Reaktionen 

Reaktionen (2003)

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Partei Marx (01.04.2003):

Das Weltsozialforum 3 und Porto Alegre waren eine faszinierende Erfahrung. Überall nur bürgerliche Idioten, die glauben, ohne ein Vorabstudium marxistischer Dogmatik die Welt grundlegend verändern zu können. Du fehltest eigentlich an allen Ecken und Enden! Als Orientierer! Schade, daß das aber mit Dir gar nicht geht, weil Deine „politischen“ Erwägungen Dich zuerst über die jahrzehntelange theoretische Analyse zur kommunistischen Zielbestimmung führen und dann zum praktischen Start. Unter strenger Beachtung der persönlichen Anonymität, versteht sich.

Das wird die Proletarier bestimmt zu revolutionären Begeisterungsstürmen hinreißen, wenn sie das subjektlose Konzept dann nachlesen können bzw. gesagt bekommen, wo es langgeht.

Wie man die Dinge doch auf den Kopf stellen kann, wenn man mißachtet, daß jeder praktische Schritt der Veränderung wichtiger ist als 10 Programme. Auch das eine marxsche Erkenntnis, daß der Treibstoff wirklicher revolutionärer Veränderung primär nicht die geistige Trockennahrung ist, sondern das Erleben elender Verhältnisse. Gesellschaftskritische Theoretiker sollten dann Erklärungshilfe leisten.

Im Anhang sende ich Dir einen Text über die Entwicklung der kriminellen Vereinigung Partido dos Trabalhadores. [1]

Übrigens: Ich vermisse immer noch Deine Begründung dafür, daß der Sozialismus/Kommunismus das gesetzmäßige Ergebnis der Geschichte sein wird.

Mit freundlichem Gruß

Django

1) Brasilien 2002: Wie der Sieg der Arbeiterpartei PT erreicht wurde (Paper).


An Django (14.04.2003):

Ich habe mich gefreut, wieder von Dir zu hören. … Ich werde Deinen Reisebericht studieren und so bald wie möglich darauf antworten. Dazu ist mir eine programmatischen Broschüre von ‚attac’ in die Hände gefallen, die ich in meine Antwort einbeziehen werde. [1] … Wieso sollen wir so anmaßend sein und künftigen Generationen zu empfehlen haben, wie eine Gesellschaft mit gemeinschaftlicher Produktion konkret auszusehen hat? Sollte man ihnen nicht selber überlassen, wie sie die Widersprüche in ihrer Gesellschaft konkret lösen? Was ihnen vielleicht dabei helfen wird, ist die schonungslose Kritik der Fehler, die u.a. auch wir uns ‚geleistet’ haben. Deinen aktionistischen Elan in allen Ehren! Aber so handeln halt Leute, die aus der Geschichte nichts gelernt haben, weil sie nichts haben lernen wollen. Das Nicht-Gelernte wird ihnen dann fehlen, wenn es wirklich mal hart auf hart kommt. Dann wird die alte Sch. wieder aufgewärmt – ohne mich…Also bis bald!

Es grüßt herzlich Ulrich

1) SoZ (Hg.): 2. Forum von Porto Alegre. Dokumente, Berichte, Materialien, Köln 2002.


An Django (03.06.2003):

Es ist jedes Mal dasselbe: immer, wenn ich meinen Antwort-Brief an Dich fast beendet habe, befallen mich Zweifel, ob ich ihn so abschicken kann, und dann fange ich wieder von vorne an. Denn ich bemerke dann an meinem Entwurf die häufig an mir beobachtete Unsitte, nach politischen Gemeinsamkeiten zu suchen, ohne daß wir uns zuvor über deren Inhalte gefetzt haben. Also beginne ich mit Deiner Mail vom 01.04. Du stellst meine Haltung so dar, als sei ich mir zu schade, um mich in den politischen Nahkampf zu begeben. Das ist natürlich Unsinn. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich mich an jedem sich bietenden politischen Nahkampf und jeder von irgendwelchen Leuten herausposaunten Kampagne beteiligt. Daß ich das nicht mehr so unbefangen betreibe, hat einfach seinen Grund darin, daß mir die Diskussionsgrundlage abhanden gekommen ist, von der ich früher naiverweise angenehmen konnte, daß sie elementar existiert: Wir sind doch alle Linke… Wenn das nicht jedem, zumal auch Dir nicht, einzuleuchten scheint: der tiefere Sinn des pM-Projekts besteht u.a. darin, das politische Minimum zu erarbeiten, auf dessen Grundlage es sich überhaupt noch lohnt, mit einander zu reden, wenn man sich nicht hinter irgendeinen selbst gebastelten Dogmatismus zurückziehen will.

Woraus, frage ich Dich, sollen denn die „bürgerlichen Idioten“ ihre theoretischen Kenntnisse beziehen (die Einsicht in die Notwendigkeit einmal vorausgesetzt)? Ein „Vorabstudium marxistischer Dogmatik“ wird weder ihnen noch irgendwelchen zukünftigen sich revolutionär orientierenden Proletariern weiterhelfen, wenn deren Erwerb nicht verbunden ist mit einer nun mal bei den ‚Klassikern‘ natürlicherweise nicht mehr zu findenden Analyse der Geschichte der Klassenkämpfe des vorigen Jahrhunderts (warum all die vielen bereits existierenden, und in der Mehrzahl akademischen, Bemühungen nichts taugen, liegt erstens daran, daß es sich um sozialwissenschaftliche Untersuchungen oder traditionelle Geschichtsschreibung handelt, deren Fragestellung einfach nicht über den eigenen bürgerlichen Schatten springt und zweitens an der Jahrzehntelang von angeblich sozialistischer Seite betriebenen Dogmatisierung der Geschichte, durch die die darauf beruhenden Untersuchungen zu Makulatur geworden sind, weil sie einfach niemandem den Eindruck vermitteln können: tua fabula narratur).

Ich habe in der letzten Zeit viel Stalin gelesen. Und ich finde, daß wir ihm alle sehr viel ‚verdanken‘, so auch die von Dir gemachte Trennung von erst mal ‚rin in de Praxis‘ und dann „Erklärungshilfe leisten“. Eine echte Stalinscher Dichotomie mit zwei kontrapositionierten Seiten, die sich polar gegenüberstehen, aber ohne „das geistige Band“ (Goethe). Wenn es gelänge, diese schon fast über mehrere Generationen hinweg eingeübte Denkweise abzulegen, dann wäre das bedeutsamer als 10 antikapitalistische Kampagnen auf einmal. Dann wäre auch Deine Frage (zum ‚Klein-Papier’) beantwortet: „Kann der Kapitalismus evolutionär transformiert werden?“ [1] Vielleicht kann er (siehe Marxens IAA-Rede in Den Haag, MEW 18,160), aber nicht auf der Grundlage der aktuellen Denkweise seiner vorgeblichen Veränderer! Ich würde sogar noch weiter gehen: je subtiler ein solcher Reformismus agiert, desto notwendiger wird die Verbreitung revolutionärer Dialektik und proletarischer Bewußtheit über die Resultate der vergangenen Klassenkämpfe. Die Dialektik bewährt sich immer nur am konkreten (historischen oder politischen) corpus delicti und nicht in theoretischen Trockenübungen, welche Du vorschlägst.

Zu dem Klein fällt mir nicht viel ein… Bei Licht betrachtet habe ich ein gespaltenes Verhältnis zur PDS. Politisch sind mir die Reformisten lieber als die Beton-Kommunisten in ihren Reihen. Auf der anderen Seite weiß ich mit dem von der Partei-Mehrheit praktizierten Antikapitalismus rein gar nichts anzufangen, weil diesem, wie gesagt, jede revolutionäre Dialektik ausgetrieben wurde und ein Antikapitalismus ohne dieselbe mich einfach anödet. Ihre Historiker schreiben ganz brauchbares bürgerliches Zeug zu meinen Lieblingsthemen; die Konsequenzen, die sie daraus ziehen, sind, wenn es geschieht, allerdings fade, weil ohne revolutionäre Perspektive. So schreibt, um ein Beispiel zu zitieren, Helmut Bock, in: Die Russische Revolution im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (3) 2002, 22: „Mit dem Zerfall der Sowjetunion jedoch rückte zuletzt eine Bourgeoisie an die Macht, die ausgerechnet [?] aus den staatsmonopolistischen Strukturen des vermeintlichen Sozialismus hervorkam – … Durch ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, rigide Industrialisierung und Agrarrevolution hat der von Lenin inaugurierte, von Stalin durchgepeitschte, vorzeitige [?] ‚Sozialismus‘ soziale, technologische, infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen, worüber die neue Bourgeoisie in Rußland und weiteren Ländern heute verfügt. Für jeden, der den ‚Roten Oktober‘ als seine politische Geburtsurkunde begriff [!], muß ein solches Ergebnis enttäuschend sein. Und doch scheint jetzt die Einsicht veranlaßt, trotz aller Mühen und Kämpfe gegen kapitalistische Ausbeutung und Krieg, setzt man den Terminus ‚Revolution‘ nicht für temporäre Versuche, sondern universell, d.h. streng welthistorisch, so bezeichnet er in der ganzen Geschichte der Neuzeit bislang ausschließlich bürgerliche, den Kapitalismus begünstigende Endresultate.“

Für solcherart durch ein zweckentfremdetes Engels-Zitat erzeugten ‚Realismus‘ werden die zukünftigen Lokomotivführer der Geschichte wenig Verständnis haben, vor allem nicht dafür, daß die »demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, …eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände (erstreben), wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem wird« (MEW 7, 244 f.). Es ist nicht die Frage, daß die Reformen, die ein revolutionäres Proletariat zu fordern hätte, „zugleich“, wie es bei Klein heißt, „über den Kapitalismus hinausweis(en)“ (Seite 3), sondern wie das geschieht: in dem Sinne, daß die revolutionäre Klasse für die demokratischen Kleinbürger Änderungen im von Marx und Engels kritisierten Sinn erkämpfen und dann leer ausgeht oder so, daß sich die an den Kämpfen Beteiligten in den Gesetzen des Klassenkampfes schulen, indem sie von vornherein »als Klasse den herrschenden Klassen gegenüber(treten)« und allein darin ihre eigene zukünftige Klassenherrschaft antizipieren lernen. (Die Bourgeoisie konnte auch unter der Hegemonie ihres politischen Gegners, der Feudalklasse, kapitalistisch produzieren, das Proletariat kann die ihm entsprechende Produktionsweise nur unter der eigenen Hegemonie praktizieren) Es geht also nicht darum, wie die Parteilinke das tut, den Reformismus der PDS als solchen zu bekämpfen und ihr statt dessen den ‚Kampf für den Sozialismus‘ nahezulegen, sondern zu kritisieren ist, wie sie mit diesem umgeht.

Schon vor längerer Zeit schrieb ich Dir, daß sich die Partei wahrscheinlich in am bundesdeutschen Standard orientierte Reformisten und in Beton-Kommunisten spalten wird, und daß die DKP hocherfreut auf eine solche Spaltung wartet. Dazu erinnere ich an meine Email vom 06.03.2001, wo es am Schluß heißt: „Dazu wird dann eine Wähler-Partei links von der Sozialdemokratie als geeignetes Gefäß benötigt … Wovor mir graust, ist, daß da möglicherweise ‚zusammenkommt‘, was (aus DKP-Sicht) zusammengehört.“ Nach dem Studium einiger Papers, in denen die aktuellen Querelen in der PDS ausgetragen werden, drängt sich dieser Schluß unverändert auf, und in der Perspektive von 2001 (sicherlich ein wenig überspitzt, aber darum nicht falsch: denn natürlich wurden in der Zwischenzeit einige harte Kanten abgewetzt) ist mir, wie gesagt, politisch der Reformer-Flügel dreimal sympathischer als seine (real-) sozialistischen Kontrahenten, obgleich dessen politische Hilflosigkeit nicht erwarten läßt, daß er mit diesen anders fertig werden wird denn durch die übliche bürokratische Lösung: Ausschluß, Spaltung oder so was in der Art. Eine solche Entwicklung wäre ebenso unerfreulich wie ärgerlich, wo dabei nur die Stärkung eines Typus von Kommunisten herauskäme (die mit der Faust, die den alten Stalin umklammert hält, in der Tasche…), von der wenig Gutes zu erwarten ist.

Nun zu Deinem überaus interessanten Brasilien-Bericht: Ich habe mich nicht systematisch mit Brasilien befaßt, und daher werde ich vielleicht mit dem Folgenden teilweise daneben liegen, aber dann kannst Du mich auf Grund Deiner nun dort gemachten Erfahrung korrigieren… Das Grundproblem scheint mir darin zu liegen, daß Brasilien von einer grundbesitzenden Oligarchie mit weitestgehender Rückendeckung durch die USA beherrscht wird. Damit sage ich über ein lateinamerikanisches Land nichts umwerfend Neues. Dadurch haben wir aber eine seit Generationen ungelöste Bauernfrage. Darüber erhebt sich ein industrieller Überbau, durch den aber Brasilien nicht schon zu einem Industrieland nach europäischem Muster wird. Der Grund ist auch bekannt: die industrielle Entwicklung ist eine weitgehend durch europäische Multis importierte, die aber – und das ist jetzt entscheidend – eine moderne Arbeiterklasse hervorgebracht hat. Aus Deinem Bericht über den PT folgere ich, daß die Existenz der Lula-Regierung Ausdruck eines Waffenstillstands der brasilianischen Arbeiterklasse und Teilen des Kleinbürgertums mit der Oligarchie ist, die, gezwungen durch die Weltwirtschaftskrise, die ja auch eine Finanzkrise (250 Mrd. $ Schulden; Le Monde Diplomatique, Mai 03, 17) und eine Exportkrise ist, vorsichtiger taktieren muß, um soziale Unruhen größeren Umfangs vorerst zu vermeiden.

Lula scheint also einen politischen und ökonomischen Klassenkampf nach echt Marxschen Vorstellungen geführt zu haben. (Vgl. den Brief von Karl Marx an Friedrich Bolte vom 23. November 1871 [MEW 33, 332]: »Notabene ad Political Movement: Das political movement der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Eroberung der political power für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte previous organisation der working class nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst. Andrerseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without zu zwingen sucht, ein political movement. Z.B. der Versuch, in einer einzelnen Fabrik oder in einem einzelnen Gewerk durch strikes etc von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung; dagegen die Bewegung, ein Achtstunden- etc. Gesetz zu erzwingen, ist eine politische Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomischen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d.h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form, in einer Form, die allgemeine gesellschaftlich zwingende Kraft besitzt. Wenn diese Bewegungen eine gewisse previous Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation«). Von daher macht die Tatsache, daß der PT den politischen Klassenkampf im von Marx verstandenen Sinn nun auch vom Amt des Regierungschefs aus führt, keinen Unterschied zu seinen bisher angewendeten Formen des Klassenkampfes. Die spannende Frage wird sein, ob die brasilianische Arbeiterklasse das »political movement … zum Endzweck der Eroberung der political power« keinen Tag aus den Augen verliert, d.h. den Sturz der Oligarchie mit ihrem Bourgeois-Anhang. Sonst hätten wir es schlicht mit einer neuen Variante des Menschewismus zu tun, mit Lula als Kerenski.

Wie überhaupt in dem Papier das Vorbild der Bolschewiki in den Erörterungen über die Parteigeschichte leider eine untergeordnete Rolle spielt. Das ist bedauerlich. (Das Zarenreich war zwar im Gegensatz zu Brasilien eine – europäische – Großmacht, aber auch in Rußland war der Sturz der grundbesitzenden Oligarchie mit ihrem bürgerlichen Anhang und die Lösung der Bauernfrage Voraussetzung für jede weitere revolutionäre Veränderung, worin der Arbeiterklasse eine Schlüsselfunktion zukam). Aber entweder, so entnehme ich dem Bericht, haben wir es in Brasilien mit Beton-Kommunisten zu tun, die das Manna der Kontinuität ihres ML aus ihren ‚bolschewistischen‘ oder ‚maoistischen‘ Dogmen saugen oder da, wo in dem Papier einige mutige Ansätze zur Kritik am ‚Realen Sozialismus‘ (Polen, Cuba) referiert werden, bleiben diese letztlich prinzipienlos und taktisch zurückhaltend (um nicht zu sagen, opportunistisch). Voraussetzung für einen tatsächlichen Fortschritt in der in dem Bericht übervorsichtig angedeuteten Richtung wäre eine brasilianische pM, die auf revolutionäre Weise (Reformisten gibt es wie Sand am Meer!) radikale Konsequenzen aus unserer gemeinsamen historischen Tragödie zieht und sich auf dieser Grundlage ein revolutionäres Programm gibt:

  • Enteignung der Oligarchie.
  • Lösung der Bauernfrage. Aber anders als in Rußland in einer Kombination von selbst verwalteten landwirtschaftlichen Großbetrieben (auf der Basis der Latifundien) und Verteilung von Bauern-Land auf der Grundlage der Reaktivierung des kleinbäuerlichen Kollektivismus (Genossenschaften), um die Versklavung der Bauernschaft durch eine neue Monokultur betreibende rot geschminkte (cubanische, nicaraguensische usw.) Oligarchie oder – als entgegengesetztes – einen kleinbäuerlichen Ethnizismus (Subcomandante Marcos) zu verhindern.
  • Verstaatlichung der Industrie und Angliederung der Staatsbetriebe an die kleinbäuerlichen und industriellen landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften, (und zwar so, daß ‚Große Sprünge nach vorn‘ vermieden werden!): Brasilien ist kein europäisches Industrieland, weil seine industrielle Entwicklung eine im Interesse des ausländischen Kapitals aufoktroyierte ist. Dadurch Vermeidung des Peronismus (Autarkie) oder einer von Dependencia-Theoretikern ausgeklügelten ‚autozentrierten Entwicklung‘ der Bourgeoisie, die beide direkt oder indirekt zu einer neuen oligarchischen Herrschaft führen müßten.

Fazit: das nach Brasilien importierte ausländische Kapital hat eine Arbeiterklasse hervorgebracht, die gelernt hat, den ökonomischen und politischen Klassenkampf zu führen und sich darin als Klasse gegenüber der Bourgeoisie zu konstituieren, die aber den Klassenkampf noch nicht politisch führt bezogen auf den »Endzweck« ihres »political movement«, die »Eroberung der political power« zum Sturz der Oligarchie und ihres bürgerlichen Anhangs, der Kompradoren-Bourgeoisie. Dein mir übermittelter Bericht enthält einige ermutigende Ansätze im Sinne der pM, die sich notwendigerweise im Kampf gegen diejenigen herausbilden müßte, die aus der Tragödie der Oktoberrevolution nichts lernen wollen: die MLer, Beton-Kommunisten, Trotzkisten, Castristen, Pol-Potisten usw. Die weitere Entwicklung des Klassenkampfes in Brasilien wird davon abhängen, wie weit dies gelingen wird.

Ich hatte ja noch was zu einer attac-Broschüre angekündigt, verschiebe das aber auf das nächste Mal.

Es grüßt herzlich

Ulrich

1) http://www.pds-online.de/politik/themen/vorstandsdebatte2003/view_html?zid=33&bs1&n=11

Dieter Klein: Streit um Grundrichtung und Verantwortung (03.05.2003)


An Django (06.08.2003):

Ich hatte auf eine persönliche Antwort auf meinen letzten Brief gehofft und daher Deine Rundschreiben zunächst nur zur Kenntnis genommen; trotzdem hatte ich eine Antwort auf die „Kritik des Neides“ überlegt. [1] Auch zu Thalheimers Bonapartismus[-Theorie] hätte ich einiges zu sagen, habe aber nicht den Eindruck, daß Dir das Thema sehr auf den Nägeln brennt. [2] Was für Dich – und vermutlich alle Keynesianer gilt, ist, daß sich ihre Überlegungen hauptsächlich in der Sphäre der Warenzirkulation bewegen, wozu auch die Produzenten als Konsumenten gehören. Der Kern des Problems ist aber die Akkumulationskrise; diese kann zwar innerhalb der Zirkulationssphäre bis zu einem gewissen Grad reguliert werden, aber an ihrer prinzipiellen Nichtüberwindbarkeit, außer durch Kapitalvernichtung (beliebte Methode: Krieg), ändert das nichts. Das ist der Grund, warum ich es sinnvoll finde, auf einen ‚Punkt’ perspektivisch ‚zuzusteuern’ (was den Kampf um Reformen nicht ausschließt). Dazu sind die bisher gemachten Erfahrungen elementar, und um deren Ausarbeitung kümmere ich mich (hauptsächlich am Schreibtisch!) … Unsere Reformdebatte bewegt sich also weiterhin im Kreis.

Gruß Ulrich

1) Von: django.schins@xyz

Gesendet: Sonntag, 29. Juni 2003.

Betreff: Im Glashaus – Das Philosophische Quartett: Die Kritik des Neides als Apologetik des Sozialraubs.
2) Peter Ruben: Anfänge der Faschismustheorie. Eine Erinnerung an August Thalheimer (Teil I), in: junge Welt 13.07.2003.


An Partei Marx (07.08.2003):

Lieber Ulrich

Ich danke Dir für Deine prompte Antwort. Deinen Text vom 3. 6. 2003 habe ich am 11. 6. 2003 erhalten.

Deine Enttäuschung kann ich gut verstehen! Und Du hast auch völlig recht. Ich hätte schon längst antworten sollen. […]

Damit komme ich vielleicht zum Kern unserer Auseinandersetzung:

Während Du glaubst, daß die kapitalistische Akkumulationskrise unter kapitalistischen Bedingungen prinzipiell unüberwindbar ist, will ich wissen, ob das stimmt.

Dazu sind umfängliche Studien und Untersuchungen erforderlich.

Solches bloß zu denken, ist abwegig. Und ich habe den Eindruck, daß Du genau das tust!

Ich bin also weder ein Keynesianer noch ein Marxist, sondern bloß ein Lernender, aber kein Gläubiger.

Übrigens: ich vermisse immer noch Deine Begründung dafür, daß der Kommunismus das gesetzmäßige Ergebnis der Geschichte sein wird.

Ich halte es nicht für zweckmäßig, mit Behauptungen um sich zu werfen, die man nicht beweisen kann. (Jetzt antworte nicht – spitzfindig – daß Behauptungen eben nur Behauptungen sind!)

Und der Satz „Der Kommunismus ist … keine Wunschprojektion …, sondern zu begreifen als eine unbedingt notwendige Konsequenz, die aus den Widersprüchen …, die die bürgerliche Gesellschaft … hervorbringt“ (Dein Schreiben vom 10.01.2002, Seite 1), ist eine solche Behauptung, die allerdings im Gewand eines Naturgesetzes daherkommt.

Angesichts der Komplexität von Gesellschaft und Geschichte ist es unmöglich solches vorherzusagen, richtiger: Vorhersagen kann man es, wie Du ja beweist, aber eine wissenschaftliche, d.h. beweisbare, Prognose, ist es nicht.

Da Du Dich schon Jahrzehnte mit dem Thema beschäftigst und mir dennoch keine Antwort gibst, obwohl Du zu anderen Fragen antwortest, sehe ich mich in diesem Urteil ein weiteres Mal bestätigt.

Warum gibst Du die Unbeweisbarkeit nicht einfach zu? Ich bin grausam, ich weiß… aber die Dekonstruktion alter Glaubenssätze muß sein. Billiger ist die neue Welt nicht zu haben!

[Django]


An Django (06.10.2003):

[…]
In unserer Diskussion kommen wir […] wie es scheint, auch deshalb nicht weiter, gerade weil dieser das historische und politische Salz in der Suppe fehlt. Außerdem kann ich Dir die Unüberwindbarkeit der Akkumulationskrise nicht „beweisen“ (das versuchen gegenwärtig ohne Erfolg viel kompetentere Leute), weil sie rein theoretisch gar nicht zu „beweisen“ ist. Und es geht auch nicht um irgendwelche Wettervorhersagen, sondern schlicht um Theorie einerseits (d.h. im Prinzip ist die bürgerliche Gesellschaft nicht überlebensfähig, was im [Marxschen] Kapital „bewiesen“ wird) und um Politik andererseits (also darum, wie sich dieses Prinzip in den Tatsachen widerspiegelt, die den Klassenkampf – auf der Welt! – ausmachen, wobei Deutschland aus bestimmten Gründen das Schlußlicht bildet). Sowohl bei Marx wie bei Lenin findet sich das Weltprinzip des Klassenkampfes, insofern ist die Imperialismustheorie bei all ihren sonstigen Mängeln in dieser Beziehung korrekt. Globalisierung ist bei beiden [Theoretikern] Voraussetzung der Klassenkämpfe und muß nicht erst politisch erfunden werden…

Setz Dich mit den entsprechenden Texten auseinander, und wenn die „Beweise“ Dich darin nicht überzeugen, dann überzeuge die Welt vom Gegenteil, oder zunächst nur mich! Auf meinen schmalen Schultern werde ich die Beweislast nur für das tragen, was ich selbst verzapft habe; das findest Du in meinen Texten.

[…]
Mit herzlichen Grüßen Ulrich


An Django (28.10.2003):

Ich finde es wirklich sehr aufmerksam von Dir, daß Du bei dieser Veranstaltung an mich gedacht hast. Als ich zunächst nur den Aufmacher [1] zu lesen bekommen hatte, mutmaßte ich zuerst, daß sich einige Anti-Globalisierer spontan über das revolutionäre Subjekt Gedanken machen wollen mit dem Ziel, von der kleinbürgerlich-romantischen ‚multitude’ wegzukommen… Aber dann las ich das Programm und finde nun, daß die Richtung, auf die sich die Veranstaltung festgelegt hat, alles andere als „indeterminate“ ist. Vielmehr handelt es sich um das Konzentrat einer nicht bewältigten Vergangenheit der real-existierenden europäischen Linken vorgetragen durch ihre akademischen Autoritäten in ‚Marxismus’. […] Im Gegensatz zur klar erkennbaren Richtung des Programms ist der Aufmacher ausgesprochen „indeterminate“ formuliert: Welcher ernst zu nehmende Parteigänger von Marx und Engels würde sich auf eine „nicht-terroristische Revolution“ festlegen und wieso wird der Begriff ‚Terrorismus’ „kategorial“ überhaupt akzeptiert? Heißt das nicht, daß einerseits der menschenfeindliche Charakter des Islamismus relativiert und andererseits der Kommunismus zur Freude der Weltbourgeoisie auf die Polarität Terrorismus – Nicht-Terrorismus reduziert wird? Und wo bitte paßt in diesen kategorial falsch gesetzten Gegensatz die „Mehrheit … innerhalb der werktätigen Massen“ hinein? Will sich da nicht wieder eine bestimmte Minderheit, die Situation ausnutzend, auf deren Rücken setzen und sich von diesen „Massen“ zur nächsten Weltrevolution tragen lassen? Oder was bedeutet: „The revolutionary subject you are calling is temporarily not available (wörtlich: „verfügbar“!!!)? Verfügbar im Sinne der abgedankten Nomenklatura? Weiter: was habe ich mir unter einem “theoretisch zu konstituierenden … politischen Subjekt” vorzustellen? Horst Mahler und den Kalifen von Köln würde ich auch als „politisches Subjekt“ bezeichnen, die Frage ist nur, Subjekt welcher Politik? Oder meinte man statt dessen das revolutionäre Subjekt? Ein solches quid pro quo hätte ich der ursprünglich von mir als Autoren angenommenen Anti-Globalisierer-Gruppe zugetraut, aber nicht der dort auftreten werdenden ‚Marxisten’-Schar… Trotzdem vielen Dank für die Information.
[…]
Herzliche Grüße Ulrich

1) Internetrepräsentation des internationalen Kulturkongresses “Indeterminate!

Kommunismus”, 7. – 9. 11.2003 in Frankfurt am Main. „The revolutionary subject you are calling is temporarily not available“.

Darin war u.a. zu lesen:

Multitudes und Proletariat

Proletariat und Multitudes

Die Erkenntnis, daß eine nicht-terroristische Revolution nicht zu machen ist ohne die Unterstützung mindestens einer Mehrheit innerhalb der werktätigen Massen – Resümee, Klage oder Forderung – wirft die Frage auf, wie der kategoriale Rahmen beschaffen sein müßte, der ein politisches Subjekt theoretisch konstituieren könnte. Erstens die Isolierung von den Menschen, die so oft das Schlechte wollen, zweitens der Versuch ihrer Bildung und Organisierung und drittens die Ablehnung jeglicher definitorischer Soziologie über die Praxis der Menge, die in Experiment und Erfahrung zu sich schon kommen wird, sind die in der radikalen Linken zur Zeit verbreitesten drei Optionen des Umgangs mit den lohnabhängigen Beschäftigten. Um diese Frage soll es hier gehen, inwiefern die Kategorie des Proletariats als Katalysator gesellschaftlicher Veränderung für eine emanzipatorische Praxis unverzichtbar ist und ob diese Kategorie in einem postoperaistischen Sinn erweitert werden kann.

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