Vielleicht ein Indiz dafür, daß Die Linke mit der West-Linken auf das falsche Pferd gesetzt haben könnte. Zu gönnen wär’s ihr.

Die ethnizistische Gender-Nomenklatur ist dafür ein beredtes Beispiel, das durch die Einführung der neudeutschen Rechtschreibung ergänzt wird. Da in den 90er Jahren von der Linken anstelle des Grundgesetzes keine Verfassung durchgesetzt werden konnte (und wieso denn auch — eine Verfassung setzt einen souveränen Staat voraus, das Grundgesetz nicht!), versuchte man es auf Seiten der Linken eine Etage tiefer, wofür die ethnizistische Schreibweise der geschlechtsbestimmten Wortverdoppelungen das herausragende Indiz ist (man/frau). Auch hat Die Linke bisher kein Programm vorgelegt, in dem in Klartext zu lesen wäre, was sie im Vergleich zur DDR eigentlich anders machen will. In Ermangelung dessen wird an allen möglichen Stellschrauben peu à peu in dieser Richtung, hier mal bißchen, da mal bißchen, weitergedreht. Der neueste Clou ist die 2011 wieder ins Haus stehende (kannst Du wörtlich nehmen – bei uns kam keiner über die Schwelle!) Volkszählung. Auch hier wird mal geschaut, ob sich da nicht vielleicht was drehen läßt…

Ich werde Dich nicht länger mit dieser Sch… langweilen und kehre zurück zum eigentlichen Thema:

Die aus S. 231 zitierten Passage sollte von meiner Seite verdeutlichen, was mir bis dahin an diesem Text besonders aufgefallen ist. Mein Eindruck ist, daß Marx die Hegelsche Dialektik nicht einfach 1:1 kommentiert und philosophisch interpretiert, sondern diese zu durchdringen versucht. Das gelingt ihm, indem er die Widersprüche nicht so nimmt, wie sie sich ihm philosophisch darstellen, sondern indem er als erstes zwischen spekulativen und wirklichen Gegensätzen unterscheidet. Diese Unterscheidung ist für mich auf diesem Gebiet etwas radikal Neues, da die Mao’sche Dialektik etwa so wie oben verfährt. Aber nicht mal von diesem Maoschen, bzw. Stalinschen Hegel hatte sich bei der Linken mehr festgesetzt als daß jeder Widerspruch eine ‚Haupt’- und eine ‚Nebenseite’ haben muß, und daß man in allen Widersprüchen die ‚Hauptseite’ herausfinden soll. So wie heute von links bis in die obersten Etagen der veröffentlichten Meinung der herrschenden Klasse sich Unterschiede, Differenzen, Gegensätze immer häufiger auf verschiedenen ‚Ebenen’ abspielen sollen (das horizontale ‚Hauptseite‘/‘Nebenseite‘-Schema wurde durch ein hierarchisches ‚Ebenen’-Schema ausgetauscht – übrigens auch in der Marx-Gesellschaft), so schwafelte die Linke in den 70er Jahren von der in allen Dingen zu bestimmenden ‚Hauptseite’. Welch ein Fortschritt: von der ‚Hauptseite’ zur ‚Ebene’!

Die o.g. Unterscheidung zwischen spekulativen und wirklichen Widersprüchen findest Du weder bei Stalin noch bei Mao, wodurch bei beiden die wirklichen Widersprüche notgedrungen wieder zu spekulativen werden. Um aber zu dem wirklichen Widerspruch zu gelangen, muß dieser auf seinen wirklichen Grund reduziert werden. Dieser Grund ist im o.g. Fall bei der Unterscheidung zwischen der ständischen und der republikanischen Verfassung das souveräne sich selbst bestimmende Volk. Oder, um es mit den Mitteln der Hegelschen Logik auszudrücken: das Wesen muß auf die Existenz zurückgeführt werden (was einem eingefleischten Hegelianer vermutlich gegen den Strich gehen wird).

Das ist es erst mal alles, was mir bis zur S. 231 aufgefallen ist: der Marxsche Röntgenblick! Daher würde ich auch nicht von einer »Analogie zwischen der Hegelschen« und der »Marxschen Logik« sprechen, weil wir dann wie Stalin und Mao die Spekulation nicht wirklich verlassen und ihr nur einen ‚besseren’ Sinn unterlegen, anstatt, wie Marx dies tut, die Hegelsche Metaphysik bis auf ihren existentiellen Kern zu durchdringen.

Szenenwechsel: Von der Hegelschen Spekulation ist bei dem deutschen ökonomieprofessor A. Wagner nur noch das magere begriffliches Gerüst des gewöhnlichen Alltagsverstands übriggeblieben [2] (364): »Es ist „das natürliche Bestreben” eines deutschen ökonomieprofessors, die ökonomische Kategorie „Wert” aus einem „Begriff” abzuleiten, und das erreicht er dadurch, daß, was in der politischen ökonomie vulgo „Gebrauchswert” heißt, „nach deutschem Sprachgebrauch” in „Wert” schlechthin umgetauft wird. Und sobald der „Wert” schlechthin gefunden ist, dient er hinwiederum wieder dazu, „Gebrauchswert” aus dem „Wert schlechthin” abzuleiten. Man hat dazu nur das „Gebrauchs”fragment, das man fallen ließ, wieder vor den „Wert” schlechthin zu setzen.« Im Gegensatz dazu geht Marx (368) »nicht aus von ”Begriffen”, also nicht vom ”Wertbegriff”«, und hat »diesen auch in keiner Weise ”einzuteilen”. Wovon ich ausgehe, ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in der jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist die „Ware”.« Gegenüber D.W[olf]. wäre also die Betonung auf »in der jetzigen Gesellschaft« zu legen, eine Unterscheidung, die er eindeutig nicht trifft! Da für ihn alle Waren als Arbeitsprodukte ausgetauscht werden, sind alle Arbeitsprodukte auch immer schon Waren. D.h. er hat von der Marxschen Vorgehensweise, bei der sich sein [Marx‘] analytischer Röntgenblick hier erneut bewährt, nix mitbekommen!

Ausgehend von der Unterscheidung, daß der G[ebrauchs]wert der Träger des T[ausch]werts, der Twert aber nur eine Erscheinungsform des Werts ist, stellt Marx (375) fest, daß der Twert der Waren nur existiert, »wo Ware im Plural vorkommt«, während der »Wert« sich »hinter dieser Erscheinungsform« finde. Und jetzt die spannendste Stelle in puncto ‚contemporäre Geschichte’ [3]: Bei der Analyse der Ware komme heraus (ebenda), »daß der „Wert” der Ware nur in einer historisch entwickelten Form ausdrückt, was in allen andern historischen Gesellschaftsformen ebenfalls existiert, wenn auch in andrer Form, nämlich gesellschaftlicher Charakter der Arbeit, sofern sie als VerausgabunggesellschaftlicherArbeitskraft existiert. Ist „der Wert” der Ware so nur eine bestimmte historische Form von etwas, was in allen Gesellschaftsformen existiert, so aber auch der „gesellschaftliche Gebrauchswert”«, wie Rodbertus den Twert charakterisiert. Dieser habe zwar mit Ricardo die Wertgröße untersucht, aber ebenso wenig wie jener »die Substanz des Werts selbst erforscht oder begriffen…« Der Wert gehört also einer historischen Gesellschaftsform an, und dessen Substanz sei zu erforschen, um den spezifischen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit zu bestimmen, der in allen Formen existiert. Dieser ist aber bei D.W. unspezifisch und übergeschichtlich, zumal er (siehe 370 unten), »den zweifachen Charakter der Arbeit« systematisch ignoriert und auch ein Problem hat damit, »daß sich der Wert einer Ware darstellt im Gebrauchswert der anderen, d.h. in der Naturalform der andern Ware« usw. Aber dazu später.

Wenn aber bei der Analyse des Werts von seiner besonderen historischen Form abgesehen wird – und ich wüßte keinen heutigen Werttheoretiker, bei dem das nicht der Fall ist! –, dann bewegen sich solche Analysen in dem Zustand ewiger bürgerlicher Geschichtslosigkeit. Dann können die gemeinschaftlichen Produktionsformen keinen historischen Kontrast zur Warenproduktion bilden, ebenso wie diese gegenüber den Produktionsformen, in denen die unmittelbaren Produzenten ihre Lebensbedingungen in Form von Gwerten vorgeschichtlich selbst reproduziert haben oder künftig selbst reproduzieren werden, verewigt wird. Um diese Pattsituation zu beenden, muß die Werttheorie daher unmittelbar politisch werden!

Hier hatte ein weiterer Szenenwechsel zu J. St. Mill stattfinden sollen. [4] Inzwischen studiere ich den Text in einem zweiten Durchgang erneut und bin damit noch nicht fertig. Genaugenommen handelt es sich um die ‚Grundrisse’ in ihrer Urform, sodaß man, wenn man diesen Text studiert hat, besser versteht, was sich dann in den ‚Grundrissen’ abspielt.

[…] Zu guter Letzt noch eine Rezension zum Thema: Linke und Faschismus.[5] Zu diesem kann man einen deutsch-nationalen bis NS-Standpunkt einnehmen bzw. den der Alliierten und darunter wiederum ihrer westlichen bzw. sozialimperialistischen Fraktion. Wenn man die »foreign policy der working class«, wie sie Marx und Engels verstanden haben, vertreten wollte, würde sich diese »policy« mit keinem der genannten Standpunkte decken. Was auch immer Wehler und Ali u.a.m. aus dieser Geschichte gemacht haben, diese Position vertreten sie jedenfalls nicht, sondern diejenige irgendeiner Bourgeois- oder »middle class«. Das wird an Hand der wirtschaftlichen Untersuchungen, um die es in der Rezension geht, überdeutlich, an Hand derer sich die Wehlerschen und Alischen Aussagen wahrscheinlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil als Ideologie erweisen.

Der Hauptjob der deutschen Nachkriegslinken scheint darin zu bestehen, auf gut chauvinistisch die Deutschen mit der faschistischen Elite, die sich an den Eroberungszügen des NS gemästet hat, in einen Topf zu werfen und als eine solche zu verteufeln… Ein ziemlich trauriger Job!

Soweit erst mal.

Mit herzlichen Grüßen

Ulrich

[1] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

[2] Karl Marx: Randglossen zu Adolf WagnersLehrbuch der politischen ökonomie MEW 19 (355-383). [Seitenangaben in Klammern.]

[3] Dieter Wolf: Qualität und Quantität des Werts. Makroökonomischer Ausblick auf den Zusammenhang von Warenzirkulation und Produktion, 55: Bei der Erforschung der bürgerlichen Gesellschaft handelt es sich nach D. Wolf um »die aus dem prozessierenden Zusammenhang von Forschung und Darstellung resultierende „Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten”, eine Methode, die logisch-systematisch ist, weil sie in der „contemporären Geschichte” des Kapitals als einem ökonomisch gesellschaftlichen System, das durch eine historisch spezifische Selbstorganisation charakterisiert ist, ihre reale Basis hat.« Diese von Marx nicht ohne eine gewisse Ironie verwendete contradictio in adiecto soll verdeutlichen, daß, betrachtet man das Kapital für sich, es als eine geschichtslose Gesellschaftsformation erscheint. Jedoch steht selbstverständlich auch die kapitalistische Produktionsweise in einem historischen Zusammenhang. Um sie aber systematisch analysieren zu können, muß sie unter der absurden Voraussetzung einer »contemporären Geschichte« betrachtet werden, die D.W. in Verkennung dieser absurden Situation zu einem ernstzunehmenden wissenschaftlichen ‚Ansatz‘ deklariert. Siehe www.dieterwolf.net

[4] Gemeint ist James Mill. Siehe: Karl Marx: [Auszüge aus James Mills Buch „Èlémens d‘économie politique] MEW EB 1 I (445-463).

[5] FAZ 10.07.2010 Adolf Normalverbraucher? Das ‚Dritte Reich‘ drückte den Lebensstandard der Zivilbevölkerung von Kriegsbeginn 1939 an.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (14.07.2010)

Betreff: Richtigstellung?

Lieber H., in der FAZ von morgen fand ich folgende Richtigstellung.[1]

Wenn diese Daten doch so allgemein bekannt waren, wie Götz Ali behauptet, warum findet man davon so wenig in seinem Buch?

Bis nächste Woche

Ulrich

[1] Vgl. Ulrich Knaudt an H.B. (12.07.2010).

Leserbrief FAZ 14.07.2010: Paketsendungen von der Front.

Zu „Adolf Normalverbraucher?“ (F.A.Z. vom 10. Juli):

»Die Statistiken zur deutschen Kriegsernährung, die Rainer Blasius nach einem postum veröffentlichten Aufsatz des Historikers Christoph Buchheim zitiert, sind seit langem bekannt. Sie finden sich in den deutschen Stadt- und Landesarchiven zu Dutzenden. Und sie widerlegen auch mein Buch „Hitlers Volksstaat“ (2005) nicht. Ich schreibe darin über die exorbitant hohe Löhnung deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg, über die beispiellose materielle Ausplünderung der besetzten Länder und über die Enteignung der europäischen Juden zugunsten aller Deutschen. Die so erstmals herausgearbeiteten Fakten zeigen, dass die Kriegsernährung in den meisten deutschen Familien nicht allein von den amtlich zugeteilten Lebensmittelkarten abhing, sondern in erheblichem Maße von den individuellen Paketsendungen von der Front in die Heimat.

Millionen Soldaten taten es dem Soldaten Heinrich Böll gleich, der hundertfach an seine Braut und spätere Frau Annemarie Zeilen wie diese schrieb: „Nach dem Essen habe ich mich auf meine Gemächer zurückgezogen und habe im Schweiße meines Angesichts gepackt, gepackt, elf Pakete, wirklich 11 Pakete: 2 für einen Kameraden, eines für den Feldwebel und 8 für mich, ja zwei für Dich, eins mit Butter und eins mit viel Schreibpapier, 2 für Alois’ Familie und 4 für zu Hause; die Eier habe ich in dieser Woche in ein Paket gepackt, weil ich für zwei nicht ausreichend hatte, Du wirst dann von zu Hause welche bekommen.“” Kaum war das erledigt, fand sich Böll schon wieder auf dem Weg ins Glück: „”In Paris könnte ich dann überhaupt noch manches Schöne kaufen, ganz gewiss Schuhe für Dich, und auch Stoff.”

Hermann Göring förderte das ununterbrochene Hamstern vieler Millionen deutscher Soldaten zugunsten ihrer Familien im Oktober 1940 mit seinem –von deutschen Historikern lange beschwiegenen sogenannten Schlepperlass. Nicht umsonst bezeichnete der französische Volksmund die Wehrmachtsoldaten als „Doryphores“ (Kartoffelkäfer). Ähnlich wie in Frankreich machten sich die insgesamt 18 Millionen deutschen Soldaten über alle besetzten Länder Europas her. Deshalb trägt mein Buch nicht den Untertitel „Die liebe Not von Otto Normalverbraucher“, sondern „Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“.«

Götz Aly, Berlin

 


Ulrich Knaudt an H.B. (25.07.2010)

Betreff: ZWISCHENSTAND

Lieber H., mit einiger Verzögerung melde ich mich auf Deine Mails von vorletzter Woche, die ich bei meinem Zwangsaufenthalt auf der Flucht vor Bochum Total mit Interesse gelesen habe und für deren Zusendung ich mich herzlich bedanke. Eine umfassende Einschätzung möchte ich erst abgeben, wenn ich die Texte, die Du mir empfohlen hast, zu Ende studiert habe. Denn davon ausgehend läßt sich auch D.W[olf].s Vortrag fundierter kritisieren.[1] Zuvor einige vorläufige Thesen:

1. D.W. systematisiert seine früheren Fehleinschätzungen von KAP I 1-3 (siehe meine beiden Aufsätze auf der Web Site der Marx-Gesellschaft) auf eine Weise, daß man nun von einer offenen Revision sprechen muß (Begründung folgt).

2. Wenn Marx in einem Vorwort zu KAP I davon spricht, daß er den rationalen Kern der Hegelschen Dialektik bewahrt habe, dann wird dieser durch D.W.s Feldzug gegen den Hegelschen Mystizismus und verschiedene hegelianisierende Marx-Interpretationen wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: von dem rationalen Kern bleibt nichts mehr übrig als ein ziemlich eindimensionaler kritischer Rationalismus.

3. D.W. springt ausgehend von der einfachen Wertform sowohl über die Reduktion des Werts, die Metamorphosen der Wertform als auch (was das größte Manko ist) über das Fetischkapitel hinweg und beginnt unmittelbar mit dem Austausch(prozeß) der Waren. Diesen macht er zum Ausgangspunkt seiner Interpretation der Werttheorie, die von ihm zu einer Geld-Wert-Theorie gemacht wird. Wenn aber der Austausch Ausgangspunkt der Werttheorie sein soll, dann frage ich mich, worin sich diese Interpretation von den marktzentrierten Theorien eines Keynes oder Samuelson oder von weniger intelligenten bürgerlichen ökonomen unterscheidet?

4. D.W. hat sich von Dir zur Marxschen Kritik am Hegelschen Staatsrecht anregen lassen. Allerdings wirkt das wie ein Fremdkörper in seinem Vortrag, ebenso seine aktuellen antikapitalistischen Ausführungen im Schlußteil. Er hat, wie ich meine, überhaupt nicht kapiert, worum es Marx in seiner Hegel-Kritik überhaupt geht. Es geht ihm [Marx] jedenfalls nicht darum, die Hegelsche ‚Mystik‘ kritisch-rationalistisch totzuschlagen…

Soweit mein erster Eindruck von diesem Vortrag. Da ich D.W.s letzte Bücher und Aufsätze zur Werttheorie nicht gelesen habe, kann ich nicht sagen, ob das alles fürchterlich neu bei ihm ist. Aber die von mir unter 1. vermutete offene Revision scheint in dieser systematischen Form durchaus neu zu sein. Wenn das zuträfe, wäre das schon ein ziemlicher Hammer! Es ist eine Sache, ob jemand wie Reichelt Marx an bestimmten Punkten fehlinterpretiert, um ihn für die eigene Interpretation passend zu machen. Ein anderes Ding ist es aber, wenn die Werttheorie von vornherein ausgehebelt und durch eine systematisch entwickelte eigene bürgerliche Werttheorie ersetzt wird. Das scheint hier der Fall zu sein.

Ich hoffe in den nächsten Tagen die Fortsetzung meines letzten ausführlichen Briefes fertig zu bekommen, um davon ausgehend eine Begründung meiner Thesen zu liefern.

Bis dahin

herzliche Grüße

Ulrich

[1] Dieter Wolf: Ende oder Wendepunkt der Geschichte. Zur Einheit von Darstellung und Kritik bei Hegel und Marx.www.dieterwolf.net

 


H.B. an Ulrich Knaudt (25.07.2010)

Betreff: AW: ZWISCHENSTAND

[…] Vielleicht kommst Du beim Bearbeiten der Marxschen Kr[itik]. d. H[egelschen] St[aats]R[echts] bis zu den 292 ff. Scheint mir notwendig, um D. Wolfs Positionen kritisch würdigen zu können, zumal er sich mit diesen Seiten so explizit auseinander-setzt wie ich‘s sonst, soweit ich die Literatur dazu überschau, von niemandem außer ihm kenne (in [Dieter Wolf:] „Der dialektische Wi[derspruch] im K[apital].“).

[…] Bis dann, Du lieber ‚Klassenkämpfer‘, eingedenk, daß das Verharren dessen Position bzw. Logik in einer bloßen Gegenüberstellung / Entgegensetzung gegenüber der sog. Wertlogik schlicht (und gelinde gesagt) dumm und töricht ist, ebenso v.v., also weder ‚Entweder/Oder‘ noch nur ein ‚Sowohl … als auch‘ hinreicht, und damit aber zugleich positiv die Aufgabe gestellt bzw. das Ziel definiert [wird], die beiden Seiten zuallererst erkenntniskritisch auf den Begriff zu bringen, logisch, widerspruchsfrei, indem – um mit Marx nach »Privateigentum und Komm[unismus].«, »roher Komm[unismus].« ([MEW] EB 1, 533 ff.) in seiner »Kritik der H[egelschen] Dialektik und Ph[ilosophie] überhaupt« zu sprechen, zu einem Begriff beider zu gelangen, der »zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist« (S. 577)

Ganz herzlichen Gruß,

in Eile,

H.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (28.07.2010)

Lieber H.,

ich setze den abgebrochenen Brief vom 04.07. fort [1] und orientiere mich hinsichtlich der Gliederung an dem Dir zugesandten ZWISCHENSTAND.

Zuvor ein Satz zum Gesamteindruck des Vortrags [2] auf Grund der Materialien […]: der Aufbau ist sehr uneinheitlich, weil d.A. die vom Veranstalter gemachten Vorgaben nicht in seine Marx/Hegel-Kritik + Werttheorie integriert, und am Schluß irgendeinen populären Antikapitalismus an das ganze dranklatscht. Außerdem fällt, wie schon erwähnt, seine Hegelkritik hinter die Kritik bereits des frühen Marx an Hegel zurück und wird dadurch zur Afterkritik; so auch gegen Ende seine Behandlung der Hegelschen Extreme. Ebenso ist er auch nicht in der Lage, den rationalen Kern der Hegelschen Dialektik zu würdigen. (Daher kann Reichelt auch nur über D.W. schmunzeln!) Davon abgesehen werde ich mich nur mit dem zweiten Teil seines Vortrags (Seite 12+) befassen, weil es hier nicht nur um Afterkritik, sondern offene Marx-Revision geht, die ich versuchen will, nachzuweisen.

1. D.W. hat das »gesellschaftliche Verhältnis der Sachen« mißverstanden.

Das Andere (Natur und endlicher Geist) erscheint dem absoluten Geist als Mittel, um zu sich selbst und zu seiner absoluten Wirklichkeit zu gelangen. In Analogie dazu vermitteln nach D.W. die Geldformen den Warentausch und verschwinden im Endresultat der Bewegung (allerdings nur, was die Bewegung W-G-W anlangt, wo das zweite W in die individuelle Konsumtion eingeht), während in der Bewegung G-W-G das Geld nicht verschwindet, sondern sich diese Form in ein automatisches Subjekt verwandelt (siehe Marx-Zitat Seite 13).[3]

Bereits in diesem Fall ist es nichts mehr mit der Analogie Kapital – Weltgeist, da G-W-G sich als perpetuum mobile verselbständigt (an dessen reale Existenz die Aktionäre der Wall Street einander zu glauben vormachen, solange zumindest, bis diese Kette reißt), von dem aber niemand wirklich glaubt, daß es zwecks Lösung des Energieproblems tatsächlich funktioniert, weil im Grunde jeder Spekulant weiß, daß, ohne die Produktion von Mehrwert zugrunde zu legen, keine Verwertung seiner Werte stattfinden wird. Die Analogie, die D.W. bemüht, hört also schon an dieser Stelle auf, eine zu sein, kaum daß er sie hergestellt hat.

D.W. geht im Sinne der Neuen Marx-Lektüre von den Ersten Drei Kapiteln [des Kapital] aus. Aber was ist deren Inhalt? Ist der entscheidende Ausgangspunkt die (einfache) Warenzirkulation oder der Wert? Wenn der Wert (der Ware, dessen Formen und deren Metamorphosen) der Ausgangspunkt ist, erledigt sich schon an dieser Stelle D.W.s Frage, ob es sich dabei um eine »logisch systematische« oder »logisch historische …Darstellung« handelt, ganz von selbst, weil nach Marx der Wert der Ware »so nur eine bestimmte historische Form von etwas (ist), was in allen Gesellschaftsformen existiert« ([MEW] 19,375) [4]. [Unterstr. v.m.]

Dagegen soll in Abschnitt II von Teil II des Vortrags »auf die Warenzirkulation unter dem Aspekt der Erklärung des Werts, der Wertform und des Waren- und Geldfetischs« [Unterstr. v. m.] eingegangen werden und nicht etwa [nach Marx] auf den Wert, die Wertform, den Waren- und Geldfetisch unter dem Aspekt der Warenzirkulation. Nur wenn man vom Wert ausgeht, hat das zur Folge, daß, wie es bei Marx heißt, den Menschen anstelle »unmittelbar gesellschaftlicher Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst« ein »gesellschaftliche(s) Verhältnis von Sachen« in der Warenwelt aufgedrängt wird ([MEW] 23,87). Diese Absurdität meint D.W. dadurch umschiffen zu können, indem »auf die abstrakt allgemeinste Weise die Menschen im kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozeß« (sollte es nicht zunächst nur um die einfache Warenzirkulation gehen?) »ihre gesellschaftlichen Beziehungen zueinander vermittels der gesellschaftlichen Austauschbeziehung der Arbeitsprodukte her(stellen)«. (Seite 14)

Wenn ein »Arbeitsprodukt« eine »gesellschaftliche Austauschbeziehung« herzustellen in der Lage wäre, würde das ungefähr dasselbe bedeuten, als wenn sich der Tisch zu Beginn des Fetischkapitels, »sobald er als Ware auftritt, …in ein sinnlich übersinnliches Ding« verwandelte und die »Arbeitsprodukte« dann »aus freien Stücken zu tanzen« begännen ([MEW] 23,85). Um dieser Absurdität zu entgehen, macht D.W. auf die bemerkenswerte Tatsache aufmerksam, »daß es sich dabei um etwas Besonderes handelt, insofern es den Arbeitsprodukten, die als ebenso viele Stücke umgeformter Natur Sachen sind, von Hause aus nicht zukommt, sich zueinander in einer gesellschaftlichen Beziehung zu befinden«. (Seite 14) (Wer hätte das gedacht!) Sondern es sind nach seinem Dafürhalten vielmehr die Menschen, »die Arbeitsprodukten eine ihnen als Sachen fremde äußerliche gesellschaftliche Beziehung gleichsam aufzwingen.« (Seite 15) [Unterstr. v. m.]

Wie es scheint, haben die Arbeitsprodukte bei D.W. den gleichen Status wie das Tier, die, weil dieses juristisch als Sache figuriert, hier ebenfalls als ein zu schützendes Wesen verstanden werden. »Es wird von den Menschen eine eigenständige gesellschaftliche Beziehung zwischen den Sachen hergestellt…«, was so klingt, als hätten die Sachen dafür von den Menschen erst um Erlaubnis gefragt werden müssen. Eine Absurdität, die entsteht, weil D.W. die Marxsche Ironie, die in der absurden Formulierung des »gesellschaftliche(n) Verhältnis(ses) von Sachen« ([MEW] 23,87) steckt, offenbar nicht wahr-, sondern für bare Münze nimmt. Allerdings kann auch er nicht umhin einzuräumen, daß diese Sachen »als Arbeitsprodukte auch [!] von Menschen geschaffen worden sind«. Von wem denn bitte sonst – den Schöpfer des Himmels und der Erden einmal beiseite gelassen?

Also, zunächst drängen die Menschen den Arbeitsprodukten ihre gesellschaftlichen Beziehungen auf, während sie aber gleichzeitig einräumen müssen, daß diese Bankerte doch schließlich »auch« von ihnen »geschaffen worden sind«. Aber dennoch besitzt diese »Beziehung der Arbeitsprodukte zueinander … als eine gesellschaftliche Beziehung eine Eigenständigkeit, durch die sie von der gleichzeitig mit dem Austausch gegebenen gesellschaftlichen Beziehung der Menschen zu einander verschieden ist«. Daraus lese ich mit Hilfe meiner letzten Verstandeskräfte heraus, daß hier offensichtlich zwei Beziehungen parallel zueinander existieren: die »gesellschaftliche Beziehung … der Arbeitsprodukte« und die »gesellschaftliche Beziehung der Menschen zu einander«.

Wenn aber beide Beziehungen, die »der Menschen« und die »der Arbeitsprodukte«, von einander getrennt ablaufen, werden sich die »Arbeitsprodukte« nach menschlicher Logik ebenso wie die o.g. »tanzenden Tische« ihrerseits auf die Hinterbeine stellen müssen, um sich als Waren eigenhändig zu Markte zu tragen. Oder wie stellt sich das D.W. sonst vor? Doch auch dafür scheint er mit Hilfe seiner verknotet-verknorpelten Satzkonstruktionen eine Lösung gefunden zu haben: »Das Besondere der gesellschaftlichen Beziehung der Arbeitsprodukte zueinander tritt noch mehr hervor, wenn man bedenkt, was ihre gerade erfolgte Charakterisierung bedeutet: Es spielt sich in der gesellschaftlichen Beziehung der Arbeitsprodukte hinsichtlich der Bestimmung des Gesellschaftlichen der Arbeit Wesentliches ab, das außerhalb der Reichweite des Bewußtseins der als Wirtschaftssubjekte sich verhaltenden Menschen liegt, und nur von dem durch Marx repräsentierten wissenschaftlichen Bewußtsein aufgedeckt und erklärt wird.«

Die »als Wirtschaftssubjekte sich verhaltenden Menschen« tauschen zwar seit urdenklichen Zeiten erfolgreich Waren miteinander aus. Das dürfen sie aber gar nicht, solange sie nicht über das »durch Marx repräsentierte wissenschaftliche Bewußtsein« verfügen und dann wissen werden, was sich alles »in der gesellschaftlichen Beziehung der Arbeitsprodukte hinsichtlich der Bestimmung des Gesellschaftlichen der Arbeit Wesentliches (abspielt)«. Marx würde dieses »Wesentliche« wie gesagt als die »tanzenden Tische« verstehen. Um diese dingfest zu machen, bedarf es aber nicht zuletzt eines großen Sinns für Satire und eines noch vorhandenen Rests an gesundem Menschenverstand. D.W. dagegen leitet in Ermangelung dessen aus diesem »Wesentliche(n)« eine ganz neue Werttheorie ab: »In welcher Hinsicht sind die Arbeitsprodukte in und durch ihre Austauschbeziehungen zueinander in Waren verwandelte Werte Um die Antwort vorwegzunehmen: sie sind es in der »Hinsicht«, wie alle für den Austausch produzierte Arbeitsprodukte Waren und folglich Wert sind! Um das zu verstehen, hält es Marx für sinnvoll, sich bei anderen Produktionsformen umzusehen, dort, wo nicht privat, sondern gesellschaftlich produziert wird und folglich keine Waren produziert werden!

Hier müßte ich im einzelnen begründen, warum D.W. die Verselbständigung der Formen im Ersten Kapitel nicht versteht, warum die im gesellschaftlichen Verkehr sich verselbständigt habenden Gedankenformen von dessen Teilnehmern wie reale Gegenstände be- und gehandelt werden und warum er aus diesem Grund einem neuen Fetischismus aufsitzt! Denn was ist die [=D.W.s] »gesellschaftliche Beziehung der Arbeitsprodukte« anderes als solch ein Fetischismus in Reinkultur? Da mag D.W. noch so lauthals das »durch Marx repräsentierte wissenschaftliche Bewußtsein« hochleben lassen! Dieses allein reicht nun mal nicht hin, um mit den Tango tanzenden Tischen fertigzuwerden.

Ich müßte außerdem darauf eingehen, warum D.W. und H.R[eichelt]. mit ihrer Interpretation des Zweiten Kapitels eine eigenständige Geldform-Soziologie begründen, die darauf beruht, daß beide, je auf ihre Weise selbst im Fetischismus befangen, nicht einsehen wollen, daß sich an dieser Stelle die Wertformen inzwischen so stark verselbständigt haben, daß das Verhältnis der Warenbesitzer zu ihren Waren auf dem Kopf steht. Statt dessen werden von W. und R. ernsthaft überlegungen angestellt darüber, was sich die Warenbesitzer so alles durch den Kopf gehen lassen, wenn sie auf den Markt gehen und das Geld erfinden. Bei Marx lesen wir dagegen:  »Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter [sic!] sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert.« ([MEW] 23,99)[Unterstr. v. m.]

Die »Warenhüter« müssen, damit der wechselseitige Austausch der Waren funktioniert, sich ausnahmsweise »als Personen verhalten«! Offenbar verhielten sie sich bisher nicht so! Ein Sachverhalt, der die ganze Sozialethik durcheinanderbringt. Auch unsere Geldform-Soziologen hätten es ziemlich schwer zu erklären, was nach der Verwandlung dieser mit einem eigenständigen menschlichen Willen ausgestatteten Personen in »Warenhüter, … deren Willen in jenen Dingen haust«, von diesen ‚persönlich’ übrigbleibt? Mit dem Personenbegriff steht und fällt die gesamte bürgerliche Gesellschaft ideologisch in sich zusammen. Aber mit eben solchen ‚Untoten’ haben wir es im ganzen Zweiten Kapitel zu tun:  »Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikation der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.« ([MEW] 23,100) »Träger« ist in diesem Stadium der »Entwicklung« der Geldform wortwörtlich zu nehmen: Warenträger! Also: der du in das Zweite Kapitel einsteigst, laß alle Gedanken an irgendeine Geld-Soziologie, ob von Simmel oder frisch von D.W. erfunden, fahren!

2. Warum D.W. aus diesem Grund auch die einfache Wertform nicht versteht

D.A. kaschiert sein Unverständnis der einfachen W[ert]F[orm] dadurch, daß er eine neue Werttheorie, in Gestalt einer Sachentausch-Theorie zusammenstrickt. Niemand bestreitet, daß die Analyse der einfachen Wertform zu den kompliziertesten Dingen gehört, die die politische ökonomie zu bieten hat. Nicht umsonst hat Marx immer neue Erklärungsversuche erprobt, die ihn am Ende nicht befriedigt haben. Das Erste Kapitel in der Zweiten Auflage ist daher nicht nur sein letztes Wort in dieser Angelegenheit, es zeichnet sich auch wegen seiner Abgeklärtheit in der Darstellung als ein Meisterwerk aus. Anstatt es zu verhunzen, sollte man es erst mal komplett zu verstehen versuchen!

D.W. kann die einfache Wertform nicht verstehen, weil in seiner Sachentausch-Theorie die Waren nicht als Wert (+Gwert), sondern als Arbeitsprodukte ausgetauscht werden: »Indem eine Austauschbeziehung zwischen den Arbeitsprodukten hergestellt wird« (warum eigentlich?) »geht es um sie in der Hinsicht, in der sie austauschbar, d.h. einander ersetzbar und insofern untereinander gleich sind.« (Seite 15) Schaut man sich diesen durch leere Floskeln (»in der Hinsicht«, in der »es um xy geht«) aufgeblasenen Satz genauer an, entpuppt er sich als wunderschöne Tautologie, die da lautet, daß es in der Austauschbeziehung (zwischen den Arbeitsprodukten!) um ihre Austauschbeziehung in der Hinsicht geht, in der sie austauschbar und insofern gleich sind. Die Arbeitsprodukte sind also gleich, weil sie austauschbar, und sie sind austauschbar, weil sie gleich sind. Aber warum sind sie überhaupt gleich? Ganz einfach! Weil »es um … Arbeitsprodukte … geht« und Arbeitsprodukte Gebrauchswerte sind: »Es geht von vornherein um Gebrauchswerte, die Arbeitsprodukte sind, abgesehen davon, daß auch alles, was in den Austausch eingeht, ohnehin Produkt von Arbeit ist.« Fein! Aber wozu brauchen wir dann noch den Tauschwert?

Anstatt uns diese Frage zu beantworten, fährt D.A. in seiner Sachentausch-Theorie munter fort: »Die Arbeitsprodukte werden in der Hinsicht, [sic!] in der sie die allgemeine Eigenschaft besitzen, überhaupt ein Arbeitsprodukt zu sein, auf die anderen Arbeitsprodukte bezogen und zwar in der Hinsicht [sic!], in der sie ebenfalls die allgemeine Eigenschaft besitzen, ein Arbeitsprodukt überhaupt zu sein.« Wenn ich [auch] (eigentlich überflüssigerweise) diese Tautologie auf ihren leeren Sinn hin untersuchen wollte, käme heraus: Das Arbeitsprodukt, das überhaupt ein Arbeitsprodukt ist, wird mit einem anderen Arbeitsprodukt gleichgesetzt, das ein Arbeitsprodukt überhaupt ist. Die Beziehung zwischen beiden Arbeitsprodukten reduziert sich im Endeffekt auf die unterschiedliche Stellung des Wörtchens »überhaupt« in den beiden Teilsätzen der Tautologie! Aus dieser tautologischen Identität der zwei Arbeitsprodukte, die einander von vornherein gleichen wie ein Ei dem anderen, leitet d.A. sein neu gewonnenes Verständnis der Werttheorie ab: »Indem die Arbeitsprodukte auf diese Weise im Austausch gesellschaftlich in ihrer allgemeinen Eigenschaft eines Arbeitsproduktes schlechthin gesellschaftlich aufeinander bezogen werden, sind sie Werte (Seite 15) Sie sind »Werte«, weil sie »in ihrer allgemeinen Eigenschaft … Arbeitsprodukte« sind! Und was wären sie in ihrer besonderen Eigenschaft? Auf Seite 17 gibt uns D.W. eine in jeder »Hinsicht« erstaunliche Antwort.

Zunächst jedoch ist festzustellen, daß D.W. nicht kapiert, daß die Arbeitsprodukte, solange diese als Arbeitsprodukte, d.h. ausschließlich als Gebrauchswerte (denn vom T[ausch]wert war bisher überhaupt nicht die Rede!) aufeinander bezogen werden, sie ebenso gut oder schlecht mit einander verglichen werden können, wie äpfel mit Birnen. Wenn aber, ohne den Twert ins Spiel zu bringen, die Ware A mit der Ware B verglichen werden soll, um ausgetauscht zu werden, dann geht das nun mal nicht ohne die einfache Wertform (x Ware A ist y Ware B wert). Ohne den Gebrauchswert der andersgearteten Ware B als Wertspiegel zu benutzen, kann sich die Ware A nur mit ihrer eigenen Warengattung vergleichen (x Ware A ist y Ware A wert), »eine Tautologie, worin weder Wert noch Wertgröße ausgedrückt ist« ([MEW] 23,82).

Der Nutzen dieser Gleichung beschränkt sich darauf, die Quantitäten gleicher Warenarten zu bestimmen. Mit seiner Sachentausch-Theorie erreicht D.W. noch nicht mal das Niveau der modernen Freihändler, die nach Marx im Unterschied zu den Merkantilisten nur auf die »quantitative Seite der relativen Wertform« erpicht sind und für die »folglich weder Wert noch Wertgröße der Ware außer in dem Ausdruck durch das Austauschverhältnis, daher nur im Zettel des täglichen Preiscourants (existiert)« ([MEW] 23,75). Die Freihändler wissen aber zumindest, daß man äpfel und Birnen nicht zusammenzählen sollte.

Erst jetzt, nachdem er seine Sachentausch-Theorie in trocknen Tüchern hat, stellt sich auch für D.W. die Frage, die mir, wenn auch anders formuliert, schon die ganze Zeit aufder Zunge liegt: »Inwiefern gibt es einen dialektischen Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert?« (Seite 16) Gute Frage!Nur, welchen Widerspruch »gibt es« in einer Tautologie? Für gewöhnlich, so auch hier, einen Scheinwiderspruch. Um einen solchen zu umgehen, stellt D.W. den moralischen Imperativ auf: »Die Ware kann nicht selbst als Gebrauchswert auftreten und zugleich selbst als davon total verschiedener Wert erscheinen Warum kann sie das nicht? (Von dem Fetischismus des ‚Auftretens’ mal abgesehen!) Weil: »Als Wert erscheinen und gleichzeitig an den Gebrauchswert gebunden zu sein, realisiert sich in der Austauschbeziehung der Ware zu einer anderen Ware.« [Unterstr. v. m.] Bei Marx besteht der Widerspruch zwischen Gwert und Wert u.a. darin, daß Arbeitsprodukte, die als Waren produziert werden, einen Gwert und einen Twert haben, bei D.W. »realisiert sich« dieser Widerspruch »in der Austauschbeziehung« zwischen den Waren, wofür dem Autor jeder soziale oder asoziale Marktwirtschaftler freudig um den Hals fallen wird!

Marx beschränkt sich bei der Bestimmung des Widerspruchs grade nicht auf die »Austauschbeziehung« zwischen den Waren, sondern setzt für diese das Bestehen einer ‚Arbeitsbeziehung’ voraus: »Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit« ([MEW] 23,54). »Wie die Gebrauchswerte Rock und Leinwand Verbindungen zweckbestimmter, produktiver Tätigkeiten mit Tuch und Garn sind, die Werte Rock und Leinwand dagegen bloße gleichartige Arbeitsgallerten, so gelten auch die in diesen Werten enthaltenen Arbeiten nicht durch ihr produktives Verhalten zu Tuch und Garn, sondern nur als Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft« ([MEW] 23,59). Marx reduziert den Gwert auf den Wert durch dessen Bezeichnung als »bloße gleichartige Arbeitsgallerten« und die darin »enthaltenen Arbeiten« auf (im anonymisierenden Plural!) »Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft«. D.W. meint zur Bestimmung des Widerspruchs zwischen Gwert und Wert ohne eine solche Reduktion  »zweckbestimmter produktiver Tätigkeiten« auf »Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft« auszukommen. [Unterstr. v. m.]

Genau wie im Widerspruch Gwert-Wert zeige sich für D.W. auch im Doppelcharakter der Arbeit, »daß der Gegensatz … konkret-nützliche – abstrakt menschliche Arbeit jeweils einen Gegensatz bzw. eine Differenz innerhalb eines Wesens, d.h. der menschlichen Arbeit ist, die eine konkret nützliche Arbeit ist, und zugleich [hier folgt das Explikandum der Tautologie:] die allgemeine Eigenschaft besitzt, überhaupt menschliche Arbeit zu sein.« (Seite 16 Fn.) D.h. der Widerspruch zwischen abstrakt menschlicher und konkret nützlicher Arbeit wird (als »Differenz innerhalb eines Wesens« – ‚old Hegel’ wird sich im Grabe umdrehn!) in eine Tautologie verwandelt bestehend aus: »der menschlichen Arbeit« = »konkret nützlichen Arbeit« = »überhaupt menschlichen Arbeit«, unter Wegfall der »abstrakt menschlichen Arbeit«. Fertig ist die Laube!

Ohne die Reduktion der konkret nützlichen auf die abstrakt menschliche Arbeit, der zweckbestimmten produktiven Tätigkeit auf Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft ist nun mal keine Bestimmung des Werts möglich. Ohne Bestimmung des Werts ist die einfache Wertform nur als Tautologie möglich.

3. Von der Sachentausch-Theorie zur monetaristischen Wert-Theorie

In der bereits hinlänglich bekannten »gesellschaftlichen Beziehung von Ware zu Ware« werden [bei D.W.], wie ebenfalls hinlänglich bekannt ist, zum einen »die Waren als Werte, in ihrer allgemeinen Eigenschaft, überhaupt Arbeitsprodukte zu sein, auf einander bezogen und gleich gesetzt«. Diese »gesellschaftliche Beziehung«, in der streng tautologisch »die in Waren verwandelten Arbeitsprodukte in der Hinsicht, in der sie Werte sind, gleichgesetzt werden, ist nach der anderen Seite zugleich eine gesellschaftliche Beziehung auf [?] den Gebrauchswert der anderen Ware, der kein Wert ist«. (Seite 16) Auf der einen Seite werden, wie gehabt, die Arbeitsprodukte qua Arbeitsprodukte, so als wären es Werte, gleichgesetzt, auf der anderen Seite besteht eine »gesellschaftliche Beziehung« (von wem/was?) zum Gwert der anderen Ware, der schon per definitionem kein Wert ist: sonst wäre er nicht das Gegenteil des Werts! Der Gegensatz zwischen Wert und Gwert ist hier nicht ein inhaltlich‚ sondern ein logisch spitzfindig begründeter. Nach dem Muster dieser logischen Spitzfindigkeit (A non est non-A) wird nun von D.W. die einfache Wertform nachgebildet: »Die Austauschbeziehung bewirkt über die Gleichsetzung der Waren als Werte hinaus[!], daß der Gebrauchswert der anderen Ware als das, was er nicht selbst ist, d.h. als Wert der ersten Ware gilt Anstelle von ‚non est’ also: »gilt«! Das ‚non est’ wird als ‚gelten’ geadelt.

In der Marxschen Werttheorie ist D.W.s »gesellschaftliche Beziehung von Ware zu Ware« ein »Wertverhältnis einer Ware zu einer einzigen verschiedenartigen Ware, gleichgültig welcher«  ([MEW] 23,62), das sich nur bestimmen läßt, nachdem der Gwert auf den Wert reduziert wurde und in einem nächsten Schritt Rock und Leinwand auf ihre »Wertgegenständlichkeit« ([MEW] 23,80) reduziert worden sind. Erst danach lassen sie sich überhaupt als kommensurable Größen mit einander vergleichen ([MEW] 23,64). D.W. hat aber von Anfang an den feinen Unterschied übersehen, daß menschliche Arbeit zwar Wert bildet (= Arbeitsprodukte), aber nicht Wert ist, und genausowenig als Wert »gilt«: »Um den Leinwandwert als Gallerte menschlicher Arbeit auszudrücken, muß er als eine „Gegenständlichkeit” ausgedrückt werden, welche von der Leinwand verschieden ist und zugleich mit anderer Ware gemeinsam ist.« (23,66) Diese von Marx dadaistisch formulierte und exakt so gemeinte »Wertgegenständlichkeit« ermöglicht überhaupt erst die Herstellung der Kommensurabilität, platt gesagt, zwischen äpfeln und Birnen, nicht aber die menschliche Arbeit, soweit sich diese in als Gebrauchswerte produzierten Arbeitsprodukten realisiert. Wenn deren Kommensurabilität für D.W. aber bereits mit dem Vorhandensein einer Austauschbeziehung zwischen zwei Waren a priori gegeben sein soll, erübrigt sich sowohl die einfache Wertform („20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert”), als auch die äquivalentform, worin »die Naturalform der Ware B zur Wertform der Ware A oder der Körper der Ware B zum Wertspiegel der Ware A« geworden ist ([MEW] 23,67).

Allein die Tatsache, daß im Ersten Kapitel [von KAP I] der Gwert der Ware B darauf reduziert wird, ausschließlich als »Wertspiegel der Ware A« herzuhalten, drückt die ganze Absurdität dieser Beziehung aus, an die D.W.s logische Spitzfindigkeiten nicht heranreichen. Das einzige, worin diese ihm weiterhelfen, ist, daß er nun im Besitz eines Geltungsbegriffs ist, auf dem sich eine ‚monetäre’ in Konkurrenz zu H.R[eichelt].s ‚prämonetärer Werttheorie’ aufbauen läßt. Wenn der Gwert der Ware B, nachdem [bei D.W.] die umweglose Gleichsetzung der Waren als »Arbeitsprodukte«vollzogen ist (denn nichts anderes bedeutet die Formel: »über die Gleichsetzung der Waren als Werte hinaus«!), angeblich »als Wert der ersten Ware gilt«,dann ist der Erklärungswert von D.W.s logischer Spitzfindigkeit, selbiger Gwert (der Ware B) sei = dem Wert der Ware A, weil er »als das, was er nicht selbst ist, ...gilt«, erstens ein schlechtes Imitat der äquivalentform (s.o.) + = 0; zweitens läßt sich damit mühelos die Marxsche Werttheorie in eine Geldwerttheorie transformieren, die fast so aussieht wie das Original.

Dazu liefert die folgende Nominaldefinition den entscheidenden übergang:»Die Austauschbeziehung ist [wie ununterbrochen behauptet wurde] eine Gleichheitsbeziehung und [nun mit Hilfe des neuen Geltungsbegriffs] eine Repräsentationsbeziehung (Geltungsbeziehung), wobei die letztere [d.h. die Geltungsbeziehung] auf Basis der ersteren[der Gleichheitsbeziehung] dafür verantwortlich ist, daß es eine vom Wert verschiedene Erscheinungsform (Tauschwert, einfache Wertform) gibt, welche zugleich auf rationale Weise das Gebrauchswert und Wert zusammenfassende Dritte bzw. die vermittelnde Mitte istWie sich unschwer erraten läßt, ist diese »vermittelnde Mitte« das Geld. Und deshalb verwundert es nicht, daß D.W. auf Seite 17 flugs »zum leichteren Verständnis … die Geldform unterstellt«. Um das Geld »auf rationale Weise« zum Mittelpunkt seiner Werttheorie zu machen, müssen jener all die Irrationalitäten, mit denen Marx den Hegelschen Mystizismus auf die Spitze treibt, wie zu weiland Gottscheds Zeiten der Narr aus dem deutschen Trauerspiel, ausgetrieben werden und dem bürgerlichen ökonomen-Bierernst weichen.

Für die von ihm lautstark beklagte »mystisch irrationale Vermischung von Gebrauchswert und Wert« hat D.W. durch seine Erklärungsversuche dieses Widerspruchs mit Hilfe von logischen Spitzfindigkeiten selbst genügend Zündstoff geliefert, um sich über den Splitter im Auge anderer noch beklagen zu dürfen. Wieweit D.W. diese »mystisch irrationale Vermischung« bis an die Grenzen der menschlichen Verstandesmöglichkeiten vorantreibt, zeigt seine eigene Entwicklung der allgemeinen Geldform (Seite 17-18). Diese beruht, wie schon die Wertform auf Tautologien und leeren Satzfloskeln.

»Beim wirklichen, d.h. rationalen und rational erklärbaren dialektischen Widerspruch sind die Hinsichten, in denen die Ware jeweils Gebrauchswert und Wert ist, so voneinander verschieden wie gesellschaftlich Allgemeines vom stofflich Einzelnen bzw. vom konkret nützlichen Ding mit konkret nützlichen Eigenschaften. Es ist die gesellschaftliche Austauschbeziehung, die vom Gebrauchswert und Wert verschieden ist, durch die beide in einen Widerspruch geraten. Die verschiedenen Hinsichten müssen sich in ein und derselben aus der Austauschbeziehung bestehenden Hinsicht, als gesellschaftlich Allgemeines und zugleich als einzelnes konkret nützliches Ding realisieren. Jede Ware, einzeln in Gestalt des Gebrauchswerts auftretend, ist als Wert ein gesellschaftlich Allgemeines. Bei jeder Ware ist ihr Wert an ihre Existenz als einzelner bestimmter Gebrauchswert gebunden, so daß jede Ware jede andere davon ausschließt, ein gesellschaftlich Allgemeines zu sein, solange die Austauschbeziehung nicht realisiert wird.«

Der Gebrauchswert wird durch das »einzelne konkret nützliche Ding«, der Wert durch das »gesellschaftlich Allgemeine« repräsentiert, bzw. ersetzt. Der Widerspruch zwischen Gwert und Wert kehrt zurück in die metaphysischen Urgründe der Hegelschen Logik als Widerspruch zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Eine Satzfloskel (»Hinsicht«) wird hier zum harten Kern der Neubestimmung des »rationalen und rational erklärbaren dialektischen Widerspruch(s. Den eigentlichen Widerspruch bilden nicht mehr Gwert und Wert, sondern dieser liegt zwischen diesem Gegensatzpaar einerseits und der gesellschaftlichen Austauschbeziehung als solcher andererseits, die als Widerspruch zwischen einzelnem und dem Allgemeinen und dargestellt wird. Dadurch geraten die Widersprüche untereinander in infinitum in Widerspruch und verlieren durch diesen Regreß in jeder »Hinsicht« jegliche Bodenhaftung.

Die Reise endet bei der Allgemeinen Wertform, nachdem D.W. die Wertformanalyse in Trümmern hinter sich zurückgelassen hat. Die Geldform wird wiederum durch eine Tautologie erklärt: »In der wirklichen gesellschaftlichen Beziehung der Waren zu einander gibt es [sic! Fällt dieses »es« vom Himmel?] ein gesellschaftliches Allgemeines, wenn von allen Waren eine Ware ausgeschlossen wird, die für alle Waren das ist, was sie kraft ihres Wertcharakters als gesellschaftlich Allgemeines sind. [Schöne Tautologie: die Sachen sind, was sie sind!] Die ausgeschlossene Ware muß für alle Wert sein [nach welcher Wertträger-Ethik muß sie das?]. Diese ist wie gezeigt damit gegeben, daß alle Waren gemeinsam ihren Wert im Gebrauchswert der ausgeschlossenen Ware darstellen. Hiermit ist der dialektische Widerspruch gelöst, wobei die Hinsicht, in der die Waren Werte sind und die Hinsicht, in der sie Gebrauchswerte sind, klar voneinander getrennt sind.« Die »Hinsichten« können aber die Frage nicht beantworten; warum die Warenwerte und die Gwerte überhaupt voneinander getrennt sind, nachdem sie im Austauschprozeß als Widerspruch gar nicht vorkamen?

Abschließend wird durch den Rekurs auf die logische Spitzfindigkeit auf Seite 16 die Wolfsche monetäre Werttheorie kreiert: »Das aus der unmittelbaren Austauschbarkeit bestehende gesellschaftlich Allgemeine, das die äquivalentware für alle Waren als Werte ist, kommt in der Lösung des Widerspruchs dadurch zustande, daß sich der Wert aller Waren in ihrem Gebrauchswert darstellt, der dadurch nicht in mystisch irrationaler Weise Wert ist, sondern als Wert gilt.«

Zusammenfassung

Der Kern des Problems, an dem D.W. bereits im Ansatz scheitert, besteht in dem oben genannten kleinen Unterschied dazwischen, daß nach Marx menschliche Arbeit Wert schafft aber nicht Wert ist. Damit sie Wert ist, muß sie auf abstrakt menschliche Arbeit reduziert werden, was die von Marx davon ausgehend losgelassenen Wertform-Phantasmagorien zur Folge hat, die D.W. komplett »rational« ausblendet. Während Marx die Hegelsche Mystik ad absurdum führt, indem er ihre Unmöglichkeit an den Formen der bürgerlichen ökonomie vorführt, nimmt D.W. all diese sich verselbständigen Formen für bare Münze. Klassisches Beispiel: ‚das gesellschaftliche Verhältnis von Sachen‘. Auf dem Mißverständnis dieser für bare Münze genommenen contradictio in adjecto basiert im wesentlichen seine Sachentausch-Theorie, die er mit Hilfe von logischen Spitzfindigkeiten und leeren Tautologien zur Entfaltung bringt und dabei von Anfang an mit der Marxschen Werttheorie in Konflikt gerät. Dieser Konflikt ist unvermeidlich. Etwas sichereren Boden unter den Füßen bekommt er erst, nachdem er den Sprung in die Geldtheorie vollzogen hat, allerdings nur unter Hinterlassung der Marxschen Werttheorie als Trümmerfeld. Hier serviert uns D.W. am Ende seine »rationale« Werttheorie, eine, in Analogie zur prämonetären von H.R[eichelt]. [und] H.-G. B[ackhaus]., monetäre Werttheorie. Darin verflüchtigt sich der Widerspruch zwischen Gwert und Wert zum klassischen Widerspruch der Hegelschen Logik zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Das Allgemeine steht hier für die allgemeine Wertform, woraus bei Marx das Geld abgeleitet wird, das Einzelne für den Gebrauchswert der konkret nützlichen Einzeldinge.

Es ist letzten Endes nicht ersichtlich, worin sich der Wolfsche Revisionismus von den vielen anderen, die sich an den ersten Drei Kapiteln schon versucht haben, unterscheidet. Vielleicht nur in einem: er ist noch humorloser…

[1] Gemeint sind Ulrich Knaudt an H.B. vom 18.06. und 25.07.2010.

[2] Dieter Wolf: Ende oder Wendepunkt der Geschichte. Zur Einheit von Darstellung und Kritik bei Hegel und Marx.www.dieterwolf.net

[3] Karl Marx: Das Kapital. Band I (MEW 23), 168: »Die selbständigen Formen, die Geldformen, welche der Wert der Waren in der einfachen Zirkulation annimmt, vermitteln nur den Warentausch und verschwinden im Endresultat der Bewegung. In der Zirkulation G – W – G funktionieren dagegen beide, Ware und Geld, nur als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondre, sozusagen nur verkleidete Existenzweise. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt. Fixiert man die besondren Erscheinungsformen, welche der sich verwertende Wert im Kreislauf seines Lebens abwechselnd annimmt, so erhält man die Erklärungen: Kapital ist Geld, Kapital ist Ware. In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.«

[4] Karl Marx: Randglossen zu Adolf WagnersLehrbuch der politischen ökonomie MEW 19 (355-383).

 


Ulrich Knaudt an H.B. (13.08.2010)

Betreff: Abendstund‘

Lieber H., für unsere heute abendliche Diskussion möchte ich was Grundsätzliches zu unserer weiteren Politik sagen, weil das in unseren umfassenden theoretischen Debatten verloren gehen könnte:

1. […] Generell ist es so, daß je mehr ich mich in die Bauernfrage vertieft habe, desto weiter hat sich mein Verhältnis zu dem, was die Linke von früher + die heutige Linke heute ist, bzw. nicht mehr ist, „entfremdet”.

2. Mein Verhältnis zu D.W[olf].: ich habe vor zig Jahren einen spontanen Einwurf gegen D.W.s Referat gemacht, weil ich von diesem Revi-Geschwätz, das den Marx auf einen ökonomistischen Wissenschaftler und wissenschaftlichen ökonomisten reduziert, spontan die Nase voll hatte. Das Ergebnis sind zwei Aufsätze von meiner Seite und eine Antwort von seiner Seite, die ich mich zu beantworten verpflichtet habe. [1] Das ist eigentlich zunächst mal alles. Es geht mir also in erster Linie um Marx, und dessen gebrochenes Verhältnis zu Hegel und nicht umgekehrt. Für letzteres betrachte ich mich als Nicht- Hegelianer auch gar nicht für kompetent. Für das, worauf es mir ankommt, sind die frühen Texte, die wir diskutieren, aber äußerst wichtig. […] Fazit: mein ‚Hauptanliegen‘ besteht darin, u.a. auf der Grundlage meines letzten Briefes die ausstehende Antwort an D.W. endlich abzuschließen. Dafür leistet mir unsere Diskussion wertvolle Hilfe.

Bemerkung: In § 299 der Rechtsphilosophie [2] (MEW 1, 261 f.), wird das Geld (Anlaß: Steuererhebung) wie folgt von Hegel gekennzeichnet: »Das zu Leistende aber kann nur indem es auf Geld, als den existierenden allgemeinen Wert der Dinge und der Leistungen, reduziert wird, auf eine gerechte Weise … vermittelt werden.« Wäre es allzu bösartig zu sagen, daß sich die Wolfsche Werttheorie letzten Endes in dieser Hegelschen Definition des Geldes erschöpft?

Tschüß Ulrich Knaudt

[1] marx-gesellschaft.de/Texte. Ulrich Knaudt: Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König sein. (Frühjahr 2005; Frühjahr 2006).

Dieter Wolf: Qualität und Quantität des Werts. Makroökonomischer Ausblick auf den Zusammenhang von Warenzirkulation und Produktion. www.dieterwolf.de

[2] Zit. in: Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

 


H.B. an Ulrich Knaudt (17.08.2010)

Betreff: AW Abendstund‘

Lieber Ulrich,

Zu 1.) […] Auch meinerseits hat mich bislang nichts mehr erschüttert und zugleich nichts mehr „entfremdet” von „Linken“ überhaupt als die seinerzeitigen Erkenntnisse (Ende der 70er Jahre) zum Thema Nationalismus bzw. Sozialchauvinismus/-imperialismus und Sozialfaschismus in Hinblick auf die Gründung der Sowjetunion (Widerspruch zwischen Lenin und Stalin, soweit Lenin das Marxsche politisch-kommunistische Prinzip verfocht: „Der Arbeiter hat kein Vaterland” und „ein Volk, das andere unterdrückt, kann nicht frei sein”).

Allein an diesen Kriterien wird auch klar, daß die ganze Geschichte und Politik der 3. Internationale wie der KPD, der SED/DDR, der ganzen K-Gruppen von diesen Ismen durchtrieben war…, wobei damals allerdings der unmittelbare Zusammenhang „Sowjets und Bauernfrage” unterbelichtet blieb, auch in Verbindung mit China, was uns zwar bewußt war, jedoch nicht mehr mit der notwendig analytischen Gründlichkeit in Angriff genommen wurde – bis ich schließlich über Dich, lieber Ulrich, offenen Ohrs und mit offenen Armen, der Marxschen commune rurale wieder begegnet bin, um weiter, auf dem Boden der Marxschen Erkenntnisse, mit vergangenheitsbewältigenden Arbeiten zugleich zu zukunftsträchtigen Gegenwartsanalysen, zu politischen Verhaltensperspektiven, zu konkreten Positionierungen zu gelangen. Gewisse Einsichten, seien sie noch so schmerzhaft, sind so notwendig so wie der damit verbundne Bruch mit Vergangnem, als Voraussetzung – ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, für einen Neuanfang, insbesondere in einer Zeit, in der die Realität des weltbeherrschenden Systems in seinen Wesenszügen zur Erscheinung treibt und damit allerorts erkennbar Stimmen sich erheben zum Schrei nach Einhalt, Umkehr, Auswegen, Alternativen.

Zu 2.) Es ist, denke ich, in der Tat nicht falsch, was Hegel zum »Geld« sagt: in seiner»imaginären „organischen Einheit”«, aufgrund dessen, daß in ihm »Ein Geist ist, der das Allgemeine festsetzt«, er bzw. es »sich zu der äußerlichkeit des Daseins produziert«, er bzw. es sich sozusagen als »der Wert« über seine »Erscheinungsform« des »Tauschwerts« vermittelt (»…wenigstens deren 2 existiert« als »etwas ihnen Gemeinsames«, [MEW] Bd. 19, 358) in dies, das Geld, quasi ‚inkarniert‘, quasi als eine Emanation des »absoluten Geistes« = reine Mystik, nichts als »leere mystische Ausflucht« vor den »wirklichen Konflikten« ([Kritik des Hegelschen] St[aats]R[echts], [MEW 1] S. 261), dem »Tieferen«, dem ihnen zugrundeliegenden »wesentlichen Widerspruch« ([ebenda,] S. 295, 296, »Hegels Hauptfehler …«), und etwa nicht zugleich die Realität der Welt, die Totalität der Realität!? »…das eine Vermögen«, das Arbeitsvermögen, Produktivvermögen des je einzelnen Subjekts, des Individuums oder das von Subjekteinheiten wie einzelner Unternehmen oder ganzer Nationen, Staaten, welches »als Geld erscheint« (S. 262), in welchem bzw. welchen verborgen, annihiliert jener »wirkliche«  »wesentliche Widerspruch« (295/296) »entgegengesetzter Wesen« (292) haust, west…, und der sich als »Widerspruch der Erscheinung« in dem Gegensatz – »Jedes Extrem ist sein andres Extrem«– von »abstraktem Spiritualismus« (Idealismus) und »abstraktem Materialismus« als »ungelöste Antinomie« (204) an sich, »in sich« und »mit sich selbst« (295) manifestiert, realisiert, und »dieselbe phantastische Abstraktion«, derselbe »Mystizismus«, dieselbe »mystische Substanz« im »reellen Subjekt« (S. 224) sowohl im »Staatsbewußtsein« (vgl. S. 263) wie in jedem »Unternehmens-« sowie auch in jedem Individual-Bewußtsein als »Allgemeines«, als allgemeines Selbst-Wert-Bewußtsein sich konstituierend, ihre Existenz bedingend, »wiederfindet« … Was also, wenn die »Wolfsche Werttheorie letzten Endes … dieser Hegelschen Definition« entspricht und diese zugleich dem Hegelschen »Einen Geist«, dem menschlichen, endlichen, der ihm wie die Natur als Ausfluß, als Selbstentäußerung des »absoluten Geists« gilt– dieser das substantialistische »Subjekt« Hegels ist und dieses, also das ‚Objekt‘ der Marxschen Kritik im Hegelschen StR, die »mystische Substanz« zugleich das ist, darstellt, was den Marxschen »Wert« im ‚Kapital‘ ausmacht, der in Form der »Ware«, »zwieschlächtig«, in »Gebrauchswert und« „Wert”/”Tauschwert”« gespalten, wodurch der Gebrauchswert tauschwert- und damit [als] wertbestimmt erscheint, als solcher wahrlich real ist, materialisiert, ist, formell, reell, und rückbezüglich insbesondere ebenso die in sich gespaltene, entzweite »zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit« selbst als dem Ausgangspunkt, der Grundlage, dem »Springpunkt« der ganzen Marxschen Explikation seiner »Kritik der politischen ökonomie«  ([Das] Kap[ital I]., S. 56, 65, 75), gipfelnd im »Wert« als sog. »Automatischen Subjekt«, der in der Entäußerung, im Anderssein seiner selbst zunächst als Ware, dann sich verdoppelnd in Ware und Geld und schließlich der Verwandlung beider in ‚Gebrauchswerte‘ des Kapitals, derjenigen Form des »Werts«, die in seiner ‚Ausdehnung‘, in der Verwertung und Vermehrung seiner selbst analog der Selbstentäußerung des »absoluten Geist[es]« stets in seinem Anderssein bei sich bleibend zurückkehrt zu sich selbst (Eflux/Reflux). Wenn Marx die Kategorien seiner Analyse der Wertformen in ihrer Widersprüchlichkeit zwischen Gebrauchswert und Wert, den Wertformen zugleich als die »objektiven Gedankenformen« der Individuen, der Subjekte bzw. Subjekteinheiten bezeichnet, dann beweist sich dies schlicht am empirischen Blick auf deren Bewußtseinsgehalte, deren ebenso ganzen »Zwieschlächtigkeit« bestimmenden, konstituierenden Bewußtseinsinhalte – »… so ist also die Totalität der Welt überhaupt dirimiert in sich selbst, … auf die Spitze getrieben … und erst total, wenn ihre Seiten Totalität sind …, denn riesenhaft ist der Zwiespalt, der ihre Einheit ist.« ([MEW] EB 1, S. 215, 217), Folge der Verabsolutierung, der Affirmation, der Positivierung und Realisierung von Abstrakta (lies da weiter, zur Logik der Mystik, bis S. 235), u.a. Begriffe wie »Arbeit«, »Volk«, »Demokratie« etc. pp., sind allesamt »Schein einer wirklichen Identität« (S. 297), die auf ihre abstrakte Identität reduziert als solche realisiert werden, Realität konsituierend sind und d. i. stets unter Abstraktion von ihrem zugrundeliegenden  »wesentlichen Widerspruch« (StR, 296), der allen »Antinomien«, der Abstraktionen an sich, in sich und mit sich charakteristisch ist (s. »abstrakter Mat[erialismus]/»abstrakter Spir[itualismus].«).

Wie sie »gelöst« werden, nach welcher Logik, einerseits plump »in echt theologischer Weise« oder in subtil »mystischer« Manier, ist schön nachzuvollziehen in »Die hl. Fam[ilie]« [MEW] Bd. 2 unter »Kritische Randglosse Nr. II«, S. 35-37 und zum anderen in der ganz besonders dezidierten Hegelschen Weise unter »2. Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion«, ebenda, S. 59-63; Du kannst für »die Frucht« auch den monistischen »Gott« oder das »mystisch Eine« setzen, ob Hegels »Subjekt« oder Spinozas »Substanz« oder »göttlicher Urgrund« oder wie auch immer und so aber auch »den Wert«  – allemal Verselbständigungen von Abstraktionen, von Begriffen, von eigentlichen Prädikaten, Adjektiven, Attributen oder Verben zu Ideen, Begriffen (vgl. StR, S. 210 ff., 224f), der Verabsolutierung derselben zu Allgemeinheiten, dadurch deren Verkehrung, deren Ontologisierung oder Naturalisierung zu Demiurgen dessen, was ist, als ihre Erscheinungen, Erscheinungsformen und alles, buchstäblich Alles scheint selbst-verständlich, selbst-verständig, gelöst, erlöst, versöhnt …

Wollt, lieber Ulrich, einfach mal kurz skizzieren, was es mit Dieters Analysen zur Analogie von »absolutem Geist« und »Wert« auf sich hat, diese an Verständnis-, Erkenntnismöglichkeit der Realität in sich birgt – und übrigens über die ökonomie hinaus in Bezug auf Wissenschaft generell –, weswegen Marx wohl zu recht sagen konnte, daß ihm die Hegelsche Logik/Dialektik »große Dienste leistete«.

Allerdings, alle ‚Werttheorie‘ zu dieser Analogie sowie alle ‚Werttheoretiker‘ inkl. derer, die mit ihr nichts am Hut zu haben scheinen, ist eines, soweit mein Auge reicht, gemeinsam, gemeinsam mit aller bürgerlichen Nationalökonomie: sie gehen wie selbstverständlich »vom Faktum des Privateigentums aus. Sie erklärt uns dasselbe nicht. Sie faßt den materiellen Prozeß des Privateigentums, den es durchmacht, in allgemeine, abstrakte Formeln, die ihr dann als Gesetze gelten. Sie begreift diese Gesetze nicht, d.h. sie zeigt nicht nach, wie sie aus dem Wesen des Privateigentums hervorgehn.«“ (EB 1, S. 510 ff.), aus dessen exklusiven Wesen in Bezug auf das Verhalten, auf dieses bestimmte Verhältnis der Menschen zur Natur und damit, dadurch desselben zu seinesgleichen; daß all den im Marxschen ‚Kapital‘ untersuchten Kategorien dieses ebenfalls vorausgesetzt ist, insofern es keinen »Tausch«, keinen »Austausch« von Ware gibt, ohne daß sich die tauschenden Subjekte in Bezug auf ihr Objekt, sei‘s irgendein Arbeitsprodukt Ware oder das Betätigen ihres eigenen Arbeitsvermögens als Ware, als Privateigentümer derselben sich zu gerieren, zu funktionieren haben, in Konkurrenz gegeneinander um ihrer je eignen Existenz willen…

Ich brech‘ jetzt einfach ab – wieder Mal in aller Kürze, heut‘ Früh ist die Nacht gleich um.

Herzlichen Gruß, H.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (18.08.2010)

Betreff: LOGIK & DIALEKTIK

Lieber H.

zu aller erst hab vielen herzlichen Dank für Deinen langen Brief. […]

Bevor ich auf Deinen Brief näher eingehe, dies vorweg: ich werde den Teufel tun, Hegels Bestimmung des Geldes zu kritisieren, mit der er als dem »existierenden Wert der Dinge und der Leistungen« die Marxsche Analyse bis zu einem gewissen Grad antizipiert. Was Marx aber unter dieser Voraussetzung veranstaltet, ist eine radikale Kritik der bürgerlichen ökonomen (von denen vermutlich auch Hegel schöpft) und ihren Versuchen, das Geld zu erklären. Die Frage, die ich am Ende meiner Mail vom 13. [08.] gestellt hatte, war nur die: ob sich die Wolfsche Werttheorie … in der Hegelschen Definition … erschöpft, wobei mit der Frage bereits unterstellt ist, daß sie nicht darüber hinausgeht, d.h. hinter der Marxschen Kritik der politischen ökonomie hinterherhinkt und damit das Umschlagen in eine neue Qualität verpaßt, die dann unterschlagen werden muß. Und diese Kritik schließt die Auseinandersetzung Marxens mit dem »ideologischen Mystizismus der Hegelschen und überhaupt spekulativen Philosophie« mit ein (K.M. an Danielson 07.10.1868), deren erste entscheidende Versuche er mit der Kritik des Staatsrechts vollzieht.

[…] …ich hatte mir vorgestellt, wir würden uns detailliert mit meiner Kritik an D.W. (in meinem 2. Brief an Dich [vom 28.07.]) auseinandersetzen, nachdem du zuvor angedeutet hattest, daß Du meinen Text ganz in Ordnung fändest, aber hier und da einiges anzumerken hättest: so etwa meine übertreibungen hinsichtlich Humor, Paradoxien u. ä. Das hätte ich gern etwas genauer erfahren wollen.

Was nun Deine kurze, aber inhaltlich kompakte Skizze betrifft, stehe ich vor folgendem Dilemma. Ich bewege mich mit Volldampf auf die 290er Seiten des Staatsrechts [1] zu, werde aber auf Deine Skizze frühestens eingehen können, wenn ich dieses Ziel erreicht habe. Dann werde ich meine Notizen zu Colletti und Warnke wieder hervorkramen und meinerseits zu skizzieren versuchen, was ich daran auszusetzen habe, möglichst in Auseinandersetzung mit Deinem Text.

Es kommt noch ein weiteres „Dilemma” (ein sehr produktives!) hinzu: seit der Entdeckung von gewissen starren Einseitigkeiten bei Lenin lese ich diesen mit anderen Augen, als ich ihn bis dato gelesen habe. Ich müßte ihn eigentlich von A bis Z neu lesen. So ähnlich geht es mir, ausgelöst durch unsere Diskussion auch mit den Frühschriften (abgesehen davon, daß ich ohnehin nicht alles gelesen habe.)

Zu Deiner Skizze werde ich daher nur punktuell Stellung nehmen. Da ist z.B. Dein Verweis auf die Wagner-Randglossen [2], von denen ausgehend Du am Anfang Deines theoretischen Abschnitts die Frage stellst, ob »das Geld quasi ‚inkarniert’, quasi als eine Emanation des „absoluten Geistes” … und etwa nicht zugleich die Realität der Welt, die Totalität der Realität!?« sei. Ich bin der Ansicht, daß dieser Schluß vom Geld auf den Weltgeist mit Hilfe der Wagner-Randglossen nicht funktioniert. Bekanntlich entwickelt Marx die Geld-Theorie aus der Werttheorie (in nuce: aus der einfachen Wertform); zugleich hat er aber mit dem Fetisch-Kapitel jeden Rückweg von der Geldtheorie zur Werttheorie abgeschnitten. Deshalb muß D.W[olf]., um diese Blockade, die ihn an der Ableitung der Werttheorie durch seinen Rückschluß auf die Geldtheorie (2. Kapitel) hindert, rückgängig zu machen, das Fetisch-Kapitel fein säuberlich aus dem 1. Kapitel raustrennen. Den Rest kennst Du bereits.

In den Wagner-Randglossen ist in erster Linie vom Wert, Tauschwert, Gebrauchswert die Rede, vom »Hin- und Herräsonieren [der bürgerlichen ökonomen Wagner und Konsorten] über die Begriffe oder Worte „Gebrauchswert” und „Wert”« ([MEW] 19, 371), vom Geld aber erst zu guter Letzt. (»Auch vergißt Herr Wagner, daß weder ”der Wert” noch ”der Tauschwert” bei mir Subjekte sind, sondern die Ware {358}) Und wenn schließlich vom Geld die Rede ist, dann von der »Geldform«, die Marx aus der einfachen Wertform ableitet (und das folgende Zitat kann sich D.W. hinter den Spiegel stecken!): »Andrerseits hat der vir obscurus übersehn, daß schon in der Analyse der Ware bei mir nicht stehngeblieben wird, bei der Doppelweise, worin sie sich darstellt, sondern gleich weiter fortgegangen wird, daß in diesem Doppelsein der Ware sich darstellt zwiefacher Charakter der Arbeit, deren Produkt sie ist [!]: der nützlichen Arbeit, i. e. den konkreten Modi der Arbeiten, die Gebrauchswerte schaffen, und der abstrakten Arbeit, der Arbeit als der Verausgabung der Arbeitskraft, gleichgültig in welcher „nützlichen” Weise sie verausgabt werde (worauf später die Darstellung des Produktionsprozesses beruht); daß in der Entwicklung der Wertform der Ware, in letzter Instanz [!!!] ihrer Geldform, also des Geldes, der Wert einer Ware sich darstellt im Gebrauchswert der andern, d.h. der Naturalform der andern Ware; daß der Mehrwert selbst abgeleitet wird aus einem „spezifischen” und ihr exklusive zukommenden Gebrauchswert der Arbeitskraft etc. etc.«. (370) Um nur einen Gesichtspunkt hervorzuheben: Marx bleibt nicht einfach bei dem Widerspruch Wert-Gwert stehen, um aus diesen gegensätzlichen reinen Begriffen seine Werttheorie abzuleiten, sondern geht sofort zu dem Doppelcharakter der Arbeit über (»der nützlichen Arbeit, i. e. den konkreten Modi der Arbeiten, die Gebrauchswerte schaffen, und der abstrakten Arbeit, der Arbeit als der Verausgabung der Arbeitskraft, gleichgültig in welcher „nützlichen” Weise sie verausgabt werde…«), wobei die Geldform diejenige Wertform ist, worin in letzter Instanz sich der Wert der Ware darstellt. In D.W.s Vortrag geschieht dies aber in erster Instanz: ‚ich werde jetzt der Einfachheit halber zur Geldform übergehen‘ oder so ähnlich… usw. Soviel zur Geeignetheit der Wagner-Randglossen für die Analogie Geld-Weltgeist, hinter der ich einen einfachen Kurzschluß vermute, der aber ausgehend von der Marxschen Analyse nicht möglich wäre!

Du fragst auf Seite 2 nach überlegungen zu dem Stichwort: »Extreme«: »Was also, wenn die „Wolfsche Werttheorie letzten Endes …dieser Hegelschen Definition entspricht” und diese zugleich dem Hegelschen „Einen Geist”, dem menschlichen, endlichen, der ihm wie die Natur als Ausfluß, als Selbstentäußerung des „absoluten Geists” gilt…« usw. Ehrlich gesagt, habe ich diese Frage nicht ganz verstanden. Willst Du eine Erklärung (von wem auch immer?) dazu, was die Wolfsche Werttheorie mit der Hegelschen Definition des Geldes zu tun oder dazu, was diese Definition mit der Marxschen Analyse gemein hat und was beide voneinander unterscheidet? Soviel ist sicher: Die Marxsche Analyse setzt zwar die Hegelsche Definition voraus; sie setzt sich aber zugleich kritisch über ihre Beschränktheit hinweg. Damit weiß man dann nur, daß zwischen der Hegelschen Definition des Geldes und der Marxschen Analyse der Ware zwar philosophische ‚Strukturähnlichkeiten‘ bestehen, die vielleicht durch die Zurückführung der Marxschen Kategorien auf Hegelsche hervortreten mögen. Was aber habe ich damit bewiesen? Allenfalls »Bewußtseinsinhalte«! (Seite 3 oben)

Es geht aber Marx, wie gesagt im Zweiten Kapitel nicht um Bewußtseinsinhalte, sondern das von den Waren den Warenträgern diktierte Verhalten, die in dieser Situation nichts weiter sind als Charaktermasken. Was diese Charaktermasken sich bei Ausführung ihres Jobs denken, ist völlig zweitrangig, es geht nur darum, daß sie ihre Funktion für das Zustandekommen des Austauschs der Waren erfüllen und solange alle möglichen Waren zur allgemeinen Ware erklären, bis sich eine einzige als die allgemeine Ware herauskristallisiert hat. Das ist (so auch bei Reichelt) kein Bewußtseinsakt, sondern das Ergebnis jahrelanger Gewohnheit, woraus wie aus einer creatio ex nihilo plötzlich eine bestimmte Ware als das Geld hervorgeht. Plingh! macht es wie beim Urknall. Und dazu erfüllen die Warenträger quasi automatisch wie Zombies, die sich auch ohne Bewußtsein durch die Welt bewegen können, ihre Rolle. Das ließe sich nur dann als »Bewußtseinsinhalte« bezeichnen, wenn wir die Bewußtseinsfunktionen ausschließlich ins Rückenmark verlegen. Dann treten aber Gattungsprobleme auf. Jedenfalls trifft das ganz und gar nicht die luzide Ironie, mit der Marx den ganzen Vorgang analysiert und schon gar nicht auf die Frage der Verselbständigung der Geldform im gesellschaftlichen Verkehr zu!

Das Verfahren und das Beweisziel im Staatsrecht ist, soweit ich das bisher überblicke, ein anderes: hier geht es Marx darum, unter Verwendung der Hegelschen Kategorien und des rationalen Kerns der Hegelschen Logik die Hegelsche Staatsauffassung in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit einer radikalen Kritik zu unterziehen. Und zwar auf eine Weise, daß er dieser nicht einfach eine gängige republikanische Bourgeoisauffassung als republikanische ‚Alternative‘ entgegensetzt, sondern mit Hilfe seiner ‚immanent-revolutionären Methode‘ haarklein § für § die politische Rückwärtsgewandtheit der Hegelschen Staatsauffassung demonstriert, worin zwar die republikanische vorauszusetzen ist, ohne jedoch einen abstrakten Republikanismus zu predigen. (In diesem Zusammenhang wäre die Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie als Resümee aus diesen Exzerpten zu lesen, ebenso wie die Kritischen Randglossen zu dem Artikel eines Preußen. [3]) Im Kern geht es in allen genannten Texten um die Trennung der menschlichen Gemeinschaft vom Gemeinwesen, die Marx in den Kritischen Randglossen zuspitzt auf die Trennung des proletarischem Gemeinwesens vom politischen Staat, wie er in Ruges Bourgeois-Republikanismus vertreten wird, »von welchem der Arbeiter isoliert ist« und an dessen Stelle »ein Gemeinwesen von ganz anderer Realität und ganz andrem Umfang als das politische Gemeinwesen« zu setzen wäre« (MEW 1, 407,408). Die Identität der Stände des Mittelalters im Widerspruch des Allgemeinen und Besonderen sucht Marx nicht mehr, wie die Historische Rechtsschule (vergeblich) im Mittelalter, sondern in der Aufhebung der modernsten Form dieser Trennung zwischen dem politischen Staat und dem Gemeinwesen des Proletariats.

Wenn Marx nach Seite 4 oben Deiner Skizze gesagt hat, daß ihm die Hegelsche Dialektik große Dienste leistet, sollten wir dann nicht auch zu dieser, damit sie diesen Dienst weiterhin verrichtet, ein möglichst rationales Verhältnis entwickeln und vermeiden, in Hegelianismus zu verfallen? So wie ich die Sache sehe, sind wir dabei noch nicht sehr weit gekommen. Von der Marxschen Methode lernen mit dem Hegelianismus umzugehen, läßt sich nur, wenn wir sein Verfahren, wie das im einzelnen geschieht, durchschauen. Da aber Form und Inhalt einander ständig durchkreuzen, wäre es aber das Letzte, wie von Großtheoretikern in der Vergangenheit vorgeschlagen, daraus so eine Art Baukastensystem zusammenzustellen mit Gebrauchsanweisungen, die auf kleinen Zetteln an die Gegenstände geheftet werden. Pantharai! Alles ist im Fluß; ein Fluß, der auch all die schönen Zettel mit samt Baukästen mit sich fortreißt. Soweit erste überlegungen zu Deiner Skizze.

Als Anhang schicke ich Dir einen interessanten Reisebericht eines vielleicht auch Dir nicht ganz unbekannten ‚kommunistischen‘ Professors aus Italien. [4] Was er da zu China zum besten gibt, ist schon recht bemerkenswert. Sobald dieser Typus eines ‚Kommunisten‘ die Witterung eines neuen staatsmonopolkapitalistischen Sozialismus aufgenommen hat, sind all die Schwüre der Linken aus der Vergangenheit auf den Schutz der Umwelt, den Groschen für das Teewasser der Arbeiter, den Tierschutz und den Schutz der Landwirtschaft vor der bösen Gentechnik vergessen und vergeben! Mögen auch in dem neu entdeckten sozialistischen Nirwana die Gefängnisse und die Todeslager überquellen: endlich läßt sich doch wieder was Handfestes für die Zukunft der Menschheit tun…!

Der italienische Professor hat, wofür ihm nicht genug gedankt werden kann, mit sicherem Instinkt ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung über die Frage aufgeschlagen, ob wir primär davon auszugehen haben, daß das Kapital die Menschheit vernichtet oder daß die Menschheit bereits im Proletariat vernichtet ist oder von beidem gleichermaßen (wozu eine Menge Dialektik erforderlich wäre, die uns aber vor der politischen Entscheidung in dieser Frage nicht befreit. Davon hängt z.B. ab, ob die Beschäftigung mit der »commune rurale« [5] zu einer rein akademischen Angelegenheit wird, oder den Springpunkt bildet dafür, welche Konsequenzen sich aus der Beantwortung der zweiten Frage ergeben?). Er hat im Klartext formuliert, was die Linke wegen ihrer sozialdemokratischen Beflaggung bisher nur selten offen auszusprechen wagte (oder höchstens ihre Stasi-Abteilung von der jW). Das ist jetzt nicht mehr so einfach möglich. Sie muß sich entscheiden!

Nach dem Untergang der SU hatte sich die Linke wie ein Ertrinkender an ihre Globalisierungstheorien geklammert und in ihrer Verzweiflung die Konfrontation des Kapitals mit der Menschheit in den Vordergrund gestellt (das ganze nannte sich bekanntlich Anti-Globalisierungsbewegung und ist bereits offizielle Regierungspolitik). Diese Festlegung war schon immer eine Ausflucht vor der Konfrontation der Marxschen Parteigänger (ich würde eigentlich lieber sagen: Kommunisten, wenn diese Bezeichnung nicht so in den Dreck getreten wäre!) mit den Schandtaten der Pseudokommunisten gegen das Proletariat (verübt von der eigenen Regierung, die sich an die Stelle einer Regierung der Produzenten gesetzt hatte). Der bescheidene Widerstand der partei Marx entsprach dieser Aufgabe nur minimal und ordnete sich ein in das bekannte deutsche Sektenwesen.

Mit der Wiederentdeckung Chinas in einer Rolle, die einst die Stalinsche Sowjetunion verrichtete, muß die Linke sich entscheiden und wird, wenn sie konsequent ist, die Globalisierungsphrasen und den kleinbürgerlichen Antikapitalismus auf den Müll werfen und sich wieder ganz ihrem ursprünglichen sozialfaschistischen Geschäft zuwenden, das sie die ganze Zeit ohnehin schon auf Sparflamme betrieben hat. Dieses hat nun wieder eine feste Postanschrift. Wenn Du diese mit ‚Sozialfaschismus‘ bezeichnest, wird das wohl stimmen. Ich jedenfalls stimmte mit Dir darin voll überein.

Herzliche Grüße

Ulli

[1] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

[2] Karl Marx: Randglossen zu Adolf WagnersLehrbuch der politischen ökonomie MEW 19 (355-383).

[3] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung MEW 1 (378-391); ders.: Kritischen Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen” MEW 1 (392-409). Vgl. REFLEXIONEN 1.

[4] junge Welt 14./16.08.2010 Domenico Losurdo: Zwei Züge, ein Ziel. Eine aufschlußreiche Reise nach China. Bemerkungen eines Philosophen.

[5] Vgl. DEBATTE 3 und DEBATTE 4.

 


H.B. an Ulrich Knaudt (21.08.2010)

Betreff: AW: LOGIK & DIALEKTIK

Bin durch.

Da mein Schwerpunkt (noch) auf der Auseinandersetzung mit D. W[olf]. liegt, d.i. in seiner wie ich meine abstrakten Borniertheit Hegels (Marx‘ Kritik), war mir im Moment noch hilfreicher, mich ‒ umgekehrt ‒ nochmal vor allem D.‘s Kritik an an Dir (u.a.), die ich ja im wesentlichen »ganz in Ordnung« finde, […] zu widmen, um dessen Logik, d. i. der Hegelschen an seinem Verständnis der Marxschen kritischen Begriffe der pol[itischen ök[onomie], herauszuextrahieren, in der Konsequenz ‒ weshalb ich, die Ironie auf die Spitze getrieben, zugleich aber auf den Punkt gebracht, […] mal äußerte, daß es herauszuarbeiten gelte, was D.W. mit Joseph Ratzinger / Hegel gemein ist. Will sagen, ich bin noch zu sehr bei Dieter ‒ mit Dir ‒ und noch nicht ganz bei Dir, da, wie Du selbst sagst, noch nicht durch die 290 ff. bist; [1] für mich die Crux überhaupt.

Mißversteh‘ das bitte nicht als überheblichkeit. Ich selbst hab mich immer, unentwegt auf den Prüfstein dieser Passagen gestellt und tu dies nach wie vor. Um die Quintessenz kurz vorwegzunehmen: Der ganze Widerspruch im Kapital, in D.‘s Verständnis von G[ebrauchs]W[ert] und Wert bewegt sich innerhalb, auf dem Boden der »Dialektik« der »Extreme« des »abstrakten Materialismus« / »abstrakten Spiritualismus« (Idealismus)!!! (s. S. 293), was heißt, daß die ganzen kritischen Begriffe [in] Marx‘s [Kritik der] pol[itischen]. ök[onomie]. in Bezug auf ihre Gegenstände sowie diese selbst aufzuheben, wir sie an sich, d.i. an uns abzuarbeiten haben, um sie zu überwinden, abzuschaffen und das scheint mir haben alle sog. ‚Werttheoretiker‘ sowie alle ‚Klassenkämpfer‘ welche sich auf jenem Boden gegenseitig bedingen, nicht begriffen; und, in der Tat, der Ursprung liegt im Verständnis der Einheit des Wi[derspruchs] von G[ebrauchs]W[]ert und Wert = die Ware = Subjekt ‒ als die eine Seite der Totalität, der Realität, unsres Daseins in der Form realisierter Abstraktionen / Begriffe, unsrer Existenz, die sozusagen als zweite Natur zur ersten gewordne.

Es ist auffällig, daß D. in seinem [Buch] „Der dial[ektische]. W[iderspruch]. i[m]. K[apital].” gerade diese Passage nicht expliziert und damit sich auf dem Boden des sog. ‚Diamat‘ bewegt, der den Marxschen Wi[derspruch] auf S. 292, 295/296 in der Einheit von GW und Wert, in der Ware selbst angesiedelt sein läßt.

Der Clou, daß er damit nicht ganz Unrecht, insofern Ware = Subjekt, wo sonst also wenn nicht im  Subjekt sollte er überhaupt existieren. Doch D.s ontische ‚Logik‘ von ‚allgemein menschlicher abstrakter Arbeit‘ bleibt mit ihr, seiner Verewigung in den Austausch zwischen Mensch und Natur ‚schlechthin‘, ‚überhaupt‘, nämlich über sie, was dem Denken schlechthin eigen ist, insofern es ‚die Abstraktion nicht aufgibt‘ (s. Kritik Marx an Hegel), der Hegelschen treu ‒ was dessen präexistenter ‚absoluter Geist‘ = D.‘s ‚immer schon allgemein menschliche abstrakte Arbeit‘ ‚ bzw. v.v. = die Marxsche ‚Substanz des Werts‘, sich entäußernd, wirksam, wirklich werdend (Hegels ‚Werden‘) seiner selbst stufenweis in der Erscheinungsform von zunächst ‚wenigstens 2er Tauschwerte‘ / ‚Ware‘, Gebrauchsgegenstände der (be-/verarbeiteten) Natur als Gebrauchswerte sich einverleibend, dann in Geld, dann in Kapital kulminierend, womit und worin Mensch Natur und sich selbst vollständig ‚mißbraucht‘, seiner „eigentlichen” Würde, Dignität beraubt, zu deren an sich wechselnden Formen als ‚Gebrauchswert‘ sich degradiert, Ausdruck bei Marx findend in seinem ‚Widerspruch zwischen Wesen und Existenz‘ des Menschen ‒ als ‚Gemeinwesen‘/‘Gattungswesen‘ der Natur, ‚Produktivkraft‘ der Natur (objektiv) und seinen ‚Produktionsverhältnissen‘, ‚Verkehrsverhältnissen‘. Kein Tausch ohne Privatbesitz/-Eigentum

(-Produktion) an der Natur, am Arbeitsprodukt, wodurch zugleich der Andere seinesgleichen Mensch ausgeschlossen …

Daher, s. Marx in Kritik an Wagner: »Gebrauchswert … in seinem (gemeinsamen) gemeinschaftlichen Charakter« (= füreinander!) versus  »WareGebrauchswert für andere, gesellschaftlichen Gebrauchswert« ([MEW] 19, S. 370).

Dieser Widerspruch / Antagonismus (entsprechend = Pol / Nichtpol = wirklicher, wesentlich gegenseitig sich ausschließender [Kritik am Hegelschen] St[aats]R[echt], S. 292!), dessen Aufhebung beginnt (umgekehrt: »die Aufhebung der Entfremdung geht den Weg der Entfremdung zurück«, ([MEW] EB 1, S. 534/535 = den der »Menschwerdung«) mit der bewußten Gestaltung der »gesellschaftlichen« tauschvermittelten, privateigentümlichen Verhältnisse der Menschen zu einander in »gemeinschaftliche«, die tatsächlich, in der Tat, objektiv, seit Menschengedenken, Mensch eigentümlich, ebenfalls ‚immer schon‘ existieren und sich »naturwüchsig« entwickelten in der »Trennung« (nichts andres erklärt Marx, wie er selbst sagt) des Menschen von der Natur, von seinem Gemeinwesen, von seinesgleichen und von sich selbst (»Selbstentfremdung«).

Die Aufhebung der Trennungen antizipiert, setzt ein Bewußtsein voraus, wie es Marx in »Auszüge aus Mills…« [2] oder am Beispiel »Verhältnis zum Weib« ([MEW] EB [1 I], S. 535 und 536) oder »Das menschliche Wesen der Natur ist erst da …« (ebenda, 537,538) oder zu »gemeinschaftliche Organe … « (S. 539 u./540) oder s. 540, 541, 542, 543, 540 oder zur »Kreisbewegung …/ Denke nicht, frage mich nicht…/Abstraktion von … keinen Sinn../ Kommunismus (als) … Prinzip« oder in »D[eu]t[sche]. Ideol[ogie] s. [MEW 3, S.] 60-65/65-70/71 und lies dort S. 69, 1. Abs.: »Die Individuen, die nicht mehr …,« haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen »der Mensch« vorgestellt (!), und den ganzen (lies: in Gegensatz zu uns !) von uns entwickelten entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß »des Menschen« (lies: »der Arbeit«) gefaßt, so daß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe »der Mensch« untergeschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde.

Der ganze Prozeß wurde so als Selbstentfremdungsprozeß »des Menschen« gefaßt, und dies kommt wesentlich daher, daß das Durchschnittsindividuum der späteren Stufe immer der früheren und das spätere Bewußtsein den früheren Individuen unterschoben (!) wurde. Durch diese Umkehrung (!), die von vorneherein von den wirklichen Bedingungen abstrahiert (!), war es möglich, die ganze Geschichte in einen Entwicklungsprozeß des Bewußtseins zu verwandeln.

Das macht Hegel mit »Geist«, »absolut«, »abstrakter Spiritualismus«; der ‚Diamat‘ als »sein andres Extrem« mit »Materie« (StR, S. 293, 2. Abs.: »Andererseits…«; und Dieter zusammen mit Hegel mit »abstrakter Arbeit«: einerseits »Das Große an der Hegelschen „Phän.[nomenologie des Geistes]” und ihrem Endresultate der Dialektik der Negativität ist einmal … als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift«; andererseits: »…die abstrakt geistige…« ([MEW ]EB 1 S. 574 ff.).

Und daran ‒ insbesondere auf diesen Text von Marx‘ Kritik an Hegel geht Dieter so gut wie nirgends ein ‒ ist seine Position noch weiter kritisch zu analysieren, geht es doch hier um das Wesen von Gegenständlichkeit und um die Abstraktion von demselben qua Denken überhaupt, um die Differenzierung von Bewußtsein in Bewußtsein und Selbstbewußtsein (s. letztes Mail als Selbst-‘Wert‘-Bewußtsein à la Bewußtsein seiner selbst), »geborgen« in »abs. Geist«/»Gott«, mal als »Idee«

(Platon), mal als »Substanz« (Spinoza), mal als »Subjekt«/»abs. Wissen« (Hegel) oder »Urgrund-« / »Ursprungs-« / »Identitäts-« Philosophie, wonach, wodurch alles was ist, ist, und alles, was erscheint, durch es/ihn erscheint, ist …, ergo alles [in] einem Einen ist und auf ein solches Eines (Absolutum) reduziert ist ‒ allemal abstrahiert von sich, Mensch, Natur, wirklicher Gegenständlichkeit, in Marx‘ Kritik »der Wert« als der vollständigen Umkehrung, Verkehrtheit, in seiner »Substanz«, »der menschlichen abstrakten Arbeit« an sich, in sich selbst gespalten, in Zwiespalt, in Widerspruch mit sich selbst, der die Realität des Menschen ausmacht, die ‚Einheit‘ der Menschen, der Menschheit als als Ganzer an sich, in sich und mit durch sich und die sich auf allen Ebenen und in allen Sphären der menschlichen Existenz, durch sie hindurch, reproduzieren, als Antinomien (vgl. St[aats]R[echt]), als solche wirksam und damit wirklich, real sind, ausweglos, aporetisch, eine Einheit in »Illusion«, der »Illusion«, »ridicule« (ebenda), die, solange sie denkend, qua Abstraktion von sich, an sich, auf sich in Begriffslogik sich verewigen, statt sie »aufzugeben« zugunsten des ihnen tieferliegenden, ihnen gemeinsamen, uns alle subordinierenden »wesentlichen Widerspruchs« (StR, S. 292, 295/296).

Das ganze Quid pro quo der Vermengung, Vermischung von »Antinomie«, deren abstrakter Lösung und damit deren Verallgemeinerung = Scheinlösung, mit dem Marxschen »wesentlichen Widerspruch«, solange dieser nicht wirklich, nicht richtig bestimmt ist, reproduziert Hegel, Hegels Logik der Mystik, und zwar ganz und gar »rational«, auf dem Boden von Abstraktion.

Wie der »rationale Kern« derselben Bedeutung für die Marxschen Erkenntnisse hat, nämlich positiv, nämlich ohne ein tertium comparationis als Abstraktum, das ist herauszuarbeiten, was zugleich Hegel wirklich zu würdigen ermöglicht, und so übrigens auch Dieters Arbeiten zur Analogie jener.

Ich bin schon längst überfällig, terminlich und brech‘ einfach wieder ab, ohne es noch mal durchzulesen.

Gruß,

H.

[1] Gemeint sind hier und im folgenden: Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

[2] Karl Marx: [Auszüge aus James Mills Buch „Èlémens d‘économie politique] MEW EB I (445-463)

 


Kommunitäres Arbeiten (H.B.)

(23.08.2010)

»Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert:

Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den anderen doppelt  bejaht.

Ich hätte

1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher

sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare

und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen.

2. In deinem Genuß oder deinen Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl

des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche

Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden

Gegenstand verschafft zu haben,

3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine

Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden

zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen,

4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben,

also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein

Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben.

Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete.

Dies Verhältnis wird dabei wechselseitig, von deiner Seite geschehe, was von meiner geschieht.

Meine Arbeit wäre freie Lebensäußerung, daher Genuß des Lebens.

In der Arbeit wäre daher die Eigentümlichkeit meiner Individualität, weil mein individuelles Leben

bejaht. Die Arbeit wäre also wahres, tätiges Eigentum…«

([MEW] EB 1, S. 462,463)

»… Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite,

um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben.«

(ebenda)

 


Ulrich Knaudt an H.B. (24.08.2010)

Betreff: MARX-GESELLSCHAFT

Lieber H., ich würde Dich bitten, zum nächsten Mal auf der home page der pM DEBATTE 2 Marx und „Marxismus” in Deutschland – An die Marx-Gesellschaft, zu lesen, um darüber ‚außer der Reihe‘ zu diskutieren. […]

Die Partei Die Linke ist eine Staatsveranstaltung, nicht anders als die Neonazis eine Staatsveranstaltung sind! Beide treten für einen ‚anderen Staat‘ in diesem Staat ein. Uns Kommunisten reicht schon dieser eine Moloch! Ob der Nazi-Staat oder der ‚marxistische‘ Staat ‚Unrechtsstaaten‘ sind oder nicht, ist nur von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, daß, wie die Geschichte (Bonapartismus) zeigt, die Bourgeoisie in Krisenzeiten immer wieder mit solchen Parallelstaaten liebäugelt (hinzuzufügen wären dem noch der Islamismus und die lateinamerikanische Mafia: mit beiden scheint Die Linke gute Kontakte zu haben) und im Extremfall vorübergehend Parallelstaaten der sonst üblichen staatlichen Legalität vorzieht.  Die einzigen, die den Staat abschaffen wollen, sind die Anarchisten und wir (wobei das eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit ihnen ist).

Es wäre also völlig hirnrissig, mit ‚marxistischen‘ Staatsanbetern theoretisch darüber zu diskutieren, ob und wie nach Marx der Staat abzuschaffen und wie das theoretisch zu begründen sei, nachdem sie programmatisch kundgetan haben, daß sie ihren alten Staat in neuer (vergrößerter) Gestalt zurückhaben wollen. (Siehe Anhang meiner letzten Mail [1]). Auf der anderen Seite zeigt sich daran, daß eine Diskussion über die Marxsche Theorie unter Auslassung der Staatsfrage heute nicht mehr möglich ist. Das demonstriert uns Die Linke Tag um Tag in ihrer Politik. (Organisierung der Plebs und des islamistischen Mobs gegen die alte Bourgeoisie, um sich im Staatsapparat breit zu machen.)

Wenn sich die M[arx]-G[esellschaft] lediglich als Konkurrenzunternehmen von Leuten, die im Vergleich mit Der Linken ‚auch etwas anzubieten haben‘, begreift, wäre sie ohne die von mir angedeutete Diskussion über die Staatsfrage als Organisation in der Tat völlig überflüssig. Dann sollte sie ihr sinnloses Unterfangen schleunigst aufgeben, sich auflösen und dieser Staats-Partei beitreten, um sich ihr zukünftig als staatlich geprüfte ‚Marxismus‘-Theoretiker zur Verfügung zu stellen.

Oder sie finge endlich an, über die […] Frage eines politischen Marx-Verständnisses […], das der heutigen Krise des Kapitals und derjenigen der bürgerlichen Gesellschaft entspricht, zu diskutieren. Eine Neue Marx-Lektüre, die keine Legitimationsveranstaltung für Die Linke wäre, kann es nur unter diesen politischen Voraussetzungen geben. (Das richtet sich übrigens auch an unseren gemeinsamen Freund D.W[olf].) Nur so kann verhindert werden, daß die Marxsche Theorie noch einmal zur Legitimationswissenschaft eines runderneuerten Staats-Marxismus wird.

[…]

Gruß Ulli

[1] Darin Hinweis auf Neues Deutschland 21.08.2010: Jörg Roesler, Plan und Markt als organische Einheit. Die sechziger Jahre: das wirtschaftshistorisch interessanteste Jahrzehnt der DDR.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (29.10-31.10.2010)

Bemerkungen zur: Marx-Herbstschule in Berlin zum III. Band des „Kapital”[1]

Erster Tag (Freitag Abend)

Einführungsvorträge

1. Ingo Stützle: Einführung in KAP[ital] [Band] I-III. Kann man abhaken.

Auf Fragen, was denn der Unterschied zwischen den Drei Bänden sei, kommt er nicht darauf: − gerade für die Newcomers wäre der Hinweis wichtig gewesen − daß in KAP I der Prozeß der Entstehung des einzelnen Kapitals und darin der Widerspruch Lohnarbeit – Kapital, in KAP II der Zirkulationsprozeß der Kapitale, wobei der Zeitfaktor die entscheidende Rolle beim Umschlagen derselben spielt und der Produktionsprozeß ausgeklammert bleibt und in KAP III der Gesamtprozeß ausgehend von KAP I und KAP II behandelt werden usw.

2. Rolf Hecker referiert aus seinem Spezialgebiet: Entstehung und Zustand der verschiedenen Manuskripte seit den 50er Jahren. (Du merkst, der Marx vor 1848 spielt keine Rolle).

3. Fritz Fiehler referiert KAP III [Abschnitt] V im besonderen, wobei er in seiner A[rbeits]G[ruppe] auf die darin geäußerte Kritik an Proudhon eingehen will.

4. Da die AGs nach dem Grad des Vorbereitetseins und Gelesenhabens verteilt werden und nicht bekannt ist, wer welche AG leitet, hoffe ich nur, nicht bei Fritz Fiehler zu landen.

Zum Glück lande ich bei Nadja [Rakowitz] und Thomas Gehrig.

Die AG besteht aus lauter Altlinken, vielleicht 1/3 sind jüngere Leute. Erstere haben alle ihren Marx gelesen, das aber ist meistens lange her. Auffällig ist, daß sie ständig mit irgendwelchen Beispielen aus dem aktuellen Wirtschaftsleben herumkommen, um mit deren Hilfe den Text zu interpretieren. Ich bestehe darauf, daß wir versuchen sollten, uns eng am Marxschen Darstellungsprozeß zu orientieren, weil wir sonst die Kategorien, die hier zum Einsatz kommen, wie z.B. »…daß hier Kapital als Kapital zur Ware geworden ist« ([KAP III,] 420, 359), die den Gebrauchswert hat, Profit zu erzeugen usw., nicht wirklich in ihrer Bedeutung verstehen werden und schon gar nicht die sich daraus ergebenden Widersprüche, Verselbständigungen, Paradoxien. Noch besser wäre gewesen, einen problemorientierten Durchgang durch den Text mit Krätke und Heinrich als Ausgangspunkt zu starten. [2] Das aber ist nicht durchzusetzen (es fehlten wohl auch die Voraussetzungen dafür).

Gelächter erregt mein Insistieren darauf, daß das bürgerliche Recht, das in den »juristischen Formen, worin diese ökonomischen transactions« (412, 352) zwischen dem monied capitalist, der 100 Pfund als Kapital investiert und dem funktionierenden (F. E[ngels]. überträgt: »fungierenden«) Kapitalisten vorausgesetzt wird, »aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen«, aber als »bloße Formen diesen Inhalt nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus« (413, 352). Und jetzt der entscheidende Satz, der, als ich ihn mit der Bemerkung zitiere, daß Marx sich mit diesem Gerechtigkeitsbegriff nicht identifiziert habe, brausendes Gelächter hervorruft: »Dieser Inhalt ist gerecht, soweit [!] er der Produktionsweise adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er derselben widerspricht« (z.B. Sklaverei, Betrug usw.). Gelacht wurde darüber, daß ich darauf bestand, daß Marx mit diesem Gerechtigkeitsbegriff nur operiert, insofern dieser den bürgerlichen, nicht aber seinen eigenen Vorstellungen von Gesellschaft entspricht.

Zur Klärung dieses Problems mache ich sie auf die Seiten 451-452, 393, aufmerksam: »über der gegensätzlichen Form der beiden Teile, worin der Profit, also der Mehrwert zerfällt, wird vergessen, daß beide bloß Teile des Mehrwerts sind und daß seine Teilung nichts an seiner Natur, seinem Ursprung und seinen Existenzbedingungen ändert. Im wirklichen Prozeß vertritt der funktionierende Kapitalist das Kapital als fremdes Eigentum gegenüber den Lohnarbeitern, und nimmt der monied Kapitalist, als vertreten durch den funktionierenden Kapitalisten an der Exploitation der Arbeiter teil.« Und dieser wirkliche Prozeß der Ausbeutung von Lohnarbeitern läßt sich ja wohl nicht an Kategorien wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit messen!?

Ein Teilnehmer kommt dann (sie sind ja alle sehr belesen!) und auch zutreffend auf Marxens Kritik am Gothaer Programm zu sprechen. Diese Bezugnahme wiederum verhilft ihm aber nicht zu der Einsicht, daß die Marxsche Position zur bürgerlichen Gesellschaft in der Kritik am Gothaer Programm sich von der in KAP III zitierten um keinen Deut unterscheidet. (Der Verweis sollte eher demonstrieren, auf welch altmodischen Ansichten mein Einwand beruht.) Ein anderer kommt auf die tolle Idee, daß der funktionierende Kapitalist, da er das zinstragende Kapital + Zins zurückzuzahlen muß, letzteren den Arbeitern durch Erhöhung des Mehrwerts zusätzlich abknapsen würde. Das geht auch Nadja [Rakowitz] und Thomas Gehrig zu weit. Ein wunderschönes Beispiel für die tiefe Verwurzeltheit des ökonomismus bei dieser Linken, die nicht über die bürgerliche Vorstellung des ‚Lohnraubs‘ hinauskommt: ‚das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!‘ Sie begreift nicht, daß unter der Voraussetzung des bürgerlichen Rechts es im Verhältnis zwischen Lohnarbeiter und Kapitalisten durchaus ‚mit rechten Dingen zugeht‘; den Unterschied zwischen dem Recht, das man de lege hat und dem Recht, das man tatsächlich bekommt, eingeschlossen.

Daran siehst Du schon, wie schizophren diese Kerle sind: sie kennen sich im KAP prima aus, wollen es auch noch besser verstehen lernen, und verstehen es aber dann doch nur im Sinne des bürgerlichen Rechts. Ich habe ihnen die oben zit[ierte]. Stelle um die Ohren gehauen und empfohlen, sich die Sache bis morgen noch mal zu überlegen. – Soweit diese subjektive Impression aus meiner AG am Freitag Abend. Unseren Disput über die Interpretation von »erscheint« als ‚zur Erscheinung kommen‘ oder als ‚realer Schein‘ haben wir bereits […] abgehakt. […]

Samstag Abend

Ich habe meinen Text durchgesehen, aber noch keine Fortsetzung geschrieben. Das mache ich morgen. Gleich fahre ich zur Podiums-Diskussion mit Robert Kurz u.a. (das ist der ML-Zirkeltheoretiker mit der ‚Hausschweinisierung‘ der Arbeiterklasse – inzwischen auch Professor…) unter dem einladenden Motto: „…hier bricht das Manuskript ab.” Klasse und Krise: Wie geht es weiter?

Zweiter und dritter Tag (Samstag Abend und Sonntag)

Es würde wohl ein ganzer Roman daraus, wollte ich im bisherigen Stil fortfahren. Was ich vermitteln wollte, war so ein erster Eindruck von der Veranstaltung, soweit dies für uns relevant ist. An Stelle dessen, werde ich nun die ganze Sache von hinten aufrollen:

1. Ausgehend von der Ansicht der partei Marx gehört die SED-Nachfolgerin zur Bourgeoisie und sollte daher nicht im Sinne einer bürgerlichen Strömung innerhalb der Linken ‚kritisiert‘ werden, so wie es ihre linken Kritiker für gewöhnlich tun, die, je linker sie verpackt sind, diese Partei lediglich als eine andere Variante der Sozialdemokratie einschätzen (d.h. als zweite bürgerliche Arbeiterpartei). Die PDL ist keine bürgerliche Arbeiterpartei, wie es die SPD bisher war, sondern eine revisionistische Partei. Revisionistisch im Sinne der Wiedergewinnung der alten DDR, so wie die Nazis die Revision der Nachkriegsregelungen über Deutschland anstreben, um zum Hitlerschen Deutschen Reich zurückzukehren. Zwecks Verbesserung ihrer Position im ‚wiedervereinigten‘ Deutschland bedient sich die Partei Die Linke aller möglichen traditionellen linken Strömungen, um über diese auch in der Gesellschaft der alten BRD Fuß zu fassen und mit deren Hilfe ihr politisches Projekt (den ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘) in Deutschland durchzusetzen.

ähnliches hatte auch schon die SED in unseren revolutionären 60er und 70er Jahren versucht, wenn es auch den Allerwenigsten bewußt war und fleißig verdrängt wurde; der Sozialismus hatte nur einen anderen Namen. Das Problem der ehemaligen westdeutschen Linken besteht folglich darin, daß sie die SED-Nachfolgerin als eine bürgerliche (‚sozialdemokratische‘, ‚reformistische‘) Strömung innerhalb der (fiktiven) gesamten ‚Linken‘ versteht. Wollte man die Partei Die Linke ausgehend von einem ernstzunehmenden revolutionären Anspruch kritisieren, wäre das so ähnlich, als wenn Marx und Engels zu Beginn der 50er Jahre mit jenen Strömungen, die von der 48er Revolution übrig geblieben waren und sich mit der mit dem Feudalismus paktierenden Bourgeoisie (ihrem ‚linken‘ Flügel) vereinigt hatten, wie Mazzini, Kossuth, Herzen etc., gemeinsame Sache gemacht hätten. (Marx weigerte sich z.B., zu einer Veranstaltung zu gehen, wo er mit Herzen hätte zusammentreffen können. Die beiden Freunde [Marx und Engels] waren Anfang der 50er Jahre daher die einsamsten Gestalten innerhalb der Londoner Emigration.)

Sich auf die Politik, wie sie die Linke gegenüber der PDL betreibt, einzulassen, wäre daher auch in unserem Fall ziemlich tödlich. Die Neue Bourgeoisie befindet sich unter aller Kritik (siehe BLogbuch 1 2010), sie kann daher nicht, nur weil sie den ‚Marxismus‘ ‚hochhält‘, ernsthaft theoretisch kritisiert werden. Sie kann nur wie die alte Bourgeoisie politisch bekämpft werden. Worin bestünde denn die gemeinsame Grundlage, auf der sie zu kritisieren wäre? Dagegen sollte – und das wäre eine Schlußfolgerung, die ich aus dem Wochenende ziehe – die mit der Neuen Bourgeoisie paktierende Neue Linke (also die Linke, die vom 02.06.1967 übrig geblieben und nicht unter die Fittiche der Alten Bourgeoisie gekrochen ist) durchaus kritisiert werden, zumal dann, wenn sie sich der Marxschen Theorie im Interesse der Neuen Bourgeoisie und für deren politische Zwecke bedient.

Grundlage einer solchen Kritik wäre das von der Neuen Linken vertretene Marx-Verständnis, das, wie wir festgestellt haben, in der Regel mit dem unsrigen nicht übereinstimmt. Aber selbst wenn es uns gelänge, uns mit ihr über ein gemeinsames Marx-Verständnis auch nur punktuell (KAP) zu einigen, würde das noch längst nicht bedeuten, daß sie deshalb auch ihre politische Einschätzung der Neuen Bourgeoisie aufgeben, sondern trotz großer Bauchschmerzen weiterhin mit dieser paktieren würde. Da wir unsererseits über so gut wie kein politisches Potential verfügen (wozu bestenfalls die pM als eine nur virtuelle Partei gehört), können wir der Neuen Bourgeoisie bei ihrem Versuch, sich des Potentials der ehemaligen Neuen Linken zu bemächtigen, wenn es hochkommt ein paar Knüppel zwischen die Beine werfen. Dabei werden wir wahrscheinlich nicht verhindern können, daß sie sich auch unseres Marx-Verständnisses bedient, wenn es ihr in den Kram paßt, um uns dann mit einem ‚Danke vielmals!‘ zu marginalisieren.

2. Da wir bereits gestern Abend das Entscheidende geklärt haben, kann ich mich kurz bzw. unser Gespräch noch einmal zusammenfassen. Krätke weist bei all seinem hochtrabenden professoralen Gelaber auf einen wichtigen Punkt hin, der von entscheidender Bedeutung ist: die Scharnierfunktion, die die Geldware in KAP II für die gesamte Architektur des KAP einnimmt. […] Worin Krätke völlig richtig liegt, ist, daß die Geldware zugleich Warenkapital ist und daher Michael Heinrichs Kritik an Marx (dieser sei als ‚Kind seiner Zeit‘ dem Metallismus verfallen) widerlegt ist. Heinrichs ‚Kritik‘ an Marx erweist sich auch in Anbetracht der Weltwirtschaftskrise als ziemlich lächerlich, weil es kein ökonomisches Werk gibt, das diese trotz seines fragmentarischen Charakters nicht nur besser, sondern eindeutig erklärt. Daß Krätke den Doppelcharakter des Goldes als Geldware und Warenkapital nur zu dem Zweck betont, um den Kapitalfetisch und die Dialektik der Ersten Drei Kapitel von KAP I zu kippen, indem seine Deutung der in den Londoner Schaufenstern ausgelegten Waren als Warenkapital von ihm für ausreichend erachtet wird, um uns den Rest der Ersten Drei Kapitel zu ersparen, ändert an der Korrektheit seiner Interpretation der Geldware und deren Bedeutung für KAP I-III erst mal nichts. Entscheidend ist seine Beobachtung, daß die linken KAP-Leser immer einen großen Salto über KAP II hinweg gemacht haben, und ihnen daher die Voraussetzungen für das Verständnis der Architektonik von KAP I-III fehlen.

Warum ist die Architektonik so wichtig? Weil nur im Zusammenhang mit der großen Metamorphose des Kapitals verständlich wird, wie das KAP als negative Blaupause für die neue Produktionsform einzusetzen wäre, in der die Produzenten die neuen Produktionsverhältnisse zu beherrschen lernen müssen: Ware – Wert – dessen Verdopplung als Geld – Kapital – Arbeit – Produktion von Mehrwert (= KAP I), Umschlag des Warenkapitals auf der Basis der Geldware und Entstehung des Kredits als Vehikel zur Beschleunigung des Umschlagprozesses (= KAP II), Verdoppelung des Kapitals als funktionierendes und zinstragendes Kapital, Verdrängung des ersten durch das zweite, Verselbständigung als fiktives Kapital, Paradoxien, Antinomien, Selbstaufhebung der Logik des Kapitals als ganzem (= KAP III). Das unter den neuen Produktionsverhältnissen von den Produzenten angeeignete Verständnis der Architektonik hätte nicht mehr der Optimierung der Kapitalverwertung, sondern zu ihrer Beseitigung zu dienen. Um diese zu beseitigen, muß man wissen wie sie bisher funktioniert hat, sonst setzt man sich wie in der SU oder in China neue Läuse in den Pelz. Soweit aber die Architektonik bisher analytisch zur Geltung kam, hatte sie in erster Linie philologische Bedeutung (Rosdolsky etc. [3]).

Mit der Marx-Philologie verfügte die SED und verfügt ihre Nachfolgerin über den entscheidenden Schlüssel, um nach Ausrufung einer Endlosdebatte über das Marxsche ‚Kapital‘ den Zugang zum Heiligen Schrein des ‚Marxismus‘ zu kontrollieren. Nicht umsonst hat Stalin die Arbeit an den ‚Grundrissen‘ [zur Kritik der politischen ökonomie] nicht etwa gestoppt (während Engels als Feind der Außenpolitik des russischen Zarentums ein zweites Mal beerdigt wurde [4]). Denn die Grundrisse enthalten, wenn man so will, eine durchaus schlüssige theoretische Begründung für die Notwendigkeit der Enteignung des Privateigentums – in diesem Fall zugunsten des großrussischen Staates. Was Hitler mit Hilfe seines Blut-und-Boden-Sozialismus und seiner Rassentheorie zu legitimieren versuchte, dafür sorgte der ‚Marxismus‘  im Namen der Herrschaft der Produzenten in viel eleganterer Form und zu dem Zweck, diese endgültig zu beseitigen.

Betrachtet man die Dialektik innerhalb des architektonischen Zusammenhangs des KAP, ergibt sich daraus die überfälligkeit der kapitalistischen Produktionsweise auf dem Gipfelpunkt ihrer Entfaltung und maximalen Steigerung ihrer Produktivkräfte; sie ergibt sich aber gerade nicht in erster Linie aus ‚der Armut‘ und deren Gegensatz zum Reichtum von ein paar Millionären, wie es von Seiten Der Linken sozialpopulistisch tönt. Die Armut ist eine Erscheinungsform für die Folgen der auf der Mehrwertproduktion beruhenden Ausbeutung des Menschen und der Natur… Das muß ich nicht weiter ausführen. Daher sind als weiteres Resümee Hegel und die Marxsche Hegel-Kritik so wichtig! Krätke und Heinrich ist bei all ihren Differenzen eines gemeinsam, daß sie letztlich die Durchgängigkeit der Werttheorie vom ersten bis zum letzten Satz des KAP jeder auf seine Weise torpedieren, wie überhaupt unter bürgerlichen ökonomen die Werttheorie als eines der von ihnen am meisten verabscheuten Brechmittel gilt. Und dies aus gutem Grund.

Von der Verteidigung oder Torpedierung der Durchgängigkeit der Werttheorie hängt die Politik ab, wie sie Die Linke heute betreibt, mit dem ganzen daran hängenden sozialpopulistischen und ökofaschistischen Rattenschwanz, worauf ich nicht näher eingehen werde. Entweder, das KAP wird verstanden als Blaupause, an der sich die Produzenten überlebensnotwendig zu orientieren haben, wenn sie die kapitalistische Produktionsweise aufheben oder es wird (in bester Stalinscher Tradition) zum Legitimationsinstrument bei der Ersetzung der Herrschaft der einen Bourgeoisie durch die andere und der Einführung des ökofaschismus und linken Sozialpopulismus. So steht die Sache. Und das bildet auch den Hintergrund für die bevorstehende Auseinandersetzung in der M[arx]G[esellschaft].

3. Die theoretische Durchgängigkeit des Wertgesetzes ist also nicht nur von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis der Architektonik des ‚Kapital‘, sondern auch für die auf der Selbstbestimmung des Produzenten beruhenden politischen Herrschaft derselben. Gerade dazu wären die [von Marx] nicht mehr geschriebenen Kapitel über den Staat und den Weltmarkt eine unersetzliche Hilfe. Statt dessen hat sich Marx mit der Grundrente und der russischen Dorfgemeinde befaßt, weil ihm die [unmittelbare] strategische Bedeutung klar war, die eine revolutionäre Entwicklung in Rußland für die proletarischen Revolutionen in Europa und Amerika gehabt hat. Das russische Kapitel einschließlich der Oktoberrevolution kann man heute als erledigt betrachten, aber den Staat und den Weltmarkt ganz und gar nicht.

Wer diese Kapitel fortschreiben will, hätte sich an der Architektonik des KAP und der Durchgängigkeit des Wertgesetzes zu orientieren. Die Versuche aus den 70er und 80er Jahren unter dem Stichwort der ‚Staatsableitung‘ krankten daran, daß sie einseitig am ‚westdeutschen Imperialismus‘ und dem Gegensatz zwischen dem US-Imperialismus und dem Realen Sozialismus orientiert waren. Der Weltmarkt wurde nicht unter dem Aspekt seiner Ausdehnung, sondern seiner Einengung bei gleichzeitiger Ausdehnung des Sozialistischen Lagers betrachtet (siehe Stalin: ökonomische Probleme des Sozialismus). Dadurch gab es mindestens zwei Weltmärkte, den ‚westlichen‘ und den ‚sozialistischen‘, die beide in die ‚Dritte Welt‘ um die Wette expandierten.

Für eine solche Betrachtungsweise gibt es keinerlei Beschäftigungsgrundlage mehr. Rußland und vor allem China versuchen zwar in ihrem Umkreis hegemoniale ‚Weltmärkte‘ zu etablieren bzw. wiederherzustellen, aber sie kommen nicht drum herum, auf dem globalen Weltmarkt mit einander und mit dem ‚Westen‘ zu konkurrieren. Die Versuche linker ökonomen und Politologen, den globalen (‚multipolaren’ Weltmarkt unter der früheren anti-‘westlichen‘ Perspektive zu analysieren, sind mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu Makulatur geworden. Je länger die Krise andauert, desto stiller wird es in diesen Kreisen. Für die Fortschreibung der Marxschen Werttheorie wäre jedenfalls festzuhalten, daß es auf dem heutigen globalen Weltmarkt keine ‚guten‘ oder ‚bösen‘ Kapitalisten (mehr) gibt, daß die Herrschaft des Kapitals politisch dagegen in demokratischen oder oligarchischen Formen ausgeübt wird, ganz so wie im 19. Jahrhundert die bürgerlichen Regierungen monarchisch oder demokratisch waren…

Solange die Linke sich allein an einer bestimmten Gattung bürgerlicher Regierungen, d.h. an den ‚guten‘ Kapitalisten gegenüber den ‚bösen‘ Kapitalisten orientiert, wobei die ‚guten‘ sich rückwärtsgewandter Regierungsformen bedienen, die sie zwecks Verteidigung des ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘ in kauf nimmt (Venezuela, Bolivien, Kuba), wird sie zu diesem Thema weiterhin nur Makulatur produzieren. Gerade weil die Architektonik des KAP trotz all ihrer Lücken mit dem heutigen ‚multipolaren‘ Weltmarkt analytisch übereinstimmt, ergeben sich auch ganz neue Fragen:

§  Ob z.B. die bewußte Beschränkung der Marxschen Analyse auf die zu seiner Zeit am weitesten entwickelte kapitalistische Nation noch aufrechtzuerhalten ist, da es einen herausragenden Phänotyp, wie ihn England im europäischen Zusammenhang darstellte, eigentlich nicht mehr gibt. Die gleichförmige Entwicklungslinie mit der Großen Französischen Revolution als Ausgangspunkt, die für alle europäischen Nationen maßgeblich war, ist spätestens mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen ‚durcheinandergeraten‘. Die bekannte Reihenfolge: bürgerliche Revolution, Sturz des Feudalismus, Demokratie, proletarische Revolution, Sturz des Kapitalismus, Sozialismus, hat eine Vielzahl an Staatsformen hervorgebracht, deren politischer Charakter aus einer beliebigen Mischung bestehen kann, die nur eines nicht sind: sozialistisch. Ob demokratisch oder oligarchisch (mit oder ohne sozialistischen Anspruch) die Bourgeoisien haben sich auf diejenige Mischung festgelegt, von der sie annehmen, daß sie am besten zu ihrer Stellung auf dem Weltmarkt und ihren Weltmachtambitionen paßt…

§  Um zum KAP zurückzukehren, ließe sich auch fragen, ob der Ausgleich der Profitrate heute eigentlich im regionalen oder globalen Maßstab stattfindet und ob er eher in diesem Zusammenhang analysiert werden muß?

§  Ebenso, ob der tendenzielle Fall der Profitrate nicht inzwischen zu einem Mittel der Konkurrenz zwischen den Weltmarktakteuren geworden ist, nach dem Motto: beggar thy neighbour? Denn da dieser für das einzelne bzw. nationale Kapital nun einmal unvermeidlich ist, könnte dieses bestrebt sein, die notwendigen Kompensationen vor allem auf Kosten seiner Weltmarkt-Konkurrenten vorzunehmen. Das deutsche Beispiel zeigt, wie das Kapital sowohl die heimische Produktivkraft der Arbeit steigert, aber zugleich von den enormen Mehrwertraten, die mit den chinesischen Lohnarbeitern zu erzielen sind, profitiert. In umgekehrter Richtung wird das italienische Kapital, daß sich die chinesischen sweat shops ins Land geholt hat (Bekleidung, Mode, Accessoires) kein Glück damit haben, diese als Kompensationsmittel gegen den tendenziellen Fall der Profitrate einzusetzen. Die USA exportieren heute hauptsächlich Schrott, Waffen und Geld. Dem us-amerikanischen geht es nicht nur bei der Autoproduktion ähnlich wie dem italienischen Kapital. Beide werden sich früher oder später am ‚gelungenen‘ deutschen Beispiel orientieren müssen, um zu überleben. Wenn meine Analyse stimmt, scheint es so zu sein, daß Weltmarkttiger wie gegenwärtig Deutschland nicht mehr auf eine einzige typische Nation festgelegt sind, sondern diese Rolle ständig wechselt.

Wenn ich zu der Aussagekraft dieser Beispiele auch noch wenig Zutrauen habe, so besagen sie doch zumindest eins: daß der Weltmarkt des Kapitals der Architektonik des Marxschen KAP heute ziemlich genau entspricht. Als jahrzehntelanger Verehrer und Vertreter der Leninschen Imperialismustheorie muß ich mir heute eingestehen, daß das Weltkapital über diese (unter Hinterlassung einer gewaltigen Zahl menschlicher Schlachtopfer) einfach hinweggegangen ist und daß sie keine politische Resonanz mehr hervorruft. Die Imperialismustheorie war trotz ihrer vielen Meriten (aber auch wegen ihres Mißbrauchs durch Sozialimperialisten aller Art) in letzter Instanz eine revolutionäre Zusammenbruchstheorie, die sich von ihrem reformistischen Pendant nur durch den mit ihr verbundenen revolutionären Aktivismus unterschied. Gegen die Weltmarktkrise des Kapitals läuft aber jeglicher radikaler Aktivismus ins Leere, der nicht zugleich die Unverträglichkeit des Wertgesetzes mit dem Sozialismus thematisiert und theoretisch erklären kann, was es heißt, unter seinem Diktat zu leben und zu arbeiten.

Stalin war dagegen hinsichtlich der SU der Ansicht, daß »unsere Warenproduktion keine gewöhnliche Warenproduktion« darstelle, »sondern eine Warenproduktion besonderer Art, eine Warenproduktion ohne Kapitalisten, die es hauptsächlich mit Waren vereinigter sozialistischer Produzenten (Staat, Kollektivwirtschaften, Genossenschaften) zu tun« habe, sei, und er dachte darüber nach, daß es notwendig sei, neben Begriffen wie Ware Arbeitskraft, Mehrwert, Kapital, Profit, Durchschnittsprofitrate »auch einige andere Begriffe über Bord zu werfen, die dem „Kapital” von Marx entnommen sind, wo Marx sich mit der Analyse des Kapitalismus beschäftigt hat, und die unseren sozialistischen Verhältnissen künstlich angeheftet werden. … Jetzt bei unserer Ordnung, klingen die Worte von der Arbeitskraft als Ware recht absurd: als ob die Arbeiterklasse, die die Produktionsmittel besitzt, sich selbst dingt und an sich selbst ihre Arbeitskraft verkauft. … Ich denke, unsere Wirtschaftswissenschaftler müssen dieses Mißverhältnis zwischen den alten Begriffen und der neuen Sachlage in unserem sozialistischen Lande beseitigen und die alten Begriffe durch neue, der neuen Lage entsprechende, ersetzen«. [5]

Vielleicht hatten die sowjetischen Wirtschaftswissenschaftler die alten Marxschen Begriffe auch deshalb durch neue ersetzen sollen, weil das Proletariat diese alten Begriffe als theoretische Waffe nicht nur gegen die alte, sondern auch die neue Bourgeoisie hätten einsetzen können. Schon aus diesem Grund wird das Wertgesetz auch im Sozialismus benötigt werden, um den Produzenten einen theoretischen Maßstab an die Hand zu geben, der es erlaubt zu ermessen, ob der Sozialismus dabei ist, wieder in die alten Verhältnisse zurückzuverfallen.

[1] Die u.a. von der Marx-Gesellschaft und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum dritten Mal hintereinander veranstaltete Herbstschule beschäftigte sich dieses Mal mit dem Dritten Band des „Kapital” (KAP III) für Teilnehmer mit unterschiedlichen Vorkenntnissen, die auf verschiedene Arbeitsgemeinschaften aufgeteilt wurden. Näheres siehe: http://www.marxherbstschule.net

Diese Bemerkungen geben ausschließlich die persönlichen Eindrücke und Einwände eines einzelnen Teilnehmers dieser Veranstaltung wieder.

Die ältere Rechtschreibung der Marx-Zitate wurde ein wenig modernisiert, was die Aktualität der Marxschen Analysen unterstreicht.

[2] Zur Vorbereitung waren von den Veranstaltern u.a. folgende Texte empfohlen worden: Michael Heinrich:Kritik der politischen ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart 22004. Daraus das 8. Kapitel: Zins, Kredit und »fiktives Kapital« und Michael R. Krätke: Geld, Kredit und verrückte Formen, in: MEGA Studien 2000/1, 64-99.

Zu den Seitenangaben in Klammern: erste Seitenangabe = MEGA II/4.2; zweite Seitenangabe = MEW.

[3] Roman Rolsdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des MarxschenKapital, Frankfurt/M. 1968 2 Bde.

[4] DEBATTE 1 Die unscharfe Relation Marx/”Marxismus”.

[5] J.W. Stalin: ökonomische Probleme des Sozialismus, 1952, 18 ff.

 

 


Ulrich Knaudt an H.B. (20.11.2010)

Betreff: MILCHWIRTSCHAFT

Lieber H., dieser interessante Artikel über die Fließband-Milchwirtschaft [1] erinnerte mich an […] ‚Deine‘ Milchbauern. Diese scheinen nur die Chance zu haben, soviel Kapital aufzubringen, daß sie sich so eine Maschine kaufen können, um am Fließband Milch zu produzieren oder aber eine Nische zu finden, in der sie verwandte Produkte unter dem Wert ihrer Arbeitskraft, der Abschreibungen und Löhne herstellen können, mit denen sie einen entsprechenden Nischen-Markt beliefern. Spannende Frage: sollte der Sozialismus hinter diesen Grad der Automatisierung zurückfallen oder aber moderne Technik und einen menschlichen Umgang mit den Tieren verknüpfen? Die Frage ist rhetorisch, weil nur konkret zu beantworten…

Ulli

[1] FAZ 18.11.2010 Die Milchkuh braucht keinen Bauern mehr. (Zwischenüberschrift:) »Als letzter Bereich der Landwirtschaft wird jetzt auch die Milcherzeugung automatisiert. Roboter können 1000 Kühe am Tag melken, wie Besucher der Messe Eurotier erfahren. Denn niemand will mehr melken.«


 


Ulrich Knaudt an H.B. (18.11.2010)

Betreff: Mit dem Bus aus Berlin zum …Ums Ganze-Kongreß 3.-5.12.2010 in Bochum

Bochum ist eine Reise wert. Einige Referenten werden Dir bekannt vorkommen. Dies nur zur Information.

[1]

Gruß Ulli

[1] Siehe den Link: ‚Um Ganze‘.

 


H.B. an Ulrich Knaudt (27.11.2010)

AW: Mit dem Bus aus Berlin zum …Ums Ganze-Kongreß 3.-5.12.2010 in Bochum

Lieber Ulrich –

ich hab‘s gelesen und,

verdammt noch mal,

ich wär‘ gern mitten drin – noch dazu vor Deiner Haustür, um mir weiteren überblick über die Bewegung zu verschaffen, mitzumischen, zumal uns ja einige Referenten gut bekannt sind. […]

Ich bitte Dich sehr, zu berichten, im Detail, wo‘s drauf ankommt – Du weißt schon!

Es ist gut, zu jemandem, zu Dir so sprechen zu können, qua wachsender substantieller Gemeinsamkeiten.

Ich hör‘ von Dir.

Einstweilen schon danke,

H.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (04.12.2010)

Betreff: UMS HALBE

Lieber H.,

Für UMS GANZE [1] fehlt ihnen in ihrem Puzzle der wichtigste Baustein: die Marxsche Parteilichkeit.

Ich schicke Dir vorab meine ersten Eindrücke vom ersten Abend, da sie noch frisch sind. Reflektieren kann man darüber immer noch.

Stelle Dir die Marx-Gesellschaft vor – erweitert um das autonome politische Themenspektrum (siehe Samstag Nachmittag: Krise & Naturbeherrschung, Arbeit & Reproduktion, Sozialchauvinismus & Integration, Kapitalismus, Demokratie & Nation) – und dann hast Du einen angemessenen Eindruck von dieser Veranstaltung. Das durchweg studentische Publikum (Grauköpfe = 1 Promille + Hausmeister) ist hoch interessiert, um für seinen antikapitalistischen Spontaneismus ein theoretisches Hilfsgerüst erbaut zu bekommen (von theoretisch erfahrenen linken Sozial- <und verwandten> Wissenschaftlern), so daß sie auch den kompliziertesten theoretischen Aufbauten willig folgen.

Damit bin ich auch schon bei der Abendveranstaltung (»Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus«). Auf dem Podium Michael Heinrich, Gerhard Stapelfeld und ein (antideutscher) Ersatz für K.H. Roth. Heinrich referiert die Marxsche Krisentheorie mit der bekannten Kritik am Tendenziellen Fall der Profitrate (hier sei  »Marx historisch überholt«) und bringt eine Zusammenfassung der Weltwirtschaftskrise, deren Chronologie und Fakten ich in dieser Qualität auch z.B. bei Hans-Werner Sinn nachlesen könnte. Die Marxsche Krisentheorie (wobei wir uns fragen, ob es eine solche, wie auch eine Marxsche Werttheorie überhaupt gibt) dient ihm eher als gut gearbeitete Krücke für seine ökonomischen Analysen… Stapelfeld stellt den Liberalismus im 19. Jahrhundert dem Neoliberalismus seit den 30er Jahren des 20. einander gegenüber und lobt den aufklärerischen Charakter des ersteren: Utopie, Revolution und Rationalität; diese seien im Neoliberalismus vernichtet. Denn Utopie = »Faschismus«, »Unerkennbarkeit der Gesellschaft« (beides siehe Hayek) = Gegenaufklärung. »Das emanzipatorische Potential« des klassischen Liberalismus (bis 1870) sei im Neoliberalismus untergegangen. Ein Teilnehmer, mit dem ich danach sprach, meinte, durch diese Entgegensetzung hätte sich der Vortragende in eine Dualismusfalle begeben, aus der er nur schwer wieder herausfindet. Würde ich auch so sehen. Vor allem wird jeder Bezug auf Marx dadurch entbehrlich. Heinrich ist da etwas dialektischer, obwohl in seinem Abschluß-Statement dieser Dualismus auch durchklang. Er tendiert bei der Leugnung des Tendenziellen Falls der Profitrate aber wohl eher in Richtung auf eine Unterkonsumtionstheorie auf dem Niveau von Rosa Luxemburg (Nichtobereinstimmung von Produktion und Konsumtion). Der Antideutsche betrieb die übliche autonome Phänomenologie des Kapitalismus, die sich an irgendwelchen politischen Oberflächenphänomenen festmacht.

Mein Gesamteindruck geht dahin, daß die Studentenbewegung von 1967, soweit sie nicht in dieser oder jener Form zur Bourgeoisie übergelaufen ist, sich in der Theorie ihrer heutigen führenden theoretischen Köpfe keinen Millimeter weiterentwickelt hat. Wenn man dazu etwas beitragen wollte, müßte man z.B. die politischen Sozialgerechtigkeitsapostel und den Sozialpopulismus Der Linken beim Namen nennen. Aber da herrscht vornehme akademisch geprägte Zurückhaltung. Nun entwickelt eine Theorie sich nur an dem weiter, was sie kritisiert, auf jeden Fall nicht an phänomenologischer Allerweltskritik am Kapitalismus, der mit samt seinen Politikern mit Hilfe von antikapitalistischen Allerweltsphrasen aufs Korn genommen wird.

Eingangs hatte ich die Einleitung von Christian Frings in das Marxsche KAP ([unter der überschrift] »Lohnarbeit und Kapital«) aufgesucht, worüber dieser, als ich ihn vor dem Hörsaal traf, nicht sehr erbaut war. Es handle sich um eine Einführung, die nicht für hochtheoretische Einwände tauge. Ich versprach ihm, mich geschlossen zu halten. Seine Zusammenfassung der Drei Bände [des „Kapital”] war, bis auf seine Anbiederung an die blutjungen Zuhörerschar (worin besteht der Gebrauchswert eines Joint [?]) gar nicht so schlecht. Einen kleinen Fehler machte er bei der Trinitarischen Formel am Schluß von KAP III: wo er von einer Aufteilung der Produkte und nicht der Einkommen von Arbeitern, Kapitalisten und Grundbesitzern sprach (Lohn, Mehrwert, Grundrente). Aber wohl aus dem Grund, um von da aus auf KAP I [Kapitel] 1-3 (verkehrte Welt, Fetischcharakter, auf die er sehr viel Wert legte) zu gelangen. Das mochte aus pädagogischen Gründen angemessen sein, ist aber dennoch falsch. Viel gravierender fand ich aber sein Statement in einem Nebensatz, daß Marx viel zu viel Zeit damit verplempert hätte, sich um alle möglichen politischen Angelegenheiten zu kümmern, anstatt bei seinem Leisten zu bleiben. […] …

Danach unterhielt ich mich mit einem Linkskommunisten (Pannekoek, Gorter) an seinem Büchertisch. Auch er fand die Einführung gelungen und bemängelte ebenso den nicht berücksichtigten Stellenwert, den das KAP im Parteikonzept von Marx und Engels einnimmt. Das sind aber wohl Mindermeinungen der Oldies, die mit den Jahren aussterben werden, wenn wir nicht ordentlich gegen den Mainstream Druck machen.

Bis bald

Ulli

[1] SO, WIE ES IST, BLEIBT ES NICHT! Der …ums Ganze! – Kongreß zu Arbeit und Krise 03. bis 05.Dezember 2010 Ruhr-Universität Bochum.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (05.12.2010)

Betreff: DIE ZWEITE HäLFTE

Lieber H., ich habe mir wie gesagt, die heute Nachmittag diskutierte Phänomenologie des heutigen Kapitalismus aus autonomer Sicht geschenkt und bin zum abendlichen Podium gefahren, an dem auch Christoph Lieber teilnahm, unter dem Titel »Transformation des Sozialen und linke Strategie in der Krise«. Christoph brachte eine Synthese aus Gramsci und Keynes. Den Grabenkrieg um die Erringung »emanzipatorischer« Positionen in der Zivilgesellschaft auf der Grundlage des vom Kapitalismus geschaffenen Reichtums voranzutreiben, sei eine Frage des Bewußtseins, das sich dabei oder darin entwickeln soll. Die Krise sei keine Mangel-, sondern eine überschuß-Krise. Das wurde bereits von anderer Seite (Heinrich) thematisiert und ist nicht so fürchterlich neu. Die Produktivität des Kapitals sei so gewaltig, daß man nur noch 4 Tage arbeiten müßte und den gewaltigen Surplus auf z.B. Verschönerung der Städte, für Bildung und Kultur verwenden könnte. Der Kapitalismus der 70er Jahre sei ein inkludierender Kapitalismus gewesen. Heute ist er ein exkludierender mit der Folge von Prekarisierung. Dabei sei zu bedenken, daß die Prekarisierten kein Machtpotential darstellen, weil sie Transferleistungen empfangen: von 60 Mio Wählern gehörten 40 Mio zur Lohnarbeit und 20 Mio zum Potential der Transferempfänger und Rentner. Es bestehe eine starke Tendenz zum Ressentiment, die mit der Krise zunehme: dieses richte sich gegen die zu alimentierenden Gruppen der Gesellschaft und drücke eine »Verrohung des Bürgertums« (Sarrazin) aus. Die Referentin über die Frauenfrage im Kapitalismus, Andrea Truman, befaßte sich mit dem Problem, daß es innerhalb des Kapitalismus keine Lösung der Privatisierung dieses Widerspruchs geben kann, der vom Kapital nicht wieder integriert würde. Aus der ‚Studentenbewegung‘ sei deutlich geworden, daß es ohne revolutionäre Bewegung keine emanzipatorische Frauenbewegung gebe. Der Vortrag von Karl Rauschenbach war ziemlich bekifft und ist nicht zu referieren.

Die Diskussion war ohne Niveau und blind umhertastend antikapitalistisch, ohne daß jemand verdeutlichen konnte, warum man eigentlich antikapitalistisch sein sollte. Kapitalismus ist Scheiße! Das kann meiner Ansicht nach eigentlich nur jemand von sich geben, der unmittelbar praktische Erfahrung mit diesem gemacht hat. Und dann stellte sich die Frage, was die, die sich zum Sprachrohr des Kampfes gegen den Kapitalismus machen, in diesem Kampf politisch vorhaben. Das aber wurde ‚demokratisch‘ oder anarchistisch (?) umschifft.

[Schlußfolgerungen:]

—Diese Bewegung, die eine antikapitalistische sein will, hat keinerlei historisches Bewußtsein, weil sie keine Klassenbewegung ist, aber auch nicht weiß, worin denn der historische Sinn jener politischen Bewegungen bestand, die sich aus den gesellschaftlichen post-faschistischen Widersprüchen in Europa, den USA und Asien entwickelt haben.

—Diese Bewegung möchte gern eine Fortsetzung oder Erneuerung der 2.-Juni-Bewegung (‚Studentenbewegung‘) sein, weiß aber gar nicht, warum es die überhaupt gegeben hat.

—Diese Bewegung hat keinen revolutionären Rückenwind wie die 2.-Juni-Bewegung, deren Marxismus in einem künstlich geschaffenen Vakuum eine ungeheure Kraft entfalten konnte, weil das von der US-Hegemonie ausgehaltene westeuropäische (und <ost>asiatische) Bürgertum die in diesem Vakuum entstandene revolutionäre Welle zunächst nicht so leicht verkraften konnte. Den Allerwenigsten ist bis zum heutigen Tag klar, daß aus dieser Implosion heraus (zumindest in Westdeutschland) eine Vollendung der 48-Revolution verbunden mit der an den amerikanischen Unis hochkochenden Kulturrevolution hervorging. Erst mit der Erfüllung dieser politischen Rolle und dem »Bewußtsein« (Chr. Lieber) von dieser Sache wäre der nächste Schritt möglich gewesen: die ‚studentische‘ Kulturrevolution in die Fabriken (und in die DDR!) zu tragen. Aber der Rückenwind brachte nur einen Haufen politischer Sekten und individueller Karrieremacher und Politiker hervor, die diesen für ihre individuellen Zwecke ausnutzten und an deren Subjektivismus er sich sozusagen brach.

—Der Rückenwind dieser [‚sozialen‘] Bewegung, die irgendwie meint, an der alten ‚Studentenbewegung‘ anzuknüpfen zu können, entstammt heute keiner revolutionären, sondern einer konterrevolutionären Situation, die geprägt ist vom Aufstand unterschiedlicher, d.h. linker und rechter Oligarchien gegen den westlichen Kapitalismus, an dessen Stelle sie ihren oligarchischen Kapitalismus setzen wollen, den sie ‚antiimperialistisch‘ (Iran, Venezuela) oder gar ‚sozialistisch‘ (VR China) tarnen oder in dem der alte Panslawismus wieder zum Vorschein kommt (Jugoslawien-Krieg, Georgien-Krieg etc.). Dieser Aufstand gegen den westlichen Kapitalismus bildet heute die Hauptfrontlinie zwischen den verschiedenen Fraktionen des Kapitals (vielleicht war nicht die Dimitroff-Formel falsch, sondern ihre reaktionäre inhaltliche Bestimmung!)

Fazit: Der Antikapitalismus dieser Linken richtet sich zwar gegen das Kapital, aber nur gegen das westliche, so wie sich Hitlers Antikapitalismus nur gegen das ‚jüdische‘ Kapital gerichtet hat. Gestützt auf Marx, Gramsci und Keynes, will Chr. Lieber den Grabenkrieg gegen dieses Kapital vorantreiben und dafür sorgen, daß diese Bewegung Schritt für Schritt die Zivilgesellschaft an die Stelle der westlichen bürgerlichen Gesellschaft setzen möge. »Die Eroberung des Winterpalais funktioniert nicht«, meinte er. Er vertritt (wie weiland Kautsky) in dem antiwestlichen Antikapitalismus der heutigen Linken eine zentristische Position. Lenin war immer der Meinung, Kautsky sei gefährlicher als ein rechter Sozialdemokrat mit seiner Klassenzusammenarbeit. Vielleicht trifft das auch hier zu.

Soweit erst mal. Ich schicke Dir die Mail, ohne sie noch mal überschlafen zu haben.

Für morgen stünde noch »Was heißt radikale Kritik organisieren« mit Frieder Otto Wolf, der FAU und der Krahl-Gesellschaft und Christian Frings an. Ehrlich gesagt, reicht mir bereits der heutige Abend, da ich nicht der Meinung bin, dort [noch] sehr viel Anderes und Neues zu erfahren. Wenn Du anderer Meinung bist, laß es mich rechtzeitig wissen.

Gruß Ulrich

 


H.B. an Ulrich Knaudt (06.12.2010)

Betreff: AW: DIE ZWEITE HÄLFTE

Danke, lieber Ulrich,

für Deine Berichte – was soll ich dazu, zu diesen, dieser „Linken” sagen?

Vielleicht mit Marx (was er irgendwann/-wo mal in Hinblick auf den Zerfall von herrschenden Klassen gesagt hat), daß die ‚Tragik‘, ‚Tragödie‘ solcher historischer Prozesse in ‚Komik‘, in, mit ‚Komödien‘ endet.

Müßte schon dahin sein.

Frage, hast Du Dir das gestrige Geschehen auch noch angesehen?

U.a. mit dem Beitrag von HJKI (vermutlich wieder von Carsten Prien),

wovon ich mir doch etwas erwartet haben würde ?

Erstmals noch mal Danke.

Gruß

H.

 


Ulrich Knaudt an H.B. (10.12.2010)

Betreff: DIE BAKUNISTEN OHNE ARBEIT

Ob UMS HALBE oder GANZE, eigentlich müßte sich die interventionistische Linke als bakunistische Linke  bezeichnen. Aber die meisten wissen wohl kaum, wer Bakunin eigentlich war, und von seinen Intrigen gegen die IAA werden sie schon gar nichts gehört haben. Dafür verehren sie aber gerade jenen Autor, der gemeinsam mit Engels unter den Bakunisten am meisten gelitten hat, indem sie für DAS KAPITAL schwärmen. Wie paßt das zusammen? Wahrscheinlich nur durch den, auch in den Reihen der M[arx]-G[esellschaft] gepflegten Politischen ökonomismus, den sie aus der Marxschen Kritik der Politischen ökonomie herauszulesen meinen.

Ja, ich habe mich auch am Sonntag Nachmittag durch den Schneematsch auf den Hügel der RUB geschleppt. Auf dem Panel saßen: die FAU, das Krahl-Institut und Christian Frings. Um mit dem Krahl-Institut zu beginnen: Karsten Prien überragt die jüngere Generation von Anarchosyndikalisten durch eine theoretisch reflektierte Variante desselben Gewerkschaftskonzepts. Im Großen und Ganzen trug er den Inhalt der Broschüre vor, zu der ich ja meinen Teil gesagt habe (REAKTIONEN Teil 4 [1]). Wenn er z.B. den ‚Arbeitsfelder‘-Ansatz des SB als Ausgangspunkt revolutionärer Gewerkschaftsarbeit hervorhebt, kommt mir das reichlich von gestern vor. So was war zur Zeit der 2.-Juni-Bewegung ein interessanter Versuch, der sogar an die Narodniki erinnern mochte. Das Drama besteht aber nun mal darin, daß die 2.-Juni-Bewegung nicht über sich selbst in Richtung Kommunismus hinausgewachsen ist. (DKPismus, RAF und Maoismus waren Sackgassen!) Und daß sich daher nicht einfach bruchlos an die ‚StudentInnenbewegung‘, wie sie jetzt so schön genderistisch heißt, anknüpfen läßt, (was von verschiedener Seite auf dem Kongreß vorgeschlagen wurde).

Nach Karsten Prien besteht die Beschränktheit des anarchosyndikalistischen Ansatzes lediglich darin, daß die Spaltung zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen organisatorisch nicht zu überwinden sei, weil Arbeitslose einen anderen Status haben als Beschäftigte (siehe meine Kritik in [1]). Diese Dichotomie sei auch nicht durch die Subkultur kritischer Konsumenten und Konsumenten von Kritik (eine gelungene, weil zutreffende Verkehrung), d.h. als organisierte Gegenkultur, zu überwinden. Der Klassenkampf der interventionistischen Linken sei in zwei Hälften gespalten. Auf der subkulturellen Seite herrsche tendenziell Massenverachtung und auf der Seite der werktätigen Massen Ohnmacht. Anstelle einer freien Diskussion als Selektionsprozeß für das beste Argument werde symbolische Politik betrieben, um gemeinsame Interessen zu bündeln. Die überwindung der Fremdbestimmung finde in der Selbstorganisation von Autoren, Verlagen und im Versuch der Einflußnahme durch politische Forderungen statt. Ob es sich dabei wirklich um gemeinsame Interessen handelt, sei die Frage. Ein neues „Sozialistisches Büro” müßte die Diskussion über Arbeitsfelder, den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter u.a. organisieren. Der „Praktische Sozialismus” unterscheide sich vom SB durch die Forderung nach Enteignung der Betriebe, Aufhebung des Gegensatzes Arbeitslose/Lohnarbeiter, der Umwandlung der kapitalistischen Produktion in Kooperativen, der Umwandlung des kapitalistischen Betriebes in ein Kooperativsystem, Dynamisierung der Rätestruktur in Rätevereinigungen – all dies [soll] wie Legosteine zusammengebaut werden. Jetzt gehe es darum, die Bedingungen für die Möglichkeit einer Strategiedebatte zu schaffen.

Christian Frings befaßte sich mit dem Unterschied zwischen Utopie und Theorie und orientierte sich dabei an der Kantischen Unterscheidung von Wille und Wunsch. Der Wille zum Kommunismus als Utopie gehe heutzutage über das bloße Wünschen wie im 19. Jahrhundert hinaus. Theorie dagegen sei nicht im Besitz des Schlüssels zur Weltveränderung. Denn die Frage sei nicht beantwortet: wer erzieht die Erzieher? Veränderungen seien ohne selbstkritische Selbstveränderung unmöglich. Strategie sei entweder Strategie von oben oder von unten. Als Strategie von oben skizzierte er die Epoche des Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert, die durch Gewalt und Entwicklungsschübe gekennzeichnet sei; letzteres hervorgerufen durch Zugeständnisse des Kapitalismus (Aufhebung der Sklaverei o.ä.). Heute befinde sich dieser in einer Systemkrise mit Aufständen von China über Bangla Desh, Südafrika bis nach Griechenland, d.h. in einer Krise der Arbeit und des Staates. Ein heute noch gültiger Ansatzpunkt sei der Bruch der ‚Studentenbewegung‘ mit dem Etatismus. Die Strategie von unten sei dagegen kaum entwickelt und äußere sich in subversiven Kämpfen, die häufig totgeschwiegen werden. Die Taktik der Gewerkschaften bestehe darin, Konflikte aus der Produktion heraus auf Sonntagnachmittagsspaziergänge zu verlegen. Auf der anderen Seiten würden von ihr sog. ‚unsichtbare Konflikte‘ wie wilde Streiks boykottiert oder gar unterdrückt.

Der Vertreter der FAU stellte seine Minigewerkschaft vor, die sich bei einem Streik im Berliner Kino „Babylon” aus der Auseinandersetzung mit dem Linken Kinobesitzer gebildet hat. Ihr Konzept lautet: »Vom Lohnkampf zur Autonomie und zur Abschaffung der Lohnarbeit«. Daß sie ihr Koalitionsrecht arbeitsgerichtlich erstritten haben, ist aller Ehren wert, paßt auch gut zu dem momentanen Konflikt zwischen Tarifeinheit und Koalitionsfreiheit. Dazu fällt ihnen allerdings nichts ein, da es sich um eine Verfassungsfrage handelt und Syndikalisten, wie schon zu Marxens Zeiten jeglichen Sinn für Politik vermissen lassen. Dieses Problem wurde zwar von Karsten Prien thematisch angesprochen; dessen Lösung soll aber darin bestehen, daß das Politische nicht durch Adressen an den Staat in Gestalt von Demos usw., sondern durch »den langen Marsch durch die Institutionen« (Dutschke) in die Kämpfe hineinzutragen sei.

Einen sehr interessanten Aspekt warf Chr. Lieber in der anschließenden Debatte auf: die Parole von der ‚Zerschlagung des Staates‘ sei kontraproduktiv, weil das Kapital heute selbst dabei sei, den Staat abzuschaffen (Privatgefängnisse, Privatbullen etc.). Ziehe ich für einen Moment sein Kautskyanisches Staatsverständnis von alledem ab, muß ich ihm in diesem Fall recht geben. Das Kapital könnte durchaus ein Interesse daran haben, den teuren Staatsapparat in private Hände zu legen und den Staat zu oligarchisieren. Den braucht man dann nicht mehr zu stürzen, weil es ihn tendenziell gar nicht mehr gibt. Und die Oligarchen wissen ohnehin, wie man solche Bestrebungen im Zaum hält.

Auf dem Weg zum Bahnhof hatten wir noch einen freundlichen small talk. Wenn er nicht so ein fürchterlicher Kautsky wäre, könnte er einem ganz sympathisch vorkommen.

Abschließend wäre festzustellen, daß im Vergleich zu ihrer heutigen Generation die historischen Bakunisten zumindest gestandene und theoretisch beschlagene Opportunisten waren. Das kann man von den heutigen Vertretern des Bakunismus nicht behaupten. Sie bilden eine Unterabteilung Der Linken, ohne jedoch Die Linke als Partei der oligarchischen Barbarei überhaupt wahrzunehmen oder gar politisch zu bekämpfen. Weniger ihr Spontaneismus als diese politische Blindheit erscheint mir als ihr Hauptfehler.

Mein Fazit:

1. Da die Anarchosyndikalisten über keinen materialistischen (so nenne ich das mal) und keinen historischen Klassenbegriff verfügen, haben sie auch keine klare Einschätzung der ‚real existierenden‘ trade-unionistischen Gewerkschaften als Arbeitsagenturen für die Zusammenarbeit von Lohnarbeit und Kapital.

2. Folglich ist auch ihr Verhältnis zu den politischen Parteien, die vorgeben, Arbeiterinteressen zu vertreten indifferent bis nicht vorhanden. Ihr Proudhonismus verbietet ihnen eine politische Stellungnahme und damit jede Klassenpolitik. Das Marxsche Elend der Philosophie [2] ist die Scheidemünze, an der sich ihr wohlfeiles Bekenntnis zu Marx und seinem wissenschaftlichen Hauptwerk ablesen läßt. Bei genauerer Betrachtung würde sich ihr Klassenbegriff mit großer Wahrscheinlichkeit als ein zutiefst ständischer erweisen. Warum sie den nationalsozialistischen ‚Klassenbegriff‘ nicht übernehmen, ist eher zufällig und hat rein moralische Gründe: »KEIN TAG FüR DIE NATION! KEIN TAG FüR DEUTSCHLAND! STAAT. NATION. KAPITAL. SCHEISSE«. Solche Parolen lassen sich (bei passender Gelegenheit) problemlos in ihr Gegenteil verwandeln.

Soweit mein Bericht…

Herzliche Grüße

Ulli

P.S.: Ich stimme mit Dir nicht in der Interpretation des 2. Absatzes auf Seite 298 überein: [3] »Stände und fürstliche Gewalt« können nicht einfach mit heute: Volk und Regierung gleichgesetzt werden, weil es hier Marx vorerst ‚nur‘ um die Feststellung ihrer historisch vorgefundenen Nichtübereinstimmung geht und um die Bestimmung der Situation, die aus dieser Nichtübereinstimmung politisch entstanden ist, also letztlich darum, daß die Hegelsche Staatsphilosophie keine Lösung für dieses Problem anbietet. Nach Hegel sollen die Stände »”Vermittlung” zwischen Fürst und Regierung einerseits und Volk andererseits sein, aber sie sind es nicht, sie sind vielmehr der organisierte politische Gegensatz der bürgerlichen Gesellschaft« (297). Die von Hegel gesetzte Möglichkeit der übereinstimmung von Ständen und Staat ist nach Marx eine »gesetzte Illusion von der Einheit des politischen Staates mit sich selbst … von dieser Einheit als materiellem Prinzip…« (298). Dieses Moment bezeichnet er als die Romantik des politischen Staats in seiner allegorischen Existenz. Daraus ergeben sich zwei Arten von Illusionen: die wirksame Illusion und die bewußte Selbsttäuschung; die wirksame Illusion in dem Fall, daß sich Stände und Staat vertragen und die bewußte Selbsttäuschung, wo das nicht mehr der Fall ist.

Dann kommt es, so wäre zu ergänzen nicht etwa zu einer Revolution, sondern zur Satire, zur Komödie, in der die bewußte Unwahrheit sich bis zur Lächerlichkeit entlarvt.

Du überinterpretierst diese Absätze, wenn Du sie unvermittelt auf die heutigen deutschen Zustände anwendest. Marx geht es hier lediglich um den negativen Beweis der Unfähigkeit des Hegelschen Staatsrechts, eine Lösung für die deutschen Verhältnisse parat zu haben. Letzten Endes zeigt sich darin nur deren ganze Absurdität.

Mit eigenen Vorschlägen geht Marx in dieser Kritik äußerst sparsam um: sie könnten sowohl in der übereinstimmung von Staat und Ständen liegen, wie sie noch im Mittelalter existiert hat (»der

Einheit des politischen Staates mit sich selbst« ) oder im konstitutionellen Staat wie in Frankreich oder England. Dazu äußert sich Marx konkret erst in der »Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie«, die man parallel zu diesen Text heranziehen sollte. [4] Hier dagegen handelt es sich um eine rein immanente Kritik in ihrer maximalen dialektischen Zuspitzung, dort bereits um die Kritik der deutschen Zustände, die sich für die von Dir gezogenen Parallelen sehr viel besser eignen würde. Dort findet sich übrigens auch eine klare Distanzierung von der Historischen Rechtsschule (380), aber auch eine Kritik an den Deutschen, deren Berechtigung sich bis zum heutigen Tag nicht geändert hat: »Das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums zu der politischen Welt ist ein Hauptproblem der modernen Zeit. Unter welcher Form fängt dies Problem an, die Deutschen zu beschäftigen? Unter der Form der Schutzzölle, des Prohibitivsystems, der Nationalökonomie« (382). Diese charakterliche Eigenart haben sich die deutschen Mittelklassen und Teile der Bourgeoisie bis zum heutigen Tag („Stuttgart 21”) erhalten, obwohl dieses Land inzwischen eines der höchstentwickelten Industrieländer auf diesem Globus ist. Offenbar wollen sie die deutschen Verhältnisse in den ‚status quo‘ zurückversetzen, den der amerikanische Finanzminister [gegenüber] den Deutschen für ihren angeblichen Kollektivmord an den ‚minderwertigen Rassen‘ nicht durchsetzen konnte, weil die USA damals ein Exportland nicht nur, wie heute, von Waffen und Dollars waren. Offenbar wollen die Deutschen (mit Ausnahme der weltmarktorientierten alten Bourgeoisie) zu dem ‚status quo‘ zurückkehren, dem Marx den Kampf angesagt hat: »Damals (im 16. Jht.) scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie. Heute, wo die Theologie selbst gescheitert ist, wird die unfreiste Tatsache der deutschen Geschichte, unser status quo, an der Philosophie zerschellen.« Ob die Philosophie, wie die Frankfurter Schule in den 30er Jahren und 1967 ff. diese Aufgabe noch einmal übernehmen wird, würde ich eher bezweifeln, zumal der neue ‚status quo‘, den es zu bekämpfen gilt, diesmal nicht ‚von oben‘, sondern ‚von unten‘ kommt und sich darin realisieren könnte, was Herrn Morgenthau noch versagt blieb. Darüber sollten wir weiter diskutieren!

[1] REAKTIONEN 2009 An H.B. (10.08.2009).

[2] Gemeint ist Karl Marx: Das Elend der Philosophie MEW 4 (65-182).

[3] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333).

[4] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung MEW 1 (378-391).

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Blogbuch 1 2011: Zu den Auswirkungen der Krise der kapitalistischen Produktionsweise auf die arabischen Länder und den Rest der Welt »

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Inhalt

Als die Revolution der Facebook-Jugend in Tunesien und Ägypten ausbrach und sich in weitere westlich orientierte arabische Länder ausbreitete, war für den westeuropäischen Beobachter eigentlich klar, daß der Domino-Effekt vor Ländern wie Libyen oder Syrien halt machen werde – oder wenn nicht, daß diese Revolution dann eine neue Qualität erreichen würde.


Dieser Fall ist nun eingetreten. Was sich heute in Libyen und Syrien abspielt, erinnert eher an Berlin 1953 und Budapest 1956, als die sozialimperialistische Sowjetmacht ihre in Jalta sanktionierten Eroberungen mit Panzern gegen die aufständische Bevölkerung verteidigen mußte, denn an die Kulturrevolutionen der 60er Jahre in Berkeley, Berlin oder Paris.


Das Weltkapital bewegt sich auf den Kulminationspunkt der Weltwirtschaftskrise zu. Krisen dieser Art scheinen sich alle 80 Jahre zu wiederholen und von den gewöhnlichen alle 8-10 Jahre stattfindenden Konjunkturkrisen darin zu unterscheiden, daß sie mit einer Krise der kapitalistischen Produktionsweise einhergehen. Rechnen wir von heute aus jeweils 80 Jahre zurück, dann mündete die erste Weltwirtschaftskrise in die Revolution von 1848 und die zweite in die präventive Konterrevolution des Nationalsozialismus. 80 Jahre später beginnt mit der sog. Finanzkrise 2007 die dritte Weltwirtschaftskrise, die sich auf ihren Höhepunkt, den drohenden Staatsbankrott der USA, der EU und schließlich der BRICS-Staaten zubewegt.


Dagegen sind die Auswirkungen der Konjunkturkrisen begrenzt. Sie wirken zwar als Verstärker latent vorhandener politischer Widersprüche, wie z.B. ‚1968‘. Weltwirtschaftskrisen gehen dagegen einher mit Welt- und Konterrevolutionen, gefolgt von einem Weltkrieg. Das Kapital hat inzwischen gelernt mit Konjunkturkrisen umzugehen, indem der bürgerliche Staat die zyklisch auftretenden Konjunkturflauten durch antizyklische Maßnahmen, bezahlt aus dem Staatshaushalt, glätten hilft und konjunkturelle ‚Überhitzungen‘ durch Zinserhöhungen der Staatsbank, an deren Tropf die Privatbanken hängen, zu vermeiden sucht. Dem liegt ein mechanistisches ‚Denkmodell‘ zugrunde, das der Elektrotechnik entlehnt zu sein scheint und das sich auf Grund der Keynesschen Analyse der Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren bisher ganz gut bewährt hat (u.a. auch weil die bürgerlichen Gewerkschaften, die so etwas wie von ‚Kapital und Arbeit‘ eingerichtete Versicherungsunternehmen gegen die absolute Verelendung
und den Klassenkampf der Arbeiterklassen darstellen, in die antizyklischen Programme des Kapitals eingebunden werden). Die tieferen Gründe, warum diese Krisen immer wieder auftreten, sind damit aber nicht erfaßt und schon gar nicht, daß sie grundsätzlich nicht beseitigt werden können, ohne daß die kapitalistische Produktionsweise aufgehoben wird. (Genau genommen liegt die Wurzel all der Krisen bereits in der Produktion der Gebrauchswerte als Waren.)


In der Weltwirtschaftskrise wird dieser elementare Widerspruch zum Hauptwiderspruch, der zwischen den Weltmächten des Kapitals in Weltkriegen und zwischen dem (Welt-)Proletariat und der (Welt-)Bourgeoisie im Klassenkampf ausgefochten wird. Beides kann durch die antizyklischen Wirtschaftsprogramme nicht verhindert werden, wie auf der anderen Seite die Kriege und Revolutionen bisher eine Eigendynamik entfaltet haben, die sich nicht schematisch in jenen 80-jährigen Krisenzyklus pressen läßt, ohne einer wie auch immer gearteten Geschichtsphilosophie auf den Leim zu gehen. Wenn die antizyklischen Bewältigungsversuche der elementaren Widersprüche, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen, nicht mehr greifen, bleibt dem Kapital als ultima ratio, um damit fertig zu werden, nur der Weltkrieg, der mit ebensolcher Folgerichtigkeit in eine Weltrevolution übergeht.

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Reaktionen (2009) »

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Django (11.01.2009):

Lieber Django,

mit Verspätung sende ich Deine freundlichen Neujahrsgrüße zurück und danke für beiliegendes Info, bei dem Du an mich und mein Projekt gedacht hast. [1] Allerdings fand ich die Lektüre etwas enttäuschend, wofür ich selbstverständlich nicht Dich verantwortlich mache. Wer die Geschichte auf die dort angegebene Weise erforscht, kann dies nicht tun, ohne sie radikal gegen den Strich zu bürsten. Diesen Eindruck habe ich aber von Kinners Aufsatz nicht gewonnen. Es ist nicht mehr die alte Parteigeschichte. Mit so was machte man sich heute nur lächerlich, aber auch nicht das, was meiner Ansicht 90 Jahre danach erforderlich ist. Irgendwie liegt dieser Aufsatz dazwischen und ist – entschuldige – daher langweilig.

Nun lese ich heute […], daß Kinner eine vierbändige Geschichte der KPD herausgebracht hat, die laut ND so ganz anders sein soll als alles Bisherige. Irgendwann werde ich mal darin blättern und hoffe, nicht genauso enttäuscht zu sein wie von seinem USPD-Aufsatz.

In der Wochenendausgabe vom 03./04.01. fand ich einen ziemlich konfusen Artikel: „Für Israel, gegen die Araber? Für die Araber, gegen Israel?“ [2] Darin wird versucht, Anti-Semitismus und Anti-Zionismus einerseits nicht gleichzusetzen, andererseits doch, ohne daß deutlich wird, welche Position eigentlich der Autor bezieht. Wir Deutsche können uns aus bekannten Gründen keinen Anti-Weiß-der-Teufel-was-auch-immer leisten, aber Herr Ahmadineschad darf das alles, aber angeblich, ohne dabei die Juden ins Meer schmeißen zu lassen, was er ohne Zweifel mit Hamas’ Hilfe und mit Freuden täte…?

Welch eine Konfusion! Da lob ich mir doch die klare Auskunft von Herrn Mamdouh Habashi in der Beilage der jW [3] von diesem Wochenende: „Es kann keine gerechte und nachhaltige Lösung mit dem Zionismus als staatsgründende Ideologie geben. Ob politisch links oder rechts, wer die Rolle des Staates Israel in den geostrategischen Plänen des Westens“ (sic! nur des „Westens“?) „und der Politik des Imperialismus des 21. Jahrhunderts übersieht oder nicht wahrhaben will, will keinen realistischen Frieden.“ Heißt „realistischer Frieden“: vor Herrn Ahmadineschads Antisemitismus und solchen Gästen wie Haider oder Lafontaine (der zumindest in den Iran mal eingeladen war) usw. zu kapitulieren? Herr Habashi wird darin von der jW auch nach der ‚Solidarität mit Israel’-Politik Gregor Gysis gefragt. Die nicht sehr freundliche Antwort solltest Du selbst nachlesen.

Aus alledem wird für mich nur erkennbar, daß sich die LINKE irgendwann zwischen den Herren Habashi und Ahmadineschad auf der einen und Frau Knobloch auf der andern Seite zu entscheiden haben wird. Eine Entscheidung, die aussieht wie zwischen Pest und Cholera. Das ND liefert dazu die entsprechende Konfusion…

Viele herzliche Grüße

Ulrich

1) Neues Deutschland, 30.12.2008. Klaus Kinner: Flügelkämpfe und Fusionen. Parteibildungsprozesse in der deutschen Arbeiterbewegung und ein unorthodoxes Erbe.

2) Neues Deutschland, 03.01.2009. Bernhard Schmid: Für Israel gegen die Araber? Für die Araber gegen die Juden? In der Haltung zum Nahost-Konflikt und zum Islam sind Europas Rechtsextremisten und -populisten uneinig. Eines ist ihnen jedoch gemeinsam: ein tief verwurzelter Rassismus.

3) Junge Welt, 10.01.2009. Die Widerständler sind die Kinder der Bevölkerung. Gespräch mit Mamdouh Habashi. Über den Widerstand der Hamas, die Friedensunfähigkeit des Staates Israel und deutsche Linke auf Abwegen.


An Django (05.05.2009)

Lieber Django,

vielen Dank für Deine E-Mail und die interessanten Texte. […] Nun also zu den Texten: ich habe mir in Verbindung damit noch mal unsere Kontroverse von damals angeschaut und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß meine damalige Einschätzung auch für die Entwicklung, die die LINKE seither genommen hat, voll und ganz zutrifft. Diese hat sich nur dahingehend weiter zugespitzt, daß die LINKE mit den ‚Globalisierungskritikern’ inzwischen vollständig zusammengewachsen ist, sodaß man zwischen dem ‚grünen’ und dem ‚linken’ New Deal so gut wie keinen Unterschied mehr erkennen kann. Ob aus diesem Verschmelzungsprozeß, den ich bisher, zugegebenermaßen einseitig, an dem linken Anspruch der daran als ‚west-deutsche’ Linke Beteiligten gemessen habe, eine neue Qualität entstanden ist, läßt sich von der Position, die die partei Marx bisher dazu eingenommen hat, nicht mehr adäquat bestimmen. Insofern war meine frühere Einschätzung zwar richtig, aber die Frage, worin diese neue Qualität besteht, läßt sich auf unserer bisherigen Diskussionsgrundlage nicht mehr hinreichend beantworten. Dieser Zug ist wohl abgefahren. Die ‚linke’ ‚Wiedervereinigung’ ist komplett; die ‚Wiedervereinigung’ der ‚Linken’ in der Partei gleichen Namens im Prinzip abgeschlossen. Einige Überlegungen dazu findest Du auf den Seiten der partei Marx, die von einer gewissen Abschiedsstimmung umweht sind [KOMMUNISMUS 3 ‚Kommunismus’ und Kommunismus in Deutschland]:

„Der von der partei Marx ursprünglich gestartete Versuch, mit der deutschen Linken über eine Alternative zu dem Weg, den sie nun gemeinsam mit den Herren Putin-Medwedjew eingeschlagen hat, ins Gespräch zu kommen, ist damit beendet. Eine Fortsetzung derartiger Debatten wird in Zukunft nur noch mit denjenigen Linken einen Sinn machen, die zumindest ihre berechtigten Zweifel an dieser Entwicklung haben, ohne sich gleich, wie z.B. die ‚Antideutschen’ oder die Bakunisten, nur in entgegensetzter Richtung, dies tun, mit einem Imperialismus gegen den konkurrierenden Imperialismus, mit einer der neu entstehenden Weltmächte (Rußland, China, dem Islamismus wahabitischer oder schiitischer Prägung) gegen die alte us-amerikanische Weltmacht (oder umgekehrt) gemein zu machen; die also mit der partei Marx im wesentlichen die Ansicht teilen, daß es an der Zeit ist, von der Opposition in der Linken zum Widerstand gegen deren linken Sozialimperialismus überzugehen.

Unter dieser Voraussetzung bleibt die Aufgabe bestehen, die theoretischen Debatten, die ursprünglich in der Linken (wenn auch ohne große Resonanz – was heute niemanden mehr verwundert) geführt werden sollten, unter den neuen Bedingungen fortzusetzen und die alte Unterscheidung zwischen den ‚Widersprüchen im Volk und den Widersprüchen zwischen uns und dem Feind’ zu reaktivieren, eine Unterscheidung die von der revisionistischen Linken immer schon gegen das ‚Volk’, wenn sich dieses ihren Ansprüchen verweigerte, gewendet wurde. Darin kommt auch unmißverständlich zum Ausdruck, daß die Differenzen, die die partei Marx (vergeblich) versucht hat, in der Linken zu debattieren, nun da sich die Linke politisch auf den Weg des Sozialimperialismus begibt, von nun an anderer Natur sind als ursprünglich angenommen.“

Ich danke Dir noch einmal recht herzlich für die textlichen Hinweise und würde mich freuen, auch in Zukunft, wenn es Dir sinnvoll erscheint, damit bedacht zu werden.

Herzliche Grüße und alles Gute

Ulrich


An Partei Marx (06.05.2009)

Lieber Ulrich

Meinen Kommentar zu diesem Brief findest Du in den Fußnoten. Leider finde ich, daß Deine Auffassungen wieder einmal nichts mit den Realitäten zu tun haben. Auch wäre es hilfreich für ein zügiges Lesen, wenn Du nicht immer so elend lange Schachtelsätze bilden würdest.

06.05.2009.
Herzliche Grüße

Django

Die Fußnoten:

[…] Nun also zu den Texten: ich habe mir in Verbindung damit noch mal unsere Kontroverse von damals angeschaut und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß meine damalige Einschätzung auch für die Entwicklung, die die LINKE seither genommen hat, voll und ganz zutrifft. Diese hat sich nur dahingehend weiter zugespitzt, daß die LINKE mit den ‚Globalisierungskritikern’ inzwischen vollständig zusammengewachsen ist, sodaß man zwischen dem ‚grünen’ und dem ‚linken’ New Deal so gut wie keinen Unterschied mehr erkennen kann. [1] Ob aus diesem Verschmelzungsprozeß, den ich bisher, zugegebenermaßen einseitig, an dem linken Anspruch [2] der daran als ‚west-deutsche’ Linke Beteiligten gemessen habe, eine neue Qualität entstanden ist, läßt sich von der Position, die die partei Marx bisher dazu eingenommen hat, nicht mehr adäquat bestimmen. Insofern war meine frühere Einschätzung zwar richtig, aber die Frage, worin diese neue Qualität besteht, läßt sich auf unserer bisherigen Diskussionsgrundlage nicht mehr hinreichend beantworten. Dieser Zug ist wohl abgefahren. Die ‚linke’ ‚Wiedervereinigung’ ist komplett; [3] die ‚Wiedervereinigung’ der ‚Linken’ in der Partei gleichen Namens im Prinzip abgeschlossen. Einige Überlegungen dazu findest Du auf den Seiten der partei Marx, die von einer gewissen Abschiedsstimmung umweht sind [KOMMUNISMUS 3 ‚Kommunismus’ und Kommunismus in Deutschland]:

„Der von der partei Marx ursprünglich gestartete Versuch, mit der deutschen Linken über eine Alternative zu dem Weg, den sie nun gemeinsam mit den Herren Putin-Medwedjew [4] eingeschlagen hat, ins Gespräch zu kommen, ist damit beendet. Eine Fortsetzung derartiger Debatten wird in Zukunft nur noch mit denjenigen Linken einen Sinn machen, die zumindest ihre berechtigten Zweifel an dieser Entwicklung haben, ohne sich gleich, wie z.B. die ‚Antideutschen’ oder die Bakunisten, nur in entgegensetzter Richtung, dies tun, mit einem Imperialismus gegen den konkurrierenden Imperialismus, mit einer der neu entstehenden Weltmächte (Rußland, China, dem Islamismus wahabitischer oder schiitischer Prägung) gegen die alte us-amerikanische Weltmacht (oder umgekehrt) gemein zu machen; die also mit der partei Marx im wesentlichen die Ansicht teilen, daß es an der Zeit ist, von der Opposition in der Linken zum Widerstand gegen deren linken Sozialimperialismus überzugehen. [5]

Unter dieser Voraussetzung bleibt die Aufgabe bestehen, die theoretischen Debatten, die ursprünglich in der Linken (wenn auch ohne große Resonanz – was heute niemanden mehr verwundert) geführt werden sollten, unter den neuen Bedingungen fortzusetzen und die alte Unterscheidung zwischen den ‚Widersprüchen im Volk und den Widersprüchen zwischen uns und dem Feind’ zu reaktivieren, eine Unterscheidung die von der revisionistischen Linken immer schon gegen das ‚Volk’, wenn sich dieses ihren Ansprüchen verweigerte, gewendet wurde. Darin kommt auch unmißverständlich zum Ausdruck, daß die Differenzen, die die partei Marx (vergeblich) versucht hat, in der Linken zu debattieren, nun da sich die Linke politisch auf den Weg des Sozialimperialismus begibt, [6] von nun an anderer Natur sind als ursprünglich angenommen.“ …

[1] Der prinzipielle und große Unterschied zwischen dem grünen und dem „linken“ New Deal besteht darin, daß DIE LINKE für eine Demokratisierung der Wirtschaft eintritt, was nur ein anderes Wort für Vergesellschaftung ist. Der grüne New Deal will nur eine technologische Reform des Kapitalismus, ohne dessen Grundlagen anzutasten.

[2] Welcher Anspruch?

[3] Die Linke in Deutschland ist sehr viel größer als DIE LINKE!

[4] Zu behaupten, daß die deutsche Linke mit Putin-Medwedjew gemeinsame Sache macht, ist völlig aus der Luft gegriffen. Für DIE LINKE trifft das allein schon deshalb nicht zu, weil sie eine konsequente Friedenspartei ist. Wo hast Du diesen Unsinn her?

[5] Ob China eine „sozialimperialistische“ Macht ist, ist noch nicht ausgemacht.

[6] Ich kenne keinen Linken, der sich auf den Weg des „Sozialimperialismus“ begibt. Für DIE LINKE trifft dies gewiß nicht zu, da sie jede Form der Herrschaft eines Staates über einen anderen prinzipiell ablehnt.


An Django (10.05.2009)

Lieber Django,

meine Sätze werden so lange verschachtelt bleiben, wie die Realität sich mir so verschachtelt darstellt. Aber ich verspreche Dir, daß sich beides in absehbarer Zeit ändern wird. Im übrigen wäre es hilfreich gewesen, wenn Du den ganzen Aufsatz gelesen hättest, aus dem in meinem Brief zitiert wird.

Nun zu Deinen Fußnoten:

Zu meiner These, daß „man zwischen dem ‚grünen’ und dem ‚linken’ New Deal so gut wie keinen Unterschied mehr erkennen kann“, Deine Fußnote 1), daß der Unterschied zwischen beidem darin bestehe, „daß DIE LINKE für eine Demokratisierung der Wirtschaft eintritt, was nur ein anderes Wort für Vergesellschaftung ist“, während der grüne New Deal „eine technologische Reform des Kapitalismus (will), ohne dessen Grundlage anzutasten“.

Welche Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise wären denn das, die durch eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ angetastet würden, die nicht bereits von der vor- oder post-Godesberger Sozialdemokratie im Sinne der großen Kapitale ‚demokratisiert’ wurden?

Oder wollt Ihr die Mehrwertproduktion „antasten“? Denn durch eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ tastet Ihr bestenfalls die Herrschaft des einen Chefs an und ersetzt diese durch die Herrschaft eines anderen (meinetwegen eines kollektiven) Chefs, ohne die Macht des Kapitals im geringsten „an(zu)tasten“. Oder wollt ihr gar die Herrschaft der Bourgeoisie „antasten“ und diese durch eine Diktatur des Proletariats im Sinne der Pariser Kommune ersetzen? Durch die Diktatur welchen Proletariats, bitte sehr? Du warst es doch immer, der mir genau diese Frage gestellt hat!

In Wahrheit wollt Ihr der ‚alten’ Bourgeoisie nur verstärkt auf die Sprünge helfen und sie dazu nötigen, mit Euch die Macht und den Reichtum des Kapitals zu teilen und dazu, ihrerseits vielleicht irgendwann ganz darauf zu verzichten, sollten vielleicht einmal wieder irgendwelche Panzer vor der Haustür stehen! Denn ich habe durch die Lektüre Eurer Parteipresse arge Zweifel, ob Ihr dem panzergetriebenen Sozialismus-Export der nahen Vergangenheit wirklich ehrlichen Herzens Adieu gesagt habt? Sonst hättet Ihr nicht schon den russischen Panzern in Georgien solch großen Respekt bezeugt. Aber dazu weiter unten!

Zu dem oben angesprochenen Unterschied heißt es in kontrovers 01/2009, 13: „Eine Umwälzung der gesamten Produktionsstruktur, der Praxis und Kultur des Konsumismus, der Ökonomie der Autogesellschaft, der Struktur unserer Städte und unseres gesellschaftlichen Verhältnisses zur Natur, ohne die kapitalistische Produktionsweise als solche anzutasten [!], reproduziert jedoch zugleich deren Widersprüche.“ [1] Daraus ließe sich vielleicht noch eine Distanzierung zu den ‚Globalisierungskritikern’ und den GRÜNEN ablesen, die Du z.B. auf den Seiten der partei Marx hättest nachlesen können. Eine solche wird aber im nächsten Satz taktisch wieder zurückgenommen, was erneut bezeugt, daß der ‚Anti-Kapitalismus’ der LINKEN theoretisch vollkommen bodenlos und politisch daher kaum weniger demagogisch als derjenige der Neo-Nazis ist: „Insofern der Public und der Green New Deal aber Grundprobleme der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise aufgreifen [!] und die Strukturen der Reproduktion zu verändern sucht, bieten sie deutliche Ansatzpunkte für eine transformatorische Politik, die über den Kapitalismus hinausweist und können zu einem Hauptfeld für eine solidarische Gesellschaft werden.“ [2]

Worüber diese „Ansatzpunkte …hinausweisen“, das ist in meinen Augen in letzter Konsequenz ein linker Öko-Faschismus, den sich die hard working people in ihrer Mehrzahl gewißlich nicht gefallen und sie die GRÜNEN daher fallen lassen werden! Wie stark DIE LINKE im übrigen mit unseren grünen Ökofaschisten an einem Strang zieht, zeigt sich im Schlußwort des o.g. Papers, 22: „Es ist an der Zeit, nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Europa und weltweit die Perspektive der Transformation, die über den Kapitalismus hinausweist [!], das Ziel einer solidarischen Gesellschaft auf die Tagesordnung zu setzen. … Auf die proklamierte Rückkehr [?] zu einer gescheiterten ‚sozialen’ Marktwirtschaft sollte die Linke mit der Forderung nach dem Vorwärts zu einer solidarischen Gesellschaft mit einer sozial und ökologisch regulierten Mischwirtschaft [hier mischen sich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch zwei Parteiprogramme!] mit starken öffentlichen, gemeinwirtschaftlichen Sektoren, als Schritt im Zuge eines sozialökologischen Umbaus antworten.“

Oder worin siehst Du bei der „sozial und ökologisch regulierten Mischwirtschaft … im Zuge eines sozialökologischen Umbaus“ einen Unterschied zum Green New Deal? Es gibt so gut wie keinen! Außerdem eine große Gemeinsamkeit: sich als Steuerverteilungspartei in Szene zu setzen zur Schaffung von Jobs, die dann von beiden Parteien schiedlich friedlich unter ihrer Klientel in Umkehrung der Parole verteilt werden: ‚Wir sind das Volk’! Frau Roth verteilt 1 Million Jobs, Herr Gysi 2 Millionen. Das ist der einzige Unterschied. Eigentlich ziemlich lächerlich das ganze, aber gerade deshalb um so gefährlicher…

Fußnote 2): Du fragst: „Welcher Anspruch?“ [3] Gemeint ist der Anspruch, mit dem die revolutionäre Linke von 1967 mit ihrer Politik an der Oktoberrevolution anzuknüpfen versuchte. Aber vergiß diesen Anspruch!

Um darüber ernsthaft zu diskutieren, müßte dieser von beiden Seiten ernstgenommen werden. Dafür kann ich in Deiner Partei keine ernstzunehmenden Anzeichen (woran auch ein paar Alibi-Aufsätze/Veranstaltungen nichts ändern) entdecken.

Deine Fußnote 3) zu dem Satz: „Die ‚linke’ ‚Wiedervereinigung’ ist komplett, die ‚Wiedervereinigung’ der ‚Linken’ in der Partei gleichen Namens im Prinzip abgeschlossen“, lautet: „Die Linke in Deutschland ist sehr viel größer als DIE LINKE“.

Mag sein! Es handelt sich hier aber nicht um ein mengentheoretisches Problem. Es geht darum, ob die übrige Linke sich noch wesentlich von der LINKEn politisch unterscheidet? Das wage ich stark zu bezweifeln. Sie, d.h. die „Linke in Deutschland“, sind Kinder ein und derselben Konterrevolution gegen den Kommunismus geblieben, weil sie deren fragwürdige Errungenschaften als Linke nie ernsthaft in Frage gestellt hat. Es gibt nur einen Unterschied zwischen den GRÜNEN und der LINKEN: jene haben sich und die große Kulturrevolution von 1967 an die Bourgeoisie verkauft, anstatt sie in die Arbeiterklasse zu tragen; die LINKE hat dies nicht nötig, weil ihr Besatzungsmacht-Sozialismus schon von vornherein verraten und verkauft war. Aber, um in der Mehrheitsgesellschaft überhaupt ein Bein auf die Erde zu bekommen, stellt sie sich als Vollstrecker einer Kontinuität dar, die in der Realität längst zerbrochen ist. Was bei den Grünen ein übler Scherz war, ist bei der LINKEn eine billige Farce.

Zu Deiner Fußnote 4), d.h. zum gemeinsamen Weg, den die deutsche Linke mit den Herren Putin-Medwedjew einzuschlagen gedenkt, bietet sich der Aufsatz von Roy und Zhores Medwedjew im ND von diesem Wochenende (09./10.05.) über die Frage an: „Wer sitzt vorn auf dem russischen Tandem?“ [4] Diese reine Kreml-Hofberichterstattung, die an prominenter Stelle unkommentiert im ND erscheint, würde ich durch die These zusammenfassen: Die Wirtschaftskrise kam aus dem Westen („Die Krise kam schließlich aus dem Westen“) – deren Heil-ung kommt von Herrn Putin (Ex oriente lux: „Im Bewußtsein der Mehrheit in Rußland ist Putin der nationale Führer“.).

Mit Artikeln wie diesem wird deutlich, daß DIE LINKE allem Anschein nach ein roll-back der im Staatsbankrott untergegangenen SU + DDR vorhat nach dem Motto: Ihr habt uns 1989 unseren Staatsbankrott abgewickelt – reden wir jetzt über euren Staatsbankrott im Jahre 2010 + x! Ihr habt uns 1989 aus dem politischen Geschäft gedrängt – jetzt machen wir dasselbe mit euch!

Hoffentlich vertut sich Deine Partei nicht mit dieser Retourkutsche! Die Deutschen mögen, glaubt man nicht nur der BILD-Zeitung, politisch ziemlich dumm sein, aber sie haben ein Elefantengedächtnis!

Roy Medwedjew, der ein hervorragendes Buch über die Oktoberrevolution geschrieben hat (Das Urteil der Geschichte), macht sich mit diesem Aufsatz zum erbärmlichen Hofnarren Putins. Dieser Wandlungsprozeß der linken russischen Intelligenz ist mehr als erschreckend. Andererseits zeigen sich die Trotzkisten wieder einmal von ihrer Schokoladenseite…

Fußnote 5): „Ob China eine ‚sozialimperialistische’ Macht ist, ist noch nicht ausgemacht“.
Ausgemacht ist zumindest, daß China eines der wenigen Länder ist, in dem eine KP die alleinige Herrschaft ausübt, deren Sozialimperialismus sich zunächst nur gegen die nationalen Minderheiten in den sog. Randgebieten richtet. In der Tat hat die KPCh noch keinen klaren Schwenk zu einer sozialimperialistischen Weltmacht vollzogen. Das wäre erst mit der Realisierung einer entsprechenden Flottenbaupolitik (Flugzeugträger) der Fall. Erst dann befände es sich auf dem Stand der (post-)
stalinschen SU der 50er und 60er Jahre. Aber das ist eine Frage der Zeit. Und gemessen daran ist die Unterdrückung der nationalen Minderheiten ‚nur’ erst Symptom eines zu erwartenden offenen nach Weltherrschaft strebenden Sozialimperialismus.

Allerdings kümmert das Blätter wie jW oder uz herzlich wenig, die die Tibet-Politik der VR China offen rechtfertigen (Denen ist daher reichlich schnuppe, daß es eigentlich in jeder Nation Sache der unterdrückten Klassen ist, ihre Sklavenhalterklasse eigenhändig stürzen zu dürfen – auch die der tibetischen; durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen wird statt dessen der Nimbus der reaktionären Klassen dieser Nation gerade erst gestärkt. Was wohl auch beabsichtigt ist, um schließlich eine solche Nation qua Nation auszulöschen. Kannst Du alles bei Lenin nachlesen…)

Fußnote 6): Entgegen der Behauptung der partei Marx kennst Du „keinen Linken, der sich auf den Weg des ‚Sozialimperialismus’ begibt“. Dazu sei nach Deinen Worten schon gar nicht DIE LINKE zu zählen, „da sie jede Form der Herrschaft eines Staates über einen anderen prinzipiell ablehnt!“

Am 21./22.03.2009 veröffentlicht das ND auf der Themen-Seite „Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien“ unter der Überschrift: „Es geschah in unserem Namen“, einen Artikel von Hans Wallow, der die Völkermord-These der damaligen rot-grünen Regierung zu widerlegen sucht. [5] Es handelt sich um einen jener Argumentationsversuche, die zeigen sollen, daß die Fluchtbewegung der kosovarischen Bevölkerung erst durch die Nato-Bombardements und nicht bereits von den Mörderbanden der im Staatsauftrag extra-legal operierenden Tschetnik-Verbände ausgelöst wurde; d.h. daß, wie in der sozialimperialistischen Propaganda üblich, Ursachen und Wirkungen schlicht auf den Kopf gestellt werden, um sich eine passende Argumentation zurechtzulegen. Wallow ist nicht der erste, der die gesamte Vorgeschichte des durch den linken Ultranationalisten Milosevic in gang gesetzten Eroberungskrieges im ehemaligen Jugoslawien ausklammert, aus der Geschichte streicht und die Vertreibungen der Zivilbevölkerung erst mit den Bombardements der Nato beginnen läßt (die sich im übrigen nicht gegen das Kosovo, sondern hauptsächlich gegen die Macht-Zentren des Milosevic-Regimes richteten). Es ist die klassische Methode der Darstellung des Täters als bedauernswertes Opfer. In Wahrheit stellten diese Aktionen der Nato eigentlich nur das letzte Kapitel einer von ‚westlicher’ Seite halbherzigen und verfehlten Politik dar (Dayton-Abkommen), die bis zum letzten Geht-nicht-mehr gemeinsam mit den Völkermördern über die Leichen massakrierter Nicht-Serben zu gehen bereit war, um den aufgestauten Nationalismus sich ‚ausbluten’ zu lassen (so die beeindruckende Formulierung des Sozialdemokraten Egon Bahr in einem Rundfunkinterview aus jener Zeit, das mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist).

Den linken Sozialimperialismus mache ich folglich daran fest, daß die Linke nicht beide Seiten der Medaille analysiert, sondern auch in diesem Fall den östlichen Sozialchauvinismus des Groß-Serbentums in seiner Konfrontation mit der us-amerikanischen Supermacht ‚antiimperialistisch’ und ‚antifaschistisch’ exkulpiert. Halbwahrheiten und die Vertauschung von Ursache und Wirkung sind – lange geübt – zwei wichtige Momente sozialimperialistischer Propaganda und Politik, d.h. den Imperialismus ausschließlich von der Position des ihm feindlichen Imperialismus zu bekämpfen und dabei dessen reaktionären Charakter zu ignorieren. Eben das ist per definitionem linker Sozialimperialismus von den ‚Anti-Deutschen’ bis zur ‚Jungen Welt’.

Ein letztes Beispiel: in der Ausgabe des ND vom 09./10.08.2008 analysiert Jürgen Elsässer, altgedienter ‚Antideutscher’ aus seiner Zeit bei konkret, den Georgien-Krieg und rechtfertigt die Sezessionsversuche der Abchasen und Südosseten mit der Abspaltung des Kosovo von Serbien durch den ‚Westen’, d.h. den einen Völkerrechtsbruch durch einen anderen. [6] (Nicht anders sind übrigens Stalin und Hitler bei der Aufteilung Polens und des Baltikum 1939 argumentativ vorgegangen). Die Abspaltung beider völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Landesteile begründet d.A. mit dem sozialchauvinistischen Argument: „Abchasen und Südosseten wird die Eigenstaatlichkeit nur deswegen vom Westen abgesprochen, weil sie – anders als die Albaner – Anlehnung an Rußland und nicht an die USA suchen“. Entsprechend diesem Schema ist es nach Elsässer in Georgien nur deshalb zum Krieg gekommen, weil die Anrainerstaaten des kaspischen Meeres „ihr Gas nämlich lieber an die russische Konkurrenz als an die BP (verkaufen) und die russischen Pipelines nach Westeuropa sicherer sind als die Tanker ab Ceyhan“. Auf die Idee, daß hinter dem russischen Stamokap vergleichbare imperialistische Interessen stecken könnten wie hinter den Geschäftsideen der ‚westlichen Imperialisten’, kommt unser Ex-Anti-Deutscher erst gar nicht. Mal ganz abgesehen davon, daß Südossetien und Abchasien völkerrechtlich ebenso ein Teil Georgiens sind, wie das Kosovo unbestritten zu Serbien gehört. Man legt sich die politische Karte Europas so zurecht, wie sie einem gerade in den linken Kram paßt. Hauptsache Rußland erscheint immer als das arme Opfer ‚westlicher’ Aggressionslust. „Vor diesem Hintergrund ist es für die West-Multis zwingend, die ökonomisch so erfolgreichen Russen mit militärischer Gewalt vom Kaspischen Meer abzudrängen.“ Aber, beruhigt d.A. seine Leser, alles halb so schlimm: „Russische Einheiten haben die Grenze überschritten und bieten dem Angreifer Paroli“, ohne daß er auch nur auf den Gedanken käme zu fragen, was die russischen Panzer dort eigentlichen verloren hatten? Denn eines war für ihn schon von vornherein klar: „Die Schuld für diese Eskalation liegt übrigens bei Saakaschwili“. Die russische Armee hat nur dem Recht wieder einmal zum Durchbruch verholfen.

Wie willst Du angesichts dessen als jemand, der angeblich „jede Form der Herrschaft eines Staates über einen anderen prinzipiell ablehnt!“, die Frage beantworten, was die russischen Truppen eigentlich über einen halben Monat lang in Gori verloren hatten? Zweifellos hat Herr Saakaschwili einen völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Landstrich mit nicht zu akzeptierenden und völlig fragwürdigen Mitteln (woran heute kaum noch ein politisch ernstzunehmender Georgier zweifelt) gewaltsam zurückerobern wollen. Er hat aber im Gegensatz zu Rußland keine fremde, sondern einen Teil der von Separatisten abgetrennten eigenen Nation überfallen, deren Grenzziehung ironischerweise von Stalin höchst persönlich nach dem Muster der Grenzziehungen in den britischen Kolonien vollzogen wurde, um den Status Georgiens als großrussische Satrapie zu festigen (divide et impera!). Dieser feine, aber entscheidende Unterschied spielt, wollten wir Deinem o.g. Prinzip treu bleiben, für linke Sozialimperialisten keine Rolle.

Deren Auffassungen finden an exponierter Stelle in Deinem Parteiorgan Aufnahme. Nicht zu reden von der jW oder der uz, wo das ganze noch einen sozialimperialistischen Dreh härter mit entsprechend klarer russophiler Schlagseite vertreten wird. Aber inzwischen seid Ihr, wie der Artikel der Brüder Medwedjew zeigt, ja dabei, auch diesen Vorsprung aufzuholen.

Soviel zu Deinen Fußnoten.

Viele Grüße

Ulrich

1) www.rosalux.de kontrovers. Beiträge zur politischen Bildung 01/2009: Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus – Herausforderung für die Linke (Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung März 2009).

2) Ebenda.

3) Oben, An Django, hieß es: „Ob aus diesem Verschmelzungsprozeß, den ich bisher, zugegebenermaßen einseitig, an dem linken Anspruch der daran als ‚west-deutsche’ Linke Beteiligten gemessen habe, eine neue Qualität entstanden ist, läßt sich von der Position, die die partei Marx bisher dazu eingenommen hat, nicht mehr adäquat bestimmen.“

4) Neues Deutschland, 09.05.2009. Roy und Zhores Medwedjew: Wer sitzt vorn auf dem russischen Tandem? Auch ein Jahr nach seiner Einführung ins Präsidentenamt ist Dmitri Mewedjew noch ‚Schüler und Kampfgefährte’ seines Vorgängers und Premiers Wladimir Putin.

5) Neues Deutschland, 21.03.2009. Hans Wallow: Es geschah in unserem Namen. Vor zehn Jahren zog Deutschland erstmals nach 1945 wieder in einen Angriffskrieg.

6) Neues Deutschland, 09.08.2008. Jürgen Elsässer: Krieg ums kaspische Öl. Die georgische Pipeline von British Petroleom ist ein Flop. Gazprom eröffnet eine Röhre nach der anderen. Mit Krieg soll der russische Vorsprung eliminiert werden.


An Partei Marx (13.05.2009)

Guten Tag Ulrich

Deine Bemerkungen sind derart krank und perfide, daß ich hiermit jeden Kontakt zu Dir abbreche. Falls es noch Texte von mir auf irgendeiner Website von Dir geben sollte, fordere ich Dich hiermit auf, diese unverzüglich zu entfernen.

[Im Anhang zu dieser Mail befindet sich „…eine Antwort auf Bemerkungen von EUK vom 10.05.2009, die ich mit Mail vom 12.05.2009, 13:28 erhalten habe“]:

1.        VERGESELLSCHAFTUNG

Vergesellschaftung (per Reformen) bedeutet, daß die Gesellschaft (schrittweise) über die Produktionsmittel verfügt. Dabei ist die Verfügung nicht allein an Eigentumstitel gebunden, sondern kann auch durch Gesetz geregelt werden – wodurch die sozialen und ökologischen Interessen der Mehrheit ins Spiel kommen. Konkrete Subjekte und Formen der Verfügung sind z.B. Belegschaften, Genossenschaften, kommunale Vertreter, Vertreter des Konsumenten etc. Damit wäre die Herrschaft des Kapitals über die Wirtschaft aufgehoben. Dazu bedarf es Mehrheiten bei Wahlen und in der Gesellschaft (vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Lernprozesses). Damit wäre die Vorherrschaft des Kapitals über die Gesellschaft aufgehoben. Insgesamt handelt es sich um einen langen historischen Prozeß. Eine Diktatur welcher Art auch immer lehnt DIE LINKE ab. Bereits die SED-PDS hat auf ihrem Außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 unwiderruflich mit dem Stalinismus als System gebrochen.

2.        MEHRWERTPRODUKTION

Mehrwertproduktion ist unabdingbar. Es kommt vielmehr auf die Verwendung des Mehrwerts an – durch wen und für wen.

3.        PANZER UND (GEORGIEN)-KRIEG

DIE LINKE lehnt Krieg als Mittel der Politik prinzipiell ab. Dies ist jedem bekannt, der sich auch nur ein wenig mit der Politik der DIE LINKE auskennt. Daß DIE LINKE den russischen Panzern großen Respekt bezeugt hätte, ist durch nichts zu belegen. Es handelt sich vielmehr um eine perfide Unterstellung Deinerseits, die ich Dir persönlich übelnehme. Perfide deshalb, weil Du dies behauptest, obwohl es nur einer geringen Mühe bedurft hätte, um die entsprechenden authentischen Stellen zu diesem Thema zu finden (Google: siehe hierzu Anlagen). Daß Du nicht einmal diese Recherchen für nötig befunden hast, sagt mir, daß diese Unterstellungen in bösartiger Absicht geschehen sind.

4.        ANSATZPUNKTE

Der Green New Deal bietet insofern Ansatzpunkte, als er tatsächlich die Umweltkrise thematisiert und richtige Konzepte für ihre Bearbeitung vorlegt, z.B. Ausstieg aus der Energieproduktion aus Atom, Kohle, Öl und Erdgas durch deren Umstellung auf Sonne, Wind etc. Das kann ein Dogmatiker natürlich nicht verstehen, weil ja nur er DAS Grundproblem bzw. den einzig wahren Weg zum Sozialismus kennt: Die Diktatur der Bourgeoisie bzw. die Diktatur des Proletariats. Hier von Öko-Faschismus zu schreiben, ist nur noch krank!!! Eine Begründung ersparst Du Dir denn auch. Diese wäre dann auch doch selbst für Deine Verhältnisse zu irre ausgefallen.

Es besteht hier also logischerweise insofern kein Unterschied, als es schlicht richtig ist, von z.B. den fossilen Energieträger wegzukommen und es sich im übrigen bei der Umweltkrise um eine Existenzfrage der Menschheit überhaupt handelt, es also insofern absolut notwendig ist, diese zu lösen, um überhaupt noch von irgendeiner menschenwürdigen zukünftigen Gesellschaft sinnvoll reden zu können. Ohne die Lösung der Umweltkrise kann es keine sozialistische Gesellschaft geben.

1) Bei dieser Gelegenheit erinnere ich mich auch daran, daß Du seinerzeit anläßlich meiner Kritik an DEINEN „marxistischen“ Positionen schlankweg auf die Klassiker verwiesen hast, so als hättest Du eigentlich gar nichts damit zu tun bzw. trügen Marx und Engels die Verantwortung für DEINE Auffassungen.


An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt (12.05.2003)

Hallo Buchladenkollektiv,

leider finde ich erst jetzt Zeit, auf die mir zugesandte reichhaltige Materialsammlung zu reagieren und mich dafür zu bedanken. Ich hatte es ja auf die Ausgabe von Gegen die Strömung mit den „Überzeugende(n) Argumente(n) für den Kommunismus“ abgesehen. Da Ihr auf eine inhaltliche Debatte Wert legt, möchte ich dazu einige Anmerkungen machen und werde dabei Euer Flugblatt 4/03 („Stalin in Deutschland verteidigen“) mit einbeziehen. [1]

Die Überzeugungskraft Eurer Argumente für den Kommunismus wird dadurch geschmälert, daß sie sich auf dem Stand von 1927 bewegen und mir auf diesem Erkenntnisniveau des weltrevolutionären Klassenkampfes als äußerst fragwürdig erscheinen. 1927 befindet sich die Auseinandersetzung Stalins mit der „Vereinigten Opposition“ auf ihrem Höhepunkt, während sich der Bruch mit Bucharin wenig später andeutet und damit der Ausgangspunkt für die Vernichtung der russischen Bauern(gemeinde), all das kulminierend in dem durch den Kirow-Mord ausgelösten Putsch Stalins gegen ZK und Politbüro… Ich will damit sagen: Eure mit bestimmten aktuellen Alltagserfahrungen angereicherten allgemeinen Wahrheiten über den Kommunismus (Stand 1927) sind in [den] Augen der interessierten Öffentlichkeit nicht viel wert, solange in ihnen nicht die (theoretisch zu erarbeitenden) historischen Erfahrungen nicht nur der (sehr kurzen) revolutionären Epoche seit 1917, sondern auch der ihr folgenden (verhältnismäßig langen) konterrevolutionären Epoche verarbeitet sind. Dazu leistet Ihr in den aus diesem Grund völlig abstrakt bleibenden „Argumente(n) für den Kommunismus“ keinen Beitrag und von daher bleibt ihre erhoffte Überzeugungskraft leider ein frommer Wunsch. Und wenn Ihr, wie in dem angesprochenen Flugblatt, konkret werdet, sind Eure Argumente sachlich nicht haltbar:

1.  Nicht Stalin hat „Hitler das Genick gebrochen“, [2] sondern die Völker der Sowjetunion haben das vollbracht. Stalin hat zunächst alles getan, um mit Hitler eine Verständigung über die ‚friedliche’ Aufteilung Europas zu erreichen, beginnend mit dem sozialimperialistischen Überfall auf Finnland, wo er sich eine blutige Nase holte. Als er dann seinen Job als Oberster Befehlshaber ausüben sollte, war er mehrere Tage nach Hitlers Überfall nicht zu sprechen. Zweifellos hatte er sich in seinem sozialimperialistischen Kalkül total verrechnet, was die Vernichtung fast der gesamten Luftwaffe und mehrerer Divisionen der Roten Armee bedeutete. ‚Heldenhaft‘ hatte er zuvor die gesamte Leninsche Garde und die fähigsten Kader der Roten Armee ins GULag geschickt oder gleich per Genickschuß liquidiert; nun waren wirkliche Helden gefragt, zu denen Stalin nun einmal nicht zählt. Daß er „Hitler das Genick gebrochen“ haben soll, hat dieselbe operettenhafte Bedeutung wie Bushs Landung im vollen Pilotendress auf einem Flugzeugträger im Arabischen Golf.

2.  ist das „Potsdamer Abkommen“ kein Abkommen, sondern nur ein paper on understanding, die geforderte Einhaltung dieses Nicht-Vertrages daher ein Märchen aus Ulbrichts Propagandamaschine. Das „Demokratische“ an diesem „Dokument“ besteht darin, daß es Stalin zu einer Durchdringung auch des westlichen Teils Europas verhelfen sollte, die ihm mit Hilfe von Armee und Geheimdienst im östlichen Teil gelungen war, wo er cool seine Leute in die entscheidenden Positionen der antifaschistischen Bewegungen manövriert hatte (‚bestes‘ Beispiel: die vollständige Liquidierung der polnischen KP und die Auswechslung ihrer Führer durch Moskauer Exilpolen – nur in Jugoslawien bekam Stalin mit den nicht weniger brutalen und ausgekochten Tito-Anhängern ernsthafte Schwierigkeiten).

3.  Sein Werk sollten alle zukünftigen Kommunisten in der Tat sehr sorgfältig und vor allem kritisch studieren, um die Entstehung des Stalinschen Sozialimperialismus (den er in seinen Grundzügen als Volkskommissar für die Nationalitäten bereits voll entwickelt hat) an der Quelle kennenzulernen. Es gibt zwar eine ganze Bibliothek von nicht-kommunistischen Stalin-Kritiken, die wegen der darin mitgeteilten erforschten historischen Tatsachen einen gewissen Wert haben, aber eine kommunistische Stalin-Kritik kenne ich nicht, jedenfalls keine, die über die aus politischer Rücksichtnahme eingeschränkte Kritik Maos hinausgeht. Aber nicht einmal diese relativ beschränkte 70-30-Einschätzung scheint Ihr zu teilen. Schade! Dabei wäre eine unter Kommunisten geführte Auseinandersetzung über Stalin -zig Mal wertvoller als die ganze Bibliotheken füllende ‚Stalinismus‘-Kritik…

Eure Schlußfolgerungen hinsichtlich Stalins kann ich aus den genannten Gründen nicht teilen. Es ist vom heutigen Standpunkt relativ belanglos, ob die Stalin-Schüler, angefangen mit Chruschtschow, sein ‚Werk‘ fortgesetzt oder damit gebrochen haben, solange sie nicht mit seinem Sozialimperialismus gebrochen haben. Der große Mao hat uns mit seiner, wenn auch kritischen, Stalin-Verehrung auf eine falsche Fährte gesetzt; aber wir sollen ja nach seiner eigenen [d.h. Maos] Auskunft nicht von seinen [d.h. Stalins] Fehlern, sondern seinen Vorzügen lernen, und die waren, [was Mao betrifft] trotz seiner Verehrung für Stalin, doch beträchtlich, allein schon deshalb, weil Mao ein Schüler Lenins geblieben war, was man von Stalin, soweit wir die von ihm unterschlagenen Tatsachen aus Lenins Testament kennen, nicht sagen kann.

Damit will ich meine Anregungen erst einmal unterbrechen. Ergänzend verweise ich auf die Home Page „parteimarx.org“, auf der einige Arbeitsergebnisse zu dem Thema mitgeteilt werden.

Ernst-Ulrich Knaudt

1) Gegen die Strömung 4/03, April 2003: 5. März 1953: Vor 50 Jahren starb Genosse Stalin. Stalin in Deutschland verteidigen!

2) Ebenda. Der Name Stalins ist untrennbar verbunden mit dem Kampf der vom Nazifaschismus unterdrückten Völker Europas und der Sowjetunion. „Stalin wird Hitler das Genick brechen“, soll der von den Nazis eingekerkerte Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann knapp und treffend den Nazi-Henkern entgegengeschleudert haben!


An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt (21.03.2008)

Hallo Buchladenkollektiv,

…Eure Stellungnahme [zur Oktoberrevolution] leidet darunter, daß sie hauptsächlich eine Zusammenfassung der von Euch herausgegebenen und zu Stalins Lebzeiten erschienenen beiden Bände zur Russischen Revolution enthält. [1] Ich habe Euch zur Erinnerung meinen Brief aus 2003 beigelegt [s.o.], aus dem hervorgeht, daß eine aktuelle Einschätzung der Oktoberrevolution nicht ohne die Berücksichtigung der Stalinschen Konterrevolution heute noch irgendeinen Sinn macht, in der also die ganze Geschichte gegen den Strich gebürstet werden muß. Beides gehört prinzipiell zusammen; alles andere wäre reine Archivpflege (die ich, soweit sie von Euch betrieben wird, für durchaus verdienstvoll halte; diese Einschätzung hege ich allerdings auch gegenüber bürgerlichen Historikern, die sich bei ihrer Forschung erkennbar an die historischen Fakten halten. Mehr kann man [von ihnen] nicht verlangen).

Im Gegensatz dazu fand ich Euren Streikbericht vom November/Dezember [2007] äußerst erfrischend, vergleicht man ihn mit entsprechenden Verlautbarungen und Analysen in der uz oder in der jW. [2] Es trifft zwar auch in diesem Fall zu, was ich 2003 geschrieben habe, daß Ihr irgendwo im Jahre 1927 (in diesem Fall bei Ulbrichts Gewerkschaftslinie) stehengeblieben seid, aber Eure Einschätzungen fassen die Konfliktlage präziser zusammen als ich es woanders gelesen habe. Ihr laßt Euch auch nicht davon abschrecken, daß die GDL der CDU nähersteht als der SPD, und daß diese Gewerkschaft mit privaten Unternehmen Verträge unter dem DGB-Niveau abgeschlossen hat. „Die Realität ist aber nun eben so: Streiks beginnen nicht als Generalstreiks…“, wie es Herr Lafontaine gerne sähe. Allerdings hätte Eurer Einschätzung durchaus ein wenig ‚mehr’ Dialektik nicht geschadet: womit z.B. die uz nicht fertig geworden ist, war die Beantwortung der Frage, warum die Unternehmerverbände ein derart elementares Interesse an der Tarifautonomie bekundet haben, und warum das Bundesarbeitsgericht die Koalitionsfreiheit schließlich verteidigen mußte? Das lag bestimmt nicht an ihrem Wunsch, daß sich die Arbeiter für den politischen Klassenkampf als Klasse assoziieren mögen. An dieser Möglichkeit sind auch die DGB-Gewerkschaften trotz vollmundiger Erklärungen in dieser Richtung nicht wirklich interessiert, wobei deren Doppel-Charakter durch deren klassische Charakterisierung als „reaktionärer bürokratischer Apparat“, wenn überhaupt, dann nur sehr oberflächlich und wenig originell erfaßt ist. Zwar bemühen sich diese, wie das Kapital auf der Gegenseite, naturgemäß zwecks Herausbildung einer möglichst geschlossenen Verhandlungsposition um die organisatorische Erfassung der Arbeiter in einer möglichst großen Brancheneinheit − die Herstellung der branchenbezogenen Klassensolidarität ist also minimale Voraussetzung, daß die DGB-Gewerkschaften überhaupt als Organisationen fortexistieren können −, aber auf der anderen Seite gleichen sie eher Versicherungsgesellschaften, die zwischen dem Maximum an Versicherungsbeiträgen der einzelnen Mitglieder und den kalkulierbaren Risiken für das Eintreten der Schadensfälle (in diesem Falle von Streiks) in ihrer Summe ein überschaubares und rationales Verhältnis herstellen müssen, damit sich von den Versicherungsnehmern [und ihren Beiträgen] einträglich leben läßt. (Daß die Gewerkschaften dabei im Sinne ihrer Arbeitsgemeinschaft mit der Bourgeoisie – in Österreich haben die Gewerkschaften mit den Mitgliedsbeiträgen auf den Bahamas spekuliert und den Zusammenbruch der Gewerkschaftsbank herbeigeführt – inzwischen selbst zur Bourgeoisie gehören und daher mit einer gewissen Zwangsläufigkeit gegen die historischen Interessen der Arbeiterklassen ihrer Länder handeln müssen und wollen, ist altbekannt).

Hier nun erweist sich erneut das Jahr 1927 als störend; denn inzwischen haben sich die deutschen Gewerkschaften weitestgehend amerikanisiert, d.h. sie tendieren zunehmend zu profitablen Dienstleistern im nationalen Klassenkampf zur Erkämpfung von dem durchschnittlichen Lebensstandard entsprechenden Minimallöhnen (siehe: Lohn – Preis – Profit). [3] Gerade deshalb hatte auch die uz zunächst einige Mühe, anläßlich der Lokomotivführerstreiks diese unterschiedlichen Interessenlagen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verknüpfung auf die Reihe zu kriegen und deshalb haben sie anfangs auf der GDL als ‚Spalter’ der vermeintlichen Klasseneinheit (im DGB-Sinne) herumgeprügelt. [4] Das war wohl an der Basis so schlecht angekommen, sodaß sie sich dann zurückgenommen hat, ohne allerdings ihre notorisch einseitige Abhängigkeit von den DGB-Gewerkschaften generell in Frage zu stellen (über deren politische Gründe zu philosophieren erspare ich mir an dieser Stelle.)

Eine realistische Einschätzung der von mir angedeuteten Interessenlage in diesem Streik findet sich woanders kaum, bei Euch zumindest (im Rahmen dessen, was die Linke in dieser Beziehung überhaupt noch zustande bringt) in einigen positiven Ansätzen, die in Zukunft vielleicht auch dadurch gewinnen würden, wenn Ihr Euren Sprachstil etwas nüchterner gestaltet. Aber das ist letztlich auch eine inhaltliche Frage.

Soweit meine Eindrücke und Kritiken zu den „politischen Stellungnahmen“ der „HerausgeberInnen“ Eurer Zeitung. Ich hoffe, Euch auch diesmal eine Freude gemacht zu haben und gleichfalls, daß Ihr mir im Gegensatz zum letzten Mal wenigstens mitteilen werdet, ob meine Stellungnahme bei Euch eingetroffen ist und verbleibe bis dahin mit revolutionären Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt

1) Gegen die Strömung 9-10/07: 90 Jahre Sieg der sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland. Der siegreiche bewaffnete Aufstand des Proletariats gegen die Bourgeoisie.

2) Gegen die Strömung 11-12/07: Erfahrungen des Streiks der Lokführer und Lokführerinnen und des anderen Fahrpersonals der Bahn: Die Tricks und Drecksargumente gegen die berechtigten Kämpfe der Werktätigen bei der Bahn entlarven.

3) Karl Marx: Lohn, Preis, Profit MEW 16 (103-152).

4) unsere zeit 24.08.2007. Dort heißt es z.B. unter der Überschrift Spaltet die GDL die Gewerkschaftsbewegung? Gedanken zu den Aktionen der Lokführer: „Die Ursache für das Verhalten der GDL ist vor dem Hintergrund zu verstehen, daß es sich um eine Standesorganisation handelt. … Solidarität ist aber Voraussetzung gewerkschaftlichen Handelns. … − jeder ist sich selbst der nächste, dieses Anliegen fördert die GDL mit ihren Aktionen. Am Ende steht die Spaltung der Belegschaft und der Gewerkschaften…“


An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt (12.07.2008)

Hallo Buchladenkollektiv,

ich konnte leider nicht eher zu GdS 4/08 und 5/08 Stellung nehmen, weil ich mit einem Beitrag beschäftigt war, der sich nun endlich auf der Home Page unter parteimarx.org DEBATTE 1 befindet.

Ich möchte mich hauptsächlich zu der Nummer 4/08 kritisch äußern, weil sich dabei noch einigermaßen rational über Eure Gewerkschaftslinie diskutieren läßt. [1] Ich will nicht ständig wiederholen, daß Ihr damit im Jahr 1927 stehengeblieben seid. Was ich schon in meinem Brief vom 21.03.[2008] kritisiert hatte, ist der Mangel an Dialektik in Eurer berechtigten Kritik an den bürgerlichen Einheitsgewerkschaften:

  • sie lassen sich nicht reformieren, aber auch in Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, nicht ersetzen;
  • sie sind reaktionär, aber ohne, auch reaktionäre Gewerkschaften kann kein Arbeiter überleben;
  • sie sind so kapitalistisch wie der Kapitalismus selbst und können daher auch kein Interesse daran haben, die Verteidigung des Reallohns als politischen Klassenkampf so zu führen, daß sich die Arbeiter als Klasse gegenüber der Klasse der Bourgeoisie formieren; was sie in dieser Beziehung veranstalten, ist lauter Hokuspokus.

Es ist daher von Grund auf verkehrt, wie ein enttäuschter Liebhaber auf die Körbe zu reagieren, die die Linke seit Jahr und Tag von den Gewerkschaften einsteckt, anstatt nüchtern zu erkennen, daß, obwohl Heirat ausgeschlossen ist, eine kritische Beziehung auf der Grundlage der obigen nüchternen Einschätzung besteht. Das einzusehen ist der Linken, einschließlich der gewerkschaftsoppositionellen, nicht gelungen. Wenn sie sich nicht hat korrumpieren lassen, marschiert sie brav als abgelehnter Brautwerber hinter der Braut hinterher, um von allen Seiten nur belächelt zu werden.

Genauso wie die SPD eine bürgerliche Arbeiterpartei ist, handelt es sich hierbei um eine bürgerliche Arbeiter-Organisation, die nicht nur vorgibt, Arbeiterinteressen zu vertreten, sondern dies bis zu einem bestimmten Grad auch tun muß, wie eben eine Versicherung, wenn der Dachstuhl gebrannt hat, in Erfüllung der Geschäftsbedingungen auch zahlen muß. Mehr ist von ihr nicht zu erwarten – und darin besteht der zweite große Irrtum der linken Gewerkschaftskritiker: ihre völlig verfehlte Erwartungshaltung, daß dieser, wenn man den Apparat nur lange genug agitiert, doch irgendwann einmal die linke Kurve kriegen wird.

Gerade wenn sich erste Erfolge einstellen in solchen Einzelfällen wie z.B. Lidl, ist erst recht der Hinweis erforderlich, daß es auf der anderen Seite für bestimmte Interessenten auch darum gegangen sein könnte, einen Konkurrenten kaputt zu machen, aber das ganze als Arbeiterpolitik auszugeben, bei der die Lohnabhängigen, wie üblich, reine Zuschauer bleiben. Ohne dieses Minimum von anzuwendender Dialektik, die darin besteht, immer beide Seite der Medaille in Betracht zu ziehen, landen auch die weitesten Sprünge der härtesten Gewerkschaftskritiker irgendwann auf dem Bettvorleger eines Gewerkschaftsbosses. Letzten Endes ist es ein Betrug an den lesenden Arbeitern, die, weil ihnen die andere Seite der Medaille verschwiegen wird, einfach für dumm verkauft werden. Von solch einer Dialektik finde ich in der GdS 04/08 recht wenig.

Wenn da mit voller rhetorischer Breitseite von „Abwieglern, ja Verrätern“ die Rede ist, fehlt einfach der Hinweis, daß dieses Verhalten zu ihrem Job gehört, und selbstverständlich nicht beinhaltet, zum morgigen Sturz der Bourgeoisie und zum Sozialismus aufzurufen. Eine solche Erwartung ist nicht nur unsinnig. Ihr Eintreffen würde mich auch extrem mißtrauisch machen! Weiter heißt es: „…wer so redet, steht auf der Seite des Kapitals und nicht auf unserer Seite“. Welcher einigermaßen aufgeklärte Arbeiter ist so naiv anzunehmen, daß diese Institution nicht auf der Seite des Kapitals stünde? Dort steht sie nun erst mal! Und daran wird sich auch so bald nichts ändern.

Euer Ärger über die beim DGB in Lohn und Brot stehenden bürgerlichen linken Ökonomen ist auch ziemlich hilflos, wenn ihr deren linken Keynesianismus nicht zumindest andeutungsweise auseinandernehmen könnt. Dazu müßtet Ihr selbst aber das Marxsche Kapital etwas genauer gelesen haben, sonst könntet Ihr nicht mit dem Brustton der Überzeugung erklären: „Zentral ist und bleibt: was gut ist für die Kapitalisten, ist schlecht für die von ihnen Ausgebeuteten. Mehr Lohn bedeutet eben weniger Profit und weniger Lohn bedeutet eben mehr Profit. Das ist der Kern…“ Wenn Ihr die Kapitel über den absoluten und relativen Mehrwert herangezogen hättet, würde sich herausstellen, daß es sich nicht ganz so einfach verhält: d.h. z.B. daß trotz einer Erhöhung des Lohns auch der Mehrwert durchaus steigen kann (ganz abgesehen davon, daß der Profit erst durch die Konkurrenz zwischen den Kapitalen für den einzelnen Kapitalisten bestimmt wird).

Den Absatz nach den drei Sternen auf Seite 2 finde ich ganz in Ordnung. Allerdings nannte Lenin die kleine Schicht von Gewerkschaftsführern (warum „…fürsten“, das ist einfach unsachlich!) Arbeiteraristokraten und nicht „Arbeiterbürokraten“. Die Arbeiteraristokraten im Gewerkschaftsapparat sind die mit den ‚Arbeitergroschen’ besoldeten Arbeiterführer der Arbeiteraristokratie, die vorgeben, die Interessen der ganzen Klasse zu vertreten, in Wirklichkeit nur diejenigen einer schmalen Schicht von hochbezahlten Spitzenkräften. „Die Spitzen der DGB-Gewerkschaften und ihr Apparat stehen dabei auf verschiedene Weisen“ (der Singular hätte gereicht!) „in engster Verbindung, ja Verwachsung“ (eine Verwachsung liegt vor, wenn etwas nicht richtig (nach)gewachsen ist – das habt ihr wohl nicht gemeint!) „mit Kapital und Staat: So sitzen sie in den Aufsichtsräten und allen möglichen Ausschüssen“ (ein paar Beispiele wären zumindest andeutungsweise sinnvoll gewesen) „und sind ganz direkt an der Verwaltung des Kapitalismus beteiligt.“ Nicht nur das! Sie sind vor allem selbst Kapitalisten, wie das Beispiel der Pleite gegangenen Österreichischen Gewerkschaftsbank BAWAG, eines der frühen Opfer der Finanzkrise, zeigt…

Jetzt kommt das, was Ihr unter Dialektik versteht: „Mit dieser absolut negativen Einschätzung der Gewerkschaftsführung und ihres Apparats sagen wir nicht, daß man in den Gewerkschaften nicht arbeiten soll. Feinde muß man auch von innen bekämpfen.“ In Eurer Dialektik – wohl eher eine ‚Dualektik’! – geht es allein darum, was Ihr von den Gewerkschaften haltet, aber nicht, welche Bedeutung diese eigentlich für die Arbeiter-Klasse als ‚Klasse für sich’ haben müssen, um sich als Klasse gegenüber der Klasse der Bourgeoisie aufzustellen. Für die Gewerkschaften hat das erst mal keine Bedeutung (s.o.); denn es gehört nun einmal nicht zu ihrem stink-bürgerlicher Geschäft, die Klasse für den politischen Klassenkampf zu organisieren, während Kommunisten eben das für elementar halten und allein von diesem Anspruch ausgehend ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften bestimmen müssen. Statt dessen tischt Ihr Euren Lesern Euren mutigen Entschluß auf, von nun an den Feind „von innen (zu) bekämpfen“. Zu Eurem Glück glaubt Euch das sowieso niemand. Denn das wollt Ihr bewerkstelligen, indem Ihr eine zu allem entschlossene Schar von Kämpfern zusammenstellt „mit dem Ziel der Mobilisierung möglichst großer Teile der Gewerkschaftsmitglieder“, um diesen oder jenen „kapitalhörigen Betriebsratsvorsitzenden der IG Metall“ zu stürzen oder einem „Gewerkschaftsfürsten auf die Pelle“ zu rücken. Daß Euch dabei besonders die Ex-Linken und Pseudo-Marxisten aus der mittleren Funktionärsebene ein Bein stellen wollen, die für den Gewerkschaftsapparat Spitzel-Dienste verrichten, ist anzunehmen; denn es geht um ihre Jobs und Pöstchen. Allerdings betrachtet Ihr das auch nur als eine allein Euch betreffende Angelegenheit, ohne die politische Dimension dieser Einflußtätigkeit im geringsten zu erahnen, geschweige denn zu analysieren. Oder wie wollt Ihr damit umgehen, daß die politische Rhetorik der Gewerkschaften seit dem Beginn der Regierung Schröder immer weiter nach ‚links’ gerückt ist? Euer Fazit lautet dagegen: „Egal, ob innerhalb oder außerhalb der DGB-Gewerkschaften, nur ohne oder gegen die Gewerkschaftsfürsten“ (?) „und ihren Apparat lassen sich konsequente Abwehrkämpfe, Kämpfe für Verbesserungen“ (welcher Art?) „entwickeln – dies gilt erst recht für weiter reichende Ziele“ (als da wären?).

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein politisch aufgeweckter Vertreter seiner Klasse sich von derart vagen und subjektivistischen Vorstellungen von Klassenkampf zu Überlegungen „für weiter reichende Ziele“ inspirieren ließe oder auch nur dazu, sich mit seinen eigenen von Euch in dieser subjektivistischen Form dargestellten Klasseninteressen zu identifizieren.

Daß Ihr am Ende Marx und Engels und das Manifest der Kommunistischen Partei bemüht, ist sehr schön, nur erkenne ich zwischen dem Subjektivismus, wie er in diesem Artikel vorgeführt wird, und der Art und Weise, wie sich Marx und Engels theoretisch wie praktisch zu den Klassenkämpfen ihrer Zeit verhalten haben, wenig Gemeinsamkeiten. Es geht nun einmal nicht darum, ob Ihr „einzelne Strukturen in den Gewerkschaften“ ausnutzt, ohne Euch „abhängig zu machen“ (obwohl ich diese Haltung persönlich durchaus nachvollziehen kann, aber darum geht es nun einmal nicht!); das ist gerade nicht „der zentrale Punkt“. Sondern der, den Klassenverhältnissen in diesem Land auf den Grund zu gehen und dabei die Situation der deutschen Arbeiter/der Arbeiter in Deutschland in der Konfrontation zwischen Lohnarbeit und Kapital zu analysieren und zu den Arbeiterklassen der anderen kapitalistischen Länder und zur Weltherrschaft des Kapitals, die in diesem Jahrhundert ihren Zenit zu erreichen scheint, ins Verhältnis zu setzen.

All das fehlt trotz noch so schöner Marx-Zitate in Eurem Aufsatz. Aber zumindest kann man darüber bei all seinen Mängeln noch diskutieren. Völlig indiskutabel ist dagegen die Mai-Nummer (5/08), [2] in der der oben kritisierte Subjektivismus Amok läuft. Eure Analogien mit dem ‚Blutmai’ 1932 sind einfach lächerlich. Hier seid Ihr nicht nur dem Bakunismus bestimmter Autonomen aufgesessen (Wuppertal), sondern habt auch die politische Dimension des NPD-Aufmarschs in Hamburg nicht im geringsten durchschaut, die gleichfalls nur mit Hilfe der Dialektik angemessen zu analysieren wäre. Aber darüber vielleicht ein andres Mal.

Ernst-Ulrich Knaudt

1) Gegen die Strömung 4/08 Ausbeutung und Unterdrückung verschärfen sich! – Keine Illusionen in die Gewerkschaftsführung. 1. Mai 2008: Gegen das Kapital und seinen Staat kämpfen!

2) Gegen die Strömung 5/08 Gegen Nazis und Polizeigewalt. Zu den Erfahrungen der militanten Kämpfe am 1. Mai 2008.


An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt (19.02.2009)

Hallo Buchladenkollektiv,

… Wegen terminlicher Probleme werde ich zunächst nur zum „…ganzen Marx“ Stellung nehmen: [1]

Als jemand, der sich in den letzten Jahren auf einer „Reihe von Veranstaltungen, Schulungen“ herumgetrieben und sich mit zahlreichen „Veröffentlichungen“ von Interpreten von Marx-Texten beschäftigt hat, stimme ich mit Euch darin überein, daß es dort gewöhnlich nicht „um den ganzen Marx (geht)“; entgegen Eurer Einschätzung macht es aber durchaus Sinn, „diese oder jene untergeordnete Feinheit in Marx-Schriften hervor(zu)heben“ und „ökonomische Spezialfragen in den Mittelpunkt“ zu stellen. Gerade bei bestimmten „ökonomischen Spezialfragen“ kann es sich, um ausnahmsweise eine stalinsche Metapher [2] zu zitieren, um das entscheidende Kettenglied handeln, an dem der Kern der marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu Tage gefördert werden und in neuem Licht erscheinen kann.

Zu solchen „Spezialfragen“ gehört die Werttheorie, um die es einen nicht enden wollenden Streit unter den „Marxologen“ gibt, der aber auch der Sache durchaus angemessen ist, weil, wie Engels bemerkt hat, niemand das Kapital wirklich verstehen wird, ohne sich Klarheit über die Marxsche Werttheorie verschafft zu haben. Und nur auf dieser Grundlage, so würde ich ergänzen, läßt sich in Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, eine revolutionäre Theorie schaffen und diese mit einer entsprechenden revolutionären Bewegung verbinden. Das stellen die „Marx-Kenner“ selbstverständlich in Abrede; es ist aber dennoch kein Fehler, ihre theoretischen Irrlichterlierungen zu entlarven, wo sie dem Buchstaben und dem Sinn der Marxschen Theorie widersprechen – denn nur auf diese Weise läßt sich immer wieder zeigen, wie modern die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie bezogen auch auf die heutigen Verhältnisse eigentlich ist, jedenfalls gemessen an dem, was die bürgerliche, einschließlich linke, Ökonomie, Soziologie, Politologie tagaus tagein produzieren. Dieser Anstrengung sollten sich Parteigänger der ‚Partei Marx’ durchaus unterziehen, um der Gefahr des Gespensterglaubens an den Kommunismus zu entgehen und letzteren auf unserem heutigen Stand (der Klassenkämpfe) in wissenschaftliche Einsicht zu verwandeln.

Ihr schreibt: „Marx wird nur als Ökonom, aber nicht vor allem [?] als Revolutionär dargestellt“, ohne zu merken, daß Ihr, im Prinzip nicht anders als die von Euch zu Recht abgelehnten „Marxologen“, den Ökonom vom Revolutionär künstlich trennt, bzw. ebensowenig wie jene zur Kenntnis nehmt, daß Marx auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie ein Revolutionär und auf jenem der revolutionären Strategie ein von der Einsicht in die ökonomischen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise ausgehender Politiker war (Politiker in einem anderen Sinn als es die politischen Kretins in den bürgerlichen Parlamenten sind): Politiker des Proletariats. Das findet Ihr nicht nur in den von Euch aufgezählten politischen Schriften, sondern auch in den Briefen, worin er mit den Parteigängern der ‚Partei Marx’, sowie mit Sozialisten, Wissenschaftlern, kommunistischen Arbeitern von den USA bis Rußland korrespondierte und die sich hauptsächlich um die Politik einer weltweiten Organisierung des Proletariats unter akribischer Beobachtung der bürgerlichen Gesetzgebungsmaschine, dort, wo die Bourgeoisie zur Herrschaft gelangt ist (die Kolonien nicht zu vergessen), drehen. Denn anders als die deutschen Sozialdemokraten, die nur mühsam, wenn überhaupt der Marxschen Strategie folgen konnten, ging Marx mit der wissenschaftlichen Aufdeckung dessen, wie die Mehrwertproduktion, die Zirkulation und Reproduktion des Kapitals und die Aufteilung des Profits eigentlich im Prinzip vor sich gehen, von der politischen Notwendigkeit einer von vornherein internationalen Organisierung der Arbeiterbewegung aus… (Für die theoretisch interessierten Köpfe unter Euch empfehle ich meinen Aufsatz auf der Web Site der partei Marx = parteimarx.org: REFLEXIONEN 1 zu Uwe-Jens Heuer: Marxismus und Politik , sowie STREITPUNKT 2 Warum Lenins „letzter Kampf“ gegen den linken Sozialimperialismus nicht zu gewinnen war, besonders die Kapitel II 1 und 2).

Ich habe mich in der letzten Zeit ebenfalls mit den Marxschen Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei beschäftigt, [3] um einen Vergleich mit der Leninschen Kritik an Karl Kautsky über die Diktatur des Proletariats anzustellen und finde Eure Darstellung der Marxschen Randglossen ganz in Ordnung, um Newcomern die Strategie der ‚Partei Marx’ näherzubringen; [ich] finde dort auf der anderen Seite aber nicht den geringsten Versuch Eurerseits, wozu sich dieser Text hervorragend eignet, dem politischen Ökonomismus unserer heutigen Linken (siehe Uwe-Jens Heuer) den Kampf anzusagen. Statt dessen beschränkt Ihr Euch darauf, diesen programmatischen Text den „Pseudomarxisten und revisionistischen Berufsreformisten“ vor die Füße zu schleudern in der irrigen Erwartung, daß sich diese „akademisch gelehrten ‚Marxologen’ vor den beeindruckenden Analysen und klaren Schlußfolgerungen von Marx im ‚Manifest…’“ usw. so gewaltig zu „fürchten“ beginnen, daß sie es auf der Stelle aufgeben, diese wie bisher als nur ‚historisch’ abzukanzeln, bzw. zum alten Eisen der Klassiker zu werfen. Zumal Ihr keinen ernstzunehmenden Versuch macht, die überaus enorme Sprengkraft, die in diesem Programm verborgen ist, konkret herauszuarbeiten und das Ergebnis der heute üblichen Verflachung und Verballhornung desselben entgegenzusetzen.

Nehmen wir nur [aus dem Gothaer Programm] den Programmpunkt 3 (MEW 19), 18: Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Teilung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrags.“ Abgesehen von der Lassalleschen Vorstellung des „Arbeitsertrags“ (Marx: des Produktenwerts, des Wertprodukts, des Mehrwerts?) ist die Formel von der „gerechten Verteilung“ von besonders aktuellem Interesse, da in der Linken seit Schröders Hartz-Gesetzen ständig von der „gerechten Verteilung“ die Rede ist! Marx fragt dagegen: „Was ist ‚gerechte’ Verteilung?“ Seine Antwort: Zunächst einmal eine Behauptung der Bourgeoisie, die beinhaltet, „daß die heutige Verteilung ‚gerecht’“ sei, was sie nach Marx – und diese Pointe sollten wir uns auf der Zunge zergehen lassen! – in der Tat auch ist, allerdings, und das ist doch das Entscheidende, „auf der Basis der heutigen Produktionsweise“!!! Dagegen behauptet bekanntlich der führende Sozialdemagoge der LINKEN, Lafontaine, das genaue Gegenteil: daß nämlich (in der Kontinuität zu den Lassalleanern vor 150 Jahren) die „Verteilung des Arbeitsertrags“ ([Marx:] auf der „Basis der heutigen Produktionsweise“ und den sich daraus ergebenden Rechtsbegriffen!) vollkommen ‚ungerecht’ sei und, ähnlich wie es im obigen Programmpunkt 3 heißt, diese Ungerechtigkeit deshalb „die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft“ zwecks „Befreiung der Arbeit“ erforderlich mache, d.h. die Verstaatlichung der kapitalistischen Unternehmen, und dies alles, ohne die ökonomischen Grundlagen, die [Marx:] „Basis der heutigen Produktionsweise“, im geringsten anzutasten, sondern lediglich in der Absicht, einige Rechtsbegriffe parlamentarisch umzumodeln, wofür die Arbeiterklasse, bitteschön, die LINKE zu wählen habe (bei der Hessenwahl wählte sie lieber die CDU, wahrscheinlich weil sie von einer bürgerlichen Partei eher erwartet, daß sich diese an die auf der „Basis der heutigen Produktionsweise“ errichteten Rechtsbegriffe hält als jemand, der den Überbau mit der Basis der Gesellschaft verwechselt). Genauso wie schon für Marx stellt sich auch heute die Frage: „Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über „gerechte“ Verteilung?“ In der Tat, die haben sie nach wie vor!

Marx analysiert am Schluß seiner Ausführungen zu diesem Thema in diesem Abschnitt (die ich überspringe) die Zählebigkeit des bürgerlichen Rechts, von dem auch die kommunistische Gesellschaft in ihrer ersten Entwicklungsform unvermeidlich beherrscht sein werde (MEW 19), 20: „Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran.“ Das heißt: „Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.“ Der nächste Satz zeugt erneut von der elementaren Bedeutung des Wertgesetzes für die Programmatik der Marxschen Partei: „Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den einfachen Warentausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist.“ Nur haben dabei Form und Inhalt gewechselt; denn wenn, was Marx voraussetzt, die Arbeitskraft keine Ware mehr ist, die Wert produziert, tauscht jeder Produzent das von ihm erbrachte Arbeitsquantum gegen ein anderes Quantum Arbeit in Gestalt der von ihm individuell benötigten Konsumtionsmittel ein. Und jetzt die Pointe: „Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht.“ Das heißt: was diesen – aber nur diesen! – Austausch angeht, gilt unter den Genossen immer noch sowohl das Wertgesetz als auch das bürgerliche Recht, „obgleich“ (und dies ist ein gewaltiger Fortschritt, sich bereits) „Prinzip und Praxis … nicht mehr in den Haaren liegen, während“ (doch) „der Austausch von Äquivalenten beim Warentausch“ (immer) „nur im Durchschnitt,“ (aber) „nicht für den einzelnen Fall existiert“. Obwohl also bei der genossenschaftlichen Organisation der Arbeit (denn um nichts anderes geht es hier: allerdings unter der Voraussetzung der Diktatur des Proletariats und nicht mehr der Herrschaft der Bourgeoisie!) die Arbeitskraft keine Ware mehr ist, gilt das bürgerliche Recht immer noch in der Form, daß das „Recht der Produzenten ihren Arbeitslieferungen proportionell (ist)“, d.h. an der Arbeit als gleichem Maßstab gemessen wird. (MEW 19), 21: „Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es kennt keine Klassenunterschiede, weil jeder nur Arbeiter ist wie jeder andere; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht.“ Während es also erst jenseits dieses bornierten Rechtshorizonts möglich sein wird, die klassenmäßig bedingte Ungleichheit nicht mehr nur formal, sondern material, d.h. „seinem Inhalt nach“ zu überwinden, versprechen die Herren Neo-Lassalleaner Lafontaine und Konsorten, daß ihre Forderung nach ‚sozialer Gerechtigkeit’ bereits auf der Basis der heutigen Produktionsweise erfüllt und das bürgerliche Recht bereits innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft überwunden werden kann. Der Marxsche Programmvorschlag zeigt dagegen auf, daß auch in einer unter der Diktatur des Proletariats genossenschaftlich organisierten Arbeitsverfassung dieses „Recht der Ungleichheit“ für eine sehr lange Zeit, wenn auch reduziert auf den proportionalen Austausch der Arbeiten der Produzenten unter der Hinnahme des Wertgesetzes fortexistieren wird, bis „in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft … der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben (kann): Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen“.

Hieran zeigt sich, um wieder auf meinen Ausgangspunkt zurückzukommen, daß das Wertgesetz nicht nur in den Drei Bänden des Kapital, sondern auch in der Politik und der Programmatik der Marxschen Partei ständig unter wechselnden Aspekten präsent und in diesem konkreten Fall gegen den Lassalleanismus gerichtet ist. Daher bestünde, wenn man schon die Randglossen aus der angeblichen Mottenkisten des ‚Marxismus’ hervorholt, die wichtigste Aufgabe darin, auf die Kontinuität des Lassalleanismus bis hin zu den, wie Ihr schreibt, „Berufsreformisten von DKP und Linke/PDS oder allen möglichen ‚Marxologen’“ nicht nur hinzuweisen, sondern konkret zu zeigen, wie diese in ihrer heutigen Politik zum Ausdruck kommt. Das beträfe sowohl die von Marx bei den Lassalleanern gegeißelte Staatsgläubigkeit (MEW 19, 28) als auch die Verbreitung der Illusion von den ehernen Lohngesetzen und den als ewige zu erhaltenden Arbeitsplätzen. Diese Illusion beruht in erster Linie auf der Mißachtung der Marxschen Mehrwerttheorie, bei deren Anwendung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit sich solche Illusionen in Luft auflösen würden. Dies hätte unmittelbare Auswirkungen auf die Form der Organisation der Lohnabhängigen gegen das Kapital, wovor sich die modernen Lassalleaner fürchten, wie der Teufel vor dem Weihwasser: (MEW 19), 25,26: „Seit Lassalles Tod hat sich die wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei Bahn gebrochen, daß der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp. Preis der Arbeitskraft. Damit war die bürgerliche Auffassung vom Arbeitslohn über den Haufen geworfen und klargestellt, daß der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eignes Leben zu arbeiten, d.h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten (daher auch für dessen Mitzehrer am Mehrwert) arbeitet; daß das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstags oder durch Entwicklung der Produktivität, größere [An-]Spannung der Arbeitskraft | etc; daß also das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange.“ Von dieser Einsicht sind die modernen Lassalleaner Lichtjahre entfernt. Und diese Entfernung wächst mit dem Anwachsen der Weltwirtschaftskrise in geometrischer Progression.

Daran gemessen bleibt der von Euch an die modernen Lassalleaner gerichtete Anspruch, sie möchten doch bitte in ihr Programm aufnehmen, daß „der gesamte bürgerliche Staatsapparat zerschlagen werden muß“, zwar eine theoretisch richtige, aber in der konkreten Situation vollkommen abstrakte Forderung, die unsere ‚sozialen Gerechtigkeit’sapostel von den linken Gewerkschaften bis zur DKP insofern nicht anficht, als die Mehrwerttheorie von ihnen zwar formal korrekt heruntergebetet werden kann, aber nur, um daraus keine praktischen Schlußfolgerungen zu ziehen. Warum auch? Wenn die in ihrem Staatsbankrott untergegangene neue Bourgeoisie des ‚Realen Sozialismus’ nur darauf aus ist, den alten bürgerlichen Staatsapparat zurückzuerobern, um darin und davon wieder flott leben zu können, warum sollte sie ihre mögliche künftige gut möblierte Behausung zerschlagen wollen? Auch in Bezug auf die DKP trifft Eure Kritik an den Leugnern der Leninschen Losung von der Zerschlagung des Staatsapparats die Falschen, da die DKP als ein Nebenprodukt der Brandtschen ‚Neuen Ostpolitik’ der 60er Jahre nie etwas anderes war und auch nicht hatte sein wollen, als ein ‚westdeutsches’ Ziehkind der untergegangenen DDR, d.h. eine Arbeiterpartei als Staatsveranstaltung. In beiden Fällen handelt es sich um denselben (mehr oder weniger ‚demokratisch-sozialistischen’) Lassalleanismus, mit dem es schon Marx und Engels zu tun hatten…

An dieser Stelle werde ich meine Bemerkungen zum „ganzen Marx“ und meine Ergänzungen zu den Randglossen erst einmal abbrechen, da ich mich damit einem Terrain nähere, auf dem ich selbst noch im Dunkeln herumtappe.

[…]
Ernst-Ulrich Knaudt

1) Gegen die Strömung 9-10/08. Was wir aus Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“ im Kampf für den Kommunismus lernen können. Es geht um den ganzen Marx!

2) Diese Metapher des entscheidenden Kettengliedes, an dem man die ganze Kette hochziehen kann, hat, worauf ich inzwischen hingewiesen wurde, Stalin wie so manch anderes von Lenin übernommen.

3) Karl Marx: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei MEW 19 (15-32).


An partei Marx (07.03.2009)

Lieber Freund,

herzlichen Dank für Deine Überlegungen.

Zunächst […] selbstverständlich ist Marx ein Revolutionär auf theoretischem Gebiet, insbesondere seine Kritik der Politischen Ökonomie. Wir legen Dir unsere Haltung zum Studium des Kapital bei: alle drei Bände und vor allem auch die drei Bände Mehrwerttheorie und MEW 13. Nochmals, in unseren Reihen keine Frage.

Umso mehr verwundert es, daß Du ausgerechnet die Mehrwert-Theorie und die „WERTTHEORIE“ als Spezialfrage kennzeichnest. Insofern auch mit Deinem dritten Absatz einverstanden, daß DIESE Frage auch Punkt der Polemik gegen Marx-Entsteller sein muß.

Deine Ausführungen zu DKP PDS: Klar wollen wir denen keine Verbesserungsvorschläge machen – sie sind auf der anderen Seite der Barrikade. Ist das wirklich mißverständlich bei Uns? Wir kritisieren deren Sachen – ähnlich wie Du es in Deinem Schreiben machst, dennoch, weil die von ihnen verbreiteten Ideen auch bei nicht ganz blockierten Leuten in den Köpfen existieren […] das ist es, worum es uns (und Dir bei Deinen weiterführenden Anwendungen der Marx-Kritik auf Heuer/Lafontaine etc.) auch geht.

[…]
Gegenfrage wäre, was Du von unserer Analyse der SED-Gründung hältst.

Letzte Bemerkung, die Sache mit dem „Kettenglied“ stammt […] wie das meiste von Stalin auch an diesem Punkt von LENIN…

Erstmal alles Gute

Gegen die Strömung.


An Gegen die Strömung (27.03.2009)

Verehrte Genossen von Gegen die Strömung […],

vielen Dank für Euren Brief vom 07.03., den ich Punkt für Punkt beantworten werde:

− Warum ich die Werttheorie und die Mehrwerttheorie für eine „Spezialfrage“ (die Formulierung stammt von Euch) ansehe.

Die Werttheorie bildet, um das Leninsche Bild noch einmal zu verwenden, […] das ‚entscheidende Kettenglied’ nicht nur, um das gesamte Kapital theoretisch zu verstehen, sondern weil Marx (wie er sagt, ‚unsere Partei’) in dieser Beziehung, d.h. auf wissenschaftlichem Gebiet, einen entscheidenden Sieg über die Bourgeoisie errungen hat. Die Klassiker der politischen Ökonomie hatten zwar dafür die Grundlagen gelegt, Marx hat auf diesen Grundlagen eine bedeutende wissenschaftliche Leistung vollbracht. Jeden Tag, wenn Ihr Euch die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen anschaut, werdet Ihr ständig auf den „Wert“ stoßen, ob es sich um ein „werthaltiges“ Portefeuille der Anleger handelt, oder die „Wertvernichtung“ an den Börsen und natürlich auch um die „Wertorientierung“ einer neuen „nachhaltigen“ Wirtschaftspolitik usw. Überall ist von dem „Wert“ die Rede, ohne daß irgend jemandem klar ist, was das eigentlich ist. Die Philosophen können das noch einigermaßen philosophisch erklären (man beachte die Fußnoten im Kapital zu Aristoteles, worin Marx Aristoteles ausschließlich als politischen Ökonomen zitiert und schätzt!), die Ökonomen können aber im Grunde nicht sagen, was sie eigentlich unter dem „Wert“ verstehen. Daher sollten wir uns diese gewaltige wissenschaftliche Errungenschaft zu nutze machen.

Die Mehrwerttheorie ist die Scheidemünze dafür, ob die ‚marxistischen’ Kapital-Leser die Werttheorie, mit der sich 90% der Kapital-Interpreten befassen, rein philosophisch oder im Marxschen Sinn verstanden haben.

Was heißt im Marxschen Sinn: allgemein gesprochen, wie es bei Marx heißt, im Sinne ‚unserer Partei’, konkret aber […], ob die verschiedenen ‚Lesarten’, mit denen eine Vielzahl von Marx-Interpreten die Marx-Interessierten erfreuen, überhaupt irgend etwas mit dem Anspruch, den ich Marx und dem Kapital unterstelle, zu tun hat: nämlich nicht in erster Linie für Philosophen und Sozialwissenschaftler geschrieben worden zu sein, sondern für das Proletariat. Dieser Anspruch bleibt aber, so, wie er da steht, und für sich genommen völlig abstrakt und eine hohle Phrase, wenn er nicht mit dem politischen Inhalt gefüllt wird, der der jeweiligen Klassenkampfsituation entspricht.

Meine Hypothese lautet (siehe: parteimarx.org DEBATTE 2 ANHANG): um das zu überprüfen, „muß dieses [d.h. das Kapital] in toto, und im Gegensatz zu den ‚antideutschen’, ‚marxistischen’, postmodernen etc. ‚Lesarten’, als eine Blaupause für die von Marx darin bewußt recht vage bezeichnete ‚gesellschaftliche Produktion’ gelesen werden. … Eine Blaupause, die allein für diejenigen entwickelt und aufgezeichnet worden ist, die an der Realisierung der ‚gesellschaftlichen Produktion’ unmittelbar beteiligt sein werden und gezwungen sind, diese trotz ihrer gedanklichen Komplexität, für ihre gesellschaftliche Praxis zu entziffern.“ Das werde ich jetzt nicht weiter erläutern, sondern verweise auf meinem Vortrag, der in absehbarer Zeit auf der Home Page […] der partei Marx erscheinen wird.[1]

Der Aufsatz in GdS 1/98 ist insofern symptomatisch für das abstrakte Verhältnis der Linken zum Marxschen Kapital, weil Ihr Euch darin nicht wesentlich von dem unbegriffenen und abstrakten Anspruch der übrigen Linken unterscheidet, da Ihr nicht sagen könnt, warum überhaupt ein klassenbewußter Arbeiter diese Blaupause zu entziffern versuchen sollte. [2] Eure aufgeführten Gründe sind alle hochlöblich. Aber Ihr könnt im Grunde nicht erklären, warum das nicht einfach nur ein Buch wie jedes andere ist, aber auch nicht die Heilige Schrift der Kommunismus, sondern daß es sich dabei, an den klassenbewußten Arbeiter gerichtet, um dessen ureigenste Angelegenheit handelt (siehe das Vorwort, wenn auch in einem anderen Sinn: tua res agitur [3]). Solange das nicht vermittelt werden kann, wird es in Deutschland kein ernstzunehmendes Proletariat als organisierte Klasse geben.

Als Bestätigung der Kasten auf der Rückseite von GdS 1/98, wo Ihr aller Ehren wert entdeckt habt, daß der Lohn (im Gegensatz zur Ansicht der modernen Lassalleaner) ein durchaus gerechter ist. [4] Die Pointe besteht aber nicht nur darin (siehe meinen letzten Brief), sondern auch darin, daß eine bestimmte Ungerechtigkeit, und damit das Wertgesetz, in einer bestimmten Form, auch noch in der ersten Phase des Kommunismus fortbestehen werden – d.h. in bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel nach der von jedem einzelnen in die große Genossenschaft eingebrachten Arbeitsmenge.

Ihr seht auch hier, welche große Bedeutung die Interpretation des Wertgesetzes für die erste Phase des Kommunismus hat. Stalin hatte große Mühe dieses in Ökonomische Probleme des Sozialismus mit der gesellschaftlichen Realität in der UdSSR in Einklang zu bringen (woran er gescheitert ist…, aber das ist noch nicht mein Thema). Damit will ich es hier bewenden lasse und verweise auf die geplanten Veröffentlichungen.

− Zur DKP und PDS kann ich mich etwas kürzer fassen:

einerseits sind wir uns über die „andere Seite der Barrikade“ einig; das reicht aber nicht, um die „nicht ganz blockierten Leute“ auch nur nachdenklich zu machen. Dazu ist eine klassenanalytische Einschätzung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Parteien erforderlich:

1. Das fängt mit dem Schicksalsjahr 1934 in der SU (Beginn der systematischen Massen-„Säuberungen“) an: für beide Parteien besteht über das Vehikel des ‚Antifa’ die gemeinsame Einschätzung der Kontinuität des Sozialismus von 1917-1989. Ich bin (und da sind wir wahrscheinlich nicht einer Meinung) dagegen der Ansicht, daß Stalin zu diesem Zeitpunkt (= bevorstehende mögliche Niederlage im ZK, Kirow-Mord) endgültig mit der Lenischen Oktoberrevolution gebrochen hat. Sowohl DKP als auch PDS und nicht zuletzt die Trotzkisten, verwischen bei allen sonstigen Unterschieden in ihrer Einschätzung der SU diesen meiner Ansicht nach entscheidenden (konterrevolutionären) Bruch.

2. Daraus leitet sich die Einschätzung des politischen Charakters all dieser Parteien ab. Die alte ‚maoistische’ Lesart, daß es sich um Vertreter einer ‚neuen Bourgeoisie’ handelt, bleibt zunächst einmal gültig, solange es keine bessere gibt. Die DKP und die jW als Zentralorgan der Bankrott gegangenen neuen Bourgeoisie aus dem Staats- und Militärapparat der DDR verfolgen politisch einen revisionistischen Kurs: Wiederherstellung des alten ‚Sozialistischen Lagers’ mit allen (politischen) Mitteln. Dazu wären sie auch bereit, sich mit dem Teufel zu verbünden. Die PDS vertritt eine andere Fraktion der neuen Bourgeoisie: diese versucht durch Angleichung ihres Programms an das der vor-Godesbergischen SPD letztere zu spalten und die Mehrheit in einer neuen ‚demokratisch-sozialistischen’ SED wiederzuvereinigen.

3. Die deutsche Arbeiterklasse ist eine der produktivsten und erfindungsreichsten, aber zugleich auch (wenn auch durch entsprechende Erfahrungen nicht ganz unbegründet) eine der politisch konservativsten Arbeiterklassen der Welt. Sie hat in der Nachkriegs- und Nachwendezeit einen gewaltigen gesellschaftlichen Reichtum für das Kapital geschaffen, aus dessen überschüssigem Fonds momentan die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von der Regierung der alten Bourgeoisie ‚abgefedert’ werden. Dies ist die günstige Gelegenheit für den Revisionismus von DKP und PDS. Hierin liegt ihre strategische Gemeinsamkeit auch mit allen möglichen links-sozialdemokratischen, basis-grünen und attacischen Links-Ruck-Linken.

Fazit: Die „nicht ganz blockierten Leute“ werdet Ihr nur dann überzeugen können, wenn Ihr über eine Gegenstrategie verfügt, die der heutigen politischen Situation angemessen ist. Da habe ich meine Zweifel, daß dies der Fall ist. Andernfalls, könnt Ihr ganz leicht abgebügelt werden, als ‚Leute, die eigentlich dasselbe wollen wie wir, nur etwas radikaler’. Ich für mein Teil habe meine Hoffnungen in dieser Hinsicht aufgegeben, solange man dem Revisionismus nicht ‚klare Kante’ zeigen kann.

[…]
Eure „Gegenfrage“ habe ich nicht verstanden („was Du von unserer Analyse der SED-Gründung hältst?“) Mir liegt keinerlei Material von Eurer Seite dazu vor. Wie Ihr aus meinem obigen Ausführungen entnehmen könnt, leitet sie sich pauschal aus der Frage von Kontinuität und Bruch in der SU und in der KI ab.

Soweit meine Antwort auf Euren Brief.

1) DEBATTE 3 Ulrich Knaudt: Das Wertgesetz und der Sozialismus im 20. Jahrhundert – Seine Auswirkungen auf die gesellschaftliche Praxis in der frühen UdSSR und deren Rückwirkung auf die heutigen Debatten (Oder: Bericht von der Besichtigung einer Baustelle).

2) Gegen die Strömung 1/98 Gründe, warum das Studium des Hauptwerks von Karl Marx von grundlegender und aktueller Bedeutung im ideologischen Kampf ist. Studiert „Das Kapital“.

3) Gemeint ist das Vorwort zur ersten Auflage zu: Karl Marx: Das Kapital MEW 23, 12: „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist jetzt England. Dies ist der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: De te fabula narratur!“

[Also nicht: tua res agitur (‚Es handelt sich um deine Sache’), wie ich irrtümlich aus dem Kopf zitiert habe, sondern „Über dich wird hier berichtet!“ Das macht zwar keinen großen Unterschied, bezeugt aber auch die etwas andere als die vermutete ‚Erzählhaltung’, auf die Marx als Wissenschaftler Wert legt.]

4) Gemeint ist die Selbstkritik der Redaktion von Gegen die Strömung in der o.g. Ausgabe an der „Darstellung der Wurzeln der Ausbeutung“ in einem früheren Flugblatt. Darin hieß es. „Der springende Punkt aber ist, daß Kapitalismus bedeutet, daß der sogenannte ‚gerechte Tausch’ zwischen Arbeitskraft hie und Lohn da in Wirklichkeit ein höchst ungleicher Handel ist“. Ein Leser habe kritisiert, so die Redaktion, daß die kapitalistische Ausbeutung gerade nicht auf diesem „höchst ungleichen Handel“ beruhe, sondern daß Marx im Kapital gezeigt habe, „daß im Durchschnitt die Ware Arbeitskraft gegen Geld nicht ‚ungleich’ getauscht wird. Nicht der Tausch enthält das Geheimnis der Mehrwertproduktion, nicht in der Sphäre der Zirkulation ist die Ausbeutung verwurzelt, sondern im Produktionsprozeß, durch die Ausbeutung der Arbeitskraft“.

Das heißt, daß die alten und modernen Lassalleaner die Ausbeutung in einer Sphäre suchen, in der sie, weil es dort nach bürgerlichem Recht durchaus gerecht zugeht, nicht stattfindet, um auf der anderen Seite mit dem Kapital in jener Sphäre zu kollaborieren, wo es nicht um die Gleichberechtigung zwischen Waren- und Geldbesitzern, sondern einen Akt der Vergewaltigung des Arbeiters zum Zwecke der Aussaugung lebendiger Arbeit durch das Kapital geht.


An partei Marx (11.04.2009)

Lieber Freund.

Danke für Deine umfangreichen Überlegungen.

Punkt 1 Mehrwerttheorie reden wir aneinander vorbei. Können wir uns nicht einigen, daß wir beide die Mehrwerttheorie NICHT für eine „Spezialfrage“ halten, sondern für grundlegend [?]. Ich denke, daß Du das so meinst (wollten Dir nicht unterschieben, daß Du es für eine Spezialfrage hältst…) Unsere Polemik gegen bestimmte Marxologen – nimm das mal so hin – betraf nicht, daß sie die MEHRWERTTHEORIE betonen, sondern eben ihr Abgleiten auf Spezialfragen: Daß wir das Studium des Kapital wesentlich finden, zeigen unsere Publikationen. Daß Marx auch als Theoretiker ein Revolutionär war, ist unsere feste Ansicht.

Die Übereinstimmung von Stalin und Lenin, die Du entdeckt hast, können wir nachvollziehen.
[…]
Dein Anliegen einer vor allem auf wissenschaftlichen Beweisen gestützten Auseinandersetzung stützen wir sehr. Die politischen Differenzen werden so deutlicher. Das wird sich auch an der wissenschaftlichen Debatte über die Sowjetunion nach 1927 zeigen.

Die trotzkistisch-sozialdemokratische Gleichsetzung der Sowjetunion zur Zeit Stalins mit Hitler ist und bleibt ein Kern des Antikommunismus und des typisch deutschen Chauvinismus.

Noch was zum Schluß: Wir studieren die drei Bände des Kapital selbstverständlich, verweisen dabei ausdrücklich auf die drei Bände Theorie über den Mehrwert, da Marx wie jede Wissenschaft sich in der Abgrenzung entfaltet.

Genauso haben wir ein umfangreiches Studium aller Werke der Renegaten Trotzki und Bucharin durchgeführt – in deren sozialdemokratisch-reformistischen Grundauffassung wird erst sichtbar, warum und wie Stalin angesichts des Nazi-Faschismus vorgehen und die Bastion in schwierigsten Situation[en] halten konnte und mußte. Die Arbeiterbewegung in Deutschland hat zweimal ihre Versprechen nicht gehalten: Während und nach dem ersten Weltkrieg (erster Überfall auf die sozialistische Sowjetunion) und 1933/39. Die Weltgeschichte und die Entwicklung der SU wären wahrlich anders verlaufen, wenn die kommunistisch geführte Arbeiterklasse in Deutschland eine Mehrheit repräsentiert und gesiegt hätte.

Soweit für heute.


An Gegen die Strömung (29.04.2009)

Werte Genossen von Gegen die Strömung,

vielen Dank für Eure ausführliche Antwort von Anfang April. Noch einmal: Die Mehrwerttheorie ist der Lackmustest für die Werttheorie der ‚Neuen Marx-Lektüre’. […] Umgekehrt habe ich am Beispiel des russischen Ökonomen Preobraženskij zeigen wollen, was bei einer abstrakten ‚Anwendung’ der Werttheorie auf den Sozialismus herauskommt (siehe demnächst: parteimarx.org DEBATTE 3 ANHANG 1 Arbeitspapier).

[…]
Inhaltlich zu dem letzten Absatz in Eurem Brief: Ob Trotzki und Bucharin „Renegaten“ waren, interessiert mich weniger als das, wodurch sie dazu wurden, was Ihr als „Renegaten“ bezeichnet. Genau genommen könnte man alle führenden Bolschewiki, die eine von Lenin abweichende Position vertreten haben (wie z.B. auch Stalin und Kamenew mit der Prawda vor den Aprilthesen) zu Renegaten erklären. Wenn Ihr meint, daß es sich um „Renegaten“ gehandelt hat, so macht diese Aussage heute nur noch einen Sinn, wenn dabei klargemacht werden kann, worin und warum die Position selbiger „Renegaten“ von der Marxschen abweicht. Um das zu klären, muß man sie aber nicht unbedingt zu „Renegaten“ erklären. Immerhin haben sie eine Revolution gemacht. Es gibt Leute, die Renegatentum bis zu Friedrich Engels zurückverfolgen (siehe: DEBATTE 1 Ulrich Knaudt: Die unscharfe Relation Marx/’Marxismus’ – Reflexionen über Revolution und Konterrevolution in Deutschland).

Warum soll aber gerade die Marxsche Position als Richtschnur gelten? Weil Marx am tiefsten die kapitalistische Produktionsweise erforscht und seine darauf abgeleitete revolutionäre Strategie, solange es diese kapitalistische Produktionsweise geben wird, exemplarische Bedeutung hat für die Verbindung von Theorie und Praxis [haben wird]. Niemand ist so weit gegangen und hat dabei von heute aus betrachtet in seiner Zeit recht behalten!

Engels war ein großartiger militärischer und politischer Stratege, aber an die Tiefe der Marxschen Erfassung der Widersprüche seiner Zeit reicht er nicht heran. Wäre er deshalb ein Renegat? Renegat wäre er nur, wenn er wie Bernstein sich offen oder verdeckt wie Kautsky von der ‚Partei Marx’ distanziert hätte! Wird Lenin wegen seiner Differenzen mit Marx über die bäuerliche russische Gemeinde zum Renegaten? Das will ja wohl niemand von uns behaupten! Aber diese Differenzen gibt es nun einmal, und sie haben einen nicht geringen Anteil an der Entartung der Oktoberrevolution bis zu Stalinschen Konterrevolution. Aber auch das muß bei der Analyse dieser Differenzen wissenschaftlich analysiert werden. Mir ist klar, daß Ihr in diesem Fall die Stalinsche Linie zum Ausgangspunkt Eurer Kritik an den o.g. „Renegaten“ macht. Es macht aber wenig Sinn, darüber zu palavern, ob Ihr das ‚dürft’ oder vermeiden solltet. Das ist bürgerliche Moral!

So auch der Punkt, ob die deutsche „Arbeiterbewegung zweimal ihr Versprechen nicht gehalten“ hat. Uns hätte heute zu interessieren, warum sie, selbst wenn wir einmal von diesem rein moralischen Maßstab ausgehen, dieses Versprechen gar nicht halten konnte? Dafür war eine bestimmte Strategie – umgesetzt in eine bestimmte Politik – verantwortlich. Die stammte von Stalin als Sieger über die ‚Leninsche Garde’. Und die war falsch! Das allerdings müßte auch ich wissenschaftlich begründen können, und so bleibt meine Behauptung bestenfalls eine These, mit der ich allerdings nicht hinter dem Berg halten werde. Hier zeigt sich das ganze Dilemma der ML-Bewegung, die sich seit Jahr und Tag mit Thesen wie dieser das Leben wechselseitig schwer macht, ohne (orientiert an der Marxschen Strategie) ihren konträren Positionen auch nur den Hauch einer wissenschaftlichen Begründung, die hieb- und stichfest ist, zu geben.

Zu den Theorien über den Mehrwert. Diese sind ein ‚Abfallprodukt’ eines Ende der 40er Jahre mit einem Verleger geplanten und dann aufgegebenen Projekts und zweifellos von großer Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des Kapital. Aber das letzte Wort einer wissenschaftlichen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise enthält allein der Erste Band. Aber ich glaube, darüber müssen wir uns nicht streiten.

[…]
Soweit erstmal


An Mohssen Massarat (06.08.2009)

Sehr geehrter Herr Mohssen-Massarrat, in der Literaturliste am Ende Ihres Offenen Briefes an die „Linke“ [1] erwähnen Sie einen Aufsatz über Irans wirtschaftliche Misere in der Zeitschrift INAMO. Ich habe vergeblich versucht, im Internet eine Verbindung herzustellen, aber der Link läßt sich nicht öffnen. Bitte teilen Sie mir freundlicher Weise mit, auf welchem Weg ich mir den Aufsatz und ggf. die Zeitschriftennummer beschaffen kann. Außerdem wäre ich speziell an Informationen über die Landwirtschaft im Iran interessiert.

Schließlich: Ich bin mit Ihrer Diagnose der Linken und ihres Verhältnisses zum iranischen Volk einverstanden, allerdings nicht ganz mit der Anamnese und der vorzuschlagenden Therapie.

Mit freundlichen Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt


1) Mohssen Massarrat: Offener Brief an „die Linke“ anläßlich ihrer mangelnden Solidarität mit der Volksbewegung im Iran (19.07.2009).


An H.B. (10.08.2009)

Lieber H.B.,

jetzt habe ich einfach alles andere beiseite gelegt, um Dir … zu antworten. Die Diskussion über Paradoxien, Antinomien, Widerspruch war sehr erhellend. Noch eine Bemerkung dazu: mir scheint, daß die Paradoxie das dialektische Gegenstück zur Antinomie ist. Hier stehen einander zwei gleich gültige Aussagen gegenüber, die beide wahr sein können, aber sich wechselseitig widersprechen. Dort hast Du dasselbe Problem, nur das ganze in seiner Selbstbewegung (eine Bastardform der dialektischen Selbstbewegung). Hinter beidem verbirgt sich ein dem ersten Anschein nach unlösbarer Widerspruch. Weiter ist die Kantische Dialektik nicht gekommen. Dennoch vergibt Hegel an Kant ein paar Pluspunkte, weil Kant die ganze Problematik überhaupt zur Sprache gebracht hat. Die „Revolution der Denkart“ ist aber noch keine Revolution des Denkens, die Hegel mit der Auflösung der Kantischen Dualismen in gang gesetzt hat. Revolutionär ist Hegels Entdeckung der Einheit des Gegensatzes (habe ich zuerst bei Mao gelesen, erst später bei Plato und Hegel); diese beinhaltet die Möglichkeit der Aufhebung des Gegensatzes anstelle des Verharrens und Umherirrens in der reinen Negation. Denken wir nur an die Religionskriege, die Hexenverbrennungen und all den anderen dogmatischen religiös besetzten Plunder. Gemessen daran ist die Hegelsche Denkweise als Aufhebung der dogmatisch fixierten Antagonismen revolutionär. Genauer, die Denkform! Diese ist strikt zu unterscheiden von den Denkinhalten: inhaltlich schwebt Hegel zwischen dem Ständestaat (historische Rechtsschule) und der konstitutionellen Monarchie. Die Einleitung in die Rechtsphilosophie in Berlin ist historisch gesehen ein Abschied von der Revolution in Paris und den gescheiterten Versuchen, sie in Deutschland fortzusetzen – ein politischer Rückfall, der Hölderlin in den Wahnsinn flüchten ließ. Plato war Mitglied der athenischen Oligarchie, die gegen die Republik geputscht hatte. Er hat u.a. den guten Demokrit auf dem Gewissen durch die systematische Vernichtung von allem, was an diesen erinnerte. Hegel wurde preußischer Professor. Sei’s drum; auf ihrem Gebiet waren sie in bestimmter Hinsicht revolutionär, indem sie konventionelle Denkweisen umgestürzt haben… (Ob sich das auch auf Nietzsche übertragen läßt, bin ich mir nicht so sicher! Wahrscheinlich ist da der Umsturz konventioneller Denkweisen bereits Selbstzweck, daher reaktionär.)

Zurück zur Einheit des Gegensatzes: Reichelt zitiert zwar oft und gerne Hegel, ist aber eigentlich Kantianer, nicht viel anders als in ihrer Mehrheit die Linke, deren Denkweise häufig noch nicht mal vorkantisch ist: also u.a. in der Lage wäre, Antinomien auszuhalten. Sie treibt sich theoretisch und nicht minder politisch in vorkantischen Dualismen herum, indem sie z.B. einen ‚antifaschistischen’ Religionskrieg nach dem anderen startet – darin den Völkischen gar nicht so unähnlich! Ebensowenig gelangt auch der mechanische Materialismus (Lange) im Grunde nicht über Kant hinaus. Da[her] […] wird Dir vielleicht […] aufgefallen sein: Sie [die Linken] haben ganz einfach Angst vor Widersprüchen. Und deshalb braucht es so Irre wie uns, die ihnen ständig den dialektischen Marsch blasen…

Fazit: Hegel hat gezeigt, daß die kantischen Antinomien ‚lösbar’ sind, indem man, wie Du sagst, den ihnen zugrunde liegenden Widerspruch aufdeckt und … diesen zur Entfaltung bringt. (Evolution hieß vor Darwin eigentlich genau das: die Ausfaltung dessen, was in einer Sache unentfaltet bereits vorhanden ist!). Politisch: Die Bourgeois-Marxisten versuchen mit allen Mitteln Revolutionen evolutionär zu bändigen; die Kommunisten müßten genau umgekehrt die gesellschaftlichen Widersprüche durch ihre Aus-faltung (E-volution) zur Entfaltung bringen. Das meinte ich … mit der immanent-revolutionären Methode bei Marx, was Du auch in der Einleitung von Zur Kritik der politischen Ökonomie findest. Wenn die bestehenden Widersprüche noch nicht ihren Reifegrad erreicht haben, der sie zur Entfaltung bringt, kannst Du einen Klassenkampf nach dem anderen lostreten und eine Generation von willigen Revolutionären nach der anderen ins Feuer der Klassenkämpfe schicken: es wird sich rein gar nichts vorwärts bewegen. Damit waren schon Marx und Engels in Gestalt der Handwerker-Kommunisten und danach der linken preußischen Offiziere [in der Zeit um 1848] konfrontiert. So habe ich das, was Du über Klassenkampf gesagt hast, verstanden, und so hast Du auch recht. Aber: wenn wir solche äquivoken Begriffe wie ‚Klassenkampf’ verwenden (und ich weigere mich, darauf zu verzichten!), bedarf es einer Kritik der Terminologie, und das durchaus auf der Grundlage „autoritative(n) Zitieren(s)“ (Praktischer Sozialismus = PS, 9). [1] Denn die Rettung dieser Begriffe wird nur gelingen, wenn sie ins Feuer der Kritik geschickt werden…

Damit bin ich beim eigentlichen Thema: „Gewerkschaften sind Angebotskartelle von Arbeitskraftbesitzern“ (PS, 9). Wenn ich nicht zufällig gerade den guten Keynes beim Wickel hätte, wäre das bei mir als eine unbedeutende Einleitungsfloskel durchgegangen. Aber in dieser Definition steckt bei genauerem Hinschauen bereits das ganze Dilemma der in dieser Broschüre versuchten Grundlegung einer marxistisch begründeten Gewerkschaftsopposition (GO). Wer sie unterschreibt, hat bereits die ganze links-keynesianische Gewerkschaftstheorie wie gesehen gekauft. Bekanntlich konfrontiert Keynes die Behauptung der Klassiker, daß jedes Angebot auf dem Markt seine Nachfrage finden wird, mit der Erfahrung der damaligen Weltwirtschaftskrise und stellt fest, daß diese Behauptung, zumindest, was den Arbeitsmarkt betrifft, empirisch nicht mehr zu halten sei. Um diese Behauptung aber unter den neu eingetretenen Verhältnissen erneut zu bestätigen, muß der Staat in die Wirtschaft eingreifen, um die Angebotskurve (unbeschäftigte Arbeitskraft) mit der Nachfragekurve (Nachfrage des Kapitalisten nach zusätzlichen Beschäftigten) zwangsweise zur Deckung zu bringen…

Zurück zu PS: dort heißt es weiter: „Aus dieser Wesensbestimmung der Gewerkschaften läßt sich eine allgemeine Logik der gewerkschaftlichen Entwicklung [?] ableiten.“ (PS, 10) Sind mit „Entwicklung“ die Gewerkschaften als Institutionen in ihrer Entfaltung (Entwicklung) gemeint oder die Entfaltung der Gewerkschaftspolitik? (Bevor Du weiterliest, solltest Du einen Blick in den Briefwechsel mit der Gruppe Gegen die Strömung werfen [REAKTIONEN 3]).[2] Die Bestimmungen, die ich dort versucht habe, decken das Minimum dessen ab, was ich unter einer ausreichenden, wenn auch noch nicht befriedigenden „Wesensbestimmung der Gewerkschaften“ verstehen würde.) Als geeigneter Maßstab zu ihrer Charakterisierung empfehlen sich die amerikanischen Gewerkschaften, die am klarsten und eindeutigsten als ein kapitalistisches Versicherungsunternehmen definiert werden könnten (siehe meine Mail vom 28.07. [3]): eine Versicherung für die Lohnarbeiter gegen die absolute Verelendung, für die Kapitalisten gegen den Klassenkampf.

Für die „Wesensbestimmung der Gewerkschaften“ liegen folglich zwei einander entgegengesetzte Konzepte vor: das Konzept von der Arbeitsmarkttheorie à la Keynes und den daraus abgeleiteten „Angebotskartelle(n) von Arbeitskraftbesitzern“, worin unterstellt wird, daß allein durch das pure Vorhandensein der Gewerkschaften die Versöhnung des Widerspruchs Lohnarbeit – Kapital (und die Verhinderung des Absturzes des Arbeiters in die absolute Verelendung) ermöglicht wird und auf der anderen Seite das Konzept, das von der Ausfaltung dieses Widerspruchs und Entfaltung desselben zum politischen Klassenkampf ‚Klasse gegen Klasse’ ausgeht (Definition findest Du u.a. im Manifest).[4] Es stellt sich also bei dem Versuch einer „Wesensbestimmung der Gewerkschaften“ von vornherein die Frage: sind die Gewerkschaften als Versicherungsunternehmen zur Befriedung des Widerspruchs Lohnarbeit/Kapital oder als eine Schule des Klassenkampfes in der Marxschen Definition anzusehen?

Die Autoren der Broschüre wollen beides, indem sie die auf den politischen Klassenkampf hinauslaufende Marxsche Definition mit der Arbeitsmarkt-Theorie keynesianischer Provenienz zu vereinbaren oder gar zu versöhnen versuchen. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Dieser Versöhnungsversuch führt zwangsläufig zu einer revolutionär gemeinten StamoKap-Theorie: „Selbstredend steht der Staat aller antikapitalistischen Bewegung“ (auch der von ganz rechts außen: völkischer oder islamistischer Herkunft?) „auf ein reales Gemeinwesen hin“ (das Gegenteil wäre ein irreales Gemeinwesen? Und was beinhaltet dieser Gegensatz) „als fundamentale Bedrohung seiner Besonderung und ‚relativen Autonomie’ (Poulantzas) prinzipiell feindlich gegenüber und ist daher auch ein denkbar ungeeignetes Mittel zur revolutionären Umwälzung der Produktionsweise.“ (PS, 13) Das wäre in der Tat eine ziemlich irreale Annahme! Ich frage mich nur, warum die Autoren überhaupt damit operieren? Schon in seinen Frühschriften, die Dir ja auch sehr am Herzen liegen, verweist Marx auf den elementaren Unterschied zwischen dem „politischen Gemeinwesen“ der revolutionären Bourgeoisie und der Getrenntheit des Arbeiters qua Proletarier vom „menschlichen Gemeinwesen“, von dem dieser durch seine soziale Stellung getrennt sei. (parteimarx.org REFLEXIONEN 1, 5. Dort findest Du auch in Anm. 11 eine erste Definition des politischen Klassenkampfes). Der Staat eignet sich [seiner Bestimmung nach] weder als „Mittel zur revolutionären Umwälzung der Produktionsweise“ noch sollte der politische Klassenkampf mit der politischen Revolution, die die Bourgeoisie zur Herrschaft bringt, verwechselt oder vermischt werden. (Siehe parteimarx.org REFLEXIONEN 1 und die Kritik an Uwe-Jens Heuer, der dieser Verwechslung erliegt.) Der Staat hat, – lassen wir Herrn Keynes mal außer acht – in der Beziehung zwischen Kapitalist und Arbeiter, die doch im Sinne des bürgerlichen Rechts eine privatrechtliche ist, worin zwei Warenbesitzer über den Austausch zweier Waren (Arbeitskraft) gegen Geld (Kapital) verhandeln und sich einigen – sonst kommt der Kontrakt nicht zustande und der Arbeiter wird arbeitslos – auch überhaupt nichts zu suchen. Er hält sich da fein raus. (Daß diese Ware besondere Potenzen hat, zeigt sich doch erst, wenn der Käufer sich ihren Gebrauchswert zunutze macht.)

Der Abschnitt über den „’Gewerkschaftsstaat’“ (PS, 13) enthält einige Statements zur Alimentierung der Arbeitslosen, die ich auf den ersten Blick fast unterschrieben hätte, bevor ich das ‚Kleingedruckte zur Kenntnis nahm: „Erst die selbstkonstituierte organisatorische Einheit von Arbeitslosen und Lohnabhängigen und damit die vollständige Aufhebung der Konkurrenz unter den atomisierten Proletarisierten (?) machte aus ihnen eine Klasse an und für sich.“ (PS, 13) Nur, warum muß sich das Proletariat zunächst erst einmal proletarisieren, um überhaupt als Klasse zu existieren? Entweder befinden sich die Lohnabhängigen individuell (durch ihre Unterschrift unter den Arbeitsvertrag) und historisch auf dieser Seite des Widerspruchs Lohnarbeit – Kapital oder wir zergliedern das Proletariat als Klasse soziologisch; dann verschwindet zwar (vordergründig) diese Seite des Widerspruchs, ohne daß aber der Widerspruch wirklich verschwände.

Seit Jahr und Tag krankt das Verhältnis der Linken zum Proletariat daran, daß sie sich diesen Widerspruch in ihrem provinziellen Kopf nicht vermittelt über den Weltmarkt zu eigen macht. (Das hat auch politische Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen werde.) Aus der Weltmarkt-Perspektive [betrachtet] sind die deutsche Arbeiterklasse und die Situation, in der sie sich befindet, wohl kaum als revolutionär zu bezeichnen. Dennoch ist und bleibt sie Bestandteil des Weltproletariats, dessen konkrete Bestimmung wiederum empirisch nicht ganz einfach ist.

Unter dieser Annahme ist auch die dem oben zitierten Satz folgende einfache Negation absurd: „Auch aus diesem Grund können Gewerkschaften, wie zu zeigen sein wird, keine revolutionären Organisationen des Proletariats sein.“ (ebd.) Das wollten sie auch nie sein! Die Gewerkschaften sind oder werden zu dem, was der Klassenkampf aus ihnen macht: entweder eine Schule des Konkurrenzkampfes omnium contra omnes (ihr gegenwärtiger Ist-Zustand) oder eine Schule des Klassenkampfes! Beides schließt einander durch die Klassensolidarität aus. (Auch so ein verstaubter Begriff, der in das Feuer der Kritik zu werfen ist!) Wenn ich aber die Gewerkschaften als Schule des Klassenkampfes ansehe, ist der folgende Satz einfach falsch (oder enthält eine richtige Ausschließung an der falschen Stelle): „Da die Gewerkschaften nur Mindestbedingungen für die individuellen Arbeitsverträge“ (kollektiv!) „durchsetzen können, ist die gewerkschaftliche Organisierung prinzipiell unfähig, die Einheit der proletarisierten Klasse herzustellen…“ (ebd.) Genau das Gegenteil ist der Fall: nämlich, daß „die Einheit der … Klasse“ [die elementare] Voraussetzung ist zur kollektiven Durchsetzung von „Mindestbedingungen für die individuellen Arbeitsverträge“!

Diese Einheit wird von den Verhandlungspartnern auf Gewerkschaftsseite zwar als Drohinstrument verborgen gehalten (ein gewerkschaftlicher ‚big stick’!); aber ohne die Möglichkeit seines realen Vorhandenseins würden die Gewerkschaften von der Gegenseite als irrelevant wahrgenommen. Ebenso wie die Einheit der Arbeiterklasse ein von der Gewerkschaftsseite instrumentalisiertes, aber (auch erst dadurch) durchaus reales Drohmittel ist, verhält es sich mit der Klasse des Proletariats, die nur soweit gesellschaftliche Realität ist, wie sich das Proletariat für den politischen Klassenkampf organisiert, was die real existierenden Gewerkschaften unter allen Umständen vermieden sehen wollen. Aber nur unter dieser Voraussetzung ließe sich von der „Einheit der … Klasse“ sprechen. Ohne diese Voraussetzung wird es nicht mal ansatzweise zu einer solchen „Einheit“ kommen; ganz im Gegenteil würde die „Einheit“ des Proletariats als „Klasse“ durch die „proletarisierte Klasse“ der Präkarisierten eher torpediert, weil, je länger die Arbeitslosigkeit anhält, diese zu einer Kaste von prekarisierten Arbeitskraftunternehmern degenerieren muß, die, um sich wiederum am politischen Klassenkampf zu beteiligen, ihrerseits überhaupt erst mal „proletarisiert“ werden müßte.

In diesem Sinn ist die These vom zur „proletarisierte(n) Klasse“ zu proletarisierenden Proletariat falsch. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Ohne das Proletariat keine industrielle Reservearmee. Ohne Leugnung der Marxschen These von der industriellen Reservearmee [gäbe es] kein[en] Keynesianismus. Keynes versucht zwar eine Erklärung der Arbeitslosigkeit, aber nur, um die klassische These, daß es für jedes Angebot eine Nachfrage geben muß, unter bewußtem Verzicht auf die Marxsche Reservearmee erneut zu bestätigen. Die industrielle Reservearmee ist aber nicht akzidentiell, sondern wesentlich mit der Existenz des Proletariats verknüpft. Ohne Proletariat keine Reservearmee, nicht jedoch, wie es oben umgekehrt heißt: nur durch eine „proletarisierte Klasse“ das Proletariat.

Außerdem ist es nicht der Staat, der die Arbeitslosen alimentiert, sondern die Arbeitslosen selbst, die, als sie Teil der beschäftigten Arbeiterklasse waren, den Reservefonds gebildet haben, den der Staat an sich reißt und dessen Verteilung er organisiert. (Bismarck war schon ein schlauer Kopf! Was wird sein, wenn die Krise im Winter erst richtig losgeht, und die Wahlkampfzusagen aus dem Arbeitslosentopf aufgebraucht sein werden?) Die industrielle Reservearmee leitet sich nicht aus der Alimentierung der Armen ab, sondern deren Existenz ist Ausdruck der begrenzten Möglichkeiten der Klasse, sich als Klasse zu organisieren und ihre Notfall-Fonds selbst zu verwalten und zu verteilen…

An dieser Stelle breche ich meine Text-Analyse erst mal ab. Ich nehme an, daß daran zumindest soviel klargeworden ist, daß es obigen Wesenbestimmungen der Gewerkschaften an der erforderlichen radikalen begrifflichen Differenzierung mangelt. Daran ändert auch meine subjektive Sympathie für diesen zweifellos das Übliche überragenden Versuch einer Wesensbestimmung der Gewerkschaften nichts. Dieser läuft auf eine marxistische G[ewerkschafts]O[pposition] auf links-keynesianischer Grundlage hinaus mit der Zukunftsperspektive einer sozialistischen Marktwirtschaft. Diese Perspektive ist nicht neu, wie Du aus meinem Beitrag zum letzten Frühjahrskolloquium (parteimarx.org DEBATTE 3) entnehmen kannst. Sozialistische Marktwirtschaft heißt hier, daß es sich entgegen dem sozialistischen Anspruch um keine „gesellschaftliche Produktion“ im Marxschen Sinn handelt, bei der die Arbeitskraft aufhört, Ware zu sein. Denn bevor wir überhaupt dazu kämen, stellte sich die Frage nach der eigenständigen Existenz dieses kapitalistischen Versicherungskonzerns, nach seinem Zusammenwachsen mit dem und seiner Radikalisierung im politischen Klassenkampf oder [die Frage] nach seiner Zerschlagung als Teil des Staatsapparats und seiner Ersetzung durch die Sowjets… Er wurde aber 1917 nicht zerschlagen, sondern mit Sowjetöl gesalbt; dafür wurden in Kronstadt die Sowjets zerschlagen, an deren Stelle traten wieder ganz ordinäre Gewerkschaften mit allem, was im Kapitalismus dazugehört… Andererseits bezeugt der Charakter der real existierenden Gewerkschaften als moderner kapitalistischer Versicherungskonzern die Überreife des Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Die Strategie der proletarischen Revolution und des Sozialismus bedarf eines Paradigmenwechsels: Die Akkumulation des Reichtums ausgehend von [und auf Grundlage] der gesellschaftlichen Armut (eine Strategie, die überall zur Herausbildung einer neuen Bourgeoisie geführt hat) kannst Du begraben. Wir befinden uns statt dessen in der paradoxen Situation, daß das Anwachsen der Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums individuelle Armut in infinitum erzeugt. Erst wenn dieser Paradigmenwechsel verdaut ist, wird auch eine zeitgemäße Bestimmung des Wesens der Gewerkschaften möglich sein.

Anstatt den hinter der Paradoxie: Wachsender gesellschaftlicher Reichtum = Zunahme individueller Armut, verborgenen Widerspruch aufzuspüren, verwandelt die Linke diese Paradoxie in den schlichten Dualismus: Zunahme des subjektiven Reichtums = Zunahme der subjektiven Armut; ergo Beseitigung dieser Ungleichheit durch Verringerung des subjektiven Reichtums und Umverteilung desselben an die Armut. Durch diesen schlichten Arm-Reich-Gegensatz wird dieser Widerspruch auf kleinbürgerliche Weise seines gesellschaftlichen Charakters entkleidet. Denn wer verteilt die Verteiler? Oskar Lafontaine? Eine darauf gegründete ‚revolutionäre Strategie’ landet mit ziemlicher Sicherheit bei der erneuten Verstaatlichung der Arbeiterklasse durch die Verstaatlichung ihrer Gewerkschaften und der Verwandlung des bürgerlichen Staates, diesmal nicht von rechts, sondern von links, nicht in einen nationalen, sondern in einen sozialen Gewerkschaftsstaat…

Du wirst wahrscheinlich auch in meinen Überlegungen eine Menge Widersprüche entdecken. Das ist auch gut so; denn ohne die Klärung von Widersprüchen ist an keinen Fortschritt zu denken.

Herzliche Grüße

Ulrich

1) Praktischer Sozialismus. Antwort auf die Krise der Gewerkschaften (Schriften des Hans-Jürgen-Krahl-Instituts), 2007.

2) parteimarx.org REAKTIONEN 3: An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt. 21.03.2008; 12.07.2008.

3) Darin hieß es u.a.: „Die Leute, aus denen die heutige GO-Zeitung ‚Express’ hervorgegangen ist, haben dieses Intellektuellen-Problem dadurch gelöst, daß sie sich als Intellektuelle auf Gewerkschaftsarbeit (früher: ‚Betriebsarbeit’) konzentrieren. Damit haben sie für sich persönlich vielleicht das Intellektuellen-Problem gelöst, aber nicht das eigentliche Problem, das dahintersteckt: wozu diese Betriebesarbeit eigentlich gut sein soll? Die eigentliche von ihnen zu treffende Entscheidung wäre dagegen: Entweder sind die Gewerkschaften ein Versicherungsunternehmen: für die einen gegen die absolute Verelendung (Lohnarbeit), [für] die anderen gegen den Klassenkampf (Kapital) oder sie sind eine Schule des Klassenkampfes. Hier beginnt meine Kritik am ‚Praktischen Sozialismus’: daß sie diese Frage nicht entschieden haben, sondern sich auf linkskeynesianische Weise um diese herummogeln wollen. aber dazu im einzelnen später. Jedenfalls sind diese Leute theoretisch ein wenig ernster zu nehmen als die üblichen (theoretisch sehr beschlagenen, aber politisch naiven) Linkskeynesianer, von denen sie sich aber nicht wirklich unterscheiden. Vielleicht wird das ein Thema für die REFLEXIONEN 2 (?).“

4) Karl Marx; Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei MEW (461-493), 471: „Von Zeit zu Zeit [!] siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, [!] die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampfe zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf aber ist ein politischer Kampf.“


An H.B. (24.08.2009)

Lieber H.B., im Anhang, [1] ein Beispiel dessen, was ich als Dualismus bezeichnet habe. In diesem Fall aus der Hirnforschung. Die Gegenposition gegen den metaphysisch-materialistischen Reduktionismus scheint aber auch daran zu kranken, daß sie zwar zur Gesellschaft gelangt, aber nicht bis zur gesellschaftlichen ‚work-lichkeit‘ durchdringt.


1)
Rezension FAZ zu Thomas Fuchs: Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologische-ökologische Konzeption, Stuttgart 2008.


An Mohssen Massarat (24.08.2009)

Sehr geehrter Herr Professor Massarrat, vielen Dank für den Hinweis zur Beschaffung von INAMO. Ich erlaube mir meinerseits den Hinweis auf meine Kritik an Ihrem  „Offenen Brief an die ‚Linke’…“, zu finden unter: parteimarx.org, BLogbuch, August (1): Was die deutsche Linke mit dem Iran zu tun hat?

Mit freundlichen Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt


An Ernst-Ulrich Knaudt (25.08.2009)

Lieber Herr Knaudt,

mit großem Interesse habe ich Ihren Text gelesen und dabei wesentlich mehr Übereinstimmungen zwischen Ihnen und mir festgestellt als Sie annehmen. Bei dem einzigen Punkt, in dem Sie in Bezug auf westliche Feministinnen einen substantiellen Dissenz entdecken, scheint ein Mißverständnis Ihrerseits vorzuliegen.

Im Zentrum meiner Kritik an westlichen Feministinnen in ihrem Verhältnis zu Kopftuch tragenden Musliminnen steht die Respektlosigkeit gegenüber dem Willen von Menschen, sich so zu kleiden wie sie selbst es wollen und nicht wie der mainstream es von ihnen verlangt. Insofern stehen westliche Feministinnen auf derselben Stufe wie Islamisten im Iran und anderswo, die ebenso respektlos ihren Willen gegenüber Frauen, die sich für westliche Kleider entschieden haben, durchsetzen wollen. Die Ereignisse verlaufen spiegelverkehrt, dahinter steht aber dasselbe antidemokratische Prinzip. So gesehen, reden wir über dieselbe Massenbewegung im Iran, bei der diese Respektlosigkeit mit Gewalt zum Ausdruck gekommen ist, und das ist vielleicht der Unterschied im Verhalten der westlichen Feministinnen hier gegenüber Kopftuch tragenden Musliminnen. Allerdings sind Berufsverbote, die damit einhergehen, auch eine Art Gewalt, strukturelle Gewalt. Ich hoffe, daß sie mir in diesem Sinne auch zustimmen können.

Im übrigen würde ich wünschen, daß die Debatte über eindimensionale Antikapitalisten einen größeren Kreis der Linken erreicht. Vielleicht können Sie auch dazu beitragen. Ich beabsichtige, demnächst einen Text zu Mißverständnissen über den Kapitalismus zu verfassen.

Mit den besten Grüßen

Mohssen Massarrat


An Mohssen Massarat (26.08.2009)

Sehr geehrter Herr Prof. Massarrat,

die Ursachen für das von Ihnen genannte Mißverständnis lassen sich relativ einfach erklären: vermutlich trugen viele Frauen während der iranischen Revolution 1979 das Kopftuch aus Protest gegen den amerikanischen Modernismus, den sie mit der Schah-Diktatur gleichsetzten. (Noch unter dem Vater von Reza Pahlevi war bekanntlich in Anlehnung an die Kemalisten „der Tschador“ verboten). Wenn die iranische Revolution nicht in einer, wie Sie es nennen, Theokratie geendet wäre, [1] hätten die Trägerinnen des Kopftuchs dieses wahrscheinlich in wachsender Zahl abgenommen. So wurde der Tschador, in Umkehrung zu seinem staatlich verordneten Verbot aus den 30er Jahren zur Zwangsbekleidung. Der westliche Feminismus hat übrigens Ende der 70er Jahre die iranische Revolution in Bausch und Bogen abgelehnt. Der „Willen von Menschen, sich so zu kleiden, wie sie wollen“, ist etwas grundsätzlich anderes als das Diktat der ‚Theokratie‘, durch das allen weiblichen Bewohnern des Iran von einem bestimmten Alter an die Form ihrer Bekleidung vorgeschrieben wird. Dann verwandelt sich der „Willen“ in staatliche Willkür. Dagegen – und darauf sind Sie leider nicht eingegangen – wendet sich die kulturrevolutionäre Massenbewegung im Iran, die dem äußeren Anschein nach den amerikanischen Modernismus wiederzubeleben scheint. Nur hat sich dessen Bedeutung umgekehrt: war der Tschador vor 1979 Protestsymbol gegen den american way of life + Schah-Dikatur, so ist das Verlangen nach der ‚westlichen‘ Lebensart durch die iranische Jugend Protestsymbol gegen die orientalische Erdöl-Despotie Ahmadineschads und die mit ihm verbündeten Erdöl-Despoten in Asien, Afrika und Lateinamerika. Der Unterschied zwischen dem american way of life der 50er und 60er Jahre und der heutigen ‚westlichen‘ Zivilisation besteht aber darin, daß sich diese mit den zivilisatorischen Errungenschaften der kulturrevolutionären und antiimperialistischen Massenbewegungen der 60er Jahre, die auch gegen den american way of life gerichtet waren, aufgetankt hat. Die im Iran heute stattfindende Kulturrevolution wird sich nicht auf diesen beschränken, sondern früher oder später die ganze verknöcherte Zivilisation der islamischen Welt heimsuchen.

Da der westliche Feminismus kaum anders gestrickt ist als die westliche Linke, nämlich anti-‚westlich‘, kann jener für den Protest seiner Geschlechtsgenossinnen im Iran ebenso wenig Solidarität entwickeln. Anstatt den Frauen im Iran seinen „Willen“ aufzuzwingen, nimmt der westliche Feminismus die dort stattfindende Kulturrevolution erst gar nicht zur Kenntnis… Unser „Mißverständnis“ entpuppt sich bei allen sonst möglicherweise feststellbaren Gemeinsamkeiten als Problem einer entgegengesetzten Perspektive hinsichtlich der Einschätzung der iranischen kulturrevolutionären Massenbewegung.

Kaum anders verhält es sich mit den „eindimensionalen Antikapitalisten“. Diese verteidigen im Grunde einen durch und durch zum Staatsterrorismus gegen das eigene Volk verkommenen ‚Antiimperialismus‘, was sogar schon, wenn auch sehr oberflächlich, der jW aufgefallen ist. [2] Die theoretischen Wurzeln des – wie ich es nenne – abstrakten Antikapitalismus finden Sie z.B. in Preobrashenskijs abstrakter Werttheorie (siehe mein Vortrag vor der Marx-Gesellschaft auf der gleichnamigen home page). [3] Vielen Dank für den Hinweis auf Ihr Buch; auch lasse ich mich gerne in Ihre Mailing Liste aufnehmen.

Zu guter Letzt würde ich es gut finden, wenn unsere Diskussion mit Ihrem Einverständnis auf den Seiten der ‚partei Marx‘ dokumentiert würde.

Mit freundliche Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt

1) Mohssen Massarat: Offener Brief an „die Linke“ anläßlich ihrer mangelnden Solidarität mit der Volksbewegung im Iran (19.07.2009): „…Die islamische Theokratie wuchs nach der Revolution zunächst auf dem Trümmerhaufen eines erbittert geführten Kampfes zwischen Khomeini-Anhängern, den links-islamischen Volksmudschaheddin und linken Volksfedayin – allesamt mit ihrem jeweils unerschütterlichen Alleinvertretungsanspruch darauf, was die Wahrheit ist. Für die Festigung der Theokratie und die Säuberung aller Gegner sorgte dann der acht Jahre andauernde Irak-Iran-Krieg. In seiner bisherigen Geschichte erlebte die iranische Gesellschaft also lediglich nur während der goldenen Demokratie-Jahre der Mossadegh-Ära (1951-1953) freie Presse, freie Parteien, freie Wahlen und unabhängige Gewerkschaften. … Im kapitalistischen Westen sind alle diese Vorbedingungen gegeben, die im Iran erst hergestellt werden müßten. Die Linke sollte sich zuerst mit den Zielen der iranischen Volksbewegung gegen die Theokratie – die historisch zweifelsohne auf der Tagesordnung steht – uneingeschränkt solidarisieren. Dann aber sollte sie sich auch gelegentlich fragen, warum sie zur Erreichung weitergehender Emanzipationsziele in den eigenen Ländern nicht weiterkommt und auf der Stelle tritt.“

2) junge Welt 15/16.08.2009: Helft der Revolte vom Sofa! Offenkundig profitiert die Linke nicht von der Krise. Warum ist das so? Versuche, eine Debatte anzustoßen.
3) marx-gesellschaft.de Texte. Ulrich Knaudt: Das Wertgesetz und der Sozialismus im 20. Jahrhundert – Seine Auswirkungen auf die gesellschaftliche Praxis in der UdSSR und deren Rückwirkung auf die heutigen Debatten.


An Ernst-Ulrich Knaudt (27.08.2009)

Lieber Herr Knaudt,

ich glaube, Sie haben mich mißverstanden. Ich stimme Ihren Ausführungen jedenfalls zu und meine, in meiner letzten mail an Sie inhaltlich das gleiche geschrieben zu haben. Die Machthaber schossen auf die demonstrierenden modern aussehenden Frauen, weil diese endlich von ihrem Recht Gebrauch machen wollten, so leben zu können, wie sie es selber wünschen. Ich habe diese Gewalt mit der strukturellen Gewalt des faktischen Berufsverbots für Kopftuchträgerinnen in Deutschland verglichen, ohne sie gleichsetzen zu wollen.

Meines Erachtens sagen Sie mit Ihren historischen Beispielen etwas ähnliches, oder? Gern können Sie unsere Diskussion auf ‚Partei Marx’ (was ist das eigentlich?) veröffentlichen.
Beste Grüße

Mohssen Massarrat


An Mohssen Massarat (31.08.2009)

Sehr geehrter Herr Prof. Massarrat,

zunächst zu Ihrer Frage: „‚Partei Marx‘ (was ist das eigentlich?)“. Das ist der Name einer Web Site, auf der ich erfolglos versucht habe, die Gründe für den politischen Verfall der Linken zu analysieren und solidarisch zu diskutieren. Diese Diskussion betrachte ich heute als weitestgehend abgeschlossen. Die Linke ist in einen ‚Aggregatzustand‘ übergegangen, der eine solche Diskussion als überflüssig erscheinen läßt. Verglichen mit diesem Trend bildete Ihr ‚Offener Brief‘ auf den ersten Blick für mich eine Ausnahme, obwohl beim näheren Hinschauen Gemeinsamkeiten mit jener von Ihnen kritisierten Linken zutage traten, die ich in meinem BLogbuch-Eintrag vom August (1) näher charakterisiert habe. [1] (Insofern hat es mich verwundert, daß Sie den Text kannten, ohne die Web Site zu kennen, auf dem er zu finden ist.) Auf diese von mir kritisch vermerkten Gemeinsamkeiten mit der hiesigen Linken gehen Sie in Ihrer Mail vom 25.08. aber nicht ein, sondern beschränken sich auf die zweierlei Respektlosigkeiten (der Frauenbewegung hier, des iranischen Regimes dort), die Sie laut Mail vom 27.08. „vergleichen, ohne sie gleichsetzen zu wollen“ und die sich auf der Grundlage „desselbe(n) antidemokratische(n) Prinzip(s) … spiegelverkehrt“ aufeinander beziehen sollen. Ich habe den starken Verdacht, daß durch derartige Spiegelverkehrtheiten unsere Debatte in einen unendlichen Regreß geraten ist, die wir, hätten wir unendlich viel Zeit endlos fortsetzen könnten…, jedenfalls, solange die Frage nicht geklärt ist, ob besagte Respektlosigkeiten in einer komplementären Beziehung zueinander stehen oder nicht. Ein derartiger Regreß läßt sich bekanntlich nur vermeiden, indem man ihn verläßt – aber wohin?

Um unsere Diskussion auf ein konstruktives Gleis zu lenken, schlage ich zum Thema „eindimensionaler Antikapitalismus“ meinen Vortrag „Das Wertgesetz und der Sozialismus im 20. Jahrhundert“ vor. Er findet sich auch meiner Web Site unter DEBATTE 3. [2] Ich werde mir meinerseits Ihr Buch beschaffen [3] und mich darüber hinaus mit der heutigen Wirtschaft des Iran vertraut zu machen versuchen.

Mit freundlichen Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt

1) parteimarx.org BLogbuch August (1): Was die deutsche Linke mit dem Iran zu tun hat?

2) parteimarx.org DEBATTE 3: Wertgesetz und Sozialismus.

3) Mohssen Massarrat: Kapitalismus, Machtungleichheit, Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen, Hamburg 2006.


An den Buchladen Georgi Dimitroff in Frankfurt (14.09.2009)

Hallo Buchladenkollektiv, vielen Dank für GdS 6-7 2009, die Ihr mir, wie ich annehme, wohl auch in der Erwartung geschickt habt, dazu von mir was zu hören. [1] Da Ihr Euch darin mit einer äußerst wichtigen politischen Frage beschäftigt (bisher bewegten wir uns ja hauptsächlich auf theoretischem Terrain), komme ich diesmal um eine politische Stellungnahme nicht herum. Darin wird sich vor allem die Feststellung nicht mehr umgehen lassen, daß wir trotz vieler Gemeinsamkeiten und Sympathien (zumindest, was mich betrifft) von vollkommen entgegengesetzten Prämissen ausgehen.

Eines vorweg: wenn ich in meinem politischen Leben nicht ähnlichen politischen Irrtümern angehangen hätte, wie ich sie jetzt bei Euch, was die Politik Stalins und der KPdSU(B) betrifft, vorfinde, würde ich vielleicht die ganze Angelegenheit einfach ignorieren und Euren Aufsatz wie vieles andere im Archiv ablegen. Hier also meine Antwort:

Auf meiner home page finden sich einige Hinweise, wie ich diese Politik inzwischen einschätze. Im Mittelpunkt dieser Einschätzung steht Stalins Putsch im Jahre 1934 gegen die eigene Partei (genauer: gegen das ZK), die mehrheitlich nicht mehr bereit waren, seiner Linie vor allem in der Bauernfrage zu folgen (ein Indiz dafür wäre, daß große Teile des ZK die ‚Säuberungen’ der 30er Jahre nicht überlebt haben). Nach meinen theoretischen Überlegungen bin ich, gestützt auf Marx, zu der Feststellung gelangt, daß das Herzstück der Revolution in Rußland die Lösung der Bauernfrage hätte sein müssen. Und je näher ich mich damit befasse, desto deutlicher werden die fatalen Konsequenzen, die aus deren falscher Gewichtung erwachsen sind. Stalin, das müßte man zur seiner politischen Ehrenrettung (wenn es da noch was zu retten gäbe) sagen, hat eigentlich nur nach den Halbherzigkeiten, mit denen Lenin zwischen der Marxschen und der Kautskyschen Position in der Agrarfrage hin- und hergerissen war (was ansonsten gar nicht zu ihm paßt), die unaufschiebbar gewordenen Entscheidungen in seiner Partei bezüglich der Bauernfrage auf seine brutale Weise exekutiert. Zu der Marxschen Position habe ich mich verschiedentlich geäußert. Meine Interpretation derselben mag falsch sein. Wenn Ihr meint, das sei der Fall, dann bitte, widerlegt sie.

Von der reaktionären Lösung der Bauernfrage (die im Endeffekt auch der Stalinschen Konterrevolution zugrunde liegt) leitet sich die sozialimperialistische Lösung der Nationalen Frage ab (die Wurzel der Nationalen Frage liegt meiner heutigen Einschätzung nach ebenfalls in der Bauernfrage und nicht [allein] in der mangelhaften Verwirklichung des von Lenin geforderten und analog zu Woodrow Wilson vertretenen Selbstbestimmungsrechts der Nationen, wie auch ich lange Zeit angenommen habe). Und damit bin ich schon bei Eurer Einschätzung der Potsdamer Konferenz:

Diese ist im wesentlichen unzutreffend: es gibt kein Potsdamer Abkommen zwischen den drei Alliierten, sondern es existiert nur ein Protokoll, das festhält, worin diese über einen begrenzten Fragenkreis Übereinstimmung erzielt haben, d.h. worin sie bei der künftigen Verwaltung Deutschlands zusammenarbeiten werden und wo sie getrennte Wege gehen müssen. Anstatt dieses Protokoll als Abkommen zu bezeichnen, wäre es sinnvoll gewesen festzuhalten, was dieses auf jeden Fall nicht ist: ein Friedensabkommen oder gar ein Friedensvertrag über den Status Deutschlands (oder auch nur ein erster Entwurf zu einem solchen). Die drei Alliierten haben sich lediglich über ihre getrennte Herrschaft über das von ihnen eroberte Niemandsland verständigt, das bis zum Kriegsende eine wirtschaftliche Einheit gebildet hatte, die, soweit es ihre Gegensätze zuließen, aufrechterhalten werden mußte. Denn einer der Hauptstreitpunkte waren (und darüber verliert Ihr kein Wort) die aus diesem Niemandsland zukünftig zu beziehenden Reparationsleistungen, für deren Erhebung Deutschland allerdings weiterhin eine wirtschaftliche Einheit hätte bilden müssen. Über diese Paradoxie (denn die Reproduktion des Kapitals setzt ja nun mal nach Marx das Bestehen einer einheitlichen „Douanegrenze“ und einen freien Fluß der Waren innerhalb derselben voraus) wurde ergebnislos gestritten, was schon bald zur Folge hatte, daß die westlichen Alliierten schließlich eine separate „Douanegrenze“ zogen, während Stalin wegen der Unlösbarkeit dieses Problems (so gut kannte er seinen Marx) den ihm zufallenden territorialen Anteil von vornherein bis auf den Grund ausplünderte und alles, was nicht niet- und nagelfest war, die Wissenschaftler eingeschlossen, die er u.a. zum Bau der Atombombe gleich mit einpackte, in die SU abtransportieren ließ. Ein weiteres Problem, das die westlichen Alliierten in starke Verlegenheit und in Schwierigkeiten versetzte, waren die aus Osteuropa in die Westzonen vertriebenen Millionen Flüchtlinge (nach Eurer Einschätzung durch die Bank Einflußagenten und Fünfte Kolonnen Nazi-Deutschlands). Damit diese Austreibung nicht mit einem Schlag die Westsektoren Deutschlands überflutete, wurde eine ‚humane Lösung’ dieser Völkerverschiebung angemahnt, eine Klausel, von der allen Beteiligten klar war, daß sich in der Praxis niemand daran halten werde. Die Sowjetunion schon gar nicht, da sie erwidern konnte, ihr Einfluß auf die osteuropäischen Regierungen sei begrenzt (was eine glatte Lüge war).

Die Potsdamer Konferenz war ihrer völkerrechtlichen Bedeutung nach also nicht mal ein zweites Versailles, da selbst dessen Voraussetzungen nicht mehr bestanden, denn:

  • Die Alliierten behandelten Deutschland nicht mehr als Kriegsgegner (Versailles), sondern [ausschließlich] als Kriegsschuldigen (wobei die Kriegsschuld Hitler-Deutschlands unbestritten ist).
  • Die Alliierten verhandelten statt dessen nur miteinander über ein möglichst gemeinsam zu verwaltendes Niemandsland und die aus diesem Niemandsland herauszupumpenden Reparationen, was eine Paradoxie darstellt, weil alle Beteiligten auf der einen Seite behaupteten, sie wollten Deutschland weder spalten noch kolonisieren, sie auf der anderen Seite aber nicht in der Lage waren, die wirtschaftliche Einheit Deutschlands wieder herzustellen. (Jede Seite sollte die Reparationsleistungen in ihrer eigenen Besatzungszone einziehen und als Entschädigung für sich verwenden.)
  • Während über die Reparationen und die Flüchtlingsfrage aber schließlich eine formelle Einigung erzielt wurde (ohne jedoch in der Praxis zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu gelangen und die Austreibungen der Deutschen aus Osteuropa bremsen zu können), sollten die territorialen Grenzen Deutschlands auf einer irgendwann einzuberufenden Friedenskonferenz bestimmt werden. (Das ermöglichte Stalin, die ‚Westverschiebung’ Polens in die Tat umzusetzen, was nicht nur die Vertreibung von mehr als 10 Millionen Deutschen, sondern von mehreren Millionen Polen aus den bisherigen polnischen Grenzgebieten zur Ukraine [und Bjelorußland] zur Folge hatte – auch darüber verliert Ihr kein Wort.) Dadurch wurden im östlichen Teil Mitteleuropas politische und territoriale Fakten geschaffen.
  • Die einzige Einigung über territoriale Fragen wurde mit der Abtrennung Ostpreußens erreicht, dessen südlicher Teil (als Entschädigung für die ‚Westverschiebung’ seines Territorium zugunsten des großrussischen Imperiums) an Polen ging.
  • Schon gar nicht handelte es sich bei diesem „Abkommen“ um einen ‚Frieden ohne Kontributionen und Annexionen’, wie ihn Lenin 1917 von den Kriegsparteien gefordert hatte, sondern um eine imperialistische Aufteilung Deutschlands. Dabei entstand in einer Verkehrung der Fronten die absurde Situation, daß die westliche Seite eher zu einem gerechten Frieden im Leninischen Sinne bereit gewesen wäre, während die östliche die Rolle der Imperialisten aus dem Jahr 1917 gegenüber der Leninschen Sowjetmacht einnahm. (Der Vollständigkeit halber wäre hinzuzufügen, daß die USA im Gegensatz zu Stalin auch kein Interesse an deutschen Eisenbahnschienen zeigten und sich statt dessen auf das Einsammeln deutscher Patente konzentrierten − wie zukunftsträchtig dieses Vorgehen war, zeigen die gegenwärtigen Verhandlungen über die Opel-Pleite.)
  • Im übrigen wurden die auf der Konferenz von Jalta bereits getroffenen Verabredungen über die gemeinsame Ausübung der alliierten Hoheitsrechte im deutschen Niemandsland erneuert und konkretisiert. Wenn die Bezeichnung ‚Abkommen’ überhaupt angebracht war, dann auf dieser rein administrativen ‚Ebene’. Durch diese Absprachen sollte trotz der politischen Differenzen im Interesse aller Beteiligten verhindert werden, daß das Niemandsland außer Kontrolle geriet.

Im Ergebnis ist demnach festzuhalten, daß es den westlichen Alliierten nicht gelang, die östliche Seite auf verbindliche Absprachen über den status quo auch in Ost-Deutschland und Ost-Europa festzulegen, der bis zu jenem Zeitpunkt gegolten hätte, da auf einer Friedenskonferenz eine abschließende Lösung der sog. Deutschen Frage (einschließlich der Nachkriegsgrenzen Deutschlands) mit einer deutschen Regierung vereinbart worden wäre. Da Stalin nicht bereit war, die von ihm eigenmächtig gezogenen Grenzlinien rückgängig zu machen (Westverschiebung Polens), [2] und hinsichtlich der unter dem Schutz der  Bajonette der Roten Armee installierten Regierungen in Osteuropa zu keinerlei Konzessionen oder Absprachen bereit war, war z.B. auch die gesamte Friedens- und Wiedervereinigungspolitik der KPD/SED heiße Luft und diente in Wirklichkeit nur dazu, Stalins osteuropäische Eroberungen zu legitimieren und diese zu einem späteren Zeitpunkt in Richtung Westen auszuweiten. Die Konferenz von Potsdam war auf der einen Seite kaum mehr als eine Fortsetzung der Kriegskonferenzen der Alliierten aus den vergangenen Jahren und auf der anderen Seite keine Friedenskonferenz, auf der ein ‚Frieden ohne Annexionen und Kontributionen’ auch nur zur Diskussion gestanden hätte, um einmal den Leninschen Mindeststandard zu nennen. Sie war ein durch und durch imperialistisches Unternehmen, bei dem sich Stalin als der raubgierigste Imperialist herausstellte.

Unbestreitbar war der Krieg, den die deutsche Bourgeoisie unter der Direktion Hitlers gegen die Völker der Sowjetunion und Osteuropas geführt hat, einer jener „Racenkriege“, den Marx schon 1871 für den Fall vorausgesagt hatte, daß Bismarck den Verteidigungskrieg gegen Louis Napoleon dazu zu benutzen sollte, Teile von Frankreich zu annektieren, was dann auch eintrat. („Racen-“ hat bei Marx die Bedeutung von „Völker-“; die biologistische Aufladung dieses Begriffs durch die Nazis war noch unbekannt. „Völkerkriege“ konnten revolutionär oder konterrevolutionär sein, wie vor allem Engels in der Zeit um 1848 immer wieder herausgearbeitet hat). Nach dem 1. Weltkrieg hatte sich die deutsche Bourgeoisie in einer durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Paniksituation mit den Nationalsozialisten und den Resten des preußischen Junkertums verbunden (nicht nur verbündet), um die Schlappe von Versailles auszubügeln: Elsaß, Oberschlesien, Danzig. Stalins Ausspruch: ‚Die Hitler kommen und gehen − das deutsche Volk bleibt’, hatte leider nur Bestand, bis die Rote Armee in Berlin war. Dennoch erschien es auch danach so, als würde sich die Sowjetunion damit zum Anwalt der Interessen der deutschen Arbeiterklasse und des deutschen Volkes machen. Diese Rolle konnte aber schon deshalb nicht der Wirklichkeit standhalten, weil Stalin den legitimen Verteidigungskrieg der Völker der SU und der Völker Ost- und Südosteuropas seinerseits in einen Rassenkrieg zur Unterwerfung dieser Völker durch die Großrussen und zur Verwirklichung seiner sozialimperialistischen Ziele verwandelt hatte. Letztlich also hätte Stalin nur dann als Anwalt der Interessen auch der deutschen Arbeiterklasse fungieren können, wenn durch seine Konterrevolution in der Revolution die Sowjetunion nicht [bereits zuvor] in ein neues Zarentum übergegangen wäre.

Statt dessen wurden die Westmächte zu Verteidigern des Status quo in Deutschland, was den [West-]Deutschen das Überleben als Konsumenten der auf Pump (Marshall-Plan) anzuschaffenden us-amerikanischen Waren und den Kapitalisten und Lohnarbeitern den Wiederaufbau und dessen Bezahlung auf Pump (von amerikanischen Investoren) ermöglichte. Gemessen an den neofeudalen Verhältnissen unter der sowjetischen Besatzungsmacht war der westliche Teil Deutschlands im Marxschen Sinne zweifellos der fortschrittlichere von beiden (Davon zehrte lange Jahre der Nimbus der SPD als ‚Arbeiterpartei’, dem die KPD ernsthaft nichts entgegenzusetzen hatte, sodaß ihr Verbot eigentlich völlig überflüssig war. Aber Justitias Mühlen mahlen eben langsam). Dessen kapitalistische Entwicklung wurde nur durch die Uneinigkeit zwischen den westlichen Alliierten gebremst, bis zu welchem Grade die deutsche Bourgeoisie wieder auf dem Weltmarkt in Erscheinung treten durfte. Nachdem das von Stalin in der späteren DDR installierte Regime sich zunächst nur darauf zu beschränken hatte, die Durchführung der Demontagen zu garantieren (was die Sympathien für die KPD/SED nicht gerade steigerte), wodurch seine Nachkriegspolitik eher der französischen nach Versailles nahekam, konnte die SU den östlichen Teil des geteilten Deutschland nicht einfach weiterhin [nur] als Niemandsland verwalten. Daher sahen sich Stalin und dessen Nachfolger gezwungen, ihren ursprünglichen Raubzug in Deutschland schrittweise in eine Enteignung der Bourgeoisie und einen Aufbau des Sozialismus umzuwidmen (wovon die heutige Partei Die Linke immer noch zehrt), zumal Stalins Hauptinteresse an Ostdeutschland weiterhin darin bestand, als Sprungbrett für die Verwirklichung der hegemonialen Ziele Alexanders I. in Westeuropa zu dienen.

Darin steckt auch der tiefere Sinn der zwischen 1945 und 1953 in der KPD/SED zu beobachtenden Diskussionen über die ‚Nationale Frage’, die sich verglichen mit der Linie in der Neuen Rheinischen Zeitung von 1848 leider als Farce wiederholten: denn in Wirklichkeit  war in Deutschland 1945 genau das in Erfüllung gegangen, was Marx und Engels schon 1848 unbedingt verhindern wollten: zunächst eine feudale Revolution à la Bismarck, dann die Annexion von Elsaß-Lothringen 1871 und schließlich in Fortsetzung des Ersten Weltkriegs der Rassenkrieg gegen die Völker Europas. All dies führte schließlich zur Rückkehr jenes dritten Alexander., dessen Hegemonie über ganz Europa aber erneut an den fehlenden ökonomischen und zivilisatorischen Voraussetzungen Rußlands für diese Aufgabe scheiterte, sodaß das post-Stalinsche Imperium sich in den 90er Jahren aus Deutschland und Osteuropa wieder zurückziehen mußte. Momentan befindet sich die russische Staats-Bourgeoisie erneut in einem Lernprozeß, wie sie es anstellen muß, um als Weltmacht an diesen ‚Imponderabilien’ nicht wiederum zu scheitern, wobei ihr Deutschland (wie die Opel-Verhandlungen zeigen) wie zur Zeit der Heiligen Allianz erneut die Hand reichen könnte, wofür die Linkspartei intensiv wirbt (siehe den um Sympathie werbenden Artikel im ND vom 12.09. über Roy Medwedjew, [3] dem trotzkistischen ‚Putinisten aus Vernunft’…)

Ihr seid übrigens die einzigen in Deutschland, soweit ich es überblicke, die den Stalinschen Sozialimperialismus in seiner ursprünglichen Gestalt weiterhin vertreten. Alle anderen haben davon Abstriche gemacht, ohne allerdings auf ihre Sympathie für das heutige Großrussentum zu verzichten. Ihr erhofft Euch von einer konsequenten Durchführung des antifaschistischen Auftrags der Völker der SU und Osteuropas an die damalige ‚Sowjetmacht’ einen Impuls für den Klassenkampf und den Sozialismus und seid weiterhin der Ansicht, daß dieser Auftrag auch heute noch durchzuführen sei. Aber der Versuch der Völker und der Arbeiterklassen, im Bündnis mit der Sowjetunion und gestützt auf den von ihr propagierten ‚Antifaschismus’, auf diese Weise den Faschismus auszurotten, hat an dessen Stelle nur ein weiteres Monster ähnlicher Art erzeugt; dessen Schreckensregiment von der Verwechslung von Wunsch (Propaganda) und Wirklichkeit (in Gestalt der politischen und ökonomischen Tatsachen) zeugt. Der Antifaschismus war für Stalin kein Selbstzweck; er sollte ihm hauptsächlich dazu verhelfen, um als neuer Zar aller Reußen die Vorherrschaft über die slawischen und übrigen ost- und südosteuropäischen Völker und das deutsche Volk zu errichten. Diese große historische Lüge wirkt in den Köpfen vieler Europäer und in den[en der] Arbeiterklassen der Welt bis heute nach. Anstatt ihr entgegenzuarbeiten, verstärkt Ihr ihre unterschwellige Wirkung und begünstigt faktisch eine Politik (Stichwort: DKP, PDS etc., d.h. den Enkeln von Stalin und Sowjetarmee), die Ihr zu bekämpfen vorgebt.

Vielleicht ist meine grobe Analyse für Euch nur Schall und Rauch, vielleicht werden Euch aber auch die kommenden Ereignisse eines Besseren belehren – hoffentlich noch früh genug, um daraus entscheidende Rückschlüsse zu ziehen und im Interesse der Arbeiterklassen auf der Welt den Klassenkampf im Sinne der ‚Partei Marx’ fortzusetzen.

Es grüßt herzlich

Ulrich Knaudt

1) Gegen die Strömung 6-7/09: 60 Jahre Grundgesetz: Den Heiligenschein des Grundgesetzes zerschlagen!

2) Im Endeffekt ließ sich Stalin die bereits im Hitler-Stalin-Pakt im Jahre 1939 vollzogene Aufteilung Osteuropas von den westlichen Alliierten gegenzeichnen: die endgültige Anerkennung der Curzon-Linie, die die Sowjetunion nach der gescheiterten Eroberung Warschaus im Vertrag von Riga 1920 nicht hatte durchsetzen können, die Annexion von Bessarabien (etwa = dem heutigen Moldawien) und der drei baltischen Republiken Estland, Lettland, Litauen (einschließlich des Gebiets um Wilna).

3) Neues Deutschland 12.09.2009. Ich bin aber kein Putinist“. Der einstige Dissident Roy Medwedjew über das heutige Rußland.

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Partei Marx (01.01.2007)

Lieber Ulrich

Ich danke Dir herzlich für Deine u. a. Mail.

Leider kann ich Dir auf Deinen Text jetzt nicht gründlich antworten […]

Beim Überfliegen von KRITIK 1 Antwort an DS ist mir aber folgendes aufgefallen:

„Die ‚sozialstaatlichen Institutionen’ sind als staatliche Institutionen Überbau-‚Superstrukturen’, wenn sie sich auch noch so basis-orientiert geben mögen. Sie wirken langfristig nicht ‚zivilisierend’, sondern entzivilisierend, weil sie die Wirksamkeit der größten Produktivkraft der bürgerlichen Gesellschaft – die revolutionäre Klasse selbst – aushebeln und neutralisieren und das Ende des Kapitalismus in einen langandauernden Prozeß des Siechtums, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von Zivilisationskatastrophen, überführen.“[1]

Bitte, erkläre mir, wer die „revolutionäre Klasse“ ist, deren „Wirksamkeit als größte Produktivkraft der bürgerlichen Gesellschaft“ hier neutralisiert worden sein soll. Die Produktivkraft der in der Produktion produzierenden Arbeiter kann ja wohl nicht gemeint sein, denn die produzieren ja realiter Tag für Tag mit immer HÖHERER Produktivität. Das wäre Dir ja auch viel zu ökonomisch. Du bist ja politischer Revolutionär. Also: Sind sie doch gemeint, aber als REVOLUTIONÄRE KLASSE? Wenn letzteres zutrifft, bitte ich um Nachricht wie, wo und wann diese Klasse real revolutionär agiert. Ich erinnere mich lebhaft daran, daß Du seinerzeit […] bedauernd eingestanden hast, diese nicht konkret real bestimmen zu können. (heute: wofür wie gesagt momentan recht wenig spricht)

Es ist immer dasselbe Elend mit Dir: Durch Deine gesamte Argumentation zieht sich wie ein roter Faden implizite das blasse, imaginierte revolutionäre Subjekt ‚Arbeiterklasse’. Dieses existiert aber nur in Deinem Kopf. Es ist geradezu faszinierend für mich, wie Du aus diesem Hirngespinst alles andere deduzier[s]t, genauer gesagt, die Bewertung aller anderen Kräfte vornimmst: Der Betonkommunisten, Versicherungsvertreter, Spießer etc. Da ist natürlich etwas dran, denn man braucht ja einen Maßstab, um zu messen. Aber der von Dir gewählte ist eben eine FIKTION!

Deshalb sind mir die vielen kleinen realen ‚Versager’ lieber als die eingebildete Superkraft.

Es ist doch im Grunde ganz einfach: Wie haben nur das, was wir haben. Und damit müssen [wir] arbeiten. Der Rest ist Spinnerei.

Dein theoretisches und praktisches Problem ist, daß Du nicht ad hominem operierst, sondern aus der Abstraktion heraus, richtiger: Wunschdenken. Das Bisky-Zitat, das ich Dir seinerzeit wunschgemäß geliefert habe,[2] hast Du nicht ernst genommen. Wir müssen vom realen Menschen ausgehen, nicht davon wie wir uns ihn wünschen. Analog: Arbeiterklasse. Dein Wunschdenken ist gescheitert und wird immer wieder scheitern, weil es gegen die Realität der Menschen, des Lebens gerichtet ist. Faktisch argumentierst Du beständig gegen die Mehrheit, was Dir als echter kommunistischer Revolutionär natürlich am Arsch vorbeigeht. So stimmt bspw. eine überwältigende stabile Mehrheit der Bundesbürger dem Sozialstaat grundsätzlich zu – West 86%, Ost 95% im Schnitt der Jahre 1991-2004 (Datenreport 2006, 649). Was glaubst Du, würden diese Leute sagen, wenn Du ihnen sagen würdest, daß sie sich dabei entzivilisieren, ihre revolutionäre Produktivkraft einbüßen. Lautes Gelächter! Zu Recht! Warum sollten sie auch REVOLUTION machen, wenn sie mit dem Sozialstaat zufrieden sind, folglich seinen Abbau kritisieren bzw. ihn (durch ‚bürgerlichen’ Oppositionsdruck bewirkt bzw. Regierungsübernahme durch Reformisten) ausgebaut wissen wollen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die revolutionäre Produktivkraft wird in dem Maße wieder NOTWENDIG (und damit auch nachvollziehbar für die Menschen), in dem Maße er abgebaut wird. Aber über Montagsdemonstranten wirst Du doch nur lachen, weil sie (zunächst) nicht (oder nie) den höchsten kommunistischen Ansprüchen genügen, oder?

Kurzum: Deine Argumentation ist also deshalb völlig weltfremd und völlig verkehrt, weil Du die (für die realen Menschen und den gesellschaftlichen Fortschritt) positive Funktion des Sozialstaates negierend, sie ins negative verkehrst, und folglich auch nicht seinen Abbau kritisieren kannst, denn wenn das Negative ja reduziert wird, kann das ja nur gut sein (für den abstrakten Kommunismus). Trotzdem mokierst Du Dich aber darüber, daß ich Dir vorwerfe, millionenfaches Elend billigend in Kauf zu nehmen. Exakt das tust Du aber faktisch!

Deine Argumentation ist ja auch deshalb unsinnig, weil man es ja gar nicht beim ‚Sozialstaat’ belassen muß, man kann ja weitergehen, über den Kapitalismus hinaus.

Lieber Ulrich: Ich bin der Sohn eines Musikers und einer Hausfrau, beide Anti-Faschisten mit Neigung zur Sozialdemokratie. Es ist doch ein riesiger Krampf jetzt hier eine ‚Klassenanalyse’ vorzunehmen nach dem Muster: Arbeiterklassenkind = revolutionär, Musikerkind = Kleinbürger, Spießer. Wie die Realität zeigt (und mit der stehst Du prinzipiell auf Kriegsfuß) bin ich um einiges revolutionärer als weit über 90% aller ‚Real-Proletarier’ in der BRD. Analog: Engels, der Kapitalist! Natürlich stehe ich damit weit unter dem Scheffel der von Dir halluzinierten revolutionären Arbeiterklasse, von der Du zwar einerseits einsichtsvoll realistisch, wenn auch dennoch ein wenig euphemistisch, schreibst, daß für sie momentan recht wenig spricht, von der Du aber andererseits permanent so schreibst, als wären sie eine real-gesellschaftliche bzw. -historische revolutionäre Kraft. Warum fällt Dir dieser Widerspruch nicht auf? Natürlich weißt Du, daß Deine gesamte Argumentation mit dieser Fiktion steht und fällt…

Daraus muß der Schluß gezogen werden, daß die Dinge sehr viel komplizierter sind, als daß es wissenschaftlich gestattet wäre, sie aus „der Perspektive der historisch begründeten Berufung des Proletariats zum Totengräber des Kapitalismus (wofür wie gesagt momentan recht wenig spricht)“[3] (was im übrigen eine Erfindung von Marx ist, die sich historisch NICHT bestätigt hat), zu deduzieren. Du bist ein wahrhaftiger Dogmatiker und (zugegebenermaßen […]) Purist.

Zum Schluß eine Bitte: Beantworte mir doch (möglichst schnell) folgende Frage […]:

Wenn selbst die radikalste Demokratie eine Form der bürgerlichen Demokratie ist, welche Staatsform schlägst Du dann vor. Ich beziehe mich hiermit auf folgenden Satz von Dir: „Auch die radikalste Demokratie ist eine Form der bürgerlichen Demokratie.“[4]

Ich wünsche Dir Gesundheit, ungebrochenen, aber belehrten revolutionären Geist, Arbeitswut und auch alles Gute für Deine Familie im Neuen Jahr.

Django

1) [Kritik: An Django Schins: Zur Kritik am Projekt Partei Marx], 11. [= Antwort, 11]

2) An Django (06.11.2000), Anm. 5.

3) Antwort, 5.

4) Antwort, 6.


An Django (01.01.2007):

Lieber Django,

herzlichen Dank für Deine postwendende Antwort.

[…]

Es handelt sich, um es in der Boxersprache auszudrücken, um einen fairen Schlagabtausch, obwohl ich einige Deiner Aussagen am Rande des Tiefschlages empfinde, aber versucht habe, diese sachlich zu parieren.

Da wir ja die ‚Schilderung eines Kampfes’ ins Netz stellen wollen, wäre jeder Versuch eines inhaltlichen Abgleichs der doch sehr grundlegend einander widersprechenden Texte meiner Meinung nach ein sinnloses Unterfangen. (Vielleicht ist es  Dir ja möglich, wenigstens die Kurzfassung Zur Kritik… zu lesen, in der meine Auffassung in konzentrierter und zugespitzter Form zusammengefaßt ist.)[1]

Das Zitat, das ich paraphrasiere, lautet dem Gehalt nach: die größte Produktivkraft ist die revolutionäre Klasse selbst. Da ich ein sehr schlechtes Zitate-Gedächtnis habe, kann ich Dir nicht auf Anhieb sagen, wo es bei Marx herstammt. Da ich es in meinen Texten schon mal wörtlich verwendet habe, werde ich sie daraufhin durchsuchen und Dir das Ergebnis so bald wie möglich mitteilen.[2]

Außerdem will ich mich in dem Text, der noch in Arbeit ist, mit der von Dir angeschnittenen Frage befassen, so daß ich auch ein Interesse habe, einen Beleg
für das Zitat zu finden.

Viel Erfolg bei Deiner Arbeit und herzliche Grüße

Ulrich

1) KRITIK 1 Zur Kritik am Projekt Partei Marx. Zusammenfassung.
2) Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, (65-182), 181: „Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf dem Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.“


An Partei Marx (02.01.2007)

Lieber Ulrich

Zu Deiner u.a. Mail nehme ich wie folgt Stellungen:

1. Wie ich Dir bereits bezüglich eines anderen Falls früher geschrieben habe, verfährst Du auch in diesem Fall nach dem Muster: Ich mache mir zwar die Position eines anderen Autoren (Marx) zu eigen, aber wenn ich dann darin kritisiert werde, ziehe ich mich aus der Affäre, in dem ich lediglich auf diesen Autor verweise.

Es geht nicht darum, daß Du mir die Stelle nachweist, an der das Original zur Paraphrase steht, sondern um ihre inhaltliche Richtigkeit in dem Kontext in den DU sie gestellt hast. Es geht darum, daß DU diese Meinung vertrittst, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommt. Es geht um die Sonne, um die sich bei Dir alles dreht: Die ‚revolutionäre Arbeiterklasse’!

Hier nochmals diese Passage aus meiner letzten Mail:

„Die ‚sozialstaatlichen Institutionen’ sind als staatliche Institutionen Überbau-‚Superstrukturen’, wenn sie sich auch noch so basis-orientiert geben mögen. Sie wirken langfristig nicht ‚zivilisierend’, sondern entzivilisierend, weil sie die Wirksamkeit der größten Produktivkraft der bürgerlichen Gesellschaft – die revolutionäre Klasse selbst – aushebeln und neutralisieren und das Ende des Kapitalismus in einen langandauernden Prozeß des Siechtums, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von Zivilisationskatastrophen, überführen.“

Bitte, erkläre mir, wer die „revolutionäre Klasse“ ist, deren „Wirksamkeit als größte Produktivkraft der bürgerlichen Gesellschaft“ hier neutralisiert worden sein soll. Die Produktivkraft der in der Produktion produzierenden Arbeiter kann ja wohl nicht gemeint sein, denn die produzieren ja realiter Tag für Tag mit immer HÖHERER Produktivität. Das wäre Dir ja auch viel zu ökonomisch. Du bist ja politischer Revolutionär. Also: Sind sie doch gemeint, aber als REVOLUTIONÄRE KLASSE? Wenn letzteres zutrifft, bitte ich um Nachricht wie, wo und wann diese Klasse real revolutionär agiert. Ich erinnere mich lebhaft daran, daß Du seinerzeit […] bedauernd eingestanden hast, diese nicht konkret real bestimmen zu können. (heute: wofür wie gesagt momentan recht wenig spricht)

Ende der Passage.

Mit ist es völlig unbegreiflich wie Du aus den o. a. Worten den Schluß ziehen kannst, mir die Fundstelle nennen zu sollen. Beantworte doch bitte NUR einfach meine Frage mit Deinen Worten!!!!!!!!!

[…]

Ich bin verärgert ob dieser unnützen Scheiße.

Django


An Django (26.01.2007):

Lieber Django,

Du glaubst, die Bourgeoisie würde den Sozialstaat auf- und abbauen, gerade so wie es ihr paßt und nicht wie der Abgleich der gewünschten Profitrate mit der politischen und ökonomischen Situation etc. es ihr gebietet. Der Sozialstaat ist nur gesellschaftliches Resultat einer bestimmten historischen (politischen + ökonomischen) ‚Konjunktur’.

Wer kam nach 1945 in England an die Regierung: nicht der ruhmreiche Sieger über Nazi-Deutschland, sondern Labour.

Warum Labour?

  1. weil erschwingliche und willige Arbeitskräfte für den Wiederaufbau benötigt wurden, denen ‚man’ nur Hungerlöhne zahlen konnte und wollte.
  2. weil eine aus dem Krieg zurückgekehrte Arbeiterklasse bestimmte bürgerliche Rücksichten verlernt hatte und daher gegen die herrschende Klasse leicht reizbar war. Mit deren Beschwichtigung hatte sich Labour zu befassen.

Heute kann der Sozialstaat abgebaut werden,

  1. weil das Kapital nur Arbeitskraft von einer bestimmten Qualität und in begrenzter Menge benötigt und auf den Rest verzichten kann.
  2. weil die Extraprofite, deren Abfallprodukt der Sozialstaat des „Rheinischen Kapitalismus“ war, mit wachsender Konkurrenz auf dem Weltmarkt tendenziell im Sinkflug begriffen sind.
  3. weil die industrielle Reservearmee im Weltmaßstab in einem nie gekannten Ausmaß zugenommen hat, so daß dasselbe Zeug, das hier jahrelang ‚erschwinglich’ produziert werden konnte, woanders viel billiger produziert wird. (So wie der englische Webstuhl im 19. Jht. den indischen Weber an den Bettelstab gebracht hat, auf dieselbe Weise machen die nach China oder Indien exportierten u.a. deutschen Maschinen nun die einfach qualifizierten deutschen Arbeiter arbeitslos. Sie landen aber nicht am Bettelstab sondern bei Hartz IV).

Und welche Macht der Welt kann das verhindern? Dein ‚Prekariat’ oder die ‚Proletarität’ Karl-Heinz Roths? Der Sozialstaat ist dazu da, Schlimmeres zu verhüten. Worin das bestehen könnte, wird von der herrschenden Klasse und ihren Regierungen von Fall zu Fall abgecheckt. Ein nicht zu vernachlässigender Nebeneffekt ist die Erzeugung zusätzlicher Kontrollmöglichkeiten über die Gesellschaft durch den Staat (die in dem Maße wachsen, wie bestimmte Schlaumeier meinen, das Bescheißen des Staates als revolutionäre oder individuelle Bereicherungs-Strategie ausgeben zu können).

Lieber Django, Du kennst mich zu wenig: sonst wüßtest, daß ich derartige mechanistische Klassenanalysen, wie Du sie mir unterstellst, mit Leib und Seele bekämpfe und immer bekämpft habe! In der billigen Denunziation der Klassenherkunft ohne Ansehen der Person waren sich DKPisten und Maoisten ausnahmsweise einig!

Dein Problem (wie auch das Deiner Partei) ist bei aller ‚Globalisierungskritik’ (+ Fidel Castro + Hugo Chavez + Ahmadineschad) Euer verdammter Provinzialismus, den Ihr von Euren Vorgängern geerbt habt. Ihr seht den Kapitalismus nur so, wie er Euch erscheint, wenn Ihr täglich vor die Haustür tretet. Das war schon immer das Problem der deutschen Linken, weder in historischen noch in weltrevolutionären Zusammenhängen die Dinge zu sehen, sondern immer nur auf das ‚Hinterland’, das man sich für seine Revolution auserkoren hatte, zu starren und dieses für Weltrevolutionäres zuständig zu erklären. Dabei war den wenigsten aufgefallen, daß sich der Sozialismus unter der Hand in Sozialimperialismus verwandelt hatte und die Revolution, die er bei sich zu Hause abgebaut hatte, munter exportierte…

Vom wirklichen Kapitalismus habt Ihr nichts begriffen! Wo Weltmarkt draufsteht, ist auch Weltproletariat drin! Man muß das Paket nur richtig aufschnüren.

Es grüßt herzlich

Ulrich

P.S. Wirf mal einen Blick auf die home page. Sie hat ein neues Gewand.


An Django (04.02.2007):

Lieber Django,

ich werde mich meinerseits nicht an die von Dir letzten Sommer angekündigten Prinzipien halten, die da besagten, daß Du mit mir wieder Kontakt aufnehmen werdest, wenn ich Deine Einwände beantwortet hätte, sondern einige Überlegungen zu den mir übersandten Dokumenten, die ich mit großem Interesse gelesen habe, zum besten geben. Dabei werde ich mich vor allem auf den Bericht über das Sao Paulo Forum aus dem Jahr 2000, „Die Hoffnungen eines Kontinents“, beziehen:[1]

1. „Das Forum der lateinamerikanischen Linken widerspiegelt die Kraft der größten Gruppierungen linker Parteien in der Welt, einer Kampfgemeinschaft von einer beispiellosen Breite in Hinblick auf Entwicklungsgeschichte und Traditionen, Kampfformen und ideologische Standorte.“

Da die lateinamerikanische Linke uns leider nicht erklärt, wie sich dieser Phönix aus der Asche zu einer solchen „Kampfgemeinschaft“ in Lateinamerika entfalten konnte, muß ich im Gegenteil daraus schließen, daß sie bezogen auf die Kämpfe des letzten Jahrhunderts ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat, sodaß es sich dabei um einen prinzipienlosen Zusammenschluß handelt, der nur durch den gemeinsamen kleinbürgerlichen Anti-Amerikanismus zusammengehalten zu werden scheint. In dem mir seinerzeit von Dir zugesandten Papier („Brasilien 2002: Wie der Sieg der Arbeiterpartei PT erreicht wurde“)[2] machte sich die Linke immerhin noch Gedanken über die Weltlage, die über den lateinamerikanischen Tellerrand hinausreichten und beispielsweise kritisch mit der „Annahme einer sozialistischen Position, die nicht mit dem sterbenden Modell des ‚realen Sozialismus’ verbunden ist“, verknüpft waren. Darüber ist die o.g. „Kampfgemeinschaft“, wie es scheint, hinweg, man hätte allerdings gerne gewußt, wie sie das geschafft hat. Wie sich an den folgenden Punkten zeigen wird, nur, indem sich das Problem, das die brasilianische PT nicht lösen konnte, ihr erst gar nicht stellt.

2. „…die ‚Deklaration von Niquinonhomo’ …bezeichnet als gemeinsamen Nenner den ‚Kampf gegen den Imperialismus, der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Form des neoliberalen Kapitalismus angenommen hat’“

Auch hier würde man gerne genauer erfahren, auf welchem Wege das in Lateinamerika passiert ist; aber unabhängig davon stellt sich folgendes Problem: wenn für den Kampf gegen den Imperialismus in Lateinamerika keine demokratische Revolution unter der Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauern (vgl. Lenin 1905-1923, Mao 1927-1976) auf der Tagesordnung steht, d.h. eine Strategie obsolet geworden ist, von der die Linke bis Ende der 80er Jahre mehr oder weniger ausgegangen ist (die Problematik der Stadtguerilla einmal beiseite gelassen), dann müßte der so bezeichnete Einbruch des Kapitalismus in Lateinamerika (ob wir ihn liberal, neoliberal sozial-liberal oder sonstwie bezeichnen) auch einen vollständigen Wechsel in der revolutionären Strategie erforderlich machen, durch die der Antiimperialismus in den Kampf des Welt-Proletariats gegen die Welt-Bourgeoisie einzuordnen, wenn nicht gar [dieser] unterzuordnen wäre. Eine solche Konsequenz wird aber von der lateinamerikanischen Linken in besagter Erklärung nicht gezogen, sondern einerseits verharrt sie auf dem Antiimperialismus des 20. Jahrhunderts, andererseits wird der Kapitalismus in Gestalt des „Neoliberalismus“ zum Hauptfeind erklärt, ohne uns mitzuteilen, was (in einer noch wenig differenzierten Annahme meinerseits) an diesem „Neoliberalismus“ am meisten zu bekämpfen ist: entweder, daß es sich um Kapitalismus überhaupt handelt (dann richtete sich dieser Kampf gegen die gesamte Bourgeoisie, die einheimische eingeschlossen) oder allein um den nordamerikanischen Kapitalismus im besonderen (dann wäre weiter eine Einheitsfront angesagt zusammen mit dem antiimperialistischen Flügel der heimischen Bourgeoisie). Ohne Unterscheidung zwischen diesen beiden sich teilweise ausschließenden Strategien bleibt auch die Frage nach dem revolutionären Subjekt ungeklärt. Solange eine solche Klärung nicht erfolgt ist, gelangt die lateinamerikanische Linke zu Menschheitsphrasen wie der folgenden:

3 „Der Kampf gegen den Neoliberalismus für eine Gesellschaft, in der der Mensch und nicht der Profit im Mittelpunkt steht, wird als eine Aufgabe zur Verhinderung der Selbstvernichtung der Menschheit bezeichnet.“

Der Kampf gegen den Profit und für die Menschheit lassen sich nicht so einfach und unvermittelt in Übereinstimmung bringen, es sei denn als Phrase, zumal das Kleinbürgertum nicht den Profit als solchen, sondern immer nur den Profit eines bestimmten (hier: ‚neoliberalen’) Kapitalismus infragestellt, von dem sich der Kleinbürger in seiner Existenz bedroht sieht. Diese Einseitigkeit wurde von Marx zum ersten Mal in seiner Auseinandersetzung mit Proudhon entlarvt, sie liegt auch dem Kampf der lateinamerikanischen „Kampfgemeinschaft“ gegen den (us-amerikanischen „Neoliberalismus“) zugrunde. Wohl nicht ganz zufällig hat die lateinamerikanische Hitler/Stalin-Karikatur, Chávez, nach Verkündung seines ‚Ermächtigungsgesetzes’ (ley de habilitación) anläßlich der Enteignungsdrohung gegen die ‚westlichen’ imperialistischen Multis angekündigt, das argentinische Kapital davon auszunehmen.

4. „In der Linken Lateinamerikas, die mit Militärinterventionen der USA einschlägige Erfahrungen gemacht hat, ist die Empörung über den Aggressionskrieg der NATO gegen Jugoslawien einhellig.“

Auch in ihren besten Zeiten, hat die Linke Lateinamerikas es nicht verstanden, auch nur ansatzweise eine proletarische Außenpolitik zu formulieren. Folglich ist es ihr auch nicht gelungen, sich aus dem Windschatten ihrer nationalen Bourgeoisien hervorzuwagen, deren Strategie sich bekanntlich darauf beschränkt, den Feind ihres Feindes als ihren Freund zu behandeln. (Klassisches Beispiel: der Onkel Arafats verbündete sich im Kampf gegen die koloniale britische Mandatsmacht mit Hitler; ähnlich verhielt es sich zu jener Zeit mit den indischen Kommunisten hinsichtlich der britischen Kolonialmacht, oder denken wir an die engen Beziehungen Perons zu Hitler-Deutschland.) Auf ähnliche Weise war die sozialimperialistische Weltmachtpolitik der Sowjetunion für (nicht allein) die lateinamerikanische Linke auch dann noch sakrosankt, als es die Sowjetunion gar nicht mehr gab, was sie in den 90er Jahren dazu bewogen haben mag, den Völkermord der Milosevic-Banditen an den nicht-serbischen Völkern Jugoslawiens als Widerstand gegen die unter der Führung der USA stehenden Nato zu rechtfertigen und Wort für Wort die großserbische Propaganda nachzubeten.

5. Für die lateinamerikanische Linke ist das Eingreifen der USA und der Nato gegen einen Völkermord (oder bist Du der Ansicht, das Haager Kriegsverbrecher-Tribunal sei ein Schauprozeß gegen einen verdienten und hochgeachteten Revolutionär gewesen?), der bei einer frühzeitigen diplomatischen Reaktion der westeuropäischen Staaten hätte verhindert werden können, aber nur das Vorspiel dafür, „daß der (lateinamerikanische) Kontinent in der Gegenwart und nahen Zukunft Schauplatz besonders zugespitzter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bleibt. Kolumbien, Venezuela, Ekuador, nicht zuletzt Kuba können die nächsten Ziele des ‚Großen Knüppels’ sein.“ Mag sein! Aber bei dieser Einschätzung drängt sich der Verdacht auf, daß die lateinamerikanischen Linken weder im Falle Jugoslawiens noch in einem solchen Fall zu einer eigenständigen Einschätzung der bevorstehenden Konflikte in der Lage sein werden, sondern wie so häufig nur die politischen Phrasen der ‚antiimperialistischen’ Fraktion der nationalen Bourgeoisien Lateinamerikas nachbeten. Geht es nach jenen, haben die Völker Lateinamerikas die Wahl, sich [entweder] gehorsam unter den ‚Großen Knüppel’ aus dem Norden zu ducken oder, falls sie es wagen, soziale und politische Revolutionen zu machen, die kleinen Knüppel, die ihnen von der nationalen Bourgeoisie zwischen die Beine geworfen werden, untätig hinzunehmen. Wo finden sich in dieser Erklärung auch nur Andeutungen zur den Gründen für die Niederlagen der nationalen Befreiungsbewegungen in Nicaragua und El Salvador u.a.m.? Wo eine Kritik an der revolutionären Demagogie des linken Sozialimperialismus innerhalb der lateinamerikanischen Linken, die für diese Niederlagen mit verantwortlich ist, ganz zu schweigen von den ‚Freunden’ im ‚sozialistischen’ ‚Hinterland’ und ihrer absurden Propaganda, an die sie wohl selbst kaum [noch] geglaubt haben? Wenn es solche Kritiker wirklich noch geben sollte, dann wahrscheinlich in den kubanischen Gefängnissen, wo sie die orientalische Despotie des kubanischen Links-Peronismus stellvertretend für die Völker Lateinamerikas eingehend studieren können! Nichts davon in dieser Erklärung; denn das „Forum von Sao Paulo will keine ‚Lateinamerikanische Internationale’ sein. Es versteht sich in erster Linie als Diskussionspodium für Vertreter unterschiedlicher politischer Stile und Sektoren (bis hin zur ‚Mitte der Gesellschaft’), die ein anderes Gesellschaftsprojekt als das gegenwärtig praktizierte anstreben.“ D.h. diese meiner Ansicht nach elementar notwendige Kritik (man hätte sich zumindest darüber einigen können, worüber man sich nicht einigen kann) wird als „politische Stil“-Frage verharmlost und gemeinsam unter den Teppich gekehrt und statt dessen „ein anderes Gesellschaftsprojekt“ aus dem Hut gezaubert, aus dem man, weil darüber keine konkret faßbaren Angaben gemacht werden, außer, daß es „anders“ als alle bisherigen „andere(n) Gesellschaftsprojekt(e) sein soll, zwangsläufig schließen muß, daß sich dahinter das ewig gleiche „Gesellschaftsprojekt“ verbirgt, das eines nach dem anderen im 20. Jahrhundert gescheitert ist und unter diesen Voraussetzungen immer wieder scheitern muß! Daher kann ich dieser lateinamerikanischen Linken nur unterstellen, sie wolle Lateinamerika ganz einfach kubanisieren, was für die Völker Lateinamerikas um keinen Deut besser wäre wie die Serbisierung des ehemaligen Jugoslawien für dessen Völker war, wobei hinzukommt, daß eine solche Politik (wie der Fall Milosevic zeigt) nicht ohne einen linken Weltpolizisten im Rücken zu veranstalten ist. Für den Austausch von Erfahrungen dieser Art sind in der Tat „Kontakte mit Gleichgesinnten in Europa“ besonders hilfreich, besonders mit denjenigen, die dem Milosevic-Regime über seinen Sturz hinaus die Stange gehalten haben.

6. „Von unschätzbarem Wert sind das gemeinsame analytische Bemühen um die Auseinandersetzung mit Grundproblemen des neoliberalen Modells und um die Klärung von Fragen der Globalisierung, die Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ideologie und die Ansätze eines alternativen gesellschaftspolitischen Denkens.“

Anstelle einer selbstkritischen Analyse der bisherigen revolutionären Entwicklung Lateinamerikas (deren Verweigerung durch die hier versammelte Linke die völlige Prinzipienlosigkeit dieses Forums charakterisiert), scheint man desto eher in der Lage zu sein, sich „mit Grundproblemen des neoliberalen Modells“ und „der neoliberalen Ideologie“ auseinanderzusetzen, also den Leuten schon mal zu sagen, wo es lang geht. Nämlich in Richtung Kuba, das „als eine Stütze für jene Kräfte der Linken betrachtet (wird), die Regierungsverantwortung (auf lokaler, Provinz-, bundesstaatlicher oder zentraler Ebene) übernehmen und ihrerseits Erfahrungen daraus mitteilen können, zum Beispiel bei der Verwirklichung partizipativer Demokratie.“ Damit sind wir ohne Verzug bei der Gegenwart angekommen: was man sich, speziell mit dem kubanischen ‚Vorbild’ im Hinterkopf in Lateinamerika unter „partizipativer Demokratie“ vorzustellen hat, ist sehr einleuchtend: einerseits Schein-Demokratie bis zum Abwinken, andererseits Korruption, Denunziation, Einschüchterung, Repression bis zum Erbrechen, kurz alle Charakteristika der ‚Revolutionen von oben’ des 20. Jahrhunderts, von denen die revolutionären Völker zu Recht, jedenfalls diejenigen, die nicht völlig naiv oder korrupt sind, die Nase voll haben; denn gestützt auf solche ‚Revolutionsmodelle’ ist schon alles mögliche umgestaltet worden, nur nicht die ökonomische Basis der Gesellschaft im Interesse der betroffenen Völker selbst. Es wurden nur ein anderes Kommando, eine andere Klasse von Befehlshabern eingeführt, verbunden mit einer weniger anarchischen, aber dafür rigider organisierten Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts zugunsten der neuen Bourgeoisie und ihrer Satrapen einerseits und des Mangels für den nicht bevorrechtigten Rest der Gesellschaft und auf Kosten der Masse der produktiv tätigen Bevölkerung andererseits.

7. Daß seit Anfang des neuen Jahrhunderts der halbkoloniale Kapitalismus in Lateinamerika in voller Blüte steht, ist auch das Ergebnis der gescheiterten Revolutionen des 20. Jahrhunderts und nicht zu verwundern. Es ließe sich aber auch bei oberflächlicher Betrachtung der dortigen Verhältnisse der Schluß ziehen, daß Lateinamerika mit zunehmendem Kapitalimport kein reiner Rohstoffexporteur (wie von der Dependencia-Theorie unterstellt) bleiben wird und daher das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital zu untersuchen und neu zu bewerten wäre. Mit derartigen Banalitäten geben sich die „Parteien des Forums“ aber nicht ab, sondern beklagen wie eh und je mit Galeano die „’offenen Adern’ Lateinamerikas“ und den „Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Kontinents“ und die Aufteilung der Ergebnisse des bescheidenen Wirtschaftswachstums unter einen „immer geringeren Teil der Gesellschaften“. Es ließe sich leicht zeigen, daß die lateinamerikanischen linken Parteien nicht anders wie ihre westlichen Pendants, die die soziale Frage auf eine reine Verteilungsfrage reduzieren, hierin eher der Smithschen anstelle der Marxschen Interpretation der ‚Trinitarischen Formel’ folgen. Auf der Grundlage der Marxschen Kritik an Smith wäre dagegen die Rolle der riesigen Reservearmeen in Betracht zu ziehen, durch die der Preis der Arbeitskraft von der Bourgeoisie auf Tiefstständen gehalten wird, jedenfalls soweit es sich um einfache Arbeit handelt, die zugleich das Reservoir für die fortlaufende Proletarisierung der landlosen Bauern abgibt. Die Bauernfrage, die im 20. Jahrhundert von entscheidender revolutionärer Bedeutung war, stellt sich wahrscheinlich auf diese Weise nicht mehr in dieser Form. In Kuba waren mit Beginn der Revolution die Bauern in ihrer Mehrzahl bereits Landarbeiter; in dieser Beziehung wird Lateinamerika wahrscheinlich, soweit Kapital in die Landwirtschaft (und nicht in die Drogenproduktion) strömt, der ursprünglichen kubanischen Entwicklung folgen. Dann sind die Bauern, ob in der Stadt oder auf dem Land (wie in Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) so oder so Proletarier geworden.

8. Statt mit solchen Problemen beschäftigen sich die linken Parteien Lateinamerikas lieber damit, den ausgeklügelten nord-amerikanischen Wahlkampfstrategien ein alternatives Konzept beim Kampf um die Parlamentssitze entgegenzusetzen. Auf diesem Terrain haben sie allerdings nur die Alternative, sich entweder nach [erfolgversprechenden] Werbepsychologen, die ihren Wahlkampf noch wählerwirksamer stylen, umzusehen oder, falls dafür nicht die Kohle da ist (was bisher in der Regel der Fall war, sich aber nach Chávez’ ‚Ermächtigungsgesetz’ schlagartig ändern könnte), ihre soziale Demagogie gegenüber den bisher in „Lähmung und Verzweiflung“ verharrenden Ghettobewohnern, deren Verhaltensweisen „sich nicht immer in Widerstand um(setzen) [lassen], sondern zu Lähmung und Apathie führen“, beachtlich zu steigern, um ähnlich wie in Venezuela (oder im alten Rom?) „einen dem Volke verpflichteten Mann mit ins höchste Staatsamt“ zu bringen. Das ist ‚Revolution von oben’ pur oder nach Marx: Bonapartismus à la Louis Napoleon reinsten Wassers (MEW 8, 160ff.)! Dabei werden wahrscheinlich die „in den großen sozialen Bewegungen präsent(en) … Linken“ mit dem sozialistischen Kuba im Rücken die Aufgabe übernehmen, aus den Ghettobewohnern eine lateinamerikanische Gesellschaft des 10. Dezember zu formieren und zu befehligen (welche Bedeutung übrigens so ein ‚Hinterland’ bekommen kann, erleben wir gegenwärtig am Beispiel Syriens und des Iran im Irak).

9. Wenn die europäischen Arbeiterklassen nicht bereits ihre eigenen Erfahrungen mit solchen ‚Revolutionen von oben’, speziell in den 50er Jahren [in Berlin, Posen, Budapest u.a.] gemacht hätten, müßten diese verstärkt vor dem Import eines solchen ‚Revolutionsmodells’ gewarnt werden. Das wird aber schon deshalb nicht nötig sein, weil sich diese Abenteuerpolitik oder das Bündnis mit politischen Abenteurern dieser Art (deren aus den 50er und 60er Jahren stammendes Charisma wohl endgültig verraucht ist), wahrscheinlich selbst ad absurdum führen wird. (Aber ähnliches wurde auch einmal der Hitler-Episode vorausgesagt.) Wenn allerdings die europäische Linke lauter als bisher davon zu träumen begänne: was denn wäre, wenn ‚wir hier auch so einen Chávez hätten’, der für sie mit den radikalisierten Massen die Kastanien aus dem Feuer holte, hätte diese Linke meiner Meinung nach ein Problem und der Widerstand gegen den Faschismus einen neuen Feind bekommen. Das aber wollen wir nicht hoffen – oder?

Soweit mein Kommentar zu den „Hoffnungen eines Kontinents“. Die übrigen Artikel lasse ich unkommentiert, teilweise, weil sie im Vergleich zu dem Bericht über das 13. Sao-Paolo-Forum aus 2006 nichts Neues enthalten (ein zusätzliches Indiz für den stationären und leeren propagandistischen Charakter der linken Schreibe); der Bericht der kolumbianischen Blumenarbeiter ist Eulen nach Athen tragen:[3] wie naiv muß man sein, in Afrika etwas anderes zu erwarten als die lächerlichsten Karikaturen unserer europäischen Verhältnisse, einschließlich der Korruptheit der Gewerkschaften! Diese Reise hätten sie sich, [wenn] rechtzeitig von ihren Linken Sponsoren gewarnt, sparen können, [und] wenn sie von diesen wirklich ernst genommen und nicht nur als Basis-Maskottchen oder Stimmvieh behandelt würden, das mit dem Stimmzettel lauter Chávez-Kopien aus dem Boden zaubern soll. Daß das Weltsozialforum 2007 auch zum Irak Stellung genommen hat, ist ja sehr schön; nur gelingt es diesem, wie seit Jahren der europäischen Linken, nicht, dort zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, woran der lautstarke Wunsch nach Frieden auch nichts ändert. War es denn allein die Gier nach dem Erdöl, die die amerikanische Truppen dort zu Besatzungstruppen gemacht hat oder bestand für die USA nicht auch das Problem darin, daß eine ehemalige CIA-Marionette ihrer hegemonialen Kolonialpolitik (man staune: Noriega wurde gerade aus seiner luxuriösen Ehrenhaft in einem amerikanischen Gefängnis entlassen) den amerikanischen Interessen (Iran-Irak-Krieg) aus dem Ruder gelaufen war und früher oder später liquidiert werden mußte? Vielleicht, wenn sich Saddam des sozialistischen ‚Hinterlands’ (und seiner Gönner in den europäischen Regierungen) nicht so sicher gewesen wäre, das sich aber zu seinem Entsetzen plötzlich in Luft aufgelöst hatte, vielleicht könnte er sich jetzt auch in einem amerikanischen Goldenen Käfig statt im Himmel mit den schönsten Jungfrauen vergnügen. Die Irak-Friedenspolitik der NGOs ist nicht nur fürchterlich eindimensional, sie scheinen für den Irak wie schon für Jugoslawien auch nur über ein revisionistisches Konzept zu verfügen, das aber nur funktionieren wird, wenn sich für die mutigen Friedenskämpfer ein neues ‚Hinterland’ findet, in dessen Schutz ein neuer Saddam oder Milo aufgebaut werden können. Dafür scheinen sie dann auch bereit zu sein, Geheimdienst-Kreaturen vom Schlage eines Bin Ladin oder Zarkawi einen antiamerikanischen Widerstandscharakter anzudichten, vom Export der iranischen Revolution ganz zu schweigen. Sehr zukunftsträchtig!

Hierbei will ich es erst mal bewenden lassen und verabschiede mich für 14 Tage […]. Du hast also eine Menge Zeit über meine kritischen Einwände nachzudenken.

Herzliche Grüße

Ulrich

1) Das Sao-Paulo-Forum der lateinamerikanischen Linken: Brückenschlag nach Europa. Die Hoffnungen eines Kontinents, in: Neues Deutschland 15./16.04.2000.

2) Vgl. An Partei Marx (01.04.2003) und An Django (03.03.2003).

3) „Blumenarbeiter sollten sich unabhängig organisieren“. Kolumbianische Gewerkschafter diskutieren bei Weltsozialforum mit Beschäftigten aus Kenia (Interview), in: Neues Deutschland 23.01.2007.


An Partei Marx (11. 02 2007)

Betreff: DIKTATUR DES PROLETARIATS – NEIN DANKE!

Lieber Ulrich

Zu Deinen u. a. Überlegungen heute nur soviel:

Ich fasse es nicht!!!:

Ungeachtet meiner Kritik und Deines eigenen Eingeständnisses, daß Du das revolutionäre Proletariat selbst nicht praktisch bestimmen kannst […] muß ich folgendes lesen:

„…aber unabhängig davon stellt sich folgendes Problem: wenn für den Kampf gegen den Imperialismus in Lateinamerika keine demokratische Revolution unter der Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauern…auf der Tagesordnung steht…, dann müßte der so bezeichnete Einbruch des Kapitalismus in Lateinamerika …auch einen vollständigen Wechsel in der revolutionären Strategie erforderlich machen, durch die der Antiimperialismus in den Kampf des Welt-Proletariats gegen die Welt-Bourgeoisie einzuordnen, wenn nicht gar unterzuordnen wäre.“

Wo zum Teufel findet der „Kampf des Welt-Proletariat[s] real denn statt, in den Du irgendetwas einzuordnen gedenkst? Außer in Deinem Kopf?

Das Welt-Proletariat als revolutionäres Subjekt existiert objektiv nicht!

Lieber Ulrich, ich muß Dir leider sagen, daß ich unsere Diskussion inzwischen für völlig zwecklos erachte, weil Du hartnäckig an dieser Fiktion festhältst und im Grunde unausgesetzt alles andere von ihr ableitest, d.h. praktisch (wenn sie denn Wirklichkeit würde, was ich für völlig ausgeschlossen halte): Weil die Voraussetzung – das revolutionäre Proletariat – fehlt, würde die Diktatur des Proletariats tatsächlich nur von solchen Leuten wie Dir ausgeübt, jenen Figuren, die sich das zuvor – aus persönlichen Machtambitionen – aus den Fingern gesaugt haben. Und das wäre dann notwendig die Diktatur von wenigen, die ich kategorisch ablehne! (Außerdem bin ich auch kein Freund einer echten Diktatur des Proletariats!) Mir scheint, daß ausgerechnet Du, der vehemente Stalin-Kritiker das Wesentliche aus der Kritik des Stalinismus nicht kapiert hast.

Demgegenüber ist es die wirkliche Aufgabe der Linken, das wirkliche „neue revolutionäre Subjekt“ überhaupt erst zu finden. Diese Versuche werden von Dir permanent mit mehr oder weniger haltlosen Verdächtigungen überzogen und schlecht gemacht. (Womit ich natürlich nicht sagen will, daß jedes Detail Deiner Kritik falsch ist.) Ich finde das unsachlich, unfruchtbar und nicht ziel führend.

Ulrich, Hand aufs Herz: Was macht meine Kritik noch für einen Sinn, wenn Du keinerlei Konsequenzen daraus ziehst?

Das einzige was mich in diesem Zusammenhang noch interessiert ist: Gibt es auf diesem Globus eigentlich irgend eine linke Kraft, Person etc., die Deinen Ansprüchen genügt? Außer der Partei Marx, versteht sich?

Im übrigen möchte ich Dir sagen: Wenn ich mich recht erinnere, hast Du in einem Deiner letzten Texte geschrieben, daß vom Tisch der Chavez etc. nicht einmal ein Krümel für den armen Bauern abfällt. Selbst der oberflächliche Zeitungsleser weiß aber, daß jede Menge „Krümel“ abfallen! Es gibt eine Fülle von Sozialprogrammen! Du schreibst da also die Unwahrheit. Ich empfehle Dir deshalb, bevor Du bei anderen mangelnde Kritik kritisierst (s. Text vom 4.1.2007) Dich bei der eigenen Nase zu packen.

Gruß

Django


An Django (11.03.2007):

…Was ich am meisten und abgrundtief hasse, ist angewandte Pädagogik in politischen Auseinandersetzungen, lieber Django Schins!

Aus Mangel an Argumenten versuchst Du mich in unserer Korrespondenz in die Rolle des abgestraften Schülers zu versetzen („Ulrich, Hand aufs Herz: Was macht meine Kritik noch für einen Sinn, wenn Du keinerlei Konsequenzen daraus ziehst“), während in einem auf dem heutigen Stand der (‚poststalinistischen’) Zivilisation befindlichen Dialog beide Seiten davon ausgehen sollten, daß jede bereit ist, aus der Debatte ihre eigenen Konsequenzen zu ziehen. Zur Begehung eines solchen ‚Zivilisationsbruchs’ bin ich nicht bereit. Davon abgesehen ist mir diese psychologische Masche aus langjähriger Erfahrung mit der deutschen Linken nur allzu bekannt.

An Stelle einer Antwort auf meine detaillierte Kritik an Deinem „Determinismus“-Papier gegen die Partei Marx („Marx als Gott oder was?“) schmeißt Du mir ein paar jW-Artikel vor die Füße, wovon ich den meiner Ansicht nach wichtigsten in der völlig illusionären Annahme, dies wäre ein Beitrag zu unserer bisher geführten Diskussion, detailliert zu kritisieren versucht habe.[1] In Deiner Antwort darauf klaubst Du Dir einen Satz aus meiner Kritik heraus, den Du durch entsprechende Auslassungen des historischen Zusammenhangs, in dem sich dieser und das darin benannte „Proletariat“ eindeutig befinden, völlig entkleidest und legst zum x-ten Mal die alte Platte auf: „Wo zum Teufel findet der ‚Kampf des Weltproletariats’ real denn statt…?“ Wenn eine Beantwortung dieser wohl eher rhetorisch gestellten Frage noch irgendeinen Sinn ergäbe, würde ich sagen: Überall da, wo sich das Kapital etabliert hat (Marx: sich als Produktionsverhältnis selbst gesetzt hat und für alles weitere vorauszusetzen ist). Aber diese Antwort kann ich mir allem Anschein nach schenken.

Mit Deiner rhetorischen Frage möchtest Du meiner Kritik an der im Jahre 2000 in Sao Paulo versammelten Linken aus dem Wege gehen, deren Erklärung, wie ich [dort] detailliert ausführe, auf folgende strategische Alternative hinausläuft:  „…einerseits verharrt sie auf dem Antiimperialismus des 20. Jahrhunderts, andererseits wird der Kapitalismus in Gestalt des ‚Neoliberalismus’ zum Hauptfeind erklärt, ohne uns mitzuteilen, was (in einer noch wenig differenzierten Annahme meinerseits) an diesem ‚Neoliberalismus’ am meisten zu bekämpfen ist: entweder, daß es sich um Kapitalismus überhaupt handelt (dann richtete sich dieser Kampf gegen die gesamte Bourgeoisie, die einheimische eingeschlossen) oder allein um den nordamerikanischen Kapitalismus im besonderen (dann wäre weiter eine Einheitsfront angesagt zusammen mit dem antiimperialistischen Flügel der heimischen Bourgeoisie). Ohne Unterscheidung zwischen diesen beiden sich teilweise ausschließenden Strategien bleibt auch die Frage nach dem revolutionären Subjekt ungeklärt.“ Anstatt sich über diese strategischen Alternativen rational Gedanken zu machen, reduzierst Du das in der Erklärung des Forums von Sao Paulo aufgeworfene Problem, auf die „wirkliche Aufgabe der Linken, das wirkliche ‚neue revolutionäre Subjekt’“ (wie die blaue Blume der Romantik) „überhaupt erst zu finden“. Diese Suche haben Dir inzwischen die linken lateinamerikanischen caudillos in den Ghettos von Caracas bis Rio längst abgenommen…

Du hast Recht: auch ich bin nicht weniger als Du zu der Ansicht gelangt, „unsere Diskussion inzwischen für völlig zwecklos“ zu erachten, wenn ich sehe, wie das „wirkliche ‚neue revolutionäre Subjekt’“, auf dessen Suche Du die „Linke“ bei uns und in Lateinamerika wähnst, zunehmend seine verborgenen faschistischen Potenzen entfaltet. Und zwar als Ausdruck der sich nach den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus vor unseren Augen abspielenden Proletarisierung der Welt, der Du und Deinesgleichen sich mit proudhonistischen Rezepten meinen entgegenstemmen zu müssen, um die bürgerliche Gesellschaft vor dem Kapitalismus zu retten und diese Welt (mit dem Segen der laut der Erklärung des Forums von Sao Paulo „dem Volke verpflichteten“ und von diesem „ins höchste Staatsamt“ gebrachten Männern) in das antifaschistisch und politisch korrekt zurechtgetrimmte, klimageschonte Reich der ‚Globalisierungskritiker’ zu befördern.

Das allerdings ist keine Fiktion mehr, sondern die traurige Realität, die hinter der Suche der Linken nach der Blauen Blumen mit Namen „neues revolutionäres Subjekt“ zunehmend hervortritt: nützliche Idioten in einem globalen Machtkampf der verschiedenartigsten aufstrebenden Weltmächte (und antiamerikanischen Möchtegern-Weltherrscher wie Ahmadineschad und Chavez) mit der Weltmacht USA und den etablierten westlichen Großmächten, die sich hinter dieser verschanzt haben…

Welche Konsequenz sollte ich, „Hand aufs Herz“, aus Deiner Kritik ziehen, wenn Du Dich nicht einmal ansatzweise bemüßigt fühlst, mich in der Sache zu widerlegen?

Ob es auf diesem Globus jemanden geben wird, der den „Ansprüchen …der Partei Marx …genügt“, wird sich hoffentlich nicht erst zeigen, wenn der Hund nach dem chinesischen Essayisten Lu Xün zum zweiten Mal ins Wasser gefallen ist. Ein solcher Hund hat erst recht Prügel verdient. Ich jedenfalls habe nicht vor, zu den geprügelten Hunden zu gehören, während Du Dich auf dem besten Weg befindest, Dir diesen Titel zu verdienen.

Vielleicht überlegst Du Dir die Sache noch einmal und ergreifst freundlicherweise die Gelegenheit, meine Kritik im o.g. Sinn zu beantworten.

Wenn nicht, verabschiede ich mich vorsorglich schon einmal aus Deiner heilen Welt mit dem Chor der Delphine:

…so long, so long, and thanks

for all the fish!

1) Der genannte Artikel war nicht in der Jungen Welt, sondern dem Neuen Deutschland erschienen (siehe An Django (04.02.2007), Anm. 1


An Partei Marx (13.03. 2007):

Betreff: DIE HUNDE BELLEN, ABER DIE KARAWANE ZIEHT WEITER

Lieber Ulrich

Leider ist Dein Text ein weiterer Beweis dafür, daß eine weitere Diskussion zwischen uns nutzlos ist.

Auf meine Aussage, daß ein kämpfendes revolutionäres Weltproletariat EMPIRISCH nicht beobachtbar ist („Das Welt-Proletariat als revolutionäres Subjekt existiert objektiv nicht!“ ist keineswegs rhetorisch, vielmehr sehr konkret, gemeint.) bzw. die entsprechende Frage nach seinem realem revolutionärem Kampf (auch diese ist folglich höchst konkret gemeint), antwortest Du – wie könnte es anders sein – THEORETISCH mit Marx: „Überall da, wo sich das Kapital etabliert hat (Marx: sich als Produktionsverhältnis selbst gesetzt hat und für alles weitere vorauszusetzen ist).“ „Revolutionär“ schreibst Du hier zwar nicht, aber nur, wenn man das meint, macht es ja Sinn, von der Einordnung in den Kampf des Welt-Proletariats gegen die Welt-Bourgeoisie zu sprechen oder geht es bei Deiner Revolution nur um höhere Löhne?

Dort aber, im Produktionsverhältnis, – ich wiederhole – ist ein solcher REVOLUTIONÄRER Kampf eben NICHT zu beobachten!

Daß Du diese Einordnung im übrigen keineswegs historisch, wie Du fälschlich behauptest, sondern vielmehr perspektivisch meinst, geht aus folgendem Zitat hervor, in dem Du ja gerade die lateinamerikanische Linke ob des Mangels „vollständig“ neuer strategischer Überlegungen für die Zukunft rügst:

„wenn für den Kampf gegen den Imperialismus in Lateinamerika keine demokratische Revolution unter der Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauern… auf der Tagesordnung steht, d.h. eine Strategie obsolet geworden ist…, dann müßte der so bezeichnete Einbruch des Kapitalismus … auch einen vollständigen Wechsel in der revolutionären Strategie erforderlich machen, durch die der Antiimperialismus in den Kampf des Welt-Proletariats gegen die Welt-Bourgeoisie einzuordnen, wenn nicht gar unterzuordnen wäre.“

Deiner Argumentation fehlt also mit dem real fehlenden revolutionären Proletariat der Sache nach ihr material-inhaltlicher Kern, den Du aber nichtsdestotrotz ständig im Munde herumführst – ein Ausdruck dieses eingebildeten Kerns ist bspw. „proletarische Außenpolitik“, die Du bei der lateinamerikanischen Linken immer schon als fehlend bemängelst.

Um die Realität des fehlenden revolutionären Weltproletariates vor Dir zu verstecken, steckst Du Deinen Kopf umso tiefer in die Blauen Bände (BB), wo Du dieses zu Deinem großen Glück immer wieder findest – in der einen oder anderen Formulierung, so z.B. sie oben.

Du bist es, der hier auf diese meine Einwände inhaltlich überhaupt nicht eingeht. Und deshalb – und weil Du Deinen Standpunkt auch nicht änderst – lege ich auch immer wieder dieselbe alte Platte auf! Was ist denn nun jetzt Deine Meinung: Gibt es dieses „Proletariat“ nun oder nicht?

Ich gebe zu, daß ich Deine letzten Texte nicht gründlich gelesen habe. Ich hatte andere Arbeiten zu erledigen. Ich habe das auch angedeutet (s. „Zu Deinen u. a. Überlegungen heute nur soviel:“, So 11.02.2007 11:47). Ich bin mir aber sicher, daß Du Deine strategischen politischen Überzeugungen prinzipiell und permanent von einer (fiktiven) Menschengruppe, daß Du aus dem von DIR „philosophisch“ gesetzten „revolutionären Weltproletariat“ grosso mode Deine Position ableitest, genauer, aus den vermeintlich revolutionären Eigenschaften und Fähigkeiten der Arbeiterschaft, die „Welt-Bourgeoisie“ konsequent zu bekämpfen und schließlich zu besiegen (als Beleg dafür sollen hier die beiden o.g. Beispiele, Einordnung und Außenpolitik, genügen).Wenn aber nüchtern zu konstatieren ist, daß dieses Subjekt überhaupt nicht existiert, weil ein entsprechendes Agieren nicht feststellbar ist, dann sind auch Deine Ableitungen falsch. Stattdessen verhöhnst Du die Suche nach einem wirklichen revolutionären Subjekt als romantische Sehnsucht nach der Blaue[n] Blume. Das ist absurd: Derjenige, der nur Spinnerei aufzubieten hat, denunziert den realistischen Sucher als verhuschten Romantiker!

Ich habe mit dieser Kritik also den wesentlichen inneren Zusammenhang Deiner Position und die objektive und subjektive Realität des nicht vorhandenen „revolutionären Klassenkampfes“ richtig erfaßt und – wie gesagt aus Zeitmangel – meine Kritik darauf fokussiert. Das scheint mir doch sehr realistisch, rational und kohärent zu sein.

Für Dogmatiker ist es allerdings typisch, daß sie realitätsresistent sind.

Für einen weiteren Kritikpunkt fand ich dann doch noch kurz Zeit, weil er mir sehr wichtig ist: Daß Du mit Deinem Plädoyer für eine Diktatur des Proletariats die wesentliche Lehre aus dem Stalinismus nicht gezogen hast. Auch dazu von Dir kein(e) (Ant-)Wort. Allerdings ist es hier nicht ganz klar, ob Du diese nun endgültig als obsolet oder nur zur Zeit nicht auf der Tagesordnung stehend ansiehst bzw. bis auf weiteres im Weltenkampf der Klassen verstecken willst?

Wer also selbst immer noch den Argumenten ausweicht (wie z.B. dem, daß sehr viele „Krümel“ vom Tisch des Hugo Chavez für die Armen abfallen) sollte den Mund nicht so voll nehmen mit seiner Kritik, daß ich die Dinge aus dem Zusammenhang reiße.

Es ist z.B. eine vielfach belegbare Tatsache, daß die von Dir verunglimpften Chavez & Co. schon eine Menge für die kleinen Leute getan haben. Mindestens genau so wichtig und real ist die schrittweise Formierung[en] eines neuen lateinamerikanischen Selbstbewußtseins und anti-usa-imperialistischen Blocks. Zu ersterem behauptest Du aber gar das genaue Gegenteil – entgegen den Tatsachen! Eine Korrektur ist offensichtlich von Dir nicht zu erwarten.

Um sich aber ernsthaft und produktiv argumentativ auseinanderzusetzen, ist es notwendig, sich auf elementare methodische Kriterien zu verständigen. Ein solches Kriterium ist für mich z.B. die unvoreingenommene Feststellung von Tatsachen und logisches Schließen daraus. Materialismus eben – die Dinge so zu sehen, wie sie sind! Nicht, sie sich ausdenken! Dieses Verfahren schließt auch ein, theoretische Positionen an den Tatsachen zu messen und im Falle der Nichtübereinstimmung der Theorie mit den Tatsachen, erstere zu verwerfen. Du verfährst offenkundig genau umgekehrt! Daß unserer Diskussion dieses methodische Fundament mangels diesbezüglichem Konsens fehlt, hat mindestens Aneinandervorreden und – so lange dieser Konsens nicht hergestellt ist – einen antagonistischen Gegensatz zwischen unseren Argumentationen zur logischen Konsequenz. Also: Diese Diskussion ist auf dieser Grundlage sinnlos! Wir würden uns nur noch bis zum jüngsten Gericht – in einem positiven Sinne – ergebnislos streiten, wie es bisher ja auch für die Linke sehr oft typisch war. Onanistische Selbstzerfleischung. Und ich habe exakt den Eindruck, daß Du diese ALLES VERNICHTENDE KRITIK mit Lust betreibst. Meines Erachtens ist das nur noch psychologisch zu erklären. Daraus kann nichts Konstruktives im Sinne einer grundlegenden emanzipatorischen Veränderung erwachsen.

Problematische Tendenzen bei Chavez übersehe ich bei alledem nicht – z.B. sein regieren per Dekret für 18 Monate. Der Prozeß ist selbstverständlich widersprüchlich. Wie könnte es anders sein. Was Du aber anzubieten hast, ist nicht anderes als erstens widersprüchliches WUNSCHDENKEN (einerseits ist demokratische Revolution unter der Diktatur des Proletariats obsolet, andererseits redest Du vom Kampf des Welt-Proletariats), zweitens TOTALNEGATION und drittens eine merkwürdig verkehrte Autoritätsfixiertheit. Merkwürdig deshalb, weil sie sich zwar negativ gebärdet, aber nicht auf die Idee kommt, daß es ja an der (lateinamerikanischen) Linken selbst liegt, ob sich aus dem Caudillo (?) Chavez ein Diktator entwickelt. Die Befreiung des „Proletariats“ kann eben nur die Sache des „Proletariats“ selbst sein. Emanzipation bekommt man per definitionem nicht geschenkt und man darf auch LETZTLICH nicht Chavez dafür verantwortlich machen, wenn man sich von ihm unterdrücken läßt, sondern sich selbst! Also „wir“ (ich setze das in Anführungszeichen, weil wir ja nicht alle von Chavez unterdrückt würden), die Du Besitzer absoluter Wahrheit und unendlicher Voraussicht, jetzt schon vorsorglich als nützliche Idioten bezeichnest.

Typisch für Deinen Standpunkt überhaupt ist, daß für Dich auch hier das ABSOLUT NEGATIVE dieses Prozesses in Südamerika schon längst ausgemachte Sache zu sein scheint – bevor er überhaupt schon richtig in Fahrt gekommen ist. Du saugst eben alles nur aus Deinem TOTAL DOGMATISIERTEN Gehirn! Hat etwa Marx dazu seinerzeit schon „Wegweisendes“ gesagt, was ich übersehen habe und was Du nun nur noch nachbetest?

Vollends absurd ist aber folgender Satz, von dem ich leider sagen muß, daß sein Irrsinn alles bisher von mir Gelesene übertrifft:

„…wenn ich sehe, wie das ‚wirkliche >neue revolutionäre Subjekt<“…zunehmend seine verborgenen faschistischen Potenzen entfaltet. Und zwar als Ausdruck der sich nach den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus vor unseren Augen abspielenden Proletarisierung der Welt…“

Bei den schließlich in der suchenden praktischen und theoretischen Selbstbewegung der Linken zu findenden, sich schon in ersten Zügen herausbildenden neuen Subjekten reformerischer und vielleicht schließlich sogar revolutionärer (das muß dialektisch gesehen werden) Veränderung, von in ihnen verborgenen faschistischen Potenzen zu reden, ist jenseits jeder realistischen und rationalen Betrachtung, weil Chavez – einmal unterstellt, er wäre ein solch schlimmer Finger (ich übersehe hier einmal freundlicherweise, daß es sich im Grunde um eine schlimme Verharmlosung des Faschismus durch Dich handelt) – zwar ein sehr starkes und führendes, aber bei weitem nicht das einzige Subjekt der vor unseren Augen vor sich gehenden dramatischen Veränderung in Richtung Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika ist. Die anderen finden sich realiter nicht in der knechtenden Unterordnung unter Chavez. Allerdings befinden sich nicht alle auf der Höhe des Bochumer Weltphilosophen, der die Welt wieder einmal mit der reinen Lehre überzieht. Es ist immer wieder dasselbe Spiel: Vor dem Richterstuhl des Absoluten Ideals kann das Reale immer nur scheitern. Daß das Forum von Sao Paulo mit seiner von Dir inkriminierten Erklärung möglicherweise nicht hinreichend Selbstkritik übt, mag sein. Ich nehme das als Ausdruck der Vielfalt der dort versammelten Gruppen etc., die zu Recht wohl primär an der Herausarbeitung des Gemeinsamen statt des Trennenden interessiert waren. Ganz im Gegensatz zu besagtem Philosophen, der sich stets immer wieder erfolgreich einen darauf runterholt, daß er stets und ständig die ganze Welt in Grund und Boden verkritisiert. Die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela, die ich Dir dringend zur Lektüre empfehle, ist übrigens ein Musterbeispiel demokratischer Ordnung!

Und dann – des Wahnsinns gänzlich fette Beute – entfalten sie auch noch „faschistische Potenzen…als Ausdruck der“, ja, natürlich, „sich nach den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus vor unseren Augen abspielenden Proletarisierung der Welt“! Wenn die Proletarisierung eine Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus ist und wenn diese Basis und Nährboden des Faschismus ist und wenn die Suche nach einem neuen revolutionären Subjekt romantische Spinnerei ist, dann ist ja weder das eine (proletarische) noch die anderen (neuen) Subjekte fähig und in der Lage Deine kommunistischen Gewißheiten zu realisieren, oder? Wie aber kommen wir dann zum Kommunismus, der doch Deines Erachtens mit Notwendigkeit kommen wird? Führt Proletarisierung notwendig zum Faschismus oder zum Kommunismus?

Bis zur unappetitlichen Lektüre dieses Satzes dachte ich noch, daß es gerade die Proletarisierung ist, der Du frönst, weil sie das Heil der Menschheit verspräche. Oder habe ich da etwas falsch verstanden: Bist Du an dieser Stelle plötzlich nicht mehr der Verfechter der historischen Mission des revolutionären Welt-Proletariats? Ist es nun hier zum bösen faschistischen Subjekt mutiert?

Ich ahne bereits die Antwort: Hier kann nur das Heil aus Bochum kommen. Vom Avantgardisten, der seine Absolute Wahrheit in das Proletariat hineinträgt, um es auf den rechten Pfad der revolutionären Tugend zu lenken.

Offenbar spielst Du mit den „faschistischen Potenzen“ auf die „Freundschaft“ von Chavez mit Ahmadinedschad an, genauer auf die Holocaust-Leugnung von letzterem. Solche diplomatischen Praktiken nennt man wohl Realpolitik und sie machen mich auch mißtrauisch. Deshalb ist Vorsicht und Kritik geboten. Ich erinnere daran, daß Mao mit dem Kommunistenschlächter Chiang Kai-scheck freundlich lächelnd Reiswein getrunken hat, als es um das Bündnis gegen den japanischen Aggressor ging. Ich könnte so etwas nicht. Aber Politiker müssen wohl so sein…

Deshalb aber gleich von faschistischen Potenzen zu sprechen, ist abwegig, weil Chavez mit absoluter Sicherheit nicht so dämlich ist, sich damit seine großen Sympathien weit über die Linke hinaus zu verscherzen.

Ich will hiermit die politische Sache zwischen uns endgültig (wie undialektisch) auf den Punkt bringen: Wenn Du die Welt primär aus den BB ableitest und nicht aus sich selbst, dann hat es diesbezüglich keinen Zweck mehr mit uns. Ohne das Marxsche und Engelssche Werk wirklich umfassend zu kennen, denke ich dennoch, schon jetzt sagen zu können, daß sie eben diese Methode auszeichnet – die Welt aus sich selbst heraus zu erklären! Das schließt allerdings nicht aus, daß sie dabei auch Fehler gemacht haben. Außerdem hat sich die Welt dramatisch verändert. Es gilt aber weiterhin grundsätzlich:

“Wenn wir jetzt die Verhältnisse, unter denen die englische Arbeiterklasse der Städte lebt, in ziemlicher Ausführlichkeit betrachtet haben, so wird es nun an der Zeit sein, aus diesen Tatsachen weitere Schlüsse zu ziehen und diese wiederum mit dem Tatbestande zu vergleichen.“

MEW, 2, 324.

„Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind.“

MEW 3, 25.

EGAL wie es kommt, es tröstet mich eine Gewißheit. Dort in Bochum, in seiner Studierstube, saß einer, der alles schon im voraus wußte, unser Totaldeterminist, der Elfenbeinturmbewohner Ernst-Ulrich Knaudt, der sich Marxist zu sein dünkte.

In diesem Sinne grüßt

Django

1) Sao-Paulo Forum sucht Alternativen, in Neues Deutschland (14.06.1995), 7.


An Partei Marx (19.03. 2007):

Methode + Weltpolitik

Lieber Ulrich

Ich wollte Dir ja eigentlich nicht mehr schreiben, aber na ja, die Hoffnung stirbt eben zuletzt…

Im Anhang findest Du, neben einem Redetext zum modernen Sozialismus ein Interview mit Gysi, aus dem man immerhin lernen kann, daß man auch anders mit der lateinamerikanischen Situation umgegehen kann als Du.

Es fällt mir dabei auf, daß Gysi von den realen Menschen ausgeht. Und dies scheint mir – gelinde gesagt – ein sehr viel fruchtbarerer Ansatz zu sein, als Deiner, der des Schriftgelehrten.

Hierzu fand ich folgende Aussage von Marx und Engels, mit der sie die materialistische Methode auf den Punkt bringen und die ich Dir bisher vergeblich versucht habe nahe zu bringen:

„Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wir hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.“ Die Deutsche Ideologie, MEW 3, 25-40.[1]

Mit freundlichem Gruß

Django

PS: So ganz nebenbei ist auch Dein Vorwurf des Provinzialismus an die Adresse meiner Partei widerlegt, die übrigens Gründungsmitglied der EL ist – ein Zusammenschluß von über 20 Parteien in Europa. Siehe Deine Mail vom 26.01.2007:

„Dein Problem (wie auch das Deiner Partei) ist bei aller ‚Globalisierungskritik’ (+ Fidel Castro + Hugo Chavez + Ahmadineschad) Euer verdammter Provinzialismus, den Ihr von Euren Vorgängern geerbt habt. Ihr seht den Kapitalismus nur so, wie er Euch erscheint, wenn Ihr täglich vor die Haustür tretet. Das war schon immer das Problem der deutschen Linken, weder in historischen noch in weltrevolutionären Zusammenhängen die Dinge zu sehen, sondern immer nur auf das ‚Hinterland’, das man sich für seine Revolution auserkoren hatte, zu starren und dieses für Weltrevolutionäres zuständig zu erklären.“

1) Karl Marx; Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW 25, 26.


An Django (23.03.2007):

Betreff: America Latina

Lieber Django,

… kurz das Wichtigste: vielen Dank für die Texte. Das Interview hatte ich zuvor schon gelesen und mir überlegt, vielleicht darauf zu reagieren. Der mir von Dir zugesandte zusätzliche Rede-Text hat mich in diesen Überlegungen bestärkt. Alles weitere wirst Du unter REFLEXIONEN 2 zu lesen bekommen.

Unsere Diskussion war ein großes Mißverständnis! Wir gehen von unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Ihr redet von Sozialismus, ohne Eure historischen Hausaufgaben gemacht zu haben. Daran ist Trotzki ebenso gescheitert wie Gorbatschow und eine ganze Generation subjektiv ehrlicher Genossen, weil eine institutionelle Konterrevolution (obwohl Trotzki unmittelbar zu einem ihrer Leidtragenden wurde) durch eine Revolution ‚von oben‘ nicht aus der Welt zu schaffen ist, es sei denn, auf ihre ‚demokratische‘ Weise, durch die ‚westliche‘ Bourgeoisie gemeinsam mit der ‚westlich‘ orientierten Nomenklatura. Wer jedoch meint, an irgendeiner Kontinuität, in welcher Form auch immer, bezogen auf den von Stalin geschaffenen konterrevolutionären Sozialismus (= Lenin: „Sozialimperialismus“) festhalten zu können (die einen mehr, wie die PDS-Minderheit, die anderen weniger, wie die PDS-Mehrheit), wird nur Bonapartismus zustande bringen. Keinen objektiv revolutionären (= Bonaparte I), sondern den präventiv konterrevolutionären (= Bonaparte II), in seinen verschiedensten Gestalten vom Amerika-Befreier bis zum ‚demokratisch‘ getarnten Arbeiter-Diktator à la Lafontaine (und vielleicht eines Tages noch mal Gasprom-Schröder). Was Dir als Idealismus erscheint (daran ändert auch das schöne Marx-Zitat nichts; denn es ist allein die Frage, unter welchem Aspekt oder Vorzeichen wir  heute als Parteigänger der ‚Partei Marx‘, um nicht zu sagen, was leider zu viel zu vielen Verwechslungen führt: Kommunisten, angesichts der Stalinschen institutionellen Konterrevolution auf die Feuerbachschen „leibhaftigen Menschen“ einzugehen haben), gründet meinerseits auf der Notwendigkeit, die revolutionären Bewegungen des XX. Jhts daraufhin zu untersuchen, was im XXI. aus ihrem Scheitern zu lernen ist; erst dann läßt sich überhaupt von einer Kontinuität nicht nur als Wunschvorstellung reden. Der Sozialismus als Wunschvorstellung aber ist entweder Utopismus oder christlicher Illusionismus. Wenn deren Verbreitung gesellschaftlich irrelevant wäre, könnte der „demokratische Sozialismus“ à la G.G. als eines von vielen Sektenphänomenen abgebucht werden. Aber da sind wir zufällig mal der gleichen Ansicht, daß dem nicht so ist…

Mit herzlichen Grüßen

Ulrich

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Reaktionen (2006) »

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


Von: „Django Schins“ django.schins@comlink.org

Datum: 4. Juni 2006 16:55:28 MESZ

An: …“Ernst-Ulrich KNAUDT“ …

Betreff: DIE DEUTSCHE LINKE und FUSSBALLWELTMEISTERSCHAFT

Guten Tag

Ich bitte um Weiterverbreitung folgenden Zitats (Autor: Eduardo Galeano):

„Wenn große Meisterschaften beginnen, erschrecke ich über mich: Bis gestern harter und wohl auch unbestechlicher Kritiker des kapitalistischen Spielsystems, dem wir alle ausgesetzt sind, werde ich über Nacht zum Apologeten des Balls. Und denke: Arme Tröpfe, die noch immer mit Profitsummen und Wirtschaftsstrukturen um sich werfen, um mir den klaren Kopf zu retten. Aber ich will jetzt keinen klaren Kopf mehr, ich will mich jetzt hemmungslos diesen Millionären hingeben, die ja eigentlich ein Hohn auf den sozialen Zustand der Welt sind.“

Zitiert nach: Hans-Dieter Schütt, Der lange Weg – zum Scheitern?

Neues Deutschland vom 3./4.06.2006


An Django (11.06.2006):

Hallo Django,

vielen Dank für die nachdenklichen selbstkritischen Überlegungen Eduardo Galeanos. Mehr gefreut habe ich mich aber darüber, von Dir wieder einmal zu hören, nachdem meine letzte E-Mail vor ich weiß nicht wie langer Zeit bei Dir nicht angekommen war.

Es ist auf jeden Fall ein Fortschritt in der Geschichte der Menschheit, daß sich seit der Antike und dann wieder seit Beginn des letzten Jahrhunderts die verschiedenen Völker nicht nur blutig bekriegen, sondern zeitweise die Konkurrenz ihrer herrschenden Klassen im sportlichen Wettstreit austragen. Daß der Sport gleichzeitig unter der vorherrschenden Produktionsweise ein riesiges Geschäft ist, verwundert nicht. Die größten Millionen kassieren dabei allerdings nicht die Sportler, sondern diejenigen, die das ganze Spektakel vermarkten. Am Beispiel Italiens kann man studieren, wie schnell sich dieser ganze Spaß in offene Kriminalität verwandelt, so daß allen Beteiligten der Spaß vergeht.

Ich wurde gefragt, ob ich nicht auch für die Mannschaft, die ich favorisiere, ein Fähnchen aus dem Fenster hängen wollte. Ich habe geantwortet, daß ich das nicht tun werde. Wenn ich in meinem Leben Flagge gezeigt habe, dann war das immer eine andere als diese. Natürlich wird der Impuls meiner Landsleute, gemeinsam mit den anderen Nationen Flagge zu zeigen, politisch weidlich ausgenutzt; aber ich kann ihn durchaus verstehen. Nirgendwo wird das Bekenntnis zur eigenen Nation so sehr in ein anti-faschistisches = antideutsches Schema gepreßt wie bei uns… Ich lasse das erst mal so stehen und verbleibe mit herzlichen Grüßen

Ulrich


An Partei Marx (13.06.2006):

Lieber Ulrich

Lebst Du doch noch?

Diese Frage – mit dem frechen Unterton, als hättest Du Dich unkorrekt verhalten – darf ich eigentlich gar nicht stellen, weil ich der Sünder bin.

Ich habe meine ausstehende Antwort auf Deine diversen Texte nicht vergessen, sie vielmehr im März 2004 beim Stand von 8.378 Wörtern unterbrochen wegen anderer Arbeiten.

[…]
Zur Zeit ordne ich meine diversen Ergüsse und werde dabei den Antworttext nochmals überlesen und vielleicht so wie er unfertig ist an Dich senden.

Jedenfalls freue ich mich sehr, von Dir zu lesen.

[…]
Herzliche Grüße

[Django]


An Django (18.06.2006):

Lieber Django,

die Freude ist, wie gesagt ganz meinerseits.

[…]
ad 2) Deine Antwort auf meine diversen Texte: schade, daß Du diese für Dich behalten hast. Sie hätte auf jeden Fall das Projekt pM sehr belebt, das momentan etwas vor sich hin dümpelt. Mein Vorschlag wäre: eine Zusammenfassung für die Rubrik REAKTIONEN mit einem Link zu dem umfassenden Text oder so was in der Art.

[…]
Die WM-Debatte lasse ich vorerst auf sich beruhen; ich habe inzwischen den Eindruck gewonnen, daß die ‚Linke‘ wieder mal dabei ist, sich wie gewohnt gegenüber den ‚Massen‘ fürchterlich zu blamieren. Darüber vielleicht das nächste Mal.

Es grüßt herzlich

Ulrich


An Partei Marx (19.06.2006):

Lieber Ulrich

[…]
Zu ad 2:

Ich habe meine Antwort auf Deine Texte nicht für mich behalten, wenn Du darunter verstehst, daß ich sie exklusivieren will. Ich habe sie nur nicht geschickt, weil sie noch unfertig sind. Ich werde mich aber bemühen, daß in der nächsten oder übernächsten Woche zu erledigen.

[…]
Herzlich
Django


An Django (21.06.2006):

Ich habe Deine Texte [1] gelesen, eine Nacht darüber geschlafen und bin zu folgendem vorläufigen Ergebnis gekommen. Die von Dir bevorzugte Taktik beruht, für sich genommen, auf einer durchaus klugen Dialektik (vielleicht eine Frucht der 8.378 Wörter?) in ihrer Verbindung von Parteibildung und Massenbewegung. Nur leider versuchst Du voller revolutionären Enthusiasmus einen Leichnam wiederzubeleben, der dieses höchst wertvolle Engagement nicht verdient. Da die Linke, um es sehr grob zu bestimmen, ihre ‚Hausarbeiten‘ nur widerwillig und ohne das erforderliche Engagement nur ungenügend erledigt hat, bewegt sie sich wie ein toter Stern, der von verschiedener Seite her künstlich mit Leben erfüllt werden soll, durch den Orbit. Die Trotzkisten gleichen schon seit ihrem Verrat am sterbenskranken Lenin 1924 einem toten Stern, und daß der Sozialimperialismus von Stalin bis Breshnew nicht durch einen ‚von oben‘ befohlenen Rückmarsch zum Lenin von vor 1924 zu neuem Leben zu erwecken war, haben Gorbis vergebliche Wiederbelebungsversuche eindringlich gezeigt… Letzten Endes werden der bürgerliche Sozialdemokratismus und ein durch neue Massenbewegungen aufgeplusterter Sozialimperialismus übrig bleiben. (Die DKP hat es immerhin zu einem Partei-Programm gebracht, worin naturgemäß die Beantwortung der spannendsten Fragen auf den St. Nimmerleinstag verschoben wurde).

Unser Hauptdissens besteht in der von Dir vollzogenen dichotomischen Trennung zwischen A[lten] S[ozialen] B[ewegungen] und N[euen] S[ozialen] B[ewegungen], worin sich die bereits von Stalin aufgestellte These als Abklatsch wiederfindet: der Leninismus ist der Marxismus in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution usw. (Ich muß gestehen, daß ich diese These am Anfang meiner ‚Karriere‘ als sehr bestrickend empfunden habe; aber man lernt ja dazu, fragt sich nur in welche Richtung…). Heute bin ich der Ansicht, daß es weder einen ‚Marxismus‘ gibt noch eine Epoche des ‚Imperialismus‘ außer in der sozialimperialistischen Ideologie revolutionärer Kleinbürger (wobei ich unter Sozialimperialismus eine rote Abart des Bonapartismus à la ’18. Brumaire des Louis Bonaparte‘ verstehe). Dagegen ist der politische Klassenkampf, wie ihn Marx in der 1. Internationale organisiert und zur selben Zeit dafür die theoretischen Grundlagen gelegt hat – übrigens in einem nicht endenden Kampf gegen Theorien Lassalles und Proudhons, deren Pendants sich heute bei den Führern der NSB wiederfinden – neu zu definieren. Wir scheinen uns also, auch wenn wir uns zeitweise anzunähern scheinen, in verschiedenen Orbits zu bewegen, wobei Du einem toten Stern künstlich Leben einhauchen willst.

Es grüßt herzlich

Ulrich

1) Django Schins: Links ist, was Gegenmacht schafft. Einheit macht uns stark. Vielfalt macht uns stärker. Einheit in der Vielfalt macht uns am stärksten (Thesen zum Projekt einer NEUEN LINKEN in Deutschland) – work in progress – [django.schins@comlink.org]


An Partei Marx (21.06.2006):

Lieber Ulrich

[…]
Zur Vorbereitung auf unsere Diskussion bitte ich Dich, mir folgenden Satz ins Konkrete zu übersetzen:

„Unser Hauptdissens besteht in der von Dir vollzogenen dichotomischen Trennung zwischen A[lte] S[oziale] B[ewegungen] und N[eue] S[oziale] B[ewegungen], worin sich die bereits von Stalin aufgestellte These als Abklatsch wiederfindet: der Leninismus ist der Marxismus in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution usw.“

Ich verstehe überhaupt nicht, was meine Überlegungen zur notwendigen Herstellung einer G[roßen] L[inken] K[oalition] und dann weitergehend einer G[roßen] S[ozialen] K[oalition] (notwendig deshalb, weil nur mit einem solchen Bündnis ein grundlegender Politikwechsel in Deutschland bzw. schließlich EU erreichbar sein wird) mit meiner tatsächlichen oder vermeintlichen dichotomischen Trennung zwischen ASB und NSB zu tun haben. Im übrigen ist dieser Aspekt leider nur notdürftig skizziert, noch gar nicht ausgearbeitet.

Es bedarf selbstverständlich einer organischen, produktiv-widersprüchlich-konstruktiven Verbindung zwischen beiden.

Gewiß brauchen wir eine geistige, theoretische Orientierung, noch mehr brauchen wir aber ganz konkrete politische Konzepte und eben diese strategische Orientierung (es handelt sich nicht um Taktik, da ich diese Kräfte nicht nutzen und dann auf dem Scheiterhaufen der Revolution zu verbrennen beabsichtige).

Wir sollten uns aber nicht über die richtige Weltanschauung streiten, obwohl ich mich ständig über Idealismus etc. ärgere, sondern darüber, was wir wollen!

Wollen wir z.B. eine Welt ohne Waffen, Kriege. Das ist für mich ein vorrangiges Ziel! Und dann wird sich u. a. anhand dieses Kriteriums zeigen bzw. es zeigt sich ja schon längst, welche Menschengruppen daran interessiert, befähigt und bereit sind, dafür mit zu kämpfen. Und es wird sich auch in der Praxis zeigen, ob „der“ Kapitalismus friedensfähig ist oder nicht (was ja Dogmatiker behaupten und was ich für längst widerlegt halte, siehe Schweden 200 Jahre ohne Krieg) oder nur bestimmte Kapitalismen.

Das revolutionäre Subjekt läßt sich ohnehin nicht am Schreibtisch entwerfen, sondern wird sich in den realen Kämpfen herausbilden oder nicht. In Südamerika ist dieses Subjekt vielfältig und es wird immer stärker – auch ohne echten Leninismus.

Es wird Dich entsetzen, aber ich sage mit aller Entschiedenheit: Wenn es zutrifft, daß Steinmeier wirklich die Atommächte an ihre Verpflichtung aus dem Atomwaffensperrvertrag, abzurüsten, nachhaltig erinnert, d.h. diese Bundesregierung eine authentische Politik atomarer Abrüstung betreiben wird, dann finde ich das höchst unterstützenswert. Die L.PDS wird dies gewiß tun.

In der Hoffnung dich mit meinem Reformismus hinreichend geschockt zu haben, verbleibe ich

mit herzlichem Gruß

Django


An Partei Marx (21.07.2006):

Lieber Ulrich

[…]
Was ich übrigens nicht recht verstanden habe, ist, warum Du nicht auf meine Kritik antworten willst. [1] Wenigstens diesseits des Internets.

Abschließend: Ich bestehe darauf, daß Du auf meine Kritik detailliert und konkret antwortest, ansonsten ich keine fruchtbare Zusammenarbeit erkennen kann.

Herzliche Grüße

Django

PS: In der Anlage findest Du…

[…]
REALISMUS MEETS DOGMATISMUS

Wenn ich [unsere bisherige Diskussion] auf den Punkt bringen müßte, würde ich folgendes sagen:

Du bist ein Dogmatiker reinsten Wassers. Dich treibt die fixe Idee eines reinen revolutionären Subjektes [2], das Du in den Schriften von Marx entdeckt hast [3], aber, da es realiter außerhalb dieser, objektiv-real, nicht zu finden ist und nie zu finden sein wird, weil in der Gesellschaft nichts rein ist, hast Du Dich – konsequent – fast völlig aus dieser zurückgezogen. Die reale revolutionäre Arbeiterklasse operiert, so sie denn überhaupt revolutionär operiert, genauso so unrein wie Menschen grundsätzlich und allgemein nun einmal handeln, weil sie höchst defizitäre Wesen sind. Die Solidarnosc ist dafür ein Paradebeispiel: Mit ihrem luziden historischen Weitblick, der ja der reinen Arbeiterklasse in der reinen Lehre qua ihrem historischen Beruf wesentlich ist, hat sie sich schließlich, von Walesa und dem Papst verarscht, statt der Ein-Parteien-Diktatur am Gängelband Moskaus die reaktionäre Herrschaft der eineiigen Kaczyński-Zwillinge eingehandelt.

Da sitzt Du nun in Deinem Elfenbeinturm, Deinen Kopf tief in die Heiligen Schriften versenkt und arbeitest für den (halluzinierten) Augenblick, da die Arbeiterklasse, wieder auf den abstrakten Geschichtsplan tretend, „eines Tages gezwungen sein wird“ […], revolutionär zu sein und auf Deine Arbeiten zurückzugreifen. Worte eines Schriftgelehrten!

Aachen, den 21.07.2006

1) Django Schins: Determinismus zum ersten. Kapitalismus & Kapitalismus. [Siehe: KRITIK 1 ANHANG 1]

2) „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Thesen-Papier parteiMarx, Anhang zu Deinem Brief vom 30.11.2001. [Siehe: KRITK 1 ANHANG 3]

3) Dein Brief vom 12.01.2004, Seite 1: „Ich gehe zwar davon aus, daß es damit genauso steht, wie zu Marxens Zeiten…“ siehe bspw. [Karl Marx]: »Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.« Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, 391. Unverschämterweise wirfst ausgerechnet Du mir in diesem Brief vor, daß ich die Sache „nicht locker genug“ sehe.


An Django (27.07.2006):

Ich komme ich erst jetzt dazu, auf die Zusendung Deines umfangreichen Materials zu antworten und mich speziell für die Berücksichtigung meines alten Freundes Uwe-Jens Heuer zu bedanken [1] (Ich hoffe, Du hast die REFLEXIONEN zu diesem Autor wenigstens mal angelesen!).

[…]
Ansonsten lassen sich meine von Dir inkriminierten Äußerungen zu Kommunismus etc. nicht von dem Projekt pM trennen, auf das en detail einzugehen, Du Dich allerdings bislang gesträubt hast.

Soweit erst mal,

mit herzlichen Grüßen Ulrich

1) Uwe-Jens Heuer: Worum geht es? Krieg und Imperialismus oder der Sozialismus auf Kuba. Eine Antwort auf Michael Brie, in: junge Welt (05.04.2006).


An Django (12.08.2006):

Lieber Django,

der Anhang Deiner letzten E-Mail läßt sich leider nicht öffnen. Der Anhang zu Cuba war interessant; ich frage mich nur, wieso Du diese dichotomische (Marx: in polarischen Gegensätzen sich bewegende, die Franzosen sagen: manichäische) Denkweise, die in diesem Blatt gepflegt wird, bei der WSAG-Opposition (eigentlich zu recht) kritisierst und auf der anderen Seite kritiklos (trotz Ironie?) zu akzeptieren scheinst. Die Ironie ist ja wohl eher gegen mich gerichtet…

[…]
Es grüßt herzlich

Ulrich


An Partei Marx (13.08.2006):

Guten Tag lieber Ulrich

[…]
Meine vorletzte Mail war die vom Mo 07.08.2006 11:30. Darin befand sich ein Anhang u.a. über Cuba. [1] Es wäre nützlich für mich, wenn Du konkreter erläutern könntest, wo Du darin eine dichotomische Denkweise sich manifestieren siehst. So jedenfalls verstehe ich Deinen Einwand nicht, da die gute Isabel eine Einschätzung gibt, die hinsichtlich der zwei „Formen“ mir durchaus plausibel zu sein scheint (wenngleich ich hinsichtlich der „Änderung durch die Bevölkerung bzw. Katastrophe“ ganz anderer Meinung bin, denn jedenfalls eine – allmähliche – Demokratisierung Kubas würde die „Revolution“ dort nicht gefährden, sondern retten, d.h. den Sozialismus wie er sein sollte überhaupt erst herstellen. Dazu ist Castro aber schlicht zu altersstarrsinnig, bzw. die Nomenklatura desinteressiert), da ein „Ende durch die Bevölkerung“ und eine Invasion hier nicht in Wechselwirkung (Dialektik) stattfinden werden, da die Bevölkerung m. E. eben dazu nicht bereit ist.

„Ich will damit sagen, daß es rein theoretisch zwei Formen vom Ende des Systems in Kuba geben kann. Eine durch die Bevölkerung, die ich nicht für wahrscheinlich halte, und eine durch eine militärische Invasion. Wenn die Bevölkerung selbst eine Änderung wollte, wäre das für Lateinamerika eine Katastrophe. Viele Menschen könnten das nicht verstehen und würden ihre Hoffnung verlieren. Kuba ist heute mehr als ein Beispiel für die Region, es ist die lebende Hoffnung. Wenn Kuba aber angegriffen würde, hätte das keinen negativen Effekt in bezug auf das Bewußtsein in Lateinamerika.“ [2]

Herzliche Grüße

Django

1)Die Menschen in Kuba wollen keinen Wechsel“. Diskussion über Machtverhältnisse in Lateinamerika bei der ATTAC-Sommerakademie. Ein Gespräch mit Isabel Rauber, in: junge Welt 07.08.2006.
2) Ebenda.


An Django (22.08.2006):

Lieber Django,

[…]
Nun zu Kuba:

Ich frage mich, worin sich Isabel Raubers Unterteilung von Regierungen „in links und nicht-links“ von der manichäischen Unterteilung in „gut und böse“ unterscheidet? Ich kann zwischen ihrem politischen und moralischen Manichäismus keinen Unterschied erkennen, obwohl Isabel Rauber behauptet, es bestünde einer („keine Unterteilung in gut und böse, sondern{!?}eine in links und nicht links“).

Das Denken in solchen Schwarz-Weiß-Schemata ist typisch für eine Denkweise von Leuten, die die gesellschaftliche Wirklichkeit Lateinamerikas erstens in Kategorien fassen, die sie aus einer bestimmten Tradition unkritisch (-historisch, -materialistisch) weiter hinter sich herschleifen („antiimperialistische Politik“) und die zweitens die Möglichkeit zur Beseitigung dieser Verhältnisse ausschließlich auf den gesellschaftlichen ‚Überbau’ projizieren („linke Regierungen“). Die Erwartung Isabel Raubers, daß der linke caudillismo in Lateinamerika etwas besseres zustandebringen wird, als der notorisch rechte in der Vergangenheit, ist eine auf „linke Regierungen“, d.h. auf linke caudillos projizierte Wunschvorstellung. Daß solche bonapartistischen Demagogen von den Volksmassen gewählt werden, spricht zwar für den von diesen gehegten Wunsch nach radikalen sozialen Veränderungen, die sich jedoch in für eine bestimmte Wähler-Klientel gestifteten singulären Vorzeigeprojekten erschöpfen.

In ihrer Rolle und Funktion als Wählermassen werden „indigenas“ oder „soziale Bewegungen“, ob sie (oder wir hier) es wollen oder nicht, zu einem Teil des Überbau-Phänomens „linke Regierungen“, dessen linker Bonapartismus letztlich nur durch einen „antiimperialistischen“ Polizeistaat oder Schlimmeres am Leben zu erhalten ist. Davon haben die meisten Kubaner jedenfalls genug, obwohl es wohl kaum jemanden unter ihnen gibt, der/die sich die Wiedereröffnung Kubas als nord-amerikanisches Hurenhaus ernsthaft wünschen kann, während Kuba längst zu einem offiziell geduldeten europäischen Straßenstrich durch den Tourismus geworden ist.

Aber solange die Linke mit der nach Kuba emigrierten Philosophin solchen Überbau-Phänomenen verhaftet bleibt, werden für die absehbare Entwicklung in Kuba nur Schein-Alternativen übrigbleiben, in denen auch Deine Überlegungen befangen zu sein scheinen. Ich bleibe dabei, daß zur Veränderung der wirklichen Verhältnisse es nicht nur einer radikalen Kritik dieser Verhältnisse, sondern vor allem ihrer Kritiker bedarf.

Übrigens lese ich gerade in der FAZ, daß der schlaue Fidel schon im Juli den PCC zu seinem Nachfolger auserkoren und das Sekretariat des PC als Machtzentrale wieder aus der Versenkung hervorgeholt hat. Ein schlauer Schachzug, den er Stalin abgeschaut zu haben scheint; mal sehn, wer sich aus den zu erwartenden Diadochenkämpfen der Parteisekretäre als kubanischer Stalin profilieren wird. Aber bekanntlich wiederholt sich Geschichte nur als Farce.

[…]
Damit hoffe ich die in Deiner E-Mail vom 13.08. aufgeworfene Frage fürs erste beantwortet zu haben.

Herzliche Grüße

Ulrich


An Django (31.12.2006):

Lieber Django,

nachdem wir uns vereinbarungsgemäß seit dem letzten Spätsommer angeschwiegen haben, präsentiere ich Dir in Erfüllung unserer Vereinbarung die Texte, von denen ich hoffe, daß sie dazu beitragen werden, unser gegenseitiges Beschweigen zu beenden.

[…]

Ich werde, gravierende Einwände Deinerseits ausgeschlossen, alle 5 Texte in den nächsten Tagen ins Netz stellen.

Da ich davon ausgehe, daß Du zu Deiner Kritik an der pM nach wie vor stehst, und ich bei aller Polemik in meinen Texten glaube die Grenze zur persönlichen Diffamierung nicht überschritten zu haben, spricht auch nichts dagegen (vorbehaltlich einzelner stilistischer Änderungen oder solche am Layout) diese Texte alle ins Netz zu stellen.

Mit den besten Wünschen für das Neue Jahr und herzlichen Grüßen

Ulrich

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Partei Marx (21.08.2005):

Hallo Ernst Ulrich Knaudt,

habe deine schöne Parteikritik erst gerade zur Kenntnis genommen (Referat in Frankfurt) [1] und muß mir in den nächsten Tagen deine Ausführungen auf der Webseite genauer zu Gemüte führen.

Ich bin ja immer wieder neu überrascht, wenn bei allen möglichen sogenannten RevolutionärInnen – die sich untereinander bekanntlich überhaupt nicht grün sind – der positive Bezug auf das Gespenst aus dem K[ommunistischen] M[anifest] als einzigartiger, gemeinsamer Nenner sichtbar wird. Es ist ja geradezu ein Manko in ihrem Selbstbewußtsein, dieses Gespenst nicht selbst darstellen zu können. Ein kritischer Bezug auf die Bewegungsgeschichte, die die Umkehrung der wirklichen Gespenstbedeutung ermöglicht, ist aus meiner Sicht kaum vorhanden. Mich interessiert daher, ob Du beim Vorstellen deines Referates in Frankfurt damit bei diesen anecktest.

Es ist ja in der Tat so – wenn man die marxschen Veränderungsbestimmungen von ihrem Ende her begreift (Aufhebung der Wertvergesellschaftung mit Aufhebung des Geldes bei gleichzeitiger Vergesellschaftung ohne äußeren Zwang), daß der Leninsche Revolutionsweg gar nicht funktionieren kann – oder?

so weit erstmal und beste Grüße

Hubert

1)KRITIK 1, ANHANG 2


An Hubert (01.09.2005):

[…]
Ein positiver Bezug auf das K[ommunistische] M[anifest] ist recht einfach herzustellen und zugleich sehr kompliziert. Es ist immer relativ einfach gewesen, den darin entwickelten Anspruch deklamatorisch in die Welt hinaus zu posaunen, wie etwa aus Anlaß des 150. Jahrestages in Paris. Da es sich um die Programmatik einer ganzen Menschheitsepoche handelt, wird der Zitatensucher kaum das nötige Kleingeld für seine Tagespolitik darin finden. Ihre Vermittlung durch den politischen Klassenkampf hat Marx in Form der ‚Partei Marx‘ exemplarisch vorgeführt. Dies wird in den STREITPUNKTEN auf der Homepage gleichen Namens an bestimmten Beispielen vorgeführt. Dort geht es vor allem um die Beziehung Lenin-Marx, die für die Bewältigung unserer ‚Bewegungsgeschichte‘ von entscheidender Bedeutung ist. Was von dem ‚Leninschen Revolutionsweg‘ dann übrig bleiben wird, und zwar ohne der Sozialdemokratie und dem linken Sozialimperialismus Konzessionen zu machen, wird sich dabei herausstellen. Das Verhältnis zwischen Werttheorie und politischem Klassenkampf ist dabei neu zu bestimmen, weil weitgehend unterbestimmt.

Falls Du Dich mit den STREITPUNKTEN auseinandersetzen willst, wäre Deine Kritik sehr willkommen.

[…]
Was Deine Frage zu der Frankfurter Veranstaltung betrifft, so kann ich mich an keine ernstzunehmenden Einwände erinnern. Dazu waren die wenigen Zuhörer politisch zu heterogen, bzw. das Thema scheinbar zu theoretisch. (Siehe auch: Wozu die Auseinandersetzung über die elementaren Streitpunkte?)

Es grüßt herzlich Ernst-Ulrich Knaudt


An Partei Marx (07.09.2005):

Hallo und vielen Dank Ernst Ullrich,

für deine Antwort und die Einladung zur Kritik, ich werde gerne darauf zurückkommen. Wie angekündigt habe ich mir ja inzwischen die Webseite näher angesehen und finde die Betonung der Marxschen Position zu Rußland in Diskrepanz zu Lenin aber auch zu Engels sehr interessant. Ich kannte die Briefe zwar, aber bis zu dieser grundsätzlichen Bedeutung habe ich die Sache nicht zu Ende gedacht. Unabhängig von der Richtigkeit der Position im engen Sinn, etwa bezogen auf die Jahre 1917 ff, kommt hier m. E. aber auch ein Problemzugang zum Ausdruck, der quer zu den Ambitionen der Bolschewiki steht, die mit ihrem Minderheitenkonzept über gar keinen wirklichen Problemlösungsansatz verfügten, weil die Gesellschaft als Akteur, d.h. die vielen Individuen die die Gesellschaft im Zusammenhang bilden, gar nicht handlungsrelevant war. Marx dagegen versuchte die von ihm gesehene Gesellschaftlichkeit des russischen Dorfes sozusagen als Keimform der sozialistischen Gesellschaftlichkeit zu nutzen, die damit definitiv in der Handlungshoheit der direkt betroffenen Menschen gelegen hätte. Vielmehr mußte ja alles durch das Revolutionaritätsfilter der Partei: was hier nicht in den Kram paßte wurde ausgeschlossen. M. E. ist deine positive Affinität zu Lenin (meine eigene Abkehr hier ist noch nicht sehr alt) überholt. Die Beurteilung der Realitäten gelingt schwerlich vor dem isolierten Hintergrund der Leninwerke und fängt man erstmal an, die Realitäten in den Blick zu nehmen, wird man von den Diskrepanzen erschlagen.

M. E. ist hier aber auch immer der Widerspruch in der Parteikonzeption zwischen Marx und Lenin übersehen oder als Weiterentwicklung verstanden worden, was sie m. E. sicherlich genau nicht ist. Die marxsche Warnung vor der Modelung ist vielmehr im Leninschen Konzept das eigentliche Programm (insbesondere real, die Formulierungen sind dagegen zweitrangig). Für Marx ist die Partei der Kommunisten (in deinem Sinn die Partei Marx) in der Gesellschaft für die Gesellschaft als eine unter vielen tätig, als militärische Kampforganisation aus meiner heutigen ! Sicht völlig untauglich. Die andere Bestimmung der Gesellschaft durch die Partei ist hinreichend bekannt. Denkt man diese Zusammenhänge von ihrem Ziel her an (Vergesellschaftung ohne Geld und ohne Zwang) so erledigt sich das Minderheitskonzept aus meiner Sicht per se, weil der Zwang nur durch die Eigenmotivation der vielen, vielen Individuen zu umgehen ist. Steht die Frage erst mal auf dem Tablett, wie die „ungeheure Mehrzahl“ (K[ommunistisches] M[anifest]) sich die dazu notwendige Gesellschaftlichkeit aneignen soll, so bleibt i. A. offensichtlich nur die Feststellung übrig, daß die bisherige revolutionäre Bewegung nicht das war, was sie bis heute vorgibt zu sein. Ein Lösungszugang ist hier weit und breit nicht mal im Ansatz zu sehen.

So weit erst mal auf die Schnelle.

[…]
Hubert

PS selbstverständlich beinhaltet diese Sicht „Konzessionen“ an die Sozialdemokratie: Sie waren und sind nicht das konterrevolutionäre Element, wozu der Leninismus sie gemacht hat. Unter dem Stichwort „trial and error“ muß der gesamten Gesellschaft materialistisch die Entwicklungsmöglichkeit offen gehalten werden, anstatt eine scheinbare Wahrheit zu monopolisieren. Nur unter dem Vorbehalt der Nichtberücksichtigung des voluntaristischen Revolutionarismus dieser Bewegung kann dieser Vorwurf bis heute einen ‚Sinn‘ machen. Sobald der Voluntarismus hier ins Blickfeld und in die Kritik gerät, müssen diese Vorwürfe fallen.

Als Grundlage oder Medium einer weiteren Diskussion über diese historischen Zusammenhänge könnte vielleicht die Schrift von Gerd Koenen „Utopie der Säuberungen“ dienen?!


An Hubert (14.09.2005):

Lieber Hubert,

Du assoziierst Bolschewiki (‚Mehrheitler‘) mit „Minderheitskonzept“. Das ist nicht unbedingt zwingend. Im Oktober 1917 besaßen sie auf dem Sowjetkongreß durchaus eine Mehrheit. Das änderte sich erst Anfang Januar 1918, als die ‚Minderheitler‘ und die rechten Sozialrevolutionäre die Konstituierende Versammlung einberufen und die Bolschewiki diese auseinander gejagt hatten. Aber auch das hätte kein Fehler sein müssen, wenn Lenin sich am Marxschen ‚Programm‘ zur Bauernfrage orientiert hätte, was die Masse der russischen Bauern zuvor handgreiflich vollzogen hatten: Verjagung der Profiteure von 1861 und den Stolypinschen Reformen, die nach der Bauernrevolution von 1905 in Rußland ein westeuropäisches Einzelbauerntum hervorbringen sollten, worauf sich nur die Allerwenigsten einlassen wollten, und Rückkehr zur Wirtschaft der alten Bauerngemeinde.

[…]
Was die Bolschewiki auf dem Land zustande gebracht haben, war durchweg Stückwerk. Die Nationalisierung des Bodens war für die Bauern kein Problem, da sie Privatbesitz gar nicht kannten. Diese hätte also ergänzt werden müssen durch Investitionen in den archaischen Bauernkommunismus. Dazu war die Mehrheit der Sozialrevolutionäre und schon gar nicht der ‚Minderheitler‘ bereit. Damit aber hätten sie in die Enge getrieben und an ihrem Fall klar gemacht werden können, daß die K[onstituierende] V[ersammlung] nur diese Tatsache verschleiern sollte.

Gleichzeitig wären die Sowjets aufgewertet worden und durch Neuwahlen die aktivsten Bauernelemente hätten kooptiert werden müssen. Stalins (und nicht nur Stalins) Kollektivierung ist eine demagogisch aufgezogene Veranstaltung ganz im Sinne der Menschewiki und Sozialrevolutionäre vom Januar 1918, nur, anstelle des Parlamentarismus eine neue Autokratie. In dieses Bild paßt die von Dir benutzte Gegenüberstellung von „Individuum“ und „Gesellschaft“ nicht so recht. Das wäre nur der Fall, wenn die Stolypinschen Reformen nicht gescheitert wären. „Handlungshoheit der direkt betroffenen Menschen“ stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber gerade in dem angesprochenen Konflikt standen sich eindeutig Klassen gegenüber (einmal beiseite gelassen, woraus sich die russische Arbeiterklasse zu jenem Zeitpunkt konstituiert haben konnte). Meine „positive Affinität zu Lenin“ halte ich insofern aufrecht, weil Lenin glaubte, den Lassalleanismus seiner Zeit und den linken Sozialimperialismus im Sinne der ‚Partei Marx‘ zu bekämpfen, mit der er auf der anderen Seite wegen der Bauernfrage und, wie ich gezeigt habe, der nationalen Frage seine eigenen Probleme hatte. (Die Menschewiki hatten dagegen keine Probleme mit derselben, weil die Bauernfrage für sie gar nicht existierte) Insofern ist meine „Affinität zu Lenin“ durchwachsen und nicht endgültig geklärt. (Das wird sich mit der Fortsetzung des STREITPUNKTs zur ‚Nationalen Frage‘ vielleicht ändern). Grundsätzlich abzulehnen ist der Lenin-Kult, den die DDR-Wurmfortsatz-Parteien und Publikationsorgane veranstalten. Aber auch diese haben ihre Probleme mit Lenins Imperialismus-Theorie, die sich weder mit den sonnigen Vorstellungen der anti-globals noch dem Sozialdemokratismus der PDS vereinbaren läßt. Du schreibst, Konzessionen an denselben seien notwendig. Es mag Situationen geben, wo Konzessionen an die Bourgeoisie notwendig sind, aber dazu ist eine Vermittlungsinstanz wie die Sozialdemokratie überflüssig, weil die, wie ein Rechtsanwalt von seinen Klienten, von ihren eigenen Konzessionen lebt. Deinen Literaturhinweis nehme ich dankend zur Kenntnis. Das Buch habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Beim Durchblättern von „Das rote Jahrzehnt“ fiel mit spontan ein: ach wenn doch dieser geistreiche Autor seinen Sarkasmus und seine Ironie schon zu Zeiten des KBW so entwickelt hätte, wie er das jetzt tut. Was für interessante Diskussionen hätten wir schon damals führen können anstatt uns ständig bei der Lektüre des Sozialistischen Einheitsbreis der „Kommunistischen Volkszeitung“ den Magen zu verderben…

In diesem Sinne grüßt herzlich

Ernst-Ulrich Knaudt

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

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An Django (12.01.2004):

Hab vielen Dank für Deine Neujahrs-Mail, die ich mit einiger Verzögerung, die Du entschuldigen mögest, beantworte.

[…]
Du siehst die Dinge zu schwer (oder wie man hier sagt, nicht locker genug). Das betrifft auch die Sache mit dem „Proletariat“: Ich gehe zwar davon aus, daß es damit genauso steht, wie zu Marxens Zeiten, nur daß sich das ganze Phänomen global auseinandergezogen hat und zwar gerade so, daß die deutsche Arbeiterklasse auseinanderdividiert werden müßte in eine, gemessen am Weltmaßstab, hoch qualifizierte und entsprechend bezahlte ‚Arbeiteraristokratie‘ und eine wachsende Schicht von prekären Arbeitern und Nicht-Mehr-Arbeitern, die aber alle irgendwie ’sozial abgesichert‘ sind. Die deutsche Arbeiterklasse produziert zweifellos weiterhin ‚ihren‘ Mehrwert für das Kapital (oder ist an dessen Realisierung beteiligt), aber verglichen mit dem übrigen Proletariat, das im Weltmaßstab über die sog. Niedrig- und Niedrigstlohnländer verteilt ist, fällt es schwer, hier noch von einem Proletariat im ursprünglichen Sinn zu sprechen (obwohl die deutsche Arbeiterklasse Teil der weltweit sich herausbildenden Klasse an sich ist). Die Sache ist also höchst verwickelt, und, bevor diese Klasse an sich nicht einmal ansatzweise existiert, scheint es geradezu utopisch zu sein, heute einfach so von „dem Proletariat“ zu sprechen. Wenn ich dieser Ansicht wäre, müßte das zu Recht kritisiert werden.

Wenn in Zukunft überhaupt von „dem Proletariat“ die Rede sein wird, müßten wir heute von vornherein von dem Weltproletariat ausgehen, allein schon, weil sich die Weltbourgeoisie, um zu überleben, am Weltmarkt orientieren muß und ihr Kapital (mit oder ohne linke Moralpredigten) dort entsprechend profitabel ‚disloziert‘ hat, und daher sollten wir die ’nationale‘ Arbeiterklasse in Relation zu dem sich real herausbildenden Welt-Proletariat in China, Indien oder Brasilien (?) bestimmen. Was dann noch an der deutschen Arbeiterklasse als revolutionär übrigbleibt, wird wahrscheinlich ’nicht die Welt sein‘, auch wenn diese bittere Wahrheit den politisch auf Dummenfang ausgehenden ‚Arbeiter’parteien links von SPD und PDS vermutlich nicht in den Kram paßt, weil der Glaube an die Existenz eines ‚revolutionären deutschen Proletariats‘ nun einmal zu ihrer raison d’être gehört, während auf der anderen (mehr oder weniger sozialdemokratischen) Seite der „Abschied vom Proletariat“ schon lange eine vollendete Tatsache ist, an dessen Stelle das neue kosmopolitische Kleinbürgertum (im Gegensatz zum untergehenden alten bildungsbürgerlich-handwerklich-großbäuerlichen, das keinen Anschluß an den Weltmarkt findet) getreten ist (die bürgerliche Linke jenseits der Arbeiter-Partei-‚Kommunisten‘: PDS, Grüne, Jusos, Julis und wie sie alle heißen), die sich und ihren globalisierungskritischen Anhang zum neuesten Antipoden der Weltbourgeoisie erklären… Die Frage nach dem „Proletariat“ sollte niemandem einen schweren Kopf machen, weil einfach niemand die Antwort wissen kann, es sei denn, er hält sich für einen Propheten. Sie wird ganz konkret beantwortet werden, wenn es soweit ist.

Aber vielleicht reden wir schon wieder aneinander vorbei; denn für den Fall, daß Deine Probleme mit dem „Proletariat“ eher prinzipieller Natur sind, müßte ich mich für nicht zuständig erklären und wie ich in einem meiner letzten Briefe erwidert habe, Dich auffordern, Deine prinzipiellen Bedenken an die Gründungsväter der „Partei Marx“ zu richten und Dich in die lange Reihe der (zumeist akademischen) Marx-Kritiker einzuordnen in der Hoffnung vor der dort versammelten Öffentlichkeit Deine Kritik plazieren zu dürfen. Aber das lassen wir einmal dahingestellt…

Nächster Punkt: ich halte Deine ironische Schreibweise nicht für einen Nachteil. Unsere „Mißverständnisse“ sind eher politischer Natur, genauer, sie beruhen darauf, daß wir unsere sehr unterschiedlichen politischen Sichtweisen aus unserem Diskurs vorerst ausgeklammert haben. Und daher treten wir auch auf der Stelle. Um in unserer Diskussion weiter zu kommen, müßten wir versuchen, unsere politischen Differenzen konkret zu bestimmen. Ich erinnere mich, daß Du anläßlich meiner Überlegungen zum Kirow-Attentat sinngemäß schriebst: das wäre eine Angelegenheit für die Historiker, zu der Du Dich nicht konkret äußern wolltest. Das finde ich ganz und gar nicht: wo es um die Rekonstruktion des Verlaufs einer weltrevolutionären Bewegung geht (und nicht nur um die „Stalinfrage“ als solche), besteht für jeden daran direkt oder indirekt Beteiligten die unbedingte Notwendigkeit, sich darüber seine eigenen Gedanken zu machen und diese zu diskutieren, weil das nicht nur für die Einschätzung der damaligen Entwicklung der UdSSR und der zukünftigen Entwicklung des Weltproletariats von entscheidender Bedeutung ist. Den bürgerlichen Historikern ist dieser Gesichtspunkt natürlich ‚Schnuppe‘, die Arbeiter-‚Kommunisten‘ reden häufig salopp von gewissen „Fehlentwicklungen“, während sie aus demselben „fehlentwickelten“ Irgendwie-Sozialismus in der SU (DDR) die Existenzberechtigung ihrer eigenen Partei ableiten. Eine Frau ist bekanntlich nicht irgendwie schwanger… Um unsere Differenzen konkret zu bestimmen, müßten wir uns von all diesen Irgendwie’s verabschieden.

Davon abgesehen habe ich generell den Eindruck, daß ich mit meinem Anspruch an eine konkret bestimmte Redeweise in meinem Umfeld, das ich auf meine Texte aufmerksam gemacht habe, eher lähmendes Entsetzen auslöse. Es ist als ob in einem großen Kreis von Gesprächsteilnehmern jemand eine Peinlichkeit von sich gegeben hat, zu der sich niemand konkret äußert, um nicht in das Schwarze Loch, das durch die angebliche Peinlichkeit aufgerissen worden ist, selbst mit hineingezogen zu werden. Oder es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern, wo nur die Nichteingeweihten noch ihren Realitätssinn bewahrt haben! Die deutsche Linke geht nackt (oder in Bourgeois-Klamotten!) und alle Welt hat sich über die Jahre an den Gedanken gewöhnt: es muß doch noch irgendwas Kommunistisches an ihr dran sein. – Die Wahrheit ist konkret, also laß uns konkret werden und unsere politischen Einschätzungen zusammenrasseln lassen. Entweder bricht dann unsere Diskussion zusammen oder wir schaffen uns eine Grundlage für eine zukunftsgerichtete Fortsetzung derselben.

[…]
Hier beende ich erst mal meinen Monolog und hoffe für uns auf baldige „Konkretisierungen“…

Ulrich

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

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An Partei Marx (01.04.2003):

Das Weltsozialforum 3 und Porto Alegre waren eine faszinierende Erfahrung. Überall nur bürgerliche Idioten, die glauben, ohne ein Vorabstudium marxistischer Dogmatik die Welt grundlegend verändern zu können. Du fehltest eigentlich an allen Ecken und Enden! Als Orientierer! Schade, daß das aber mit Dir gar nicht geht, weil Deine „politischen“ Erwägungen Dich zuerst über die jahrzehntelange theoretische Analyse zur kommunistischen Zielbestimmung führen und dann zum praktischen Start. Unter strenger Beachtung der persönlichen Anonymität, versteht sich.

Das wird die Proletarier bestimmt zu revolutionären Begeisterungsstürmen hinreißen, wenn sie das subjektlose Konzept dann nachlesen können bzw. gesagt bekommen, wo es langgeht.

Wie man die Dinge doch auf den Kopf stellen kann, wenn man mißachtet, daß jeder praktische Schritt der Veränderung wichtiger ist als 10 Programme. Auch das eine marxsche Erkenntnis, daß der Treibstoff wirklicher revolutionärer Veränderung primär nicht die geistige Trockennahrung ist, sondern das Erleben elender Verhältnisse. Gesellschaftskritische Theoretiker sollten dann Erklärungshilfe leisten.

Im Anhang sende ich Dir einen Text über die Entwicklung der kriminellen Vereinigung Partido dos Trabalhadores. [1]

Übrigens: Ich vermisse immer noch Deine Begründung dafür, daß der Sozialismus/Kommunismus das gesetzmäßige Ergebnis der Geschichte sein wird.

Mit freundlichem Gruß

Django

1) Brasilien 2002: Wie der Sieg der Arbeiterpartei PT erreicht wurde (Paper).


An Django (14.04.2003):

Ich habe mich gefreut, wieder von Dir zu hören. … Ich werde Deinen Reisebericht studieren und so bald wie möglich darauf antworten. Dazu ist mir eine programmatischen Broschüre von ‚attac’ in die Hände gefallen, die ich in meine Antwort einbeziehen werde. [1] … Wieso sollen wir so anmaßend sein und künftigen Generationen zu empfehlen haben, wie eine Gesellschaft mit gemeinschaftlicher Produktion konkret auszusehen hat? Sollte man ihnen nicht selber überlassen, wie sie die Widersprüche in ihrer Gesellschaft konkret lösen? Was ihnen vielleicht dabei helfen wird, ist die schonungslose Kritik der Fehler, die u.a. auch wir uns ‚geleistet’ haben. Deinen aktionistischen Elan in allen Ehren! Aber so handeln halt Leute, die aus der Geschichte nichts gelernt haben, weil sie nichts haben lernen wollen. Das Nicht-Gelernte wird ihnen dann fehlen, wenn es wirklich mal hart auf hart kommt. Dann wird die alte Sch. wieder aufgewärmt – ohne mich…Also bis bald!

Es grüßt herzlich Ulrich

1) SoZ (Hg.): 2. Forum von Porto Alegre. Dokumente, Berichte, Materialien, Köln 2002.


An Django (03.06.2003):

Es ist jedes Mal dasselbe: immer, wenn ich meinen Antwort-Brief an Dich fast beendet habe, befallen mich Zweifel, ob ich ihn so abschicken kann, und dann fange ich wieder von vorne an. Denn ich bemerke dann an meinem Entwurf die häufig an mir beobachtete Unsitte, nach politischen Gemeinsamkeiten zu suchen, ohne daß wir uns zuvor über deren Inhalte gefetzt haben. Also beginne ich mit Deiner Mail vom 01.04. Du stellst meine Haltung so dar, als sei ich mir zu schade, um mich in den politischen Nahkampf zu begeben. Das ist natürlich Unsinn. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich mich an jedem sich bietenden politischen Nahkampf und jeder von irgendwelchen Leuten herausposaunten Kampagne beteiligt. Daß ich das nicht mehr so unbefangen betreibe, hat einfach seinen Grund darin, daß mir die Diskussionsgrundlage abhanden gekommen ist, von der ich früher naiverweise angenehmen konnte, daß sie elementar existiert: Wir sind doch alle Linke… Wenn das nicht jedem, zumal auch Dir nicht, einzuleuchten scheint: der tiefere Sinn des pM-Projekts besteht u.a. darin, das politische Minimum zu erarbeiten, auf dessen Grundlage es sich überhaupt noch lohnt, mit einander zu reden, wenn man sich nicht hinter irgendeinen selbst gebastelten Dogmatismus zurückziehen will.

Woraus, frage ich Dich, sollen denn die „bürgerlichen Idioten“ ihre theoretischen Kenntnisse beziehen (die Einsicht in die Notwendigkeit einmal vorausgesetzt)? Ein „Vorabstudium marxistischer Dogmatik“ wird weder ihnen noch irgendwelchen zukünftigen sich revolutionär orientierenden Proletariern weiterhelfen, wenn deren Erwerb nicht verbunden ist mit einer nun mal bei den ‚Klassikern‘ natürlicherweise nicht mehr zu findenden Analyse der Geschichte der Klassenkämpfe des vorigen Jahrhunderts (warum all die vielen bereits existierenden, und in der Mehrzahl akademischen, Bemühungen nichts taugen, liegt erstens daran, daß es sich um sozialwissenschaftliche Untersuchungen oder traditionelle Geschichtsschreibung handelt, deren Fragestellung einfach nicht über den eigenen bürgerlichen Schatten springt und zweitens an der Jahrzehntelang von angeblich sozialistischer Seite betriebenen Dogmatisierung der Geschichte, durch die die darauf beruhenden Untersuchungen zu Makulatur geworden sind, weil sie einfach niemandem den Eindruck vermitteln können: tua fabula narratur).

Ich habe in der letzten Zeit viel Stalin gelesen. Und ich finde, daß wir ihm alle sehr viel ‚verdanken‘, so auch die von Dir gemachte Trennung von erst mal ‚rin in de Praxis‘ und dann „Erklärungshilfe leisten“. Eine echte Stalinscher Dichotomie mit zwei kontrapositionierten Seiten, die sich polar gegenüberstehen, aber ohne „das geistige Band“ (Goethe). Wenn es gelänge, diese schon fast über mehrere Generationen hinweg eingeübte Denkweise abzulegen, dann wäre das bedeutsamer als 10 antikapitalistische Kampagnen auf einmal. Dann wäre auch Deine Frage (zum ‚Klein-Papier’) beantwortet: „Kann der Kapitalismus evolutionär transformiert werden?“ [1] Vielleicht kann er (siehe Marxens IAA-Rede in Den Haag, MEW 18,160), aber nicht auf der Grundlage der aktuellen Denkweise seiner vorgeblichen Veränderer! Ich würde sogar noch weiter gehen: je subtiler ein solcher Reformismus agiert, desto notwendiger wird die Verbreitung revolutionärer Dialektik und proletarischer Bewußtheit über die Resultate der vergangenen Klassenkämpfe. Die Dialektik bewährt sich immer nur am konkreten (historischen oder politischen) corpus delicti und nicht in theoretischen Trockenübungen, welche Du vorschlägst.

Zu dem Klein fällt mir nicht viel ein… Bei Licht betrachtet habe ich ein gespaltenes Verhältnis zur PDS. Politisch sind mir die Reformisten lieber als die Beton-Kommunisten in ihren Reihen. Auf der anderen Seite weiß ich mit dem von der Partei-Mehrheit praktizierten Antikapitalismus rein gar nichts anzufangen, weil diesem, wie gesagt, jede revolutionäre Dialektik ausgetrieben wurde und ein Antikapitalismus ohne dieselbe mich einfach anödet. Ihre Historiker schreiben ganz brauchbares bürgerliches Zeug zu meinen Lieblingsthemen; die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, sind, wenn es geschieht, allerdings fade, weil ohne revolutionäre Perspektive. So schreibt, um ein Beispiel zu zitieren, Helmut Bock, in: Die Russische Revolution im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (3) 2002, 22: „Mit dem Zerfall der Sowjetunion jedoch rückte zuletzt eine Bourgeoisie an die Macht, die ausgerechnet [?] aus den staatsmonopolistischen Strukturen des vermeintlichen Sozialismus hervorkam – … Durch ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, rigide Industrialisierung und Agrarrevolution hat der von Lenin inaugurierte, von Stalin durchgepeitschte, vorzeitige [?] ‚Sozialismus‘ soziale, technologische, infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen, worüber die neue Bourgeoisie in Rußland und weiteren Ländern heute verfügt. Für jeden, der den ‚Roten Oktober‘ als seine politische Geburtsurkunde begriff [!], muß ein solches Ergebnis enttäuschend sein. Und doch scheint jetzt die Einsicht veranlaßt, trotz aller Mühen und Kämpfe gegen kapitalistische Ausbeutung und Krieg, setzt man den Terminus ‚Revolution‘ nicht für temporäre Versuche, sondern universell, d.h. streng welthistorisch, so bezeichnet er in der ganzen Geschichte der Neuzeit bislang ausschließlich bürgerliche, den Kapitalismus begünstigende Endresultate.“

Für solcherart durch ein zweckentfremdetes Engels-Zitat erzeugten ‚Realismus‘ werden die zukünftigen Lokomotivführer der Geschichte wenig Verständnis haben, vor allem nicht dafür, daß die »demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, …eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände (erstreben), wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem wird« (MEW 7, 244 f.). Es ist nicht die Frage, daß die Reformen, die ein revolutionäres Proletariat zu fordern hätte, „zugleich“, wie es bei Klein heißt, „über den Kapitalismus hinausweis(en)“ (Seite 3), sondern wie das geschieht: in dem Sinne, daß die revolutionäre Klasse für die demokratischen Kleinbürger Änderungen im von Marx und Engels kritisierten Sinn erkämpfen und dann leer ausgeht oder so, daß sich die an den Kämpfen Beteiligten in den Gesetzen des Klassenkampfes schulen, indem sie von vornherein »als Klasse den herrschenden Klassen gegenüber(treten)« und allein darin ihre eigene zukünftige Klassenherrschaft antizipieren lernen. (Die Bourgeoisie konnte auch unter der Hegemonie ihres politischen Gegners, der Feudalklasse, kapitalistisch produzieren, das Proletariat kann die ihm entsprechende Produktionsweise nur unter der eigenen Hegemonie praktizieren) Es geht also nicht darum, wie die Parteilinke das tut, den Reformismus der PDS als solchen zu bekämpfen und ihr statt dessen den ‚Kampf für den Sozialismus‘ nahezulegen, sondern zu kritisieren ist, wie sie mit diesem umgeht.

Schon vor längerer Zeit schrieb ich Dir, daß sich die Partei wahrscheinlich in am bundesdeutschen Standard orientierte Reformisten und in Beton-Kommunisten spalten wird, und daß die DKP hocherfreut auf eine solche Spaltung wartet. Dazu erinnere ich an meine Email vom 06.03.2001, wo es am Schluß heißt: „Dazu wird dann eine Wähler-Partei links von der Sozialdemokratie als geeignetes Gefäß benötigt … Wovor mir graust, ist, daß da möglicherweise ‚zusammenkommt‘, was (aus DKP-Sicht) zusammengehört.“ Nach dem Studium einiger Papers, in denen die aktuellen Querelen in der PDS ausgetragen werden, drängt sich dieser Schluß unverändert auf, und in der Perspektive von 2001 (sicherlich ein wenig überspitzt, aber darum nicht falsch: denn natürlich wurden in der Zwischenzeit einige harte Kanten abgewetzt) ist mir, wie gesagt, politisch der Reformer-Flügel dreimal sympathischer als seine (real-) sozialistischen Kontrahenten, obgleich dessen politische Hilflosigkeit nicht erwarten läßt, daß er mit diesen anders fertig werden wird denn durch die übliche bürokratische Lösung: Ausschluß, Spaltung oder so was in der Art. Eine solche Entwicklung wäre ebenso unerfreulich wie ärgerlich, wo dabei nur die Stärkung eines Typus von Kommunisten herauskäme (die mit der Faust, die den alten Stalin umklammert hält, in der Tasche…), von der wenig Gutes zu erwarten ist.

Nun zu Deinem überaus interessanten Brasilien-Bericht: Ich habe mich nicht systematisch mit Brasilien befaßt, und daher werde ich vielleicht mit dem Folgenden teilweise daneben liegen, aber dann kannst Du mich auf Grund Deiner nun dort gemachten Erfahrung korrigieren… Das Grundproblem scheint mir darin zu liegen, daß Brasilien von einer grundbesitzenden Oligarchie mit weitestgehender Rückendeckung durch die USA beherrscht wird. Damit sage ich über ein lateinamerikanisches Land nichts umwerfend Neues. Dadurch haben wir aber eine seit Generationen ungelöste Bauernfrage. Darüber erhebt sich ein industrieller Überbau, durch den aber Brasilien nicht schon zu einem Industrieland nach europäischem Muster wird. Der Grund ist auch bekannt: die industrielle Entwicklung ist eine weitgehend durch europäische Multis importierte, die aber – und das ist jetzt entscheidend – eine moderne Arbeiterklasse hervorgebracht hat. Aus Deinem Bericht über den PT folgere ich, daß die Existenz der Lula-Regierung Ausdruck eines Waffenstillstands der brasilianischen Arbeiterklasse und Teilen des Kleinbürgertums mit der Oligarchie ist, die, gezwungen durch die Weltwirtschaftskrise, die ja auch eine Finanzkrise (250 Mrd. $ Schulden; Le Monde Diplomatique, Mai 03, 17) und eine Exportkrise ist, vorsichtiger taktieren muß, um soziale Unruhen größeren Umfangs vorerst zu vermeiden.

Lula scheint also einen politischen und ökonomischen Klassenkampf nach echt Marxschen Vorstellungen geführt zu haben. (Vgl. den Brief von Karl Marx an Friedrich Bolte vom 23. November 1871 [MEW 33, 332]: »Notabene ad Political Movement: Das political movement der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Eroberung der political power für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte previous organisation der working class nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst. Andrerseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without zu zwingen sucht, ein political movement. Z.B. der Versuch, in einer einzelnen Fabrik oder in einem einzelnen Gewerk durch strikes etc von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung; dagegen die Bewegung, ein Achtstunden- etc. Gesetz zu erzwingen, ist eine politische Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomischen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d.h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form, in einer Form, die allgemeine gesellschaftlich zwingende Kraft besitzt. Wenn diese Bewegungen eine gewisse previous Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation«). Von daher macht die Tatsache, daß der PT den politischen Klassenkampf im von Marx verstandenen Sinn nun auch vom Amt des Regierungschefs aus führt, keinen Unterschied zu seinen bisher angewendeten Formen des Klassenkampfes. Die spannende Frage wird sein, ob die brasilianische Arbeiterklasse das »political movement … zum Endzweck der Eroberung der political power« keinen Tag aus den Augen verliert, d.h. den Sturz der Oligarchie mit ihrem Bourgeois-Anhang. Sonst hätten wir es schlicht mit einer neuen Variante des Menschewismus zu tun, mit Lula als Kerenski.

Wie überhaupt in dem Papier das Vorbild der Bolschewiki in den Erörterungen über die Parteigeschichte leider eine untergeordnete Rolle spielt. Das ist bedauerlich. (Das Zarenreich war zwar im Gegensatz zu Brasilien eine – europäische – Großmacht, aber auch in Rußland war der Sturz der grundbesitzenden Oligarchie mit ihrem bürgerlichen Anhang und die Lösung der Bauernfrage Voraussetzung für jede weitere revolutionäre Veränderung, worin der Arbeiterklasse eine Schlüsselfunktion zukam). Aber entweder, so entnehme ich dem Bericht, haben wir es in Brasilien mit Beton-Kommunisten zu tun, die das Manna der Kontinuität ihres ML aus ihren ‚bolschewistischen‘ oder ‚maoistischen‘ Dogmen saugen oder da, wo in dem Papier einige mutige Ansätze zur Kritik am ‚Realen Sozialismus‘ (Polen, Cuba) referiert werden, bleiben diese letztlich prinzipienlos und taktisch zurückhaltend (um nicht zu sagen, opportunistisch). Voraussetzung für einen tatsächlichen Fortschritt in der in dem Bericht übervorsichtig angedeuteten Richtung wäre eine brasilianische pM, die auf revolutionäre Weise (Reformisten gibt es wie Sand am Meer!) radikale Konsequenzen aus unserer gemeinsamen historischen Tragödie zieht und sich auf dieser Grundlage ein revolutionäres Programm gibt:

  • Enteignung der Oligarchie.
  • Lösung der Bauernfrage. Aber anders als in Rußland in einer Kombination von selbst verwalteten landwirtschaftlichen Großbetrieben (auf der Basis der Latifundien) und Verteilung von Bauern-Land auf der Grundlage der Reaktivierung des kleinbäuerlichen Kollektivismus (Genossenschaften), um die Versklavung der Bauernschaft durch eine neue Monokultur betreibende rot geschminkte (cubanische, nicaraguensische usw.) Oligarchie oder – als entgegengesetztes – einen kleinbäuerlichen Ethnizismus (Subcomandante Marcos) zu verhindern.
  • Verstaatlichung der Industrie und Angliederung der Staatsbetriebe an die kleinbäuerlichen und industriellen landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften, (und zwar so, daß ‚Große Sprünge nach vorn‘ vermieden werden!): Brasilien ist kein europäisches Industrieland, weil seine industrielle Entwicklung eine im Interesse des ausländischen Kapitals aufoktroyierte ist. Dadurch Vermeidung des Peronismus (Autarkie) oder einer von Dependencia-Theoretikern ausgeklügelten ‚autozentrierten Entwicklung‘ der Bourgeoisie, die beide direkt oder indirekt zu einer neuen oligarchischen Herrschaft führen müßten.

Fazit: das nach Brasilien importierte ausländische Kapital hat eine Arbeiterklasse hervorgebracht, die gelernt hat, den ökonomischen und politischen Klassenkampf zu führen und sich darin als Klasse gegenüber der Bourgeoisie zu konstituieren, die aber den Klassenkampf noch nicht politisch führt bezogen auf den »Endzweck« ihres »political movement«, die »Eroberung der political power« zum Sturz der Oligarchie und ihres bürgerlichen Anhangs, der Kompradoren-Bourgeoisie. Dein mir übermittelter Bericht enthält einige ermutigende Ansätze im Sinne der pM, die sich notwendigerweise im Kampf gegen diejenigen herausbilden müßte, die aus der Tragödie der Oktoberrevolution nichts lernen wollen: die MLer, Beton-Kommunisten, Trotzkisten, Castristen, Pol-Potisten usw. Die weitere Entwicklung des Klassenkampfes in Brasilien wird davon abhängen, wie weit dies gelingen wird.

Ich hatte ja noch was zu einer attac-Broschüre angekündigt, verschiebe das aber auf das nächste Mal.

Es grüßt herzlich

Ulrich

1) http://www.pds-online.de/politik/themen/vorstandsdebatte2003/view_html?zid=33&bs1&n=11

Dieter Klein: Streit um Grundrichtung und Verantwortung (03.05.2003)


An Django (06.08.2003):

Ich hatte auf eine persönliche Antwort auf meinen letzten Brief gehofft und daher Deine Rundschreiben zunächst nur zur Kenntnis genommen; trotzdem hatte ich eine Antwort auf die „Kritik des Neides“ überlegt. [1] Auch zu Thalheimers Bonapartismus[-Theorie] hätte ich einiges zu sagen, habe aber nicht den Eindruck, daß Dir das Thema sehr auf den Nägeln brennt. [2] Was für Dich – und vermutlich alle Keynesianer gilt, ist, daß sich ihre Überlegungen hauptsächlich in der Sphäre der Warenzirkulation bewegen, wozu auch die Produzenten als Konsumenten gehören. Der Kern des Problems ist aber die Akkumulationskrise; diese kann zwar innerhalb der Zirkulationssphäre bis zu einem gewissen Grad reguliert werden, aber an ihrer prinzipiellen Nichtüberwindbarkeit, außer durch Kapitalvernichtung (beliebte Methode: Krieg), ändert das nichts. Das ist der Grund, warum ich es sinnvoll finde, auf einen ‚Punkt’ perspektivisch ‚zuzusteuern’ (was den Kampf um Reformen nicht ausschließt). Dazu sind die bisher gemachten Erfahrungen elementar, und um deren Ausarbeitung kümmere ich mich (hauptsächlich am Schreibtisch!) … Unsere Reformdebatte bewegt sich also weiterhin im Kreis.

Gruß Ulrich

1) Von: django.schins@xyz

Gesendet: Sonntag, 29. Juni 2003.

Betreff: Im Glashaus – Das Philosophische Quartett: Die Kritik des Neides als Apologetik des Sozialraubs.
2) Peter Ruben: Anfänge der Faschismustheorie. Eine Erinnerung an August Thalheimer (Teil I), in: junge Welt 13.07.2003.


An Partei Marx (07.08.2003):

Lieber Ulrich

Ich danke Dir für Deine prompte Antwort. Deinen Text vom 3. 6. 2003 habe ich am 11. 6. 2003 erhalten.

Deine Enttäuschung kann ich gut verstehen! Und Du hast auch völlig recht. Ich hätte schon längst antworten sollen. […]

Damit komme ich vielleicht zum Kern unserer Auseinandersetzung:

Während Du glaubst, daß die kapitalistische Akkumulationskrise unter kapitalistischen Bedingungen prinzipiell unüberwindbar ist, will ich wissen, ob das stimmt.

Dazu sind umfängliche Studien und Untersuchungen erforderlich.

Solches bloß zu denken, ist abwegig. Und ich habe den Eindruck, daß Du genau das tust!

Ich bin also weder ein Keynesianer noch ein Marxist, sondern bloß ein Lernender, aber kein Gläubiger.

Übrigens: ich vermisse immer noch Deine Begründung dafür, daß der Kommunismus das gesetzmäßige Ergebnis der Geschichte sein wird.

Ich halte es nicht für zweckmäßig, mit Behauptungen um sich zu werfen, die man nicht beweisen kann. (Jetzt antworte nicht – spitzfindig – daß Behauptungen eben nur Behauptungen sind!)

Und der Satz „Der Kommunismus ist … keine Wunschprojektion …, sondern zu begreifen als eine unbedingt notwendige Konsequenz, die aus den Widersprüchen …, die die bürgerliche Gesellschaft … hervorbringt“ (Dein Schreiben vom 10.01.2002, Seite 1), ist eine solche Behauptung, die allerdings im Gewand eines Naturgesetzes daherkommt.

Angesichts der Komplexität von Gesellschaft und Geschichte ist es unmöglich solches vorherzusagen, richtiger: Vorhersagen kann man es, wie Du ja beweist, aber eine wissenschaftliche, d.h. beweisbare, Prognose, ist es nicht.

Da Du Dich schon Jahrzehnte mit dem Thema beschäftigst und mir dennoch keine Antwort gibst, obwohl Du zu anderen Fragen antwortest, sehe ich mich in diesem Urteil ein weiteres Mal bestätigt.

Warum gibst Du die Unbeweisbarkeit nicht einfach zu? Ich bin grausam, ich weiß… aber die Dekonstruktion alter Glaubenssätze muß sein. Billiger ist die neue Welt nicht zu haben!

[Django]


An Django (06.10.2003):

[…]
In unserer Diskussion kommen wir […] wie es scheint, auch deshalb nicht weiter, gerade weil dieser das historische und politische Salz in der Suppe fehlt. Außerdem kann ich Dir die Unüberwindbarkeit der Akkumulationskrise nicht „beweisen“ (das versuchen gegenwärtig ohne Erfolg viel kompetentere Leute), weil sie rein theoretisch gar nicht zu „beweisen“ ist. Und es geht auch nicht um irgendwelche Wettervorhersagen, sondern schlicht um Theorie einerseits (d.h. im Prinzip ist die bürgerliche Gesellschaft nicht überlebensfähig, was im [Marxschen] Kapital „bewiesen“ wird) und um Politik andererseits (also darum, wie sich dieses Prinzip in den Tatsachen widerspiegelt, die den Klassenkampf – auf der Welt! – ausmachen, wobei Deutschland aus bestimmten Gründen das Schlußlicht bildet). Sowohl bei Marx wie bei Lenin findet sich das Weltprinzip des Klassenkampfes, insofern ist die Imperialismustheorie bei all ihren sonstigen Mängeln in dieser Beziehung korrekt. Globalisierung ist bei beiden [Theoretikern] Voraussetzung der Klassenkämpfe und muß nicht erst politisch erfunden werden…

Setz Dich mit den entsprechenden Texten auseinander, und wenn die „Beweise“ Dich darin nicht überzeugen, dann überzeuge die Welt vom Gegenteil, oder zunächst nur mich! Auf meinen schmalen Schultern werde ich die Beweislast nur für das tragen, was ich selbst verzapft habe; das findest Du in meinen Texten.

[…]
Mit herzlichen Grüßen Ulrich


An Django (28.10.2003):

Ich finde es wirklich sehr aufmerksam von Dir, daß Du bei dieser Veranstaltung an mich gedacht hast. Als ich zunächst nur den Aufmacher [1] zu lesen bekommen hatte, mutmaßte ich zuerst, daß sich einige Anti-Globalisierer spontan über das revolutionäre Subjekt Gedanken machen wollen mit dem Ziel, von der kleinbürgerlich-romantischen ‚multitude’ wegzukommen… Aber dann las ich das Programm und finde nun, daß die Richtung, auf die sich die Veranstaltung festgelegt hat, alles andere als „indeterminate“ ist. Vielmehr handelt es sich um das Konzentrat einer nicht bewältigten Vergangenheit der real-existierenden europäischen Linken vorgetragen durch ihre akademischen Autoritäten in ‚Marxismus’. […] Im Gegensatz zur klar erkennbaren Richtung des Programms ist der Aufmacher ausgesprochen „indeterminate“ formuliert: Welcher ernst zu nehmende Parteigänger von Marx und Engels würde sich auf eine „nicht-terroristische Revolution“ festlegen und wieso wird der Begriff ‚Terrorismus’ „kategorial“ überhaupt akzeptiert? Heißt das nicht, daß einerseits der menschenfeindliche Charakter des Islamismus relativiert und andererseits der Kommunismus zur Freude der Weltbourgeoisie auf die Polarität Terrorismus – Nicht-Terrorismus reduziert wird? Und wo bitte paßt in diesen kategorial falsch gesetzten Gegensatz die „Mehrheit … innerhalb der werktätigen Massen“ hinein? Will sich da nicht wieder eine bestimmte Minderheit, die Situation ausnutzend, auf deren Rücken setzen und sich von diesen „Massen“ zur nächsten Weltrevolution tragen lassen? Oder was bedeutet: „The revolutionary subject you are calling is temporarily not available (wörtlich: „verfügbar“!!!)? Verfügbar im Sinne der abgedankten Nomenklatura? Weiter: was habe ich mir unter einem “theoretisch zu konstituierenden … politischen Subjekt” vorzustellen? Horst Mahler und den Kalifen von Köln würde ich auch als „politisches Subjekt“ bezeichnen, die Frage ist nur, Subjekt welcher Politik? Oder meinte man statt dessen das revolutionäre Subjekt? Ein solches quid pro quo hätte ich der ursprünglich von mir als Autoren angenommenen Anti-Globalisierer-Gruppe zugetraut, aber nicht der dort auftreten werdenden ‚Marxisten’-Schar… Trotzdem vielen Dank für die Information.
[…]
Herzliche Grüße Ulrich

1) Internetrepräsentation des internationalen Kulturkongresses “Indeterminate!

Kommunismus”, 7. – 9. 11.2003 in Frankfurt am Main. „The revolutionary subject you are calling is temporarily not available“.

Darin war u.a. zu lesen:

Multitudes und Proletariat

Proletariat und Multitudes

Die Erkenntnis, daß eine nicht-terroristische Revolution nicht zu machen ist ohne die Unterstützung mindestens einer Mehrheit innerhalb der werktätigen Massen – Resümee, Klage oder Forderung – wirft die Frage auf, wie der kategoriale Rahmen beschaffen sein müßte, der ein politisches Subjekt theoretisch konstituieren könnte. Erstens die Isolierung von den Menschen, die so oft das Schlechte wollen, zweitens der Versuch ihrer Bildung und Organisierung und drittens die Ablehnung jeglicher definitorischer Soziologie über die Praxis der Menge, die in Experiment und Erfahrung zu sich schon kommen wird, sind die in der radikalen Linken zur Zeit verbreitesten drei Optionen des Umgangs mit den lohnabhängigen Beschäftigten. Um diese Frage soll es hier gehen, inwiefern die Kategorie des Proletariats als Katalysator gesellschaftlicher Veränderung für eine emanzipatorische Praxis unverzichtbar ist und ob diese Kategorie in einem postoperaistischen Sinn erweitert werden kann.

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Django (10.01.2002):

An der Art Deiner Einwände ist mir aufgefallen, daß Du sehr abstrakt argumentierst oder, wie es mal früher hieß, ‚formalistisch‘ (ein Ausdruck, den ich nicht gerne benutze, weil derjenige, der ihn als Waffe gegen seine Feinde verwendet hatte, selbst der größte Formalist war – Du weißt, wen ich meine: unsern guten Jossip…). All diese Kosten-Nutzen-Kalküle zeichnen sich doch dadurch aus, daß sie mit dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft sehr oberflächlich umgehen oder besser: beides dichotomisch zu einander in Beziehung setzen.

Bei meiner Beschäftigung mit K[arl]. M[arx].s Kapital ist mir an mir selbst aufgefallen, daß ich bestimmte Überlegungen einfach deshalb zunächst nicht verstanden hatte, weil ich von dem Marxschen Argumentationsstil abweichend die Sache mit Hilfe eines erlernten Schematismus zu verstehen hoffte. (Wir sind ja damit aufgewachsen, mit gegebenen Begriffen und Schemata zu argumentieren, deren Ursprünge und Voraussetzungen nicht hinterfragt wurden oder werden sollten) Was diesen Argumentationsstil auszeichnet ist, daß K.M. seine Darstellung Schritt für Schritt so entwickelt als bewege er sich durch ein Minenfeld, also nicht stur geradeaus auf sein ins Auge gefaßtes Ziel zugehend, sondern immer wieder zurückblickend und die ganze Sache noch einmal bedenkend nach allen Seiten Ausschau haltend. Dadurch dient auch jeder Rückgriff auf schon Gesagtes als Ausgangspunkt des nächsten Argumentationsschrittes. Der Formalist, der ohne Zögern nach Mitteln und Wegen sucht, die Sache ökonomisch, also zeit- und kraftsparend hinter sich zu bringen, marschiert ohne nach links, rechts oder hinten zu schauen, auf sein Ziel zu.

Der Kommunismus, um auf den Kern Deines Einwandes zu kommen, als „Problemlösungskonzept“ wäre in der Tat ein ziemlich abstraktes Ding nach einem dualistischen Schema: hier haben wir also das Problem und da, schaut her, das „Problemlösungskonzept“, und zwar das von K.M., der den Anspruch hatte, „die neue Welt aus der Analyse der alten zu entwickeln“. (Hat er wirklich positivistisch die „alte Welt“ zuerst „analysiert“, um sie dann zu verändern oder impliziert die – dialektische – Methode seiner Kritik und die damit verbundene politischen Absicht seines theoretischen Hauptwerks nicht bereits die Möglichkeit der Veränderung der Welt? Vielleicht erinnerst Du Dich aus ganz alter Zeit an die „Hauptseite Theorie“: im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis stellt die Theorie (oder je nach Fraktion die Praxis) die „Hauptseite“ dar… Das war ein totes Rennen, weil beide Fraktionen in der Frage des „Parteiaufbaus“ nach einem formalistischen Schema vorgehen wollten, egal ob zuerst die Theorie oder die Praxis angesetzt werden sollte) Hier stellt sich nun die Gretchenfrage nach dem „Realität“sgehalt dieser Analyse und dem „Realität“shaltigkeit der Welt, mit der der Theoretiker konfrontiert ist. […] (Die Philosophie nach Nietzsche und Wittgenstein würde derartige Realitäts-Ansprüche schlichtweg leugnen).

Der Kommunismus ist, seinen theoretischen Realitäts-Anspruch vorausgesetzt, keine Wunschprojektion, keine Erlösungsphantasie („Paradies auf Erden!?“), sondern zu begreifen als eine unbedingt notwendige Konsequenz, die aus den Widersprüchen, den antagonistisch werdenden Konflikten, die die bürgerliche Gesellschaft in sich selber entwickelt und aus sich selbst hervorbringt, zwangsläufig folgt. Diese Widersprüche, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft so wenig aufzuheben sind, wie die Gravitationskraft auf der Erde, hat K.M. „analysiert“ – nicht „die Welt“ – und dabei zu fast hundert Prozent offengelassen, welche Schlußfolgerungen jeweils ‚die Betroffenen‘ daraus zu ziehen haben. In diesem Sinne ist „für Marx die Geschichte offen“ und, so würde ich fortfahren, auf welchem Weg die Menschen zum Kommunismus gelangen werden. Alles andere wäre Utopismus, sozialistisches ‚Opium für das Volk‘; und davon hat es verständlicherweise heute einen Kater, weil in den letzten Jahrzehnten allzu penetrant mit den sozialistischen Weihrauchfässern herumgewedelt worden ist.

Das meine vorläufige Antwort auf Deine Frage, ob es sich bei dem, „was wir ‚Marxisten‘ denken … um Hoffen, Träumerei … Religion, wenn auch hier säkularisiert…“ handelt. Religion wurde daraus entweder durch diejenigen, die aus K.M. einen Utopisten machen wollten oder die den Realitätsgehalt seiner Analyse nur sehr schematisch nachvollzogen und, auf unmittelbar umsetzbare Effekte zielend, den ‚Marxismus‘ als Dogma gepredigt haben. Wissenschaft unterscheidet sich bekanntlich von Religion dadurch, daß ihre Ergebnisse vielfältig interpretierbar und fortzuentwickeln sind; nur, daß es sich bei dieser Wissenschaft von der Gesellschaft (oder wie gesagt, von den immanent unüberwindlichen Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft, es sei denn durch eine soziale Revolution) um eine besondere Wissenschaft handelt, die sich in einem Punkt von allen anderen Wissenschaften dadurch unterscheidet, daß der Experimentator selbst Teil des „Experiments“ ist und daß sich dieses nicht wiederholen läßt, weil die Menschen ihre eigene Geschichte… aber nicht aus freien Stücken (machen), d.h. Geschichte sich nicht wiederholt.

Worin ich demnach nicht mit Deinen Schlußfolgerungen (die Punkte 1 und 2) übereinstimmen würde, wäre, daß Du die „Analyse der Realität“ und die „Befragung … von Marx“ getrennt von einander durchführen willst, während meiner Ansicht nach die „Befragung“ von Marx und „die Analyse der Realität“, wenn der wissenschaftliche Charakter und der Realitätsgehalt seiner „Analysen“ nicht in Frage steht, ein und dasselbe Ding sind. Die marxsche Befragung der Realität ist die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft „ohne Flausen“. Und alle Individuen, die über den Guerillakampf gegen ihre Lohnsklaverei hinausgehend, sich fragen, wohin diese Auseinandersetzung eigentlich führen soll, werden früher oder später auf diese Wissenschaft zurückgreifen müssen wie der künftige Physiker auf die Newtonschen Gesetze, weil darin sein Konflikt als Wesenselement des Kapitalismus in seiner Gesetzmäßigkeit analysiert ist und damit die Möglichkeit, ihn im Sinne der „Emanzipation des Individuums“ aufzuheben. Wie er dagegen die gewonnene Erkenntnis in die gesellschaftliche Praxis umsetzen wird, ist eine ‚Parteifrage‘, d.h. wie es ihm gelingt, das Wesen von der Erscheinung, die echten von den falschen Kommunisten zu unterscheiden und zugleich eine Klassenfrage. Denn jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf und die Organisation der Proletarier zur Klasse eine zur politischen Partei… (MEW 4, 471).

Daß Du, wie auch ich, ein „Nicht-Proletarier“ bist, will, zumindest in unseren Breiten, nur noch wenig besagen, oder wer ist hier noch einer? Wenn der Kapitalismus für den Weltmarkt produziert und sich über den Weltmarkt reproduziert, dann läßt sich dessen Bestimmung auch nur über den Weltmarkt herstellen (MEW 6, 539). Gemessen an der Ausbeutung der chinesischen Zwangsarbeiter und mexikanischen Fließbandarbeiterinnen in den Freien Produktionszonen, sind hier fast alle produktiven Arbeiter an der „Veredelung“ vorproduzierter Halbwaren beteiligt. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts beruht also nach wie vor auf „frühkapitalistischen“ Zuständen – nur, daß sich diese von England aus woanders hin verzogen haben… (Was auf der andern Seite natürlich nicht heißt, daß hier überhaupt kein Mehrwert mehr produziert wird).

[…] Es grüßt herzlich

Ernst-Ulrich


An Partei Marx (31.07.2002):

Ich habe soeben über die Sozialistische Studienvereinigung Deine Website erfahren! Sieht gut aus! Der Zeilenabstand müßte ein bißchen größer sein, denn so ist der Text sehr ermüdend zu lesen. Ich wünsche Dir für den morgigen Tag eine interessante Diskussion.

Ebenso etwas weniger Voreingenommenheit gegenüber dem globalisierten Kapitalismus und seinen von ihm selbst erzeugten Kritikern – es sind übrigens keine Globalisierungsgegner, sondern –kritiker.

Sie sind auch – ich übertreibe – das Einzige, was wir haben und vielleicht seine zukünftigen Totengräber. Mit diesen sollte man pfleglich umgehen und d.h. kritisch, aber nicht verachtend. Das können wir uns nicht leisten und ist auch von der Sache her falsch, denn es ist höchst albern, davon auszugehen, daß die Menschen bereits als Kommunisten geboren werden. Wenn das „linke Krisenmanagement“ die kapitalistische Krise so managt, daß es am Ende vielen Menschen besser geht als heute, dann war es Schweißes der edlen Verräter wert. Und der Kapitalismus hätte wieder einmal seinen Fundamentalkritikern und Katastrophenpropheten den Spiegel ihres Dogmatismus vorgehalten.

Hast Du einmal über die einfache Wahrheit nachgedacht, daß ein System nur verwerflich und aufgrund seiner Widersprüche verwerfbar ist, wenn es den Menschen ein Leben in Menschenwürde verwehrt – dies aber eine ganz konkrete Frage ist! Philosophen neigen von Berufs wegen dazu, von den konkreten Lebensumständen der Menschen zu abstrahieren und sich an ausgedachten Idealen, Überzeugungen und Prinzipien zu berauschen. Für den Slumbewohner in Rio de Janeiro aber ist es schon ein Fortschritt, wenn er fließend Wasser bekommt. Er wird die revisionistische Hilfsorganisation loben und preisen dafür. Demgegenüber wird er von den literarischen Handreichungen der partei Marx nicht satt: Er wäre verhungert, bevor er überhaupt zum Buch greifen könnte. An Revolution gar nicht zu denken.

Vor diesem Hintergrund ist eine Verächtlichmachung des „Überredens zur vernünftigen Regulierung des Elends auf dieser Welt“ eine politische Dummheit und blanker Zynismus zudem; abgesehen davon, daß es sich hierbei um ganz handfeste Kämpfe und mitnichten um Überredungsillusionen handelt, wie jeder sehen kann, der sehen will. Es ist aber auch in der Sache schlicht falsch. Denn das Elend wird ja nicht reguliert, sondern, wenn – so lehrt die historische Erfahrung – der Druck groß genug ist, reduziert.

Und möglicherweise schafft sich der Kapitalismus damit wieder – indem z.B. die konsumtive Nachfrage entgegen der eigentlichen Kapitallogik der Überproduktion (aufgrund des im kurzsichtigen einzelkapitalistischen Profitstrebens liegenden Widerspruchs zwischen Interesse an erweitertem Absatz einerseits und Interesse an Lohndrückerei, also Schwächung der Nachfrage andererseits) gestärkt würde – eine erweiterte Reproduktionsbasis, wie es bereits die englische Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert mit ihrem Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen – im Resultat die Fabrikgesetzgebung – in ihrer völligen Theorieferne und Geschichtsblindheit und ohne irgend einen Philosophen zu fragen, getan hat.

Auf Grund solcher Äußerungen ist es für mich ganz offensichtlich, daß es Dir gar nicht um die konkreten Menschen in ihren elenden Verhältnissen geht, sondern um diese „Spukgesellschaft“, die für den philosophierenden kritischen Kritiker an und für sich des Teufels ist. Jedwede Reform erscheint in diesem Licht zwangsläufig als der hinterhältige Versuch des Systems, sich durch Scheinzugeständnisse zu retten. Interessant und entlarvend dabei ist, daß das tatsächliche Zugeständnis, das konkreten Menschen das Leben etwas erleichtert, nur als Täuschung wahrgenommen werden kann – eben weil der Maßstab nur die Totalität des in der abstrakten Analyse alles für sich, selbst die Menschlichkeit für seine Zwecke letztlich instrumentalisierenden verhaßten Systems ist, nicht das Individuum!

Im Grunde handelt es sich dabei um die negative Anbetung des Systems als dem Subjekt der Geschichte.

Machen die Menschen nicht mehr ihre Geschichte selber?

Wenn sich unter dem Druck einer mächtigen weltweiten Reformbewegung die Dinge zum Besseren wenden lassen, sollten wir das ablehnen? Mit welchem Recht? Welche Gesetzmäßigkeit ist es, die uns dazu ermächtigt? Die, daß der Kommunismus mit Notwendigkeit kommen wird? Also wir in Kenntnis des objektiven Geschichtsverlaufs das arme Arschloch belehren und sagen müssen, daß es gefälligst noch ein paar Jährchen die Zähne zusammenbeißen muß, bevor er nach dem völligen Zusammenbruch der alten (also um den Preis unendlichen Leidens) und dem Aufstieg der Neuen Gesellschaft wie der Phoenix aus deren Trümmern schließlich in das kommunistische Paradies eintreten darf. Welche Beweise gibt es denn für einen solchen Geschichtsdeterminismus?

Historische Tatsache ist, daß der Kapitalismus z.B. der BRD sozialstaatlich reguliert ist, d.h. das Kapital ist nicht völlig frei, seiner ihm inhärenten Logik entsprechend zu agieren. Dies ist u.a. ein Ergebnis reformistischer Kämpfe. Seine Reformfähigkeit ist damit prinzipiell bewiesen. Nicht aber, wie weit er für Reformen in einem emanzipatorischen Sinne ist.

Wenn es im reinen Kapitalismus nur um die Kapitalverwertung geht – also dieser jede Menschlichkeit zum Opfer fällt bzw. untergeordnet ist, dann haben wir es realiter mit einer schmutzigen Version zu tun, in der in einem gewissen Maße Ressourcen via Staat und den Klassenkompromiß zwischen Kapital und Arbeit (Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie) zum Zwecke eines gewissen Wohlstands und einer gewissen sozialen Sicherheit, also der Stabilität des Systems, aber eben auch zum Nutzen vieler Menschen umgelenkt werden. Von den politischen Freiheitsrechten will ich hier nicht reden.

Im Grunde ist die Sache ganz einfach. Wenn die von Dir wegen ihres fehlenden Einblicks in den wahren Geschichtsverlauf verachteten Reformisten Erfolg haben über diese historische Tatsache hinaus (Ich sehe einmal davon ab, daß die Linke sich ja derzeit in der Defensive befindet), dann hat sich der Kapitalismus als weiterhin reformfähig erwiesen – und das solange und soweit, solange und soweit er sich reformieren läßt. Vielleicht schlägt er ja auch erst auf diesem Weg ab einem gewissen Punkt in eine neue Qualität um? Dann wäre er erst ab einem gewissen Punkt antagonistisch, d.h. innerhalb seiner Grenze ein ganz schönes Stück reformierbar, darüber hinaus aber nicht.

Wie dem auch sei: Wir werden es erst wissen, wenn wir es probieren.

Letztlich entschieden wird die Frage von der politisch-gesellschaftlichen Praxis.

„…man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte.“ (Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, EB Erster Teil, Seite 542).

Und ebenso albern ist es – und völlig unmarxistisch – zu glauben, daß man durch das Studium des Kommunistischen Manifestes allein zum marxistischen Kommunisten wird. Das kann man bekanntlich aus den unterschiedlichsten Interessen und Motiven lesen! Der kommunistische Erfolg auf der Grundlage des Kommunistischen Manifestes – was immer man darunter versteht – tritt aber erst dann ein, wenn sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten darin wieder finden, es als Orientierung zu begreifen, danach handeln und diese Orientierung auch noch eine richtige, d.h. realistische ist, d.h. Marx, Engels und ihre Gefolgsleute sich nicht irren in ihrer Analyse. Denn die Elenden auf dieser Welt sind schon oft falschen Propheten auf den Leim gegangen, weil sie in ihrer Verzweiflung für heroische Illusionen anfällig sind.

Übrigens: Wie sieht der Kommunismus eigentlich aus? Das müßtest Du beschreiben können, wenn Du doch davon sprichst, daß er eine unbedingt notwendige Konsequenz ist.

Sei weiterhin herzlich gegrüßt

Django


An Django (03.09.2002):

Leider mußtest Du Dich mit meiner Antwort auf Deine ausführliche Kritik an dem Projekt Partei Marx etwas gedulden. Da Du in Deinem Brief dieses grundsätzlich infrage stellst, war ich meinerseits herausgefordert, eine entsprechende Antwort zu finden, was einige Zeit in Anspruch genommen hat. Daher fange ich auch gleich mit den prinzipiellen Überlegungen an:

Die in Deiner Kritik vertretene Position erinnert stark an den in den 80er Jahren in ganz Westeuropa aufgekommenen Euro-Kommunismus. Die Euro-Kommunisten standen links von der S[ozialistischen] I[nternationale] und verstanden sich als Sozialisten bei gleichzeitiger Kritik an den pro-sowjetischen Beton-Kommunisten. Daß der Euro-Kommunismus in der damaligen Bundesrepublik nicht heimisch werden konnte, hatte unter anderen darin seinen Grund, daß an der Schnittstelle des Kalten Krieges der westdeutsche Kommunismus nur unter der direkten militärischen und geheimdienstlichen Direktive der Sowjetunion agieren sollte. Die in Reaktion darauf in den 70-er Jahren wie Pilze aus dem Boden schießenden ML-Parteien stellten dagegen keine wirkliche Alternative dar, schon weil deren Führungspositionen in den meisten Fällen ebenfalls von ehemaligen Beton-Kommunisten besetzt worden waren (einen neolithischen Rest aus dieser Zeit findest Du heute noch in der MLPD vor).

Der moderne Euro-Kommunismus, den Du in Deiner Kritik an der Partei Marx vertrittst, hat sich nach 1989 aus der Umklammerung der Beton-Kommunisten befreit, allerdings unter Duldung der unter diesem Banner in dieser Strömung überwinternden beton-kommunistischen ‚Einzelpersönlichkeiten‘ und Fraktiönchen, deren Bedeutung mit den Jahren, so rechnet man, naturbedingt abnehmen wird.

Als modernen Euro-Kommunismus würde ich Deine Position aber vor allem deshalb bezeichnen, weil sie mit der modernen Strömung der europäischen radikalen Linken korrespondiert, die zu charakterisieren auf Anhieb nicht so einfach ist. Daraus resultieren meine Schwierigkeiten bei meiner Antwort auf Deine Kritik.

Die europäische radikale Linke setzt sich zusammen aus einerseits den modernen Euro-Kommunisten, die eine Reformpolitik links von den Sozialdemokraten gegen die Auswirkungen des „neoliberalen“ Kapitalismus betreiben, d.h. diesem seine asozialen Allüren austreiben, dessen gewaltiges Modernitätspotential aber (woran es dem Beton-Kommunismus sowjetischer Provenienz immer grundlegend gemangelt hatte) im Interesse der werktätigen Bevölkerung, der künstlerischen und technischen Intelligenz „sozialistisch“ umfunktionieren wollen. Dieser moderne Reformismus, wovon der Tenor Deiner Kritik an dem Projekt Partei Marx bestimmt ist, wird von den übriggebliebenen Vertretern eines scheinbar kompromißlosen Beton-Kommunismus (DKP und Konsorten) verbal in Abrede gestellt, aber als Mittel zum Stimmen- und Dummenfang durchaus in Anspruch genommen. Insofern hattest Du mit Deiner gelegentlich geäußerten Einschätzung recht, daß die politischen Wirkungsmöglichkeiten dieser Fraktion des Kommunismus (zunächst) begrenzt sind. Nun scheinen sich bei ihnen die orthodoxe beton-kommunistische Fraktion mit einer anderen, die sich an den europäischen radikalen Linken orientiert und damit eine moderne Variante des Beton-Kommunismus darstellt, im Clinch zu liegen („Programmdebatte“).

Die Denkweise dieses modernen Beton-Kommunismus basiert (im Gegensatz zu derjenigen der orthodoxen Kommunisten, die als traditionelle Breshnewisten formal am XX. PT der KPdSU als Trennlinie festhalten) unmittelbar auf Stalins institutioneller Konterrevolution von 1934 (die Kinder von Stalin und Milosevic) und könnte (vielleicht gerade deshalb), wenn es ihm gelingt, sich (mit den wachsenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise) zu konsolidieren, zunehmenden Einfluß auf die europäische radikale Linke einschließlich der modernen Euro-Kommunisten nehmen, wodurch dieses historische „Erbe“ entgegen Deiner in dieser Beziehung reduzierten Wahrnehmung durchaus noch nicht zu den Akten zu legen ist.

Das entscheidende Kennzeichen dieses Pseudo-Kommunismus ist, daß seine ‚Revolution von oben‘ (nicht wie zu Lenins Zeiten revolutionär, sondern) konterrevolutionär durchgesetzt wird. Oder anders gesagt: war Stalins Putsch von 1934 eine Konterrevolution in der Revolution, so hätten wir von dem modernen Pseudo-Kommunismus eine Revolution in der Konterrevolution zu erwarten nach dem bekannten Muster, wonach mit dem Export der Revolution die Konterrevolution gleich mitgeliefert wird. (Einiges dazu könntest Du, wenn Dein Interesse für solche historischen Klamotten nicht so gering wäre, der home-page entnehmen).

Ich habe nun bei meinen Versuchen, mich mit Deiner Kritik auseinanderzusetzen, feststellen müssen, daß ich, entgegen meinen ursprünglichen politischen Überlegungen, wonach der moderne Euro-Kommunismus weit weniger konterrevolutionär (weil nur im üblichen bürgerlichen Sinn anti-kommunistisch) ist als der Pseudokommunismus, nicht darüber hinaus kam, die von Dir vertretene Reformpolitik (die nichts desto trotz bürgerliche caritas bleibt) anders als mit pseudokommunistischen Argumenten (seien sie auch mit Lenin und Mao unterfüttert) zu kritisieren.

In dem gleichen Dilemma, das nach Engels nur aufzulösen ist, wenn man es verläßt, verharrt in ständig bewegtem Stillstand die europäische Linke, ohne dieses allerdings als Manko zu empfinden: die modernen Euro-Kommunisten nicht, die nichts dagegen haben, daß sich ihre pseudokommunistischen Reformismus-Kritiker in ihren Selbstwidersprüchen totlaufen; die Pseudo-Kommunisten ebensowenig, die den Reformismus, den sie bei den Euro-Kommunisten kritisieren selbst als Taktik anwenden, um die Akzeptanz ihrer mit revolutionären Mitteln betriebenen Konterrevolution in der widerstrebenden Bevölkerung nach dem Muster der DDR zu erhöhen. Nur die Globalisierungsgegner verleihen diesem bewegten Stillstand mit einer aus den 60er Jahren entlehnten revolutionären Folklore scheinrevolutionäre Bewegtheit (wobei der bei jungen Leuten noch als authentisch, weil spontan in Erscheinung tretende Philanthropismus von den Altlinken für ihre Zwecke instrumentalisiert wird; vgl. die peinliche Unterhaltung des Trotzkisten Alex Callinicos mit Funktionären von Tute Bianchi auf einer der von Dir empfohlenen Websites). So bleibt nur noch die Frage spannend, wann die modernen Beton-Kommunisten, das beschriebene Reformismus-Dilemma verlassen werden, nachdem die Richtung durch ihre offene Sympathie für das anti-amerikanische Polit-Gangstertum von Leuten wie Milosevic, Kutschma, Lukaschenka, Mugabe, Chavez, etc seit langem entschieden ist.

Einen ersten Schritt auf dem langen Marsch, das besagte Dilemma auf revolutionäre Weise zu verlassen, findest Du [in folgendem]: Wenn, wie Lenin vielleicht heute sagen müßte, der Opportunismus in der revolutionären Arbeiterbewegung so tief in ihrer eigenen unbewältigten Historie verankert ist, dann hat jeder ernsthafte Versuch zu ihrer Reorganisation zu allererst darin zu bestehen, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie es zu dieser in ihrer Abgefeimtheit historisch unüberbotenen und damit auch neuen Form des ‚Opportunismus‘ in Gestalt der von Stalin zuerst verwirklichten revolutionären Konterrevolution kommen konnte, die sich gegenwärtig der europäischen Linken als Taktik zum Ausstieg aus ihrem eigenen Dilemma perspektivisch anbietet. Den alten dereinst von Lenin kritisierten Opportunismus zu durchschauen, ist inzwischen zur Volksweisheit abgesunken, die die Pseudokommunisten wortradikal wiederkäuen, ohne dem einen neuen Gedanken hinzufügen zu können. Den neuen Opportunismus durchschaubar zu machen, scheint nur den Allerwenigsten zu gelingen. Und zwar nur dann, wenn sie nach der Empfehlung von Friedrich Engels das besagte Dilemma und mit diesem die Linke, die es hegt und pflegt, verlassen.

Da Du Dich zu dem Projekt Partei Marx ‚in der Hauptsache‘ nicht geäußert, sondern Dich an einem Epiphänomen, der Kritik an den Anti-Globalisierern, hochgezogen hast, weiß ich leider nicht, in welcher Richtung Du das Dilemma, in dem Dein Euro-Kommunismus steckt, verlassen wirst.

Denn zu erwarten ist, daß mit der Verschärfung der globalen Krise des Kapitalismus und der akut drohenden Verwandlung des anti-islamistischen Verteidigungskriegs der ‚westlichen Welt‘ in einen Rassenkrieg der moderne Euro-Kommunismus zwischen Pseudokommunismus und Welt-Kapitalismus zerrieben wird, weil er nicht in der Lage ist, das Dilemma, zwischen Reformillusionen und Polit-Gangstertum hin- und hergerissen zu werden, zu beseitigen. Vielleicht wirst Du Dich dann an das Projekt Partei Marx erinnern.

Sei ebenfalls weiterhin gegrüßt […]!

Ulrich


Anmerkung zum kommentierten Veranstaltungs-Protokoll

[„Bericht ‚Partei Marx’…“ [1]] (10.11.2002):

Lieber Peter Christoph,

vielen Dank für die heutige E-Mail und das Protokoll!

Zunächst zum Protokoll: ich finde es sehr gut und bemerke, daß es auf eine Seite der Partei Marx eingeht, die Du als „Parteibildungsprozeß“ (wie bereits auf der Veranstaltung) bezeichnest. Diese Frage stand in der später zurückgestellten Urfassung dieses Projekts stärker im Vordergrund. Aber inzwischen, bin ich selbst darauf gekommen, sie nicht völlig außen vor lassen zu können. Andererseits liegt es nun einmal in der Natur der Sache, daß dazu noch vieles unentschieden bleiben muß, zumal der „Parteibildungsprozeß“ nicht an meinem oder Deinem Schreibtisch entschieden wird.

[So] … zielt die Neuschreibung der Geschichte der Partei Marx auf eine sich durch die Weltwirtschaftskrise mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ergebende neue Formierung der Arbeiterbewegung jenseits der tradierten Formationen. Dabei würde sich die deutsche Arbeiterbewegung mit gutem Gewissen so nur nennen dürfen, wenn sie sich positiv auf das über den Weltmarkt erzeugte (Welt-) Proletariat bezieht, genauer: wenn sie sich als der privilegierter Teil der im Weltmaßstab von der Welt-Bourgeoisie erzeugten Klasse begreift und nur dann! Das setzt eine Menge proletarischer Bewußtseinsbildung (eine Menge „Kritik am Gothaer Programm“) voraus, und wie wir sehen, agieren die in der Tradition der Dritten (und Vierten) Internationale ‚real existierenden‘ Arbeiterparteien genau entgegengesetzt dazu.

Bei aller Borniertheit, in der die deutsche/(n) Arbeiter/(klasse) von den ‚Arbeiterparteien‘ gehätschelt werden/(wird), muß der erste Schritt zu einer solchen Bewußtseinsbildung bei der Beantwortung der einen Frage ansetzen: was machen die Kommunisten anders als was in der DDR (SU o. ä.) gemacht worden ist und zum Beispiel am 17. Juni (der von der Bourgeoisie weidlich ausgeschlachtet worden ist) zur Entscheidung gestanden hat? Dazu müssen die Parteigänger der Partei Marx notgedrungen tief in die historische Kiste greifen, weil durch die üblichen linken Erklärungen die Fragenden entweder mit klassischer DDR-Propaganda („Konterrevolution“) oder mit sozialdemokratischen Trauergesängen abgespeist werden. Wenn Du so etwas als „theoriepraxis“ bezeichnest, o.k.! Darüber hinaus bleibt dieser Begriff mir noch reichlich unklar.

Der Abstieg der (klein-)bürgerlichen Intelligenz in das ‚Proletariat‘ war ohne Zweifel politisch eine Katastrophe: wie dereinst die russischen Bauern haben sich die deutschen Arbeiter an die Birne gepackt und die Absteiger gefragt, wie man so blöd sein kann und darauf verzichtet, seine Qualifikation als bürgerlicher Intellektueller nicht entsprechend zu versilbern. Während der Ausstieg aus dem Proletariat wiederum besonders zielstrebige (Polit-)manager hervorgebracht hat, die, weil sie mit allen Wassern in der Parteiintrige und der Propaganda gewaschen sind, die üblichen Aufsteiger um Längen überragen. Sonst ist dabei nichts herausgekommen. Den Universalgelehrten, der für die selbst denkenden Arbeiter eine wissenschaftliche Erklärung des Kapitalismus in radikaler Abgrenzung zu den gängigen Gebrauchsanweisungen der Profitmaximierung liefert und als solcher von der Arbeiterbewegung kooptiert wird, gibt es nicht mehr, kann es wahrscheinlich nicht mehr geben. Wenn solche Seitenwechsel vorkommen, landen diese Intellektuellen bei einer der traditionellen Arbeiterparteien, schon um ‚links‘ und bürgerlicher Intellektueller bleiben zu können.

Wir können die „Parteibildung“ nur mit dem ‚Kadermaterial‘ (ein wunderschöner Ausdruck!) bestreiten, das historisch/biographisch aus dem Umschmelzungsprozeß des „kurzen Jahrhunderts“ von Revolution und Konterrevolution als widerständiger Bodensatz übrig geblieben ist…

Wenn vom „Parteibildungsprozeß“ zu reden ist, dann in diesem konkreten Sinn, wobei er sich wohl komplizierter gestalten wird als diejenigen sich das vorstellen, die sich vor die Tore des Opelwerks stellen und der Arbeiterklasse den ‚Sozialismus‘ durch das Auslegen von ökonomistischen Leimruten schmackhaft machen wollen. Mit all unseren kleinbürgerlichen Krämpfen und Traumata sind wir schon mitten drin in diesem „Parteibildungsprozeß“, wenn wir aufhören, uns über uns selbst wie über diese äußerst ’schwierige Abteilung‘ des Welt-Proletariats irgendwelchen Illusionen hinzugeben…

Abgesehen von diesen näher zu bestimmenden Begriffen habe ich keine Probleme mit Deinem Protokoll; im Gegenteil: es ergänzt ein wichtiges von mir mehr oder weniger absichtlich beiseite gelassenes Problem.

[…]
Herzliche Grüße

Ernst-Ulrich

1) Text des Vortrags siehe: KRITIK 1, ANHANG 2


An Django (09.12.2002):

Vielen Dank für die freundliche Einladung [nach Porto Alegre]. Abgesehen von den finanziellen (Weihnachtsurlaub) sind Dir meine politischen Erwägungen hinlänglich bekannt, sodaß ich meine Absage nicht näher begründen muß.

Die gelegentlichen E-Mails habe ich erhalten und mir die j[unge] W[elt] einige Male gekauft. Abgesehen davon, daß sie als Sprachrohr der PDS-Minderheit ganz informativ ist, hat mich das Niveau ein wenig enttäuscht. So lese ich am Wochenende abwechseln ND und jW.

Vielleicht noch ein Hinweis: ein Brief von K[arl]. M[arx]. aus dem Jahre 1881 an Nieuwenhuis, auf den ich gerade gestoßen bin und [der] mir, was Deinen Vorschlag betrifft, sehr aus der Seele spricht (MEW 35, 160f.) [1]

Herzliche Grüße

Ulrich

1) »Die Frage des bevorstehenden Züricher Kongresses [Sozialistischer Weltkongreß vom 02.-04.10.1881 in Chur], die Sie mir mitteilen, scheint mir – ein Fehlgriff. Was in einem bestimmten gegebnen Zeitmoment der Zukunft zu tun ist, unmittelbar zu tun ist, hängt natürlich ganz von den gegebnen historischen Umständen ab, worin zu handeln ist. Jene Frage aber stellt sich im Nebelland, stellt also in der Tat ein Phantomproblem, worauf die einzige Antwort – die Kritik der Frage selbst sein muß. […] Nach meiner Überzeugung ist die kritische Konjunktur einer neuen internationalen Arbeiterassoziation noch nicht da; ich halte daher alle Arbeiterkongresse, resp. Sozialistenkongresse, soweit sie nicht auf unmittelbare, gegebne Verhältnisse in dieser oder jener bestimmten Nation beziehn, nicht nur für nutzlos, sondern für schädlich. Sie werden stets verpuffen in unzählig wiedergekäuten allgemeinen Banalitäten.«

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Reaktionen (2001) »

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Partei Marx (01.2001):

Hallo genosse MARX-parteigänger, vielen dank für den text „parteiMARX“,

[…]

was unsereins bei Deinem text und projektvorschlag fasziniert, ist das wohlüberlegte aktuelle „zurück zu MARX!“ (wie der späte LUKÁCS wohl nannte, was Du back-to-the-roots nennst) in der konzeption des parteibildungsprozesses des proletariats und zwar als LENIN-aufhebung auf der höhe der zeit. ich finde diese initiative mutig und angemessen, ja dringlichst in der gegenwärtigen situation, in der zumal äusserst wenige „interessierte laien“ ausserhalb der politpartei- und sekten-bindungen sich an diesen gordischen knoten heranwagen: Deine formulierung, zwischen diesen eine art wissenschaftlichem brainstorming herzustellen, trifft denke ich die gegenwärtige aufgabenstellung für eine assoziation wissenschaftlich-communistischer gesellschaftsindividuen ziemlich genau. den abstand – bei aller naturwüchsig-notwendigen nähe – zur akademie sehe ich in deinen überlegungen ebenso hinreichend gewahrt bzw. eingeklagt wie die distanz zur überkommenen problem-eliminierung der historisch-konkret prozessierenden dialektik von klasse-an-sich / klasse-an-und-für-sich, der sowohl die spontaneistisch/attentistische wie spiegelverkehrt dazu die voluntaristisch-pseudo-avantgardistische linke bisher je länger je mehr vorschub geleistet hat. das dialektische tertium datur (um hier wieder mit dem alten LUKÁCS zu sprechen), das wir aus dem bestehenden dualismus der organisationslage zu entwickeln haben, kann in der tat nur von einer neubestimmung/konkretisierung des heutigen, globalen aggregatzustands des „proletariats als prozess der negation“ ausgehen, einer theoretischen praxis eines transnationalen „kollektiven organisators“, den die wissenschaftlichen communistInnen erst erneut bilden müssen auf diesem neuartigen terrain, um das ferment im sinne der historischen aufgabenstellung MEW 4:474f, 492f zu werden und damit die leider nun einmal entscheidende ideelle bedingung zu produzieren für die communistische negation-der-negation als wirklich-praktischem werk-der-arbeiterklasse-selbst. erst die offene debatte der organisationsfrage – die doch längst wieder allen ernsthaften revolutionären individuen, gerade den notgedrungen „unorganisierten“ wie meinesgleichen, jeden monat schmerzlicher auf den nägeln brennt, gerade weil wir uns bürokratischen und sektiererischen apparaten und strömungen kompromisslos zu verweigern, haben ohne uns der kontemplation und ohnmacht anheimgeben zu können! -, erst die organisierung des streits um strategie, organisation und mögliche praxisformen des historisch gegebenen subjekt/objekt, wie das kapital es jetzt weiter herausglobalisiert und -individuiert, kann unsereins heute an den archimedischen punkt „der in diesem jahrhundert zu erwartenden klassenkämpfe“ heranbringen. sich vor dieser offenen debatte um „revolutionäre realpolitik“ (LUKÁCS) länger zu drücken wäre zumindest für unsereins verspielte lebenszeit. es wäre vor allem verantwortungslos-unhistorisch und attentistisch-abstrakt, angesichts dessen dass, wie Du sehr gut in den mittelpunkt stellst: „die modernste form des rassismus“ (und weitere fetischgestalten, die wie ich es sehe die kapitalistische hydra für jeden einmal abgeschlagenen kopf der bürgergesellschaft vielfach hervortreibt – wir sind hier in den nebelregionen der subjektivität und des vormodernen bis postmodernen usw.usf. überbaus) als letzte reserve und „volkssturm“ gegen den parteibildungsprozess (in) der klasse „naturwüchsig“ mobilisiert wird. deshalb duldet die aufhebung unserer theorie/praxis-paralyse keinen weiteren aufschub mehr; und wie Du dieses problembewusstsein zum ausdruck bringst, scheint mir auf den ersten blick kein panischer voluntarismus sondern durchaus ein funken historischer materialismus hinsichtlich unserer situation zu sein.

soviel auf den ersten eindruck Deines textes; kritische einwände erstmal zurückgestellt. […]

peter christoph zwi.

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VORTRAG Das Marxsche Kapital und die Marxsche Parteilichkeit – Marx, Engels, Lenin und ihre Auseinandersetzungen mit Nikolai-on, die Narodniki/Volkstümler und die Revolution in Rußland »

In diesem Text wird die Debatte Über die folgenschwere Folgenlosigkeit der Einschätzung der russischen Bauerngemeinde… (Streitpunkt 1) und über Wertgesetz und Sozialismus (DEBATTE 3 Vortrag und Nachtrag) fortgesetzt. Ausgangspunkt sind wiederum die an Vera Sassulitsch gerichteten Marxschen Briefentwürfe und die darin vorgenommene positive Stellungnahme zur russischen Dorfgemeinde. Diese war keineswegs einem momentanen Unwohlsein des Autors geschuldet, sondern das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung mit den russischen Narodniki in den 70er Jahren, in deren Verlauf Marx seine bisherige Einschätzung der russischen Dorfgemeinde und deren alleinige Rolle als Vehikel des Panslawismus gegen die Revolutionen in Westeuropa überprüft. Seine Einschätzung der ‚commune rurale’ als möglicher Ausgangspunkt für eine kommunistische Gesellschaft nach einer Revolution in Rußland steht im Gegensatz zu den Ansichten der russischen Marxisten und späteren Bolschewiki, die mit einer gewissen Berechtigung darauf hinweisen, daß nicht nur sie, sondern auch Engels die Dorfgemeinde wegen der rasanten Entwicklung des Kapitalismus in Rußland als dem Untergang geweiht ansahen. Ungeachtet dessen wurde die ‚commune rurale’ nach der Februar-Revolution 1917 von den Bauern spontan reaktiviert, wodurch die Marxsche Einschätzung eine späte Rechtfertigung erfuhr. Die Bolschewiki, die unverändert an einer ‚westlich’ orientierten Lösung der ‚Bauernfrage’ festhielten (Genossenschaften), ließen diese Chance für den Kommunismus in Rußland, von der Marx auch in seiner bereits veröffentlichten Korrespondenz mit der akademischen und revolutionären Intelligenz Rußlands überzeugt ist (die Sassulitsch-Briefe erschienen erst 1924) vorübergehen. Statt dessen wurde die ursprüngliche Akkumulation des Sozialismus mit außerökonomischer Gewalt (Kriegskommunismus) und gestützt auf eine ‚neue’ Lektüre der Marxsche Werttheorie durch staatlich dekretierten nicht-äquivalenten Tausch zwischen Stadt und Land vollzogen. Von daher erscheinen die von seiten des rechten und linken Flügels der Bolschewiki unternommenen Versuche einer Rekonstruktion und Transformation des Sozialismus auf der Grundlage der NEP als aussichtslos und vergeblich und die Stalinsche Zwangskollektivierung Ende der 20er Jahre als die unausweichliche und logische Konsequenz dieser nicht ergriffenen Chance und zugleich als Basis der daraus hervorgehenden Konterrevolution…

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THESEN Zu den Wurzeln des ‚nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges’ oder ‚back to the roots’ der Marxschen Partei (Thesen) »

In diesen Thesen wird der Inhalt des vor der Marx-Gesellschaft in Oer-Erkenschwick im März 2011 gehaltenen Vortrags über: Das Marxsche Kapital und die Marxsche Parteilichkeit… zusammengefaßt und auf die entscheidenden Argumente konzentriert.

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BLogbuch 3 2010: Der Fall ‚Emmely‘: ein Sieg der Linken über die alte Bourgeoisie – ein Pyrrhussieg über das Kapital »

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Inhalt

Es wird wohl das persönliche Geheimnis der Kassiererin des Supermarkts in Berlin-Hohenschönhausen, Barbara E., bleiben, warum sie eines schönen Abends im Januar 2008 beim Hauseinkauf in ihrer Filiale eben jene beiden Pfandbons, die ihr von ihrer Vorgesetzten mit dem Hinweis übergeben worden waren, diese für den oder die Verlierer in Gewahrsam zu nehmen, selbst eingelöst hat. Und ebenso, warum Barbara E., von ihrem Solidaritätskomitee liebevoll ‚Emmely’ genannt, dabei sehenden Auges in eine ihr gestellte Falle lief, als sie selbige Pfandbons »in unmittelbarer Anwesenheit ihrer Vorgesetzten bei einer nicht befreundeten Kollegin« einlöste, (1) obwohl alle Beteiligten wußten, daß diese Bons nicht vorschriftsmäßig abgezeichnet waren. Wollte sie die geplante Provokation, mit der sich ihre Firma einen allzu durchsichtigen Kündigungsgrund zu verschaffen suchte, etwa mit einer herostratischen Gegenprovokation beantworten, durch die der Fall ‚Emmely’ nicht nur in die Rechtsgeschichte, sondern Barbara E. in die Geschichte des wiedervereinigten Deutschland eingegangen ist? Wir wissen es nicht. In einem Interview mit der jungen Welt (2) hat sich der Pop Star des ‚Arbeitskampfes’ aus dem Jahr 2009 wieder in den Normalzustand einer einfachen Werktätigen aus dem einstigen Arbeiter- und Bauernstaat zurückverwandelt, die nach dem Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in ihrem Kampf gegen das westdeutsche Kapital an ihren Arbeitsplatz in einer anderen Filiale derselben Firma zurückgekehrt ist. Viel mehr erfahren wir nicht.

Der im letzten Jahr an dieser Stelle vertretene Anspruch (BL509), daß dieser Prozeß nur dann ein Beitrag zum Klassenkampf hätte sein können, wenn er als ein politischer Prozeß gegen das Kapital geführt worden wäre, (3) wurde, wie sich nach dem Urteil des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts herausstellt, nicht etwa von der Verteidigerseite, sondern vom Bundesarbeitsgericht erfüllt. Dies selbstverständlich nicht gegen das Kapital, sondern im Interesse des sich aus der alten und der neuen Bourgeoisie zusammensetzenden ‚gesamtdeutschen’ Kapitals. Die Klägerseite hat dagegen einen Pyrrhus-Sieg erfochten, weil ihre Prozeßstrategie auf ‚Emmelys’ kleinen Notlügen aufbaute, die zu einer großen Lüge aufgebauscht wurden. Die Forderung, diesen Prozeß als einen politischer Prozeß gegen das Kapital zu führen, hat sich damit erledigt, nicht jedoch die Aufgabe, dieses Urteil und das Verhalten der streitenden Parteien im Lichte dieser Forderung zu analysieren und damit die Möglichkeit, den Klassenkampf als politischen Klassenkampf gegen das Kapital zu führen, weiterhin offen zu halten. (4)

Quellen: (1) BAG Urteil vom 10.06.2010. (2) junge Welt, 12./13.06.2010. (3) BL509,11. (4) MEW 4,471.

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BLogbuch 2 2010: …9/11 – Rassenkrieg oder Klassenkampf! »

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Inhalt

Daß der ‚Elfte Neunte Zweitausend eins’ in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat, jedenfalls nicht so, wie der Weltöffentlichkeit ständig eingeredet wird, bzw. wenn er tatsächlich stattgefunden hat, es sich eher um eine gemeinsame Aktion von New Yorker Grundstückspekulanten und den Geheimdiensten zwecks Herstellung von Ground Zero gehandelt haben muß, glaubt zwar nicht jeder, aber wahrscheinlich eine erkleckliche Anzahl von Lesern der ‚linksradikalen’ Stasi-Postille junge Welt. Denn würden solcherart Stories nicht geglaubt, gäbe es dieses Blatt längst nicht mehr. (1)

Wenn daher von der jungen Welt behauptet wird, daß die Kamikaze-Angriffe der (angeblich gar nicht an Bord befindlichen) islamistischen Kommandos auf die Twin Towers, das Pentagon (und möglicherweise auf das Weiße Haus) eine von den USA selbst »unter falscher Flagge« eingefädelte Provokation US-amerikanischer Geheimdienste gewesen sein soll, um den Vorwand für die Kriege im Irak und in Afghanistan geliefert zu bekommen, werden Hypothesen wie diese wohl mit zu dem Lügenpaket gerechnet werden müssen, das erdacht wurde, um die wahren Hintergründe dieses am 11. September 2001 begangenen Massenmords im Dunkeln zu lassen. Fragt sich höchstens noch, welches Interesse die junge Welt dazu bewegt, mit ihren Verschwörungstheorien dafür zu sorgen, daß das auch so bleibt. (2)

Rückblickend auf den ‚Elften Neunten’ sei neun Jahre danach eine einfache Frage erlaubt, die, auch ohne die ganze Bibliotheken füllende Enthüllungsliteratur studiert haben zu müssen, vielleicht einen politischen Sinn macht: Warum hat Al Qaida niemals den Staat Israel direkt angegriffen, sondern immer ‚nur’ US-amerikanische Angriffsziele in der arabischen Welt, in Afrika und Europa? Gerade jenes Angriffsziel müßte doch für jeden echten Dschihadisten als die Nummer 1 auf seiner Liste stehen! In diesen Zusammenhang würde dann auch die Überlegung gehören, daß Al Qaida etwas gelungen ist, was die RAF trotz all ihrer Beschwörungen, sie wolle den Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt ‚Ins Herz der Bestie’ tragen, niemals in die Tat umgesetzt hat! Deren Angriffe haben sich stets gegen Einrichtungen der us-amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland und der NATO in Europa gerichtet. Etwa aus dem Grund, damit von ihren Aktionen jeder Eindruck, es handle sich um einen verdeckten Angriff des ‚sozialistischen Hinterlandes’ auf den Supermacht-Konkurrenten USA vermieden werden sollte? Aus ähnlichen Gründen scheint auch das saudische Wahabiten-Regime, für das Al Qaida wahrscheinlich die wichtigste Einflußagentur in der islamischen Welt darstellt, Verwicklungen mit Israel unbedingt vermeiden zu wollen, da es im Ernstfall auf dessen atomaren Schutzschild gegen den schiitischen Konkurrenten Iran angewiesen sein könnte. Nur kommt Saudi-Arabien in den Untersuchungen in der jungen Welt zum ‚Elften Neunten’ überhaupt nicht vor.

Und selbst wenn sich eines Tages die Angriffe von Al Qaida auf die Symbole des amerikanischen Kapitalismus als Verabredung zu einer gemeinsamen Provokation herausstellen sollten, durch die die USA in einen Krieg gegen den Islam gelockt wurden und diese sich auch bereitwillig wegen des Erdölreichtums des Nahen Ostens dazu verlocken ließen, wird es am allerwenigsten die Linke gewesen sein, die dafür eine schlüssige politische Erklärung liefert! Schon aus dem Grunde nicht, weil der auf den ausgetretenen Pfaden des Kalten Krieges angesiedelte demagogische ‚Antikapitalismus’ und linke Sozialimperialismus, den sie als ‚Antiimperialismus’ unter die Leute bringt, den unter den Massen der islamischen Welt grassierenden Verschwörungstheorien über ‚die Juden’ als angeblich wahren Urhebern des ‚Elften Neunten’ einander wie ein Ei dem anderen gleichen. Diese Annäherung hat seit der gemeinsam mit der türkischen Regierung und mit vorgeblich pazifistischer Blauäugigkeit gestarteten ‚Gaza-Hilfsflotte’ zusätzlich an Substanz gewonnen. Zumindest ist es der Linken damit gelungen, die Angriffe der Islamisten auf den ‚Westen’ propagandistisch nach Europa zu tragen. Al Qaida wird ihr freudig auf dem Fuße folgen!

Um diese Pfade zu verlassen, soll an einigen Beispielen untersucht werden, wie die Marx- und Engelssche Partei die Desinformationspolitik der Groß- und Weltmächte ihrer Epoche öffentlich entlarvt hat, um zu verhindern, daß die europäischen und amerikanischen Arbeiterklassen den Verschwörungstheorien jener Zeit auf den Leim gingen.

Quellen: (1) junge Welt 11./12.09.2010. (2) Damit sind sie beim iranischen Präsidenten Ahmadinedschad in bester Gesellschaft, der vor der Generalversammlung der UN drei Thesen dafür präsentierte, wer für 9/11 verantwortlich sei: Al Qaida, Teile der US-Geheimdienste oder eine Terrorgruppe, die von der US-Regierung geduldet wurde, um die entstehende Situation für sich auszunutzen.

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