BLogbuch 1 2010 : Von Petrograd nach Heiligendamm – Zum Programmentwurf der Partei Die Linke »

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Im Mittelpunkt des Programmentwurfs der Partei Die Linke stehen nicht die ihrer Produktionsmittel beraubten − Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums als revolutionäres Subjekt. An deren Stelle tritt ein pseudo-revolutionäres patchwork-Subjekt, das als Mehrheit für die Vergesellschaftung des von der reichen Minderheit privat angeeigneten gesellschaftlichen Reichtums eintritt; denn »eine Ökonomie der Enteignung macht Mehrheiten ärmer, um die Reichen reicher zu machen«. (1)


Folgt man dieser verqueren Dialektik, dann haben wir es nicht mit einem
sozialen Widerspruch zwischen den antagonistischen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, Lohnarbeit und Kapital, zu tun, sondern laut Programmentwurf mit einem politischen Gegensatz, dem Gegensatz zwischen einer Mehrheit der (immer ärmer werdenden) Konsumenten und einer (immer reicher werdenden) Minderheit von »Vermögensbesitzern und Spekulanten«. Der Reichtum scheint hier ebenso ‚selbstverständlich’ von den Reichen zu kommen, wie nach einer ironischen Bemerkung von Karl Marx die ‚Armut von der pauvreté’. (2) Dieser Ironie setzen die Verfasser noch einen drauf mit der süffisanten Bemerkung, daß nur »Reiche sich einen armen Staat leisten (können)«.


Leider zündet diese Ironie nicht wirklich, weil, erstens, der private Reichtum nicht von den Reichen, sondern bekanntermaßen aus der Mehrwertproduktion des Kapitals herrührt, den sie als Spekulanten einander wieder abzujagen versuchen und weil, zweitens, die Armen, wenn sie als Konsumenten in den Genuß des Reichtums der Reichen kommen wollten, sich einen (an Unterdrückungsorganen) reichen »Staat leisten« müssen, damit die Enteignung der Reichen in ‚geordneten Bahnen’ verläuft und verhindert wird, daß sich diese ihrer Enteignung entziehen.


Gehen wir dagegen mit Marx von einer
»Selbstregierung der Produzenten« (3) (des gesellschaftlichen Reichtums) aus, würde es dort weder »Reiche« geben noch einen »Staat«, der den Reichtum ‚gerechter’ verteilt, geben müssen. Das kann auch ohne einen wie auch immer gearteten Verteiler von den genossenschaftlichen Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums selbst erledigt werden, d.h. in jedem Fall nicht durch so etwas wie den Staat.


Die
Armen verfügen dagegen außer dem von ihrer Armut ausgehenden moralischen Druck auf die übrige Gesellschaft, diese zu lindern, über keine gesellschaftliche Macht, wie das für Gewerkschaften zutrifft, was auch den Autoren des Programmentwurfs nicht entgangen ist. (4) (Nur, wer sind diese Gewerkschaften? Sind sie denn etwas anderes als eine Versicherungsagentur zum Schutz der Lohnarbeit vor der drohenden absoluten Verelendung und zum Schutz des Kapitals vor nicht mehr beherrschbaren Klassenkämpfen?)


Da aber laut
Programmentwurf und nach den Wahlkampfreden Linker Politiker die Armen immer ärmer werden, ist es irgendwann an der Zeit, daß die von der (reichen) Minderheit ins Elend gestürzte politische Mehrheit oder multitude (5) eine Linke Regierung die Macht ergreifen läßt, die den Reichen den privat angeeigneten gesellschaftlichen Reichtum Stück für Stück wieder abjagt, um ihn zu ‚vergesellschaften’. (‚Vergesellschaften’ in Parenthese, weil eigentlich nur eine »Selbstregierung der Produzenten« verhindern kann, daß der ‚vergesellschaftete’ Reichtum durch eine Linke Nomenklatura kollektiv reprivatisiert wird!) (4) Aus diesem Grund benötigt der Linke multitude-Sozialismus an der Macht einen mächtigen und sich ständig weiter aufblähenden Staatsapparat, der dafür Sorge trägt, daß unter Anleitung und Aufsicht der Linken Regierung der ‚vergesellschaftete’ Reichtum ‚gerechter’ verteilt und die zur Beschneidung des Reichtums der Reichen ausgesprochenen Verbote und Verhaltensmaßregeln eingehalten und kontrolliert werden.


Da sich die Deprivatisierung des gesellschaftlichen Reichtums aber laut
Programmentwurf »demokratisch« vollziehen soll (eine der am häufigsten verwendeten Lieblingsvokabel!), wird dem »Kartell der neoliberalen Parteien« das politische Kartell Der Linken in Gestalt einer Linken Einheitspartei entgegengesetzt werden müssen, die wiederum, um länger an der Macht zu bleiben (denn die ‚gerechte’ Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums läßt sich schwerlich in einer einzigen Legislaturperiode erledigen!), alle Armen in einer modernisierten Form der Stalinschen Volksfront organisiert. (Wie das praktisch zu handhaben wäre, zeigen die aktuellen ‚bolivarianischen’ Vorbilder aus Lateinamerika, denen Die Linke ausdrücklich ihre »Solidarität« bezeugt.) (4)


Mit einer (modernisierten)
Volksfront-Regierung an der Macht wäre die ehemalige SED-PDS wieder an den Punkt zurückgekehrt, an dem der Aufstand der Mehrheit der DDR-Bevölkerung gegen das Knastregime der DDR-Nomenklatura 1989 politisch aus dem Ruder gelaufen war, weil die Besatzungsmacht für die Übertragung der Glasnost-Politik auf die DDR den Besatzungsmacht-Sozialismus hätte weiterhin künstlich am Leben erhalten müssen. Der war aber nicht mehr finanzierbar, weil der Input in Richtung DDR den kolonialen Output aus der DDR in Richtung Sowjetunion seit Jahren um ein Beträchtliches überstieg.


Was die Partei Die Linke ihren Wählern und Mitgliedern anbietet und mit diesem
Programmentwurf zum vorläufigen Abschluß bringt, ist, nach der ‚Wiedervereinigung’ des ‚Westens’ mit dem ‚Osten’, d.h. der überaus kostspieligen Abwicklung des Staatsbankrotts der DDR durch das deutsche Kapital (oder den sogenannten »Neoliberalismus«) und ihrem Beitritt zum Grundgesetz der BRD, eine ‚Wiedervereinigung’ der Linken des ‚Ostens’ mit derjenigen des ‚Westens’. Gemeinsam soll nun der lange Marsch in eine vom alten »stalinistischen« SED-Ballast befreite moderne Ausgabe der Stalinschen Volksdemokratie angetreten werden. (6)

Quellen: (1) Neues Deutschland 12.04.2010. (2) MEW 24,477. (3) MEW 17,339. (4) Nachweise im Programmentwurf siehe pdf-Version. (5) KRITIK 1 Zur Kritik am Projekt partei Marx, 6 ff. (6) BL709 Wie man in den Wald hineinruft.

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BLogbuch 7 2009: Wie man in den Wald hineinruft… – Fragen von ‚express‘ und ‚SoZ‘ an die jüngste deutsche Geschichte »

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Im Herbst 2009 veranstalteten die Sozialistische Zeitung (SoZ) und der gewerkschaftsoppositionelle express eine Umfrage unter ehemaligen DDR-Linken zu dem Thema, wie sie den Umbruch oder die Revolution von 1989 und den Ausbruch von Teilen der DDR-Bevölkerung aus dem ‚Sozialistischen (Arbeits-)Lager’ rückschauend beurteilen. Die im express ungekürzt wiedergegebenen Einschätzungen von 9 Befragten, die mehrheitlich der Initiative Unabhängige Linke angehörten, ragen aus dem üblichen Deutscher-Herbst-’89-Einheitsgedenken allein schon deshalb heraus, weil es sich um Beteiligte an diesen Ereignissen handelt, die eigentlich nicht vorhatten, der DDR bei der erst besten Gelegenheit den Rücken zu kehren. Dadurch erhält der Leser einen Eindruck, der nicht von vornherein nach dem üblichen Ossi-Wessi-Schema in die bekannten Ressentiments und Vorurteile gegossen ist. (1)


Mit den Ausbrechern an der Bornholmer Straße war logischerweise kein wie auch immer gearteter Sozialismus mehr zu machen. Und der ‚Arbeiter- und Bauernstaat’, der die arbeitende
Bevölkerung zum Zweck der Abpressung ihrer Mehrarbeit eingemauert und der für die linke Opposition bis dahin als notwendiger Gegenpart ihrer Kritik an der DDR ‚fungiert’ hatte, existierte nicht mehr. Zur Verwirklichung ihrer Träume von einem Übergang von der Opposition zur ‚Revolution’ hätten sich aber nach dem Muster der Solidarnosc‘ der 80er Jahre oder der ungarischen Sowjets von 1956 die Arbeiter in den Betrieben an die Spitze der Bewegung setzen müssen, was auch am 17. Juni 1953, dieses Mal jedoch nicht der Fall war.


Statt dessen schien der doppelt un-freie DDR-Lohnarbeiter das Arbeitsverhältnis des doppelt freien Lohnarbeiters im real existierenden Kapitalismus dem Etikettenschwindel des staatsmonopolistischen ‚Sozialismus’ vorzuziehen. (2) Denn an letzterem ließ sich kaum mehr verschleiern, daß der ‚real-sozialistische’ Lohnarbeiter von der, wie es bei Marx heißt, »gesellschaftlichen Produktion« (3) und dem genossenschaftlichen Besitz der
Produktionsmittel noch weiter entfernt war als der kapitalistische, weil er als Staatssklave der neuen Bourgeoisie nicht mal, wie sein ‚westlicher’ Kollege über den Verkauf seiner Arbeitskraft selbst verfügen konnte. Deshalb muß sich eigentlich niemand, die Redaktion des express vielleicht ausgenommen, über die entsprechende Resonanz auf »die gehäufte Rede vom ‚Mauerfall’« in der ‚westlichen’ Presse wundern, die es sich selbstverständlich ersparte, statt dessen »über soziale Verhältnisse zu reden«. Da hilft es auch nicht weiter, wenn im express nicht weniger einseitig die »soziale(n) Verhältnisse« gegen die politischen ausgespielt werden, anstatt zu überlegen, warum gerade in der DDR nichts enger zusammen- und von einander abhing als »die Mauer« und die »soziale(n) Verhältnisse«!


Wie auch immer die Ereignisse vor 20 Jahren interpretiert werden mögen, ob als Ausbruch,
„Umbruch“ oder „Revolution“, sie sollten zumindest heute zur Selbstbefragung der zum Widerstand gegen den Stamokap Entschlossenen Anlaß geben, um Aufschluß darüber zu erlangen, wie die von den SED-Nachfolgern betriebene politische ‚Wiedervereinigung’ mit den ‚willigen’ Teilen der westdeutschen Linken zum Zweck der Restauration des ‚Sozialismus’ in den Farben der DDR wirkungsvoll zu torpedieren sei.


Mal sehen, ob die altbewährte Allzweckwaffe gegen die, wie es früher hieß, „Feinde der Arbeiterklasse“, die die Partei Die Linke (vorläufig) in der untersten Schublade ihrer Propaganda-Abteilung abgelegt hat, sich nicht letzten Endes als Rohrkrepierer erweisen wird..!

Quellen: (1) Siehe pdf-Version. (2) Karl Marx: Das Kapital I, 742. (3) DEBATTE 2; DEBATTE 2 Anhang.

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BLogbuch 6 2009: Von der Opposition zum Widerstand – Eine kritische Einschätzung der Sezession in der ‚jungen Welt‘ »

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»Endlich kracht’s in der jungen Welt«. Mit dieser Überschrift erschien anläßlich der Frankfurter Buchmesse mit Datum vom 14. Oktober ein täuschend ähnliches fake des unter der Linken allseits heißgeliebten ‚Mitteilungsblatts für die Verfolger des Stasi-Regimes’. Als Beilage ein vierseitiges Extrablatt der Gruppe Gegen die Strömung, die die Redaktion der jungen Welt sich geweigert hatte, ihrer Ausgabe vom 1. Mai (gegen Bares selbstverständlich) beizulegen. Diese Weigerung war jedoch nicht ohne Widerspruch von Teilen der Redaktion geblieben und kulminierte schließlich in dem Leserbrief einiger »AutorInnen«, der ebenfalls nicht veröffentlicht werden durfte und in der jungen (Gegen‑) Welt nachzulesen ist. (1)

Darin kritisieren die Autoren die einseitige politische Ausrichtung der junge Welt-Herausgeber. Die Zeitung folge »an vielen Punkten einer antiimperialistischen Hauptfeind-USA-und-Israel-Linie«, was sich besonders an einer »unerträglichen Verniedlichung des offen antisemitischen Staatschefs des Iran« festmache und der in ‚antiimperialistischen’ Kreisen gepflegten Taktik folge: „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Diese Taktik habe zu einem Bündnis Ahmadineschads mit westlichen Holocaust-Leugnern und zu offenen Angriffsdrohungen gegen den Staat Israel geführt.

Da in den Texten der jungen (Gegen-) Welt verschiedene eigentlich miteinander als unvereinbar erscheinende Dogmen der west-deutschen Linken unmittelbar aufeinander prallen (marxistisch-leninistische, anti-deutsche, situationistische), die vermutlich nur wegen ihrer Einseitigkeit friedlich nebeneinander koexistieren können, sollen im folgenden einige dieser Einseitigkeiten genauer untersucht werden. Dadurch lassen sich diese Dogmen zwar nicht auf Anhieb widerlegen, aber vielleicht so stark in Bewegung versetzen, daß sie bei ihren möglichen Zusammenstößen früher oder später zerplatzen werden, was, so ist zu hoffen, zu einer offenen und öffentlichen Diskussion unter der widerstandsbereiten Opposition gegen Die Linke führen würde. Denn eine solche wäre unbedingt erforderlich, damit die gelungene junge-Welt-Aktion keine Eintagsfliege bleibt, sondern perspektivisch zum Aufbau einer Einheitsfront gegen den linken Sozialimperialismus, den Faschismus des 21. Jahrhunderts, führt, die sich dann auch nicht mehr nur auf die wenigen verbliebenen »Kryptokommunisten« (Originalton junge-Welt-Herausgeber Koschmider) beschränken, sondern in die immer noch ausstehende Große proletarische Kulturrevolution einmünden wird.

(1) Siehe auch: rote-jungewelt.de (2) junge Welt 17./18.10.2009: Feinde haben wir genug. Bürgerliche und Kryptokommunisten vereint im Kampf gegen junge Welt.

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BLogbuch 5 2009: Politischer Klassenkampf und ‘Zweiklassenjustiz’: In der ‘Solidaritäts’falle der ‘Emmely’-Kampagne »

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Die Demoskopen haben den Wählern für ihre taktische Stimmabgabe Respekt bezeugt. (1) Vielleicht kann man dieses Wahlverhalten auch so verstehen, daß nach den gewaltigen weltwirtschaftlichen Eruptionen, deren Zeugen und Leidtragende sie in den letzten beiden Jahren wurden, die Mehrheit der lohnarbeitenden Bevölkerung die alte Bourgeoisie damit beauftragt hat, den kapitalistischen Normalzustand wiederherzustellen, die unvermeidlichen, aber zugleich unerträglichen Paradoxien, die der kapitalistischen Produktionsweise ‚systemisch’ innewohnen, inklusive.


Der ‚rote September’ hat also noch nicht stattgefunden, obwohl die Partei Die Linke nach mehreren Landtagswahlen auch im ‚Westen’ rein rechnerisch an der Regierungsbildung beteiligt werden könnte. Dafür fand aber bereits in der SPD kurz nach der Abstimmung ihrer Stammwähler mit den Füßen der zu erwartende linke Putsch ihres Stamokap-Flügels statt, der noch vor zwei Jahren von der Schröder-Fraktion (Müntefering, Steinmeier, Steinbrück) ausgebremst worden war und der nun, wenn er erfolgreich ist, wahrscheinlich das Ende der SPD als bürgerliche Arbeiterpartei einläuten wird. In spätestens vier Jahren wird dann die ‚re-sozialdemokratisierte’ SPD mit der Partei Die Linke eine ‚rot-rot-grüne’ Bundesregierung bilden können.


Seitdem schwebt der um eine Galgenfrist vertagte ‚rote September’ wie das sprichwörtliche Damoklesschwert über der künftigen neuen Regierung. Wir werden also vor die Alternative gestellt werden und hautnah miterleben, ob diese den Staat vor die Wand fahren und die Schrottkarre dann für ’nen Appel und ’n Ei (+ Abwrackprämie) an die wiedervereinigte Linke Sozialdemokratie weiterreichen wird oder ob es ihr gelingt, den kapitalistischen ‚Normalzustand’ in seiner profitmaximierenden schlechten Unendlichkeit wiederherzustellen. Um diese ‚hervorragende’ Alternative zu durchbrechen und um zu vermeiden, daß sie von der neuen Bourgeoisie als (lumpen-) proletarischer Popanz zum Steigbügelhalter einer ‚sozialistischen’ Regierung degradiert wird, die gleichermaßen der alten Bourgeoisie das Überleben sichert, sollte sich die deutsche Arbeiterklasse als Klasse re-formieren. Die Träume Alexanders I. und Joseph Stalins von einem Rußland vom Atlantik bis zum Pazifik sind in der Strategie des Weltherrschaftsaspiranten Rußland (gemeinsam mit oder gegen den Großmachtkonkurrenten China – das ist noch nicht entschieden) immer noch lebendig. Und an diesen Träumen webt, wie schon zu Zeiten von Marx und Engels, die Reaktion ganz unterschiedlicher Couleur in diesem Lande mit.


Einen Vorgeschmack, wie ein Stamokap-Faschismus von links bereits heute so tickt, liefert die im Vorfeld der Bundestagswahl veranstaltete Kampagne gegen die ‚Verdachtskündigung’ einer Supermarkt-Kassiererin, die alle Wahlkampf-Hypes der letzten 20 Jahre an Verlogenheit und sozialer Demagogie mühelos in den Schatten stellt. Ausgehend von der Initiative einer winzigen Soligruppe Berliner Anarchosyndikalisten fand die soziale Tragödie der Barbara E. nicht nur Eingang in alle Boulevardzeitungen und Talkshowkanäle, sondern schließlich sogar in das Wahlkampfduell zwischen Bundeskanzlerin und Außenminister. Die weinerliche Mitleidstour, mit der letzterer diesen Fall von unbarmherziger ‚sozialer Kälte’ durch seine auswendig gelernten Antworten stolpernd abhakte, deutet darauf hin, daß er, wenn er sich nach dem Durchmarsch der Stamokap-Fraktion in seiner bisherigen Partei nach einem neuen Berufsfeld umschaut, um das Arbeitsrecht wohl eher einen großen Bogen machen sollte. Aber das geht ihm nicht allein so.


(1) WAZ 28.09.2009. Der Westen.de.

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BLogbuch 4 2009: An alle notorischen Nicht-Wähler: Wir haben keine andere Wahl – als eine zu treffen! »

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Bei Parlamentswahlen geht es dem Wähler gewöhnlich ähnlich wie dem Teilnehmer an einer Meinungsumfrage: was er zu sagen hätte… ist in der Fragestellung gar nicht enthalten, weil die Auftraggeber solcher Umfragen aus ‚des Volkes Stimme’ das herausgefiltert haben wollen, was von dem, was Presse, Funk und Fernsehen tagtäglich ‚unter die Leute bringen’, bei diesen effektiv hängen geblieben ist. Daher ist es normalerweise ziemlich sinnlos, an Meinungsumfragen teilzunehmen. Kaum anders verhält es sich mit Parlamentswahlen. Denn für gewöhnlich ist es völlig egal, welche Fraktion der Bourgeoisie die Geschäfte der Kapitalistenklasse führt, und daher wird durch die Erhöhung der Wahlbeteiligung eigentlich nur die ganze sinnlose Veranstaltung zusätzlich legitimiert.


Warum ist das diesmal anders?


Dieses Mal bewerben sich zwei Bourgeoisien mit großen Erfolgsaussichten um die Ausübung der Regierungsgewalt in diesem Staat, neben der alten auch die aus der ‚Wiedervereinigung’ der beiden Teile Rest-Deutschlands hervorgegangene neue Bourgeoisie mit ihren Bündnispartnern, die sich von der alten Bourgeoisie dadurch unterscheidet, daß sie Deutschland nicht nur ökonomisch, sondern vor allem politisch in ein engeres Verhältnis zur ehemaligen östlichen Besatzungsmacht bringen will. Dafür sprechen generell ihre nur selten abgewogenen Stellungnahmen, zumeist aber offenen Parteinahmen für die ‚östliche’ Seite in den Stellvertreter-Kriegen in Südasien, Afrika und Lateinamerika zwischen dem ‚Westen’ und dem mit dem ‚Süden’ taktisch verbündeten ‚Osten’ – spätestens seit dem Georgien-Krieg im August vorigen Jahres.


Es geht also diesmal nicht um eine Richtungswahl zwischen ‚den Bürgerlichen’ und ‚den Linken’ und die Neuauflage einer ‚Rote-Socken-Kampagne’, sondern um die Zukunft Deutschlands, die bei einer Stärkung des Einflusses der neuen Bourgeoisie auf die Regierungsgeschäfte des Kapitals – zumal unter dem wachsenden Druck der Weltwirtschaftskrise, die noch längst nicht ihren Tiefpunkt erreicht hat – stark gefährdet ist.


Daher ist ein Blick zurück und darauf, wie die historische ‚Partei Marx’ vergleichbare Situationen eingeschätzt hat, durchaus lohnend.


Zuvor noch eine Nebenbemerkung: Die Gruppe
Neue Einheit verweist in ihrem jüngsten Internet Statement 2000-21 unter der Überschrift »’Kommunismus’ zum abgewöhnen?« ebenfalls auf die oben beschriebene Situation. Allerdings legt sie das Hauptaugenmerk auf den durch die Parteien und Fraktionen der Linken erklärten Verzicht »auf die Weiterentwicklung der Produktivkräfte in diesem Land«. Gemeint ist die Kernenergie. Diese wird von der Linken, wenn sie vom ‚Westen’ betrieben wird, verteufelt, wenn sie im ‚Süden’, z.B. im Iran, angewandt wird, aber als Anzeichen der gewachsenen Souveränität dieser Länder hochgelobt. Ein überdeutliches Zeichen für die Doppelzüngigkeit der neuen Bourgeoisie und der mit ihr verbündeten Linken. Dennoch handelt es sich hierbei ‚nur’ um ein, wenn auch ein sehr wichtiges Symptom linker Politik, die aber nicht allein an ihren Symptomen, sondern in ihrem historischen Zusammenhang und ihrer strategischen Zielsetzung zu analysieren sein wird.

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BLogbuch 3 2009: Remember, remember the day of … eight seven! »

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Die Tage um den 7. August dieses Jahres werden vielleicht noch tiefer in das Bewußtsein der Europäer eingraviert werden als es der 7. August des Jahres 2008 ist, als der georgische Ministerpräsident Saakaschwili den Befehl gab, das völkerrechtlich zu Georgien gehörende Südossetien ‚zurückzuerobern’, das zu jener Zeit von einer von Rußland ausgehaltenen Polit-Mafia (‚Kommunistische Partei’ inbegriffen) beherrscht wurde. Das wahrscheinlich mit israelischer Unterstützung geplante Abschiedsgeschenk an den scheidenden US-Präsidenten Bush (Sohn) ging erwartungsgemäß (und auch entgegen den Warnungen hoher georgischer Militärs) in die Hose. Der georgische Napoleon glaubte mit seinem Coup das Volk der Georgier, das ihn in einer jener typischen coloured revolutions voller Begeisterung in sein Amt gewählt hatte, beschwichtigen und von den drängenden sozialen Problemen, zu deren Lösung er recht wenig oder nur etwas zugunsten der kleinen Schar seiner engsten Getreuen beigetragen hatte, ablenken zu können. Wohl nicht ganz zufällig hat sich die Kommission, die von den Regierungschefs der EU eingesetzt wurde, um die Vorgeschichte des 07. August 2008 zu untersuchen, die Veröffentlichung ihres Untersuchungsberichts auf die Zeit nach dem 07. August 2009 verschoben. (1)


Passend zu diesem geschichtsträchtigen Datum haben am Vorabend des ersten Jahrestages des 07. August Rußland, die Türkei und Italien in Ankara einen Vertrag über eine Erdgasleitung unterzeichnet, die über die Türkei, den Balkan (Serbien eingeschlossen) nach Italien führen soll und als Gegenstück zur Ostseepipeline von Rußland nach Deutschland (‚North Stream’) die Bezeichnung ‚Southstream’ erhielt. (2) Wenige Wochen vor dem 07. August war zwischen einem
europäischen Konsortium und der Türkei ebenfalls ein Abkommen über die Durchleitung von aserbaidschanischem Erdgas über den Bosporus nach Mitteleuropa mit der feinsinnigen Bezeichnung ‚Nabucco’ unterzeichnet worden. (3) Wladimir Putin wollte offenbar mit der Wahl dieses Termins dem ‚Westen’ verdeutlichen, daß er den Kampf um das Versorgungsmonopol Europas mit fossilen Energieträgern durchaus auch als Beitrag für die Wiedererrichtung der Vorherrschaft Rußlands auf diesem Kontinent versteht. Dabei soll das Energiemonopol vorläufig noch ersetzen müssen, was Rußland nach dem Verlust der Weltmachtposition der Sowjetunion an Voraussetzungen, als ernstzunehmender Widerpart der Nato ernst genommen zu werden, momentan noch fehlt.


Die strategische Bedeutung des russischen Erdgasmonopols wird deutlicher, sobald man sich die Geschichte des Staatsmonopolisten Gazprom näher vor Augen führt. (4) Nach der Kapitulation des großrussischen Imperiums im ‚Kalten Krieg’ vor dem imperialistischen Konkurrenten USA, die mit der Aufgabe der DDR 1989 besiegelt wurde, war Gazprom neben dem informell weiterhin funktionierenden Geheimdienst- und Staatssicherheitsapparat eines der wenigen verbliebenen Bindeelemente des russischen Staats, dessen Erdgasleitungen diesen wie ein Skelett zusammenhielten. Dort herrschte auch noch das alte
sowjetische Management, das nun im Auftrag der Jelzin- und Putin-Regierung ein kapitalistisches Monopolunternehmen zu dirigieren hatte, das im Inland Sozialpolitik (kaum einer der bisherigen Sowjetbürger bezahlte seine Gasrechnung) und nach außen Kapitalismus praktizieren sollte. Dies allerdings nicht in jener liberalen Form, wie sich das der Privatmonopolist Chodorkowski ‚fälschlicherweise’ vorgestellt hatte, der auf eigene Rechnung mit dem Westen Geschäfte machen wollte und, von Konstrukten wie Steuerhinterziehung usw. von den Behörden in die Enge getrieben, ins Gefängnis gesteckt wurde. (In diesen Tagen hat übrigens der einstige Gazprom-Chef aus jener Zeit und zeitweilige Ministerpräsident unter Präsident Jelzin, Tschernomyrdin seinen Abschied als Botschafter in der Ukraine genommen, der wie niemand sonst die Verquickung von rechtgläubiger Oligarchie, Staatsmacht und Erdgas-Imperialismus verkörperte.) (5)


Mit der Annexion von Süd-Ossetien und Abchasien als Reaktion auf Saakaschwilis militärische Provokation hatte die russische Regierung vor einem Jahr dem ‚Westen’ unmißverständlich kundgetan, daß Rußland wieder in den Zustand der imperialistischen Konkurrenz eingetreten sei. In den groben Klotz (der Errichtung eines europäischen Protektorats im Kosovo, wenn auch als Reaktion auf den von langer Hand geplanten Völkermord in dieser serbischen Provinz durch außerlegale Abgesandte der serbischen Regierung) hieb Rußland einen groben Keil: die Vollendung der Abtrennung der beiden Provinzen Abchasien und Südossetien vom georgischen Mutterland. (Es wird an anderer Stelle zu untersuchen sein, welche Rolle der als Ex-Bundeskanzler zum Vorsitzenden des Aktionärsausschusses des Betreiberkonsortiums von Nord Stream beförderte Gerhard Schröder für seinen Busenfreund Putin bei der Verschleierung der Vorbereitungen zur Annexion Abchasiens gespielt hat, als er seinen sozialdemokratischen Stallgefährten und nunmehrigen Außenminister Steinmeier noch kurz vor der Besetzung durch russische Truppen zu einer Bes(chw)ichtigungstour dorthin animieren konnte. Weil Steinmeier Schröder schon in Abchasien auf den Leim gegangen war, hatte er danach einige Mühe, sich von Schröders Erklärung, die Annexionen Rußlands in Georgien seien unumkehrbar, zu distanzieren. Alles andere hätte ihn aber seinen Job gekostet.) (6)


Das alles (und es ist noch längst nicht alles) bildet den Hintergrund für jene denkwürdige Zusammenkunft der russischen, türkischen und italienischen Staatschefs am 06. August in Ankara. Mit dem dort unterzeichneten Vertrag sollen ja nicht nur die geplanten westeuropäischen Gegenmaßnahmen (‚Nabucco’) gegen die mit äußerstem diplomatischen Geschick in der Vergangenheit provozierten Lieferunterbrechungen von russischem Erdgas nach Westeuropa unterlaufen werden. Auch gehört nicht viel Scharfsinn dazu, um hinter dem von dem Karatekämpfer Putin beabsichtigten oder vorgetäuschten Klammergriff gegen Europas ökonomische Unabhängigkeit den Versuch zu erkennen, die Initiativen des europäischen Kapitals nicht nur hinsichtlich seiner Energiepolitik, sondern z.B. auch seiner Türkeipolitik zu lähmen, um den ‚Westen’ eines Tages von den Füßen zu holen. Die alten Träume der alten und durch die Stalinsche Konterrevolution gesalbten neuen Zaren haben damit neue Nahrung erhalten. (Diese Träume werden z.B. genährt durch einen Gesetzentwurf, wonach – analog zum deutschen Gesetz gegen die Leugnung des Holocaust – die Leugnung des Sieges der Sowjetarmee im Vaterländischen Krieg unter Strafe gestellt werden soll. Angesichts des bevorstehenden Jahrestags des Überfalls der Hitlerarmee auf die Sowjetunion erklärte Patriarch Kyrill den Krieg als die gerechte Strafe für die Lossagung der russischen Gesellschaft von der orthodoxen Kirche.) (7)


Schließlich fragt es sich, wo das viele Erdgas das durch zwei parallele Leitungen nach Europa fließen soll, eigentlich herkommen wird? Experten halten die aserbaidschanischen Vorkommen für nicht ausreichend, jedenfalls gemessen an dem geplanten Aufwand. Aber das kann auch Zweckpropaganda sein, weil die russische Leitung u.a. aus Turkmenistan gespeist wird, um dessen Herrschergunst sich auch das ‚Nabucco’ Konsortium bemüht. (Da war es ein guter Einfall der ‚Nabucco’-Chefs, zwecks Verschleierung dieser schwierigen Sachlage sozusagen ‚parallel’ zu Gerhard Schröders Beschwichtigungsversuchen dessen einstigen Grünen Koalitionspartner Joschka Fischer als Kommunikator für ‚Nabucco’ zu engagieren). (8) Konkurrenz belebt das Geschäft – allerdings nur dann, wenn genügend Substanz zwecks Erzeugung von Umsatz vorhanden ist. Eine substantielle Lösung bestünde wahrscheinlich darin, wenn das erforderliche Erdgas früher oder später aus dem Iran nach Europa kommen würde, dessen Gasvorkommen einen solchen Aufwand wahrscheinlich allein rechtfertigen.


Damit wären wir wieder beim Iran, der auch in dieser Beziehung an einem Scheideweg zu stehen scheint. In dieser Lage haben die Teilnehmer an der ersten coloured revolution im Nahen und Mittleren Osten längst ihre Wahl getroffen: gegen den althergebrachten orientalischen Erdöl-Despotismus, bei dem eine einzige Fraktion der geistlichen Oligarchie die Gewinne in die eigene Tasche und in den Export der iranischen ‚Revolution’ steckt und für das Prinzip miteinander konkurrierender Kapitalisten, die, wie an der gegenüberliegenden Küste des Arabischen Golfs zu beobachten ist, einen Teil ihrer Gewinne im Land reinvestieren (allerdings, das ist die andere Seite der Medaille, um den anderen Teil an der Börse zu verspekulieren). Der Iran hätte demgegenüber den Vorteil, daß die für seine weitere Industrialisierung erforderliche Arbeiterklasse, weil sie in ausreichender Zahl zur Verfügung steht, nicht, wie auf der arabischen Halbinsel eigens aus Südasien importiert werden muß. (Die Rückkehr der vom politischen brain drain ins Exil gezwungenen hervorragenden iranischen Techniker, Ingenieure, Mediziner etc. gar nicht mitgerechnet).


Das Zeitalter der ‚nicht-kapitalistischen Entwicklungswege’, auf denen die Linke den Sozialismus in den Ländern der ‚Dritten Welt’ durch die Hintertür hatte einführen wollen, gehört spätestens seit dem 11.09.2001 der Vergangenheit an. Dieser ‚Entwicklungsweg’ hat nichts als eine korrupte, verbrecherische und barbarische ‚antiimperialistische’ Oligarchie ‚entwickelt’. Der Weg der anti-‚westlichen’ Gotteskrieger vom 11.09. führt ebensowenig, wie sie naive Gemüter glauben machen wollen, zurück zum archaischen Kommunismus und traditioneller Stammessolidarität, sondern unter dem Kommando ethnizistischer Oligarchien direkt in die archaische Barbarei der Hitlerschen, die nur auf einem höheren gesellschaftlichen Niveau angesiedelt war, stark wesensverwandt. Übrig bleibt vorerst nur der Weg der ehemaligen ‚Dritten Welt’ in den ‚westlichen’ Kapitalismus, der früher oder später die Totengräber hervorbringen wird, die diese Produktionsweise dort, wie in Europa, den USA, Rußland, China usw. würdig bestatten werden.

Quellen: (1) FAZ 06.08.2009. (2) FAZ 08.08.2009. FTD 07.08.2009 (3) FAZ 14.07.2009. (4) Einen höchst illustrativen Einblick in den Kampf um Gazprom liefern die beiden russischen Journalisten Waleri Panjuschkin und Michail Sygar: Gazprom. Das Geschäft mit der Macht, München 2008. (5) FAZ 12.08.2009. (6) FAZ 19.07.; 31.07.2008. spiegel.de/international/world/0,1518,druck-572686,00… zeit.de/online/2008/34/georgien-russland-konflikt-steinmeier-samstag (7) FAZ 30.06.2009. (8)FAZ 29.06.2009.

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BLogbuch 2 2009: Was die deutsche Linke mit dem Iran zu tun hat! »

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Nur einen Tag »nach der wahrscheinlich größten Demonstration der Opposition seit der islamischen Revolution in Iran« meldete die Presse, daß der durch seinen wohl organisierten Wahlbetrug am 12. Juni an die Macht geputschte Diktator zu dem »Treffen der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SCO) im russischen Jekaterinburg« reisen werde. (1)


Die SCO, in der der Iran zunächst noch einen Beobachterstatus innehat, war Mitte der 90er Jahre von Rußland, China und verschiedenen mittelasiatischen Erdöl-Despotien zur Wahrnehmung gemeinsamer wirtschaftlicher und militärischer Interessen gegründet worden. In Jekatarinenburg (im Ural = das ehemalige Swerdlowsk) verkündete Ahmadineschad vollmundig:
»Amerika sei geschwächt, der Kapitalismus auf dem Rückzug und die Ära der Weltmächte demnächst vorbei.« (2) Offensichtlich wollte er damit sagen, daß nach dem Ende der ‚westlichen’ »Weltmächte« der Aufstieg einer oder mehrerer asiatischer oder (halb-)asiatischer »Weltmächte« denkbar wäre, wenn auch zunächst nur innerhalb einer anti-‘westlichen’, d.h. gegen die USA und das kapitalistische Europa gerichteten Einheitsfront aus potentiellen »Weltmächte(n)«.


Da aber eine ‚anti-kapitalistische’ Einheitsfront in dieser radikalen Form nur von Ahmadineschad und Chávez vertreten wird und die SCO aus Ländern besteht, die, ebenso wie ihre ‚westlichen’ Geschäftspartner, hauptsächlich an ‚gesunden’ Geschäftsbeziehungen interessiert sind, werden diese ihr Verhältnis zum ‚Westen’ wohl vorerst nicht gegen eine ‚anti-kapitalistische’ Einheitsfront eintauschen wollen. Dieser Pragmatismus fände aber darin seine Grenze, wenn z.B. ein ‚westlich’ orientierter oder zumindest ein dem ‚Westen’ gegenüber neutraler Iran, wie er der iranischen Opposition in verschiedenen Ausprägungen vorschwebt, politische Wirklichkeit würde. Ein Iran ohne Schah, Chamenei und Ahmadineschad würde das ‚bunte’ Band, das sich um den verbliebenen Rumpf der ehemaligen Sowjetunion gelegt hat (von der ‚orangen Revolution’ in der Ukraine über die ‚Rosen-Revolution’ in Tiflis) um eine ‚grüne Revolution’ bereichern und nicht nur beim Putinschen Gazprom-Rußland Atemprobleme verursachen, sondern auch weit über Mittelasien hinweg bis ins ‚sozialistische’ China ausstrahlen. Wie überhaupt die ‚grüne Revolution’ in so vielem an die 1989 von der chinesischen Armee auf dem T’ien An-men-Platz zusammengeschossene Studentenrevolte erinnert und beide wiederum an die 4.-Mai-Bewegung in China im Jahre 1919.


Außerdem vertritt die ‚grüne Revolution’ gegenwärtig Forderungen, die, wenn sie zuweilen auf Rußlands Straßen erhoben werden, die Sicherheitskräfte für gewöhnlich mit brutaler Gewalt an ihrer Ausbreitung hindern. Auch ist dem ‚System Putin’ das Verschwinden- und Umbringenlassen unliebsamer Kritiker nicht weniger fremd als dem ‚System Ahmadineschad’. Zudem erinnern die Schauprozesse, die jetzt in Teheran gegen angebliche ‚Drahtzieher’ der revolutionären Massenbewegung inszeniert werden, (3) in Stil und Ausdrucksform an jene Schauprozesse, die in den 30er Jahren in der Sowjetunion und Ende der 40er Jahre im Sozialistischen Lager (d.h. der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn u.a.m.) vom sowjetischen Geheimdienst organisiert wurden. (4) Und schließlich ist es nicht das erste Mal, daß Wahlmanipulationen das Faß zum Überlaufen gebracht und dazu geführt haben, daß sich die
Bevölkerung eines staatsterroristischen Überbaus zu entledigen wußte. Denken wir nicht zuletzt an die ehemalige DDR.


Gerade wegen all dieser traumatischen Erfahrungen und schmerzlichen Erinnerungen waren große Teile der deutschen Linken zunächst wenig geneigt, und wenn, dann auch nur mit halber Kraft bereit, gegen den Wahlbetrug des iranischen Terrorregimes, anders als sie für gewöhnlich gegen Verfehlungen oder Verbrechen des ‚Westens’ vorgehen, entschlossen Position zu beziehen. Sehen wir einmal von pro-israelischen Gruppierungen wie den sog. ‚Anti-Deutschen’ ab, deren Solidarität für Israel über diejenige unserer Bundeskanzlerin, die das Existenzrecht des Staates Israel zur deutschen Staatsraison erklärt hat, noch weit hinausgehen, indem sie einen präventiven atomaren Angriff gegen den Iran befürworten. (Welchen Wert das Solidaritätsversprechen eines Nicht-Atomstaats für einen Atomstaat wie Israel haben soll, bleibe hier einmal dahingestellt.)


Daher ist es schon bemerkenswert, wenn ein der ‚globalisierungskritischen Linken’ eher politisch zugetaner linker Sozialwissenschaftler in seinem
»Offenen Brief an ‚die Linke’« (vom 19.06.2009) »leider mit Verbitterung feststellen« muß, daß selbige Linke ihre »Solidarität mit dem großartigen Widerstand der Menschen gegen die Theokratie in der Islamischen Republik Iran« vermissen lasse. (5) Er könne zwar für »die Verunsicherung mancher angesichts der enttäuschten Erwartungen von damals im Iran [gemeint ist der Aufstand des iranischen Volkes gegen das Schahregime 1979], der Versuche der CIA in den letzten Jahren, in Osteuropa ‚orangene Revolutionen’ zu entfachen und der erklärten Ansicht der Neokonservativen, im Iran einen Regime Change herbeizuführen … Verständnis haben.« [4] Gleichwohl offenbare sich darin das Grunddilemma der Linken und das sich ständig wiederholende Scheitern an ihrem, wie er es nennt, eindimensionalen Anti-Kapitalismus. Gegen dessen Verfechter, gegen die »eindimensionalen Antikapitalisten«, richtet sich die Kritik des Autors, der ihnen vor allem ankreidet, daß sie »den ganzen Marx, ja die ganze Welt, auf Lohnarbeit und Kapital und den Kapitalismus darauf (reduzieren), daß er auf Ausbeutung beruht und daß erst durch seine Abschaffung alle Probleme der Welt beseitigt und dadurch für die Menschheit die Epoche des ewigen Glücks anbrechen würde«. [1] Durch eine derartige reduktionistische Vereinfachung würden jedoch »Machtbeziehungen, kulturelle Potentiale, Einfluß von Tradition, Religion« etc. ausgeblendet und »die Gegenwart und Geschichte ahistorisch nach eigenen Vorstellungen« zurechtgebogen. [1]


Daß sich überhaupt ein mutiger linker Professor dazu aufrafft, den Quietismus der deutschen Linken an diesem Punkt auf- und anzugreifen, ist zunächst durchaus ein Positivum. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß sich der Kritiker und die von ihm kritisierte
»Linke« in demselben Dilemma befinden. Denn was die Linken zu »eindimensionalen Antikapitalisten« macht, besteht ja nicht primär in ihrer theoretischen Reduktion des »ganzen Marx« auf »Lohnarbeit und Kapital«, sondern in ihrer politischen Reduktion der Widersprüche der »ganze(n) Welt« auf einen von Chávez und Ahmadineschad propagierten »eindimensionalen«, nämlich ausschließlich anti-‚westlichen’ Anti-Kapitalismus.


Diese
politische Eindimensionalität will der Kritiker dadurch überwinden, daß er sie um »Machtbeziehungen, kulturelle Potentiale, Einfluß von Tradition, Religion und viele anderen Faktoren« kulturalistisch erweitert. Bei einem Therapievorschlag wie diesem fällt aber die (halb-) orientalische Despotie, die in diesen ‚anti-westlichen’ Regimes für gewöhnlich herrscht (Cuba) oder die sich mit großer Wahrscheinlichkeit dort entwickeln wird (Venezuela), unter den Tisch. Kaum anders übrigens als seinerzeit der konterrevolutionäre Charakter des Realen Sozialismus vom gemeinsamen ‚anti-kapitalistischen Kampf’ verdeckt, bzw. von der Linken als ‚Diktatur des Proletariats’ (in Ermangelung der tatsächlichen Herrschaft des Proletariats) mißverstanden wurde.


Und daß der Kritiker, die
politische Eindimensionalität der Linken, wenn es sich nicht gerade um den Iran handelt, durchaus teilt, zeigt sich an der von ihm vorgenommenen Einordnung der ‚orangen Revolution’ in das Weltbild der jungen Welt. Für die eine wie den anderen war diese im wesentlichen ein Machwerk der CIA, ohne daß der Kritiker zur Kenntnis nehmen würde, daß auch in der Ukraine, wie jetzt im Iran, die Mehrheit der Bevölkerung, gegen einen Wahlbetrug aufstand, weil sie nicht länger gewillt war, von einer Marionette Putins regiert zu werden.

Welche Konsequenzen die kulturalistische Eindimensionalität nach sich zieht, wird an der Kritik an den »eurozentristischen Feministinnen« deutlich, »die im Namen der Frauenemanzipation von kopftuchtragenden moslemischen Frauen verlangen, sich europäisch zu kleiden und so auszusehen wie sie selbst aussehen«. [4] War es nicht gerade dieses vielleicht für einen Islamisten als unziemlich erscheinende Verlangen, »sich europäisch zu kleiden«, das iranische Frauen mit ihrer Hinrichtung auf offener Straße oder ihrer Vergewaltigung in den Kerkern des Regimes in den letzten Wochen bezahlen mußten? War nicht genau dies ein entscheidender Grund für die Entstehung einer zutiefst antiautoritären und antipatriarchalischen Massenbewegung, daß sich die Frauen überhaupt so kleiden und so aussehen wollen, wie sie es wollen und nicht, wie ihnen bärtige islamische Machos auf ihren Motorrädern das nach ihrer sexistischen Kleiderordnung vorschreiben?


Offenbar sprechen wir hier nicht mehr von derselben revolutionären Massenbewegung im Iran und statt dessen von der Bewegung einer von Ahmadineschad mit Geldgeschenken bestochenen und aufgeputschten Massenarmut, die aus den Elendsvierteln und Dörfern mit Bussen zu seinen Propagandaveranstaltungen gekarrt wird? Wenn der Kritiker die Motive für den Mord an einer Kopftuch tragenden jungen Frau in einem Dresdner Gerichtssaal als von
»eurozentristischen Feministinnen« ausgehende »Frauendiskriminierung« und als einen Zwang zur Verwestlichung mißinterpretiert, dann muß er eine andere als die gerade im Iran stattfindende kulturrevolutionäre Massenbewegung vor Augen haben, (die sich, was den Import kulturrevolutionärer Elemente aus dem Westen betrifft, nicht sonderlich von unserer ‚Studentenbewegung’ in den 60er Jahren unterscheidet…). Den »europäischen Frauenbewegungen« wäre viel eher vorzuwerfen, daß sie aus kleinbürgerlich bornierter und kulturrelativistischer ‚Rücksichtnahme’ (von der auch der Autor befallen zu sein scheint) recht wenig gegen die Versklavung und Verstümmelung europäischer Frauen in moslemischen Familien unter der Herrschaft des euro-islamischen Machismo einzuwenden haben. Da ist leider auch dort Fehlanzeige!


Fazit: Für eine radikale Kritik an dem
»eindimensionalen« Anti-Kapitalismus der deutschen Linken reicht es nicht aus, diesen kulturalistisch überbieten zu wollen; dazu wäre es notwendig gewesen, dessen politische Dimension zu erfassen. Da dies nicht der Fall ist, verbleibt der Kritiker mit der von ihm gemaßregelten ‚Linken’ weiterhin in der gemeinsamen anti-‚westlichen’ Einheitsfront, deren Grundlagen gegenwärtig von kulturrevolutionären Massenbewegungen wie der im Iran in Frage gestellt werden. Damit hat er gemeinsam mit der deutschen ‚Linken’ leider auf der Gegenfahrbahn der Geschichte Aufstellung genommen, auf der Seite jener (halb-) orientalischen Despoten, die jeden Anflug von westlicher Zivilisation, soweit er nicht ihren Geschäftsinteressen dient, mit Stumpf und Stil auszurotten versuchen. Man vergleiche dazu etwa die Aussage des engsten geistlichen Vertrauten Ahmadineschads, Ajatollah Mesbah Yasdi: die Iraner müssen Ahmadineschad denselben Gehorsam leisten wie dem Gott der Muslime… (6)


Am Vorabend des Krim-Krieges schrieb Karl Marx in der
New York Daily Tribune vom 12.08.1853: »Der Kampf zwischen Westeuropa und Rußland um den Besitz von Konstantinopel führt zu der Frage, ob der Byzantinismus der westlichen Zivilisation weichen wird oder ob der Antagonismus zwischen beiden in noch schrecklicheren und gewalttätigeren Formen als je zuvor wieder aufleben soll. Konstantinopel ist die Brücke zwischen Ost und West, und die westliche Zivilisation kann nicht der Sonne gleich die Welt umkreisen, ohne diese Brücke zu passieren; und sie kann die Brücke nicht passieren ohne Kampf mit Rußland. Der Sultan hält Konstantinopel nur noch für die Revolution in Verwahrung, und die jetzigen nominellen Würdenträger Westeuropas, die ihrerseits das letzte Bollwerk ihrer ‚Ordnung’ an den Ufern der Newa sehen, können nichts anderes tun, als die Frage so lange in der Schwebe zu lassen, bis Rußland sich Aug’ in Aug’ seinem wahren Gegner gegenübersteht, der Revolution. Die Revolution, die das Rom des Westens niederwerfen wird, wird auch den dämonischen Einfluß des Roms des Ostens überwinden.« (7)


Die strategische Bedeutung des von Karl Marx charakterisierten Kampfes zwischen dem »Byzantinismus« und der »westlichen Zivilisation« hat sich im Prinzip nicht geändert; er findet nur nicht mehr in einer europäischen, sondern in einer globalen Dimension statt, wobei die USA die Rolle Englands übernommen haben und Rußland wahrscheinlich nur innerhalb der anti-‚westlichen’ Einheitsfront wieder zu seiner alten Weltmachtposition zurückfinden wird. Auch heute wird »die westliche Zivilisation nicht der Sonne gleich die Welt umkreisen« können, ohne diese »Brücke zwischen Ost und West« zu passieren; auch heute wird die reaktionäre ‚anti-kapitalistische’ Einheitsfront mit den Herren Ahmadineschad und Chávez an der Spitze, die den Platz des alten zaristischen Rußland einnehmen könnte, in letzter Instanz mit der Revolution konfrontiert werden. Deren Vorboten erleben wir gegenwärtig in Gestalt der kulturrevolutionären Massenbewegung im Iran.


Der ‚Marxismus’ der Linken, um noch mal darauf zurückzukommen, ist vor allem nicht deshalb so »eindimensional« und abstrakt, weil diese, wie sie es u.a. bei dem marxistischen russischen Ökonomen Jewgenii Preobraženskij gelernt hat, (8) den »ganzen Marx, ja die ganze Welt auf Lohnarbeit und Kapital und den Kapitalismus« reduziert hat, sondern weil sie genau umgekehrt nicht in der Lage ist, das Ausbeutungsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital, nun, da es in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise im eigentlichen Marxschen Sinne erst wirklich wahr wird, radikal auf die Beziehungen der verschiedenen Klassen zu diesem Widerspruch auszudehnen. Statt dessen reduziert sie ihren Anti-Kapitalismus politisch darauf, unter der Fahne des ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts’ hinter ‚sozialistisch’ aufgemöbelten »eindimensionalen«, nämlich feudalen »Anti-Kapitalisten« herzulaufen, der naiven oder vielleicht auch berechnenden Strategie folgend, daß durch ihren Kampf gegen den ‚Westen’ und dessen Kapitalismus die Menschheit befreit werden möge. Dabei wollen sie doch alle nur das eine: den gesellschaftlichen Reichtum der armen und reichen kapitalistischen Länder in den eigenen oder den Taschen ihrer Familien-Clans und politischen Seilschaften verschwinden zu lassen. Das heißt: Was uns als der ‚Marxismus’ und abstrakte Antikapitalismus einer »eindimensional antikapitalistische(n) Linke(n)« gegenübertritt, ist die vom Marxschen Kommunismus gestellte, aber hier politisch entstellte Eigentumsfrage: der alten Bourgeoisie zu nehmen, um der neuen zu geben. Darauf beschränkt sich in der Quintessenz der Antikapitalismus jener »eindimensionalen Antikapitalisten«.


Daran gemessen reichen unsere bisherigen Überlegungen nicht mehr aus festzustellen, daß dieser Antikapitalismus eigentlich nichts mehr mit Marx und dem Marxschen Kommunismus zu tun habe. Viel eher trifft in diesem Fall zu, was Friedrich Engels bereits zu den ‚revolutionären’ Praktiken des russischen Zarentums festgestellt hat:
»Rußland kennt keine Skrupel in der Wahl seiner Mittel. Man sagt, daß der Krieg Klasse gegen Klasse etwas äußerst revolutionäres sei; Rußland brach in Polen einen solchen Krieg vor ungefähr 100 Jahren vom Zaun, und es war ein schöner Klassenkrieg, als russische Soldaten und kleinrussische [= ukrainische] Leibeigene gemeinsam darangingen, die Schlösser der polnischen Adligen niederzubrennen, nur um die russische Annexion vorzubereiten; sobald diese vollbracht war, führten dieselben russischen Soldaten die Leibeigenen unter das Joch ihrer Herren zurück.« (9)


So ähnlich haben wir uns, geht es nach den Herren Chávez und Ahmadineschad, auch die von ihnen ins Leben gerufenen ‚antikapitalistischen’ Bewegungen vorzustellen. Als Muster dient ihnen der ‚Reale Sozialismus’, dessen ‚Marxismus’ eine hervorragende Blaupause dafür abgab, um im Namen der Arbeiterklasse die alte Bourgeoisie zu enteignen und an deren Stelle die Arbeiter härter zu drangsalieren und auszubeuten als je zuvor. (Von den Bauern reden wir erst gar nicht…) In diesem Zusammenhang könnte auch Stalins Kunststück von Nutzen sein, wie durch eine ‚revolutionäre’ Konterrevolution die (halb-)asiatische Herrschaft des alten Zarentums wiederhergestellt wird und wie sich diese gegen einen wirklichen revolutionären Umsturz durch das Proletariat ‚marxistisch’ und im Stile Louis Bonapartes immunisieren läßt…


Quellen
: (1) FAZ 16.06.2009. (2) FAZ 17.06.2009. (3) FAZ 03.08., 05.08, 06.08., 10.08., 15.08.2009. (4) Großajatollah Montazeri verglich die Schauprozesses mit denjenigen Stalins und Saddam Husseins. FAZ 06.08.2009.

(5) htttp://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30830/1.html Mohssen Massarrat: Offener Brief an „die Linke“ anläßlich ihrer mangelnden Solidarität mit der Volksbewegung im Iran. Seitenangaben in eckigen Klammern. (6) FAZ 15.08.2009. (7) MEW 9, 236 f. (8) parteimarx.org DEBATTE 3. (9) MEW 16, 162.

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BLogbuch 1 2009: Was haben die Arbeiterklassen mit dem Iran zu tun? »

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Inhalt

1863 gab es in Polen einen Aufstand gegen das russische Zarentum, das dieses Land nach dem Sieg der Heiligen Allianz über Napoleon 1815 bis auf einige schmale Happen, die an die Komplicen Österreich und Preußen gingen, komplett dem großrussischen Imperium einverleibt hatte. Es war nicht der erste, es sollte aber für längere Zeit der letzte Aufstand dieser Art gewesen sein.


Rußland grenzte damit direkt an Deutschland. Dort hatte der Zar in Preußen einen verläßlichen Haushund gefunden, der ihm die revolutionären Bestrebungen, die von Deutschland hätten ausgehen können, vom Leib hielt.


Marx und Engels hatten frühzeitig erkannt, daß der Sieg der
Heiligen Allianz unter Führung des russischen Zarentums über Napoleon ohne die Beherrschung Polens nur die Hälfte wert gewesen wäre. Für sie war damit die sog. Polenfrage von vornherein mit der revolutionären Situation in Deutschland und Europa verkoppelt. Anläßlich der 20. Wiederkehr des Aufstandes von Krakau (gegen die Teilungsmacht Österreich) hielt Friedrich Engels 1867 auf einer Solidaritätsveranstaltung in London einen Vortrag unter der Überschrift: »Was hat die Arbeiterklasse mit Polen zu tun?«.


Ließe sich die gleiche Frage nicht auch in Bezug auf die gegenwärtigen Demonstrationen im Iran stellen?


Ein Unterschied zu damals besteht im positiven Sinne darin, daß der Iran heute kein von einer fremden Macht besetztes Land ist, ein anderer dagegen, daß es in Europa keine revolutionäre Arbeiterbewegung gibt, die sich mit der während des polnischen Aufstands 1864 gegründeten und von Marx und Engels entscheidend mit vorangetriebenen
Internationalen Arbeiterassoziation vergleichen ließe.


Eine Gemeinsamkeit gibt es dennoch: wie schon das russische Zarentum seit Peter I. seine sozialen Widersprüche (Leibeigenschaft der Bauern) durch den Export von ‚Revolutionen’ nach Westeuropa zu kompensieren hoffte, versucht auf ähnliche Weise das heutige Regime im Iran wegen der unaufhebbaren politischen und gesellschaftlichen Rückständigkeit dieses Landes die Flucht nach vorn in eine islamistische soziale Revolution anzutreten und diese in die Nachbarländer zu exportieren. In dem ‚neuen kalten Krieg’ zwischen der angeblich anti-kapitalistischen ‚Dritten Welt’ und dem kapitalistischen ‚Westen’ setzt die iranische Führung auf eine Konfrontation mit der westlichen Zivilisation Europas und den USA, die wegen der mit der kapitalistischen Produktionsweise einhergehenden Widersprüche bei den rückständigsten Massen im Iran und der muslimischen Welt bisher auf gewisse Sympathien treffen konnte.


Dieser ‚neue kalte Krieg’ wurde 2001 durch den Angriff von wahabitischen Gotteskriegern auf ein Symbol des Kapitalismus in den USA eingeleitet. Die Wahabiten eint mit dem Führer der iranischen Massenarmut, Ahmadineschad trotz der erbitterten Gegnerschaft ihrer Sekten zueinander der gemeinsame Wunsch, die bürgerliche Gesellschaft von der Erdoberfläche zu tilgen und an deren Stelle die Weltherrschaft des Islam zu setzen.


Als Vorwand für den von beiden Regimes praktizierten Staatsterrorismus dient der Kampf gegen das hauptsächlich von den USA finanzierte kolonialistische Projekt Israel, dem jedoch diese Barbaren trotz aller verurteilenswerten Verbrechen, die der Zionismus gegen das arabische Volk der Palästinenser begangen hat, in zivilisatorischer Hinsicht nicht das Wasser reichen können. Für diese islamistischen Regimes sind die Völker, denen sie sich in den Nacken gesetzt haben und aus denen heraus einzelnen Privilegierten die hohe Gnade zuteil wird, als Kamikaze ihr Leben zu opfern, nicht mal den Dreck wert, den sie sich nach der Verwirklichung ihrer Welteroberungspläne von der Chalaba klopfen würden.


Dagegen ist die Mehrheit der iranischen
Bevölkerung, die sich um den Wahlsieg ihrer Kandidaten betrogen sieht, aufgestanden. Sie haben meine Stimme gestohlen! rufen die Demonstranten. Und einer erzählt einem westlichen Korrespondenten: Und Ahmadineschad kanzelte uns alle als unbedeutende Staubkörner ab, (aber) heute sind wir so viele Staubkörner, daß wir einen Berg bilden.


Da die Propheten nicht zum Berg kommen wollen, kommt jetzt der Berg zu den Propheten: Die iranischen Studenten, die Intelligenz und nicht Wenige aus den südlichen Armenvierteln Teherans sowie Teile des westlich orientierten Klerus sind nicht mehr bereit, unter einem System Ahmadineschad weiterzuleben. Sie verlangen, und das nicht zum ersten Mal in der iranischen Geschichte, ein an westlichen Maßstäben orientiertes politisches System und darüber hinaus, daß die orientalische Erdöl-Despotie einer winzigen Clique, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt hat und die sich von ihren Wachhunden, den Pasdaran und der Basidsch-Miliz
gegen das Volk schützen läßt, beendet wird.


Die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen das Schah-Regime wirksame Parole ‚Allahu akbar‘ wird heute erneut des Nachts von den Dächern gerufen. Das erinnert an das Revolutionsjahr 1905, als sich vor dem Zarenpalast in St. Petersburg die Rufe der dort zusammengeströmten russischen Bauern ‚Gott schütze den Zaren!‘ für selbigen Zaren so bedrohlich anhörten, daß er befahl, auf die Bauern zu schießen. Leider wird die Ironie, die sich mit den Lobpreisungen Allahs in den nächtlichen iranischen Städten verbindet, nicht ständig vorhalten; das ist bedauerlich, weil sich dabei häufig die Gelegenheit bietet, das Übermaß an religiöser Wohlgefälligkeit mit dem Ruf: ‚Tod dem Diktator!‘ zu verbinden…


Von den im Iran noch verbliebenen westlichen Journalisten wurde übrigens noch eine weitere nächtliche Parole registriert: ‚Tod Rußland!‘

Quellen: FAZ 15.06. und 16.06.2009.

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BLogbuch zu den laufenden Klassenkämpfen »

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An dieser Stelle wird eine neue Seite der partei Marx aufgeschlagen

Bisher sahen wir es als unsere Hauptaufgabe an, die Differenz zwischen der ‚Partei Marx’ und dem ‚Marxismus’ zu untersuchen und die ‚Marxisten’ darauf aufmerksam zu machen, daß der Weg des ‚Marxismus’ schließlich zu einer ‚marxistischen’ Konterrevolution geführt hat und es daher empfehlenswert sei, diesen zu verlassen und zu den Wurzeln der Marxschen Strategie zurückzukehren. Jetzt ist es endgültig an der Zeit festzustellen, daß der Weg des ‚Marxismus’ ja durchaus erfolgreich war. Erfolgreich in dem Sinne, daß er heute als Ideologie von Teilen der herrschenden Klassen vertreten wird. Ihn daher als Abirrung von scheinbar immer noch gültigen und von uns allen als gemeinsame geteilten ‚marxistischen’ Grundsätzen zu kritisieren, ist mehr als absurd. Hier ‚wuchs’ vielmehr ‚zusammen, was zusammengehört’ und was trotz aller Scheingefechte zwischen ‚Kommunismus’ und Anti-‚Kommunismus’ eigentlich in der Unterdrückung der Völker und Nationen und der Ausbeutung der arbeitenden Klassen immer schon zusammengehört hat.


Würden wir die Revolutionen im 20. Jahrhundert bilanzieren wollen, so bliebe nur die Feststellung, daß diese unter dem Strich fast ausschließlich Pseudo-, Konterrevolutionen und eine große Barbarei hervorgebracht haben, wodurch die revolutionären Völker und Klassen nicht nur an der Nase herum geführt, sondern auch die revolutionäre Sache der Marxschen Partei um Generationen zurückgeworfen wurde. Was ist zu tun?


Es hat sich gezeigt,

  • daß die mutigsten und kühnsten revolutionären Erhebungen gegen die sich als revolutionär bzw. ‚antifaschistisch’ verkaufende Konterrevolution chancenlos waren (Berlin, Warschau Budapest), während die Konterrevolution in der Revolution immer wieder zum Erfolg geführt hat (Rußland, China, Kuba etc.);

  • daß es kein Gegenmittel gegen pseudorevolutionäre Gesellschaftssysteme gibt, außer daß sie unter ihrer ganzen Untragbarkeit und Unerträglichkeit, zwar verstärkt durch den Druck der Straße, aber eigentlich eher von selbst zusammenbrechen, um sich in den Kapitalismus, wie wir ihn alle kennen, zurückzuverwandeln;

  • daß die Massenbasis der Konterrevolution in der Revolution (Stalin) und der ‚Revolution’ in der Konterrevolution (Hitler) bestehend aus Opportunismus und Quietismus, unter der Fuchtel universeller Polizeiregimes, sich erst gegen diese erhebt, wenn deren Zusammenbruch als unmittelbar bevorstehend erkennbar ist;

  • daß alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, die aber bisher von den Klassenkämpfern, die wenigen Ausnahmen bestätigen die Regel, zwischenzeitlich für beendet erklärt und bis auf weiteres stillgestellt wurde.

Alle 80 Jahre scheinen die Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, von einer schweren Depression heimgesucht zu werden, in der die wiederkehrende konjunkturelle Wellenbewegung von Aufschwung, Hochkonjunktur, Niedergang und Krise sich zu einem finalen Tsunami zusammenzieht und riesige ökonomische und gesellschaftliche Verwüstungen anrichtet. In solchen Ereignissen kann dem Kapitalismus auf den Grund geschaut werden, woraus sich die Frage erhebt, ob Bewegungen wie diese, die ja anders als die ozeanischen von Menschen erzeugt werden, sich im Abstand eines Menschenalters unabwendbar wiederholen müssen?


Dies wäre nur zu verhindern, wenn z.B. Kapital und Lohnarbeit durch die »gesellschaftliche Produktion« abgelöst würden, wenn die menschliche Arbeitskraft aufhörte, eine Ware zu sein, usw. Das Problem ist nur, daß sich allen Versuchen der Lohnarbeit verrichtenden Klasse, ihre eigenen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen, immer wieder ein vielfältig organisierter und tief gestaffelter Apparat professioneller ‚Klassenkämpfer’ an die Seite stellt, um ihr jede eigene Initiative mit freundlicher Bestimmtheit abzunehmen. Es sind daher nur wenige Beispiele überliefert, die bezeugen, daß die Lohnarbeiter ihre eigenen Klassenkämpfe selbst in die Hand genommen haben. All die hilfreichen Gewerkschaftsapparate, Parteien, Verbände, Kirchen u.a.m sorgen als Abteilungen der alten oder neuen Bourgeoisie lediglich dafür, die Lohnarbeiter zu domestizieren und sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen zu lassen, sich um ihre ureigensten Angelegenheiten und das heißt um ihre eigene Klasse und deren Zukunft selbst zu kümmern.


Angesichts der Weltwirtschaftskrise, die ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht hat, ist das eine höchst mißliche Situation.


In einer ähnlichen Situation (zwei globale Depressionen zurückgerechnet) haben Karl Marx und Friedrich Engels 1846 in Brüssel ein Kommunistisches Korrespondenten Komitee gegründet, dessen Aufgabe darin bestand, unter den damaligen Arbeitern (die in ihrer Mehrzahl Handwerker waren, weil Deutschland erst am Beginn der ‚Industriellen Revolution’ stand) den Sinn für die eigene Klassenorganisation zu wecken und zu stärken. Dazu sollte ein Korrespondentennetz organisiert werde, zu dessen Aufgabe es gehörte, von vergleichbaren Organisationsversuchen und Aktionen der Lohnarbeiter zu berichten und diese zu analysieren.


Da die Welt heute vielfältig vernetzt ist, müßte es eigentlich rein technisch nicht schwer fallen, ein solches Netz zu organisieren. Auch ist Internationalität der weltweiten Klassenkämpfe schon längst nicht mehr ein nur reines Ideal und rein abstrakte Forderung, sondern eine alltägliche mit der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Ausbreitung auf dem Weltmarkt einhergehende Realität. Gerade in den Ländern, wo pseudorevolutionäre Regimes, indem sie das Internet sperren, ihre Privilegien gegen die Masse der arbeitenden Bevölkerung verteidigen usw., zeigt sich dessen Gefährlichkeit als Kommunikationsmittel der widerständigen Bevölkerung.


Wie es so schön heißt: aller Anfang ist schwer oder: der erste Schritt auf dem langen Marsch ist der schwerste. Aber ein Anfang muß gemacht werden.


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Anhang 4 »

Ulrich Knaudt:

Offener Brief an Roberto Fineschi

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Anhang 3 »

Vera Sassulitsch an Karl Marx

(Das französische Original und eigene Übersetzung)

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Anhang 2 »

Biographische Angaben zu  Evgenii Alexejewitsch Preobrashenskij (1886-1937)

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Anhang 1 ARBEITSPAPIER »

Arbeitspapier:

Das Wertgesetz und der Sozialismus im 20. Jahrhundert

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ZUSAMMENFASSUNG »

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NACHTRAG »

DEBATTE 3 Nachtrag als PDF-Datei

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VORTRAG Das Wertgesetz und der Sozialismus des 20. Jahrhunderts (Ulrich Knaudt) »

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PDF-Dateien

DEBATTE 3 Wertgesetz und Sozialismus Vortrag
DEBATTE 3 Zusammenfassung
DEBATTE 3 Nachtrag
DEBATTE 3 Anhang 1
DEBATTE 3 Anhang 2
DEBATTE 3 Anhang 3
DEBATTE 3 Anhang 4

Inhalt

Das Marxsche Kapital wurde letztlich für die unmittelbaren Produzenten geschrieben und wird diesen zur Verfügung stehen, wenn sie früher oder später die gesellschaftliche Produktion selbst in die Hand nehmen; denn es enthält entscheidende Hinweise darauf, wie Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, im Prinzip funktionieren und sich historisch entwickelt haben.

In Evgenii Preobraženskijs Buch aus den 20er Jahren Die neue Ökonomik wird ein solcher Versuch theoretisch durchgespielt, der deshalb von größtem Interesse ist, weil sich darin die Borniertheit, mit der die Bolschewiki an der gesellschaftlichen Produktion gescheitert sind, getreulich widerspiegelt. Denn im Zentrum seines Buches steht die Frage, wie für die industriell zu entwickelnde Sowjet-Wirtschaft im Ringen mit und im Kampf gegen die Bauern, vom Autor als »ursprüngliche sozialistische Akkumulation« bezeichnet, die Voraussetzungen für die Akkumulation in der sowjetischen Industrie – ebenfalls auf Kosten der Bauern – geschaffen werden können. Dabei bleibt die andere mögliche Überlegung, wie dieser Krieg gegen die Bauern durch Kooperation mit ihnen hätte vermieden werden können, von vornherein außer Betracht.

Im 24. Kapitel des Ersten Bandes des Kapital wird der Prozeß der Enteignung der westeuropäischen Bauern durch Kapitalisten und kapitalistische Grundbesitzer von Marx analysiert. Nachdem diese gestürzt wurden, muß die Sowjetmacht den Kampf gegen das Wertgesetz durchführen, das Preobraženskij in der (a)sozialen Existenz des russischen Bauern verkörpert sieht. Diese Einschätzung der Bauern(frage) befindet sich im Widerspruch zu den Marxschen Briefentwürfen an Vera Zasulič, in denen die russische Dorfgemeinde zum Kernelement der sozialistischen Entwicklung in Rußland erklärt wird. Geht man von dieser Analyse aus, steht Preobraženskijs Vorhaben von vornherein vor unlösbaren Problemen…

Die Untersuchung über das Wertgesetz und den Sozialismus ist in 4 Abschnitte gegliedert:

  • die Entwicklung der russischen Dorfgemeinde (commune rurale) vor 1917
  • der Krieg gegen das Wertgesetz als Krieg gegen die russische Dorfgemeinde
  • die russische Dorfgemeinde als Kernelement des Sozialismus in Rußland
  • die Behandlung des Widerspruchs zwischen Wertgesetz und Sozialismus durch die Bolschewiki in den 20er Jahren.

 

1. Wie von Orlando Figes in seinem Buch Die Tragödie eines Volkes eindringlich beschrieben, gelang den Bolschewiki im Bürgerkrieg (1918-1921) gegen die Weißen nur in Ausnahmefällen die Bauern auf ihre Seite zu bringen. Hauptgrund war die Fortsetzung der Requisitionen, die sich kaum von denen des Zarentums im 1. Weltkrieg unterschieden oder sogar noch brutaler und radikaler durchgeführt wurden. Das Ergebnis war die große Hungersnot 1921/22. Daher hatte die Reaktion gestützt auf die Kulaken im russischen Dorf leichtes Spiel, den Bauern das Gesetz des Handelns zu diktieren.

2. Preobraženskijs Wirtschaftskonzept ist eine Fortsetzung der Politik der Bolschewiki gegenüber den Bauern, die den beschönigenden Namen Kriegskommunismus erhielt; nur, daß der Raub an den Bauern danach nicht mehr durch außerökonomische Gewalt, sondern mithilfe ökonomischer ‚Hebel‘ erfolgen sollte. Als Repräsentanten des Wertgesetzes vertreten nach Preobraženskij die Bauern, die auf Kosten der Maschinen im Sozialismus fortexistieren, das mittelalterliche Asiatentum und die Barbarei; reaktionäre Überbleibsel, die durch die Ökonomie des ungleichen Tausches aus der Sowjetwirtschaft eliminiert werden sollen. Dieses Konzept erweist sich als Vorbote der als Zweite Revolution euphemistisch bezeichneten wenige Jahre später stattfindenden Zwangskollektivierung der Bauern durch Stalin.

Wie das Instrument des ungleichen Tausches funktioniert, das, wie sich sehr bald zeigen sollte, zwangsläufig zur Verelendung der Bauernbevölkerung führen mußte, wird in Preobraženskijs Buch, in all seinen Konsequenzen, zu denen der Autor allerdings unfreiwillig gelangt, vorgeführt. Seine Behauptung, mit der Zerschlagung des Wertgesetzes höre auch die Arbeitskraft auf, eine Ware zu sein, ist, von einem zynischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus zutreffend, weil die Bauern nun nicht einmal mehr ihre Arbeitskraft, sondern nur noch sich selbst in die Schuldknechtschaft der Kulaken und Großbauern (die, wenn es nach Bucharin ging, sich so schnell als möglich hätten bereichern sollen) verkaufen können, um das Saatgetreide für das nächste Frühjahr zu erbetteln.

Preobraženskij setzt alles auf die eine Karte der Entwicklung der Großíndustrie, die, sobald sie erst einmal akkumulieren würde, auch die nötigen Sickereffekte erzeugen werde, die schließlich im russischen Dorf hätten ankommen müssen. Die angebliche Konfrontation des »16. bis 18. Jahrhunderts mit den höchsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts«, die durch die Liquidierung des Wertgesetzes zugunsten des 20. Jahrhunderts entschieden werden soll, erweist sich als Scheinwiderspruch, da diese Konfrontation nur durch die schrittweise Verwandlung des wiedererstarkten archaischen Kommunismus der Dorfgemeinde (in der das Wertgesetz bisher nur an der Oberfläche wirksam gewesen war) in eine moderne genossenschaftliche Produktion unter der Diktatur des Proletariats überwunden werden konnte.

3. Die Motive, die Marx zu den Briefentwürfen seiner Antwort an Vera Zasulič veranlaßt haben, sind zunächst äußerst rätselhaft. Es könnte vermutet werden, daß Marx nach der Niederschlagung der Pariser Commune von der russischen commune rurale das Signal für eine Revolution in Westeuropa und in Rußland erwartete, wobei »das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung« hätte werden können. Diese Überlegung gründet aber auf einer Lesart des 24. Kapitels des Kapital, die sich im Gegensatz zu derjenigen Preobraženskijs gerade nicht auf die russische Dorfgemeinde anwenden läßt. In Rußland habe, schreibt Marx in seiner Antwort an Zasulič, anders als im 24. Kapitel beschrieben, keine ursprüngliche Akkumulation durch Enteignung von Privateigentümern durch Privateigentümer stattgefunden. In Rußland soll vielmehr das Gemeineigentum in Privateigentum umgewandelt werden. Auf der Grundlage ihres Gemeineigentums könne daher die commune rurale zum »Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands« werden.

Anstatt sich dieses Stützpunktes zu bedienen, wurde die seit der Februarrevolution 1917 aus den Resten der russischen Dorfgemeinde allmählich wieder aufgeblühte commune rurale von den Bolschewiki zerschlagen und statt dessen die Errichtung von Produktionsgenossenschaften dekretiert, die, weil sie sich hauptsächlich aus vom Hunger auf das Land getriebenen Angehörigen der städtischen Mittelschichten rekrutierten, sehr schnell wieder eingingen. In den Wäldern an der Mittleren Wolga und in Kronstadt mußte schließlich die Diktatur des Proletariats oder was davon übrigblieb vor dem Proletariat gerettet werden.

4. Preobraženski gerät aber nicht nur mit Marx und der russischen Dorfgemeinde, sondern zu guter Letzt mit der Marxschen Kritik am Gothaer Programm in Konflikt, wenn er zwischen dem Kapitalismus und der ersten Stufe des Kommunismus eine weitere Zwischenstufe meint einfügen zu müssen, die als nicht-mehr-kapitalistisch, aber noch-nicht-sozialistisch zu bezeichnen wäre. Nun hat Marx in jener Kritik… für die erste Stufe des Kommunismus die Überlegung angestellt, daß gerade weil die Arbeitskraft keine Ware mehr ist, dort die Verteilung der genossenschaftlich produzierten Konsumtionsmittel unter den Genossen entsprechend der geleisteten Arbeitsmenge nach dem Äquivalenzprinzip (des Warentauschs) erfolgen werde.

Dieses Paradox weiß Lenin nicht anders als unter Zuhilfenahme der alttestamentarischen Formel zu beseitigen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, woraus folgt, daß die Verteilung der Konsumtionsmittel unter den Genossen nicht nach dem Äquivalenzprinzip selbsttätig geregelt werden kann, sondern der allgewaltige Staatsapparat diese Aufgabe übernehmen muß, was der Leninschen Deutung der Pariser Commune in Staat und Revolution als »Übergang vom Staat zum Nichtstaat« direkt widerspricht.

Der Weg, der, wenn vielleicht auch ungewollt, von Preobraženskij zu Stalin geführt hat, wird, immer wieder eingeschlagen werden, solange über die Differenz der Beziehung Preobraženskijs, Bucharins und auch Lenins zu Marx keine hinreichende Klarheit geschaffen wird. Gerade das müßte die eigentliche Bestimmung der ‚neuen Marx-Lektüre’ ausmachen und darin sollte die revolutionäre Lesart des Marxschen Kapital bestehen: in der kritischen Einübung seiner Verwendungsmöglichkeit als ‚Blaupause’ für den Kommunismus.

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Anhang »

Aus einem unbeantworteten Brief

Gekürzte und durch Anmerkungen ergänzte Fassung eines unbeantworteten Briefes

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Marx und ‚Marxismus’ in Deutschland – An die Marx-Gesellschaft »

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Inhalt

Die aktuellen Weltereignisse (Welt-Banken-Krise und Georgien-Krieg) und die aus diesem Anlaß vorgeschlagene neue Lesart des Marxschen Kapital bestätigen die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie wie niemals zuvor. Das befürchten sogar die Kommentatoren des Zentralorgans der deutschen Bourgeoisie, der FAZ.

Nach der Neuformulierung der russischen Außenpolitik in den ausgetretenen Pfaden der auswärtigen Politik des alten Zarentums ist diese in ihr welt-hegemonistisches Fahrwasser zurückgekehrt; mit dem Unterschied, daß Rußland als ‚Schwellenland‘, das zu seiner alten Weltmachtstellung zurückkehren möchte, heute nur noch einer unter vielen Global Players ist. Dementsprechend hat die deutsche Linke mit großer Zurückhaltung, wenn nicht sogar großem Verständnis auf die De-facto-Annexion von Teilen Georgiens durch die russische Armee im sog. Augustkrieg reagiert. Diejenigen, die ‚die Deutschen‘ vor den üblichen anti-russischen Reflexen meinten warnen zu müssen, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie durch ihre einseitige Deutung der Ereignisse nicht selbst ähnliche großmacht-chauvinistische Reflexe entwickeln.

Marx ist von vornherein von der Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise ausgegangen. Das macht diesen wissenschaftlichen Torso zum kritischen Hauptbuch des sich gegenwärtig in einer globalen Krise befindlichen Weltkapitals. Wie nie zuvor bietet sich mit dem vorliegenden umfangreichen Anschauungsmaterial die Gelegenheit, die von Marx geplanten, aber nicht mehr geschriebenen Bände des Kapital über den Staat und den Weltmarkt fortzuschreiben. Mit seinem Werk hat Marx die wissenschaftliche Grundlage dafür gelegt, dem provinziellen ‚Arbeiterismus’ eine international organisierte Partei der Arbeiterklasse gegenüberzustellen. Deren Kampf wird laut Manifest der Kommunistischen Partei zwar »nicht dem Inhalt«, aber »der Form nach zunächst ein nationaler …des Proletariats gegen die Bourgeoisie« sein, während die Arbeiterparteien der Marxschen Analyse der Beschaffenheit des Weltmarktes entsprechend sich von vornherein international organisieren, um zu vermeiden (und zwar genau entgegengesetzt zu den An- und Absichten der heutigen Linken), daß ihr Internationalismus dem nationalen Terrain des Klassenkampfes abstrakt entgegengesetzt wird − und umgekehrt.

Daran gemessen war Stalins ‚Sozialismus in einem Land’ ein ebenso hirnrissiges Konzept wie die in der ‚Anti-Globalisierungsbewegung’ gepredigte utopische ‚Staatenlosigkeit’ ihrer (autonomen) angeblich revolutionären Subjekte. Das Welt-Proletariat wiederum befindet sich momentan in einem Zustand, in dem man es nicht einmal als eine Klasse an sich oder bestenfalls als ein rein theoretisches Proletariat wird bezeichnen können.

Jedenfalls wurde Das Kapital nicht nur für Philosophen und Ökonomen geschrieben, sondern primär für diejenigen, die, nachdem sie sich von den Fesseln der kapitalistischen Produktionsweise befreit haben werden, das Kapital für ihre gesellschaftliche Produktion als negative Blaupause benötigen, und die sich daher schon heute darin üben müssen, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie gegen den Strich zu lesen (eine Übung, die etwas anderes beinhaltet als eine reine Teewasser-Opposition gegen die bürgerliche Gewerkschaftspolitik!) Das Kapital enthält als negatives Prinzip, das in der Kritik der Verwertung des Werts enthalten ist, die ungeschriebene Lesart, wie die kapitalistische in eine »gesellschaftlich(e) Produktion« umzuwandeln sein wird. Darüber hinaus liefern die historisch gescheiterten revolutionären (und konterrevolutionären) Versuche, die darauf abzielten, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie praktisch werden zu lassen (oder dies zu verhindern), ausreichendes Anschauungsmaterial dazu, welche Sackgassen und Irrwege die unmittelbaren Produzenten dabei in Zukunft vermeiden sollten.

Der Aufruf der Partei Die Linke, der darin gipfelte, den Marxismus an die Hochschule zurückzubringen, schlägt dem Anspruch an eine den heutigen krisenhaften Verhältnissen der kapitalistischen Produktionsweise angemessene Marx-Lektüre und der Forderung nach einer wissenschaftlichen Aneignung der Marxschen Texte direkt ins Gesicht.

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Anhang 4 »

Zusammenfassung der Diskussion

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Anhang 3 »

J.W. Stalin:
Über Engels Artikel ‚Die auswärtige Politik des russischen Zarentums’

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Mit Zusendung des Artikels von Engels ‚Die auswärtige Politik des russischen Zarentums’ an die Mitglieder des Politbüros des ZK halte ich es für erforderlich, diesem folgende Bemerkungen voranzuschicken.

Genosse Adoratski schlägt vor, in der nächsten, dem zwanzigsten Jahrestag des imperialistischen Weltkriegs gewidmeten Nummer des Bolschewik den bekannten im Jahre 1890 zum ersten Mal im Ausland veröffentlichten Artikel von Engels ‚Die auswärtige Politik des russischen Zarentums’ abzudrucken. Ich würde es für durchaus normal halten, wenn man vorschlüge, diesen Aufsatz in einem Sammelband der Schriften von Engels oder in einer der historischen Zeitschriften abzudrucken. Man schlägt uns aber vor, ihn in unserer Kampfzeitschrift, im Bolschewik in einer Nummer abzudrucken, die dem zwanzigsten Jahrestag des imperialistischen Weltkriegs gewidmet ist. Folglich ist man der Meinung, daß dieser Artikel als ein richtunggebender oder jedenfalls als ein Aufsatz zu betrachten sei, der für unsere Parteiarbeiter vom Standpunkt der Klärung der Probleme des Imperialismus und der imperialistischen Kriege außerordentlich lehrreich sei. Ungeachtet seiner Vorzüge hat jedoch Engels’ Artikel, wie aus seinem Inhalt ersichtlich ist, diese Qualitäten leider nicht. Mehr noch, er weist eine Reihe von Mängeln auf, die den Leser, wenn der Artikel ohne kritische Bemerkungen veröffentlicht wird, verwirren können.

Darum halte ich es für unzweckmäßig, den Artikel von Engels in der nächsten Nummer des Bolschewik zu veröffentlichen.

Aber um welche Mängel handelt sich?

1. Nachdem Engels die expansionistische Politik des russischen Zarentums kritisiert und das Verabscheuenswürdige dieser Politik gebührend gewürdigt hat, erklärt er diese nicht nur mit dem ‚Drang’ einer kriegerisch-feudalistisch-kaufmännischen Elite Rußlands nach Zugängen zum Meer, nach Seehäfen, nach der Erweiterung des Außenhandels und der Einnahme strategischer Stützpunkte, sondern vor allem damit, daß angeblich an der Spitze der russischen Außenpolitik eine äußerst einflußreiche und talentierte Clique ausländischer Abenteurer stehe, die aus unerfindlichen Gründen immer und überall mit Erfolg operiert, der es auf wundersame Weise gelingt, jedes beliebige Hindernis auf dem Weg zu ihren abenteuerlichen Zielen zu beseitigen und alle europäischen Regierungen geschickt an der Nase herumzuführen und die es schließlich erreicht hat, daß Rußland in militärischer Hinsicht zum mächtigsten Staat geworden ist.

Eine solche Behandlung dieser Frage mag aus dem Mund von Engels mehr als unwahrscheinlich erscheinen, aber sie ist leider eine Tatsache.

Hier die entsprechenden Zitate aus dem Aufsatz von Engels:

»Die auswärtige Politik ist unbedingt die Seite, wo das Zarentum stark, sehr stark ist. Die russische Diplomatie bildet gewissermaßen einen modernen Jesuitenorden, mächtig genug, im Notfall selbst zarische Launen zu überwinden und der Korruption in seinem eignen Innern Herr zu werden, um sie desto reichlicher nach außen auszustreuen; einen Jesuitenorden, rekrutiert ursprünglich und vorzugsweise aus Fremden, Korsen wie Pozzo di Borgo, Deutschen wie Nesselrode, Ostseedeutschen wie Lieven, wie seine Stifterin Katharina II. eine Fremde war.

Bis jetzt hat nur ein Vollrusse, Gortschakow, die höchste Stelle in diesem Orden bekleidet, und sein Nachfolger, von Giers, trägt wieder fremden Namen. Es ist diese ursprünglich aus fremden Abenteurern rekrutierte geheime Gesellschaft, die das Russische Reich auf seine gegenwärtige Machtfülle gehoben hat. Mit eiserner Ausdauer, unverrückt den Blick auf das Ziel geheftet, vor keinem Treubruch, keinem Verrat, keinem Meuchelmord, keiner Kriecherei zurückschreckend, Bestechungsgelder mit vollen Händen austeilend, durch keinen Sieg übermütig, durch keine Niederlage verzagt gemacht, über die Leichen von Millionen Soldaten und wenigstens eines Zaren hinweg, hat diese talentvolle Bande mehr als alle russischen Armeen dazu beigetragen, die Grenzen Rußlands vom Dnepr und der Dwina bis über die Weichsel, bis an den Pruth, die Donau und das Schwarze Meer, vom Don und der Wolga bis über den Kaukasus und zu den Quellgebieten des Oxus und Jaxartes vorzuschieben, Rußland groß, gewaltig, gefürchtet zu machen und ihm den Weg zur Weltherrschaft zu eröffnen.«.

Man könnte meinen, daß in der Geschichte Rußlands – in seiner Außen-Geschichte – die Diplomatie alles, die Zaren, Feudalherren, Kaufleute und all die anderen sozialen Gruppen dagegen – nichts oder so gut wie gar nichts bedeutet haben.

Man könnte meinen, daß, wenn an der Spitze der russischen Außenpolitik keine ausländischen Abenteurer wie Nesselrode oder Giers gestanden hätten, sondern russische Abenteurer wie Gortschakow und andere, daß dann auch die russische Außenpolitik einen anderen Weg eingeschlagen hätte.

Ich spreche schon gar nicht davon, daß diese expansionistische Politik mit all ihrer Verabscheuenswürdigkeit und all ihrem Schmutz keineswegs ein Monopol der russischen Zaren darstellte. Jeder weiß, daß diese expansionistische Politik – in geringerem, wenn nicht größerem Umfang – Königen und Diplomaten aller europäischen Staaten zu eigen war, einschließlich der bürgerlichen Ausgabe eines Kaisers wie Napoleon, der, ungeachtet seiner nicht-kaiserlichen Abstammung in seiner Außenpolitik Intrigen, Betrug, Verrat, Schmeichelei, Greueltaten, Bestechung, Mord, Brandstiftung problemlos praktiziert hat.

Nun ja, es konnte auch nicht anders sein.

Offenbar hat sich Engels in seinem Pamphlet gegen das russische Zarentum (und der Artikel von Engels – ist ein gutes polemisches Pamphlet) ein wenig hinreißen lassen und für einen winzigen Augenblick einige grundlegende, ihm aber wohlbekannte Dinge vergessen.]

2. Engels charakterisiert die Lage in Europa und legt die Ursachen und Perspektiven des herannahenden Weltkriegs dar; er schreibt:

»Die heutige europäische Lage wird beherrscht von drei Tatsachen: 1. der Annexion von Elsaß-Lothringen an Deutschland, 2. dem Drang des zaristischen Rußlands nach Konstantinopel, 3. dem in allen Ländern immer heißer entbrennenden Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie, dessen Thermometer die überall im Aufschwung begriffene sozialistische Bewegung ist.

Die ersten beiden bedingen die heutige Gruppierung Europas in zwei große Heerlager. Die deutsche Annexion macht Frankreich zum Bundesgenossen von Rußland gegen Deutschland, die zarische Bedrohung Konstantinopels macht Österreich, selbst Italien zu Bundesgenossen Deutschlands. Beide Lager rüsten für einen Entscheidungskampf, für einen Krieg, wie ihn die Welt noch keinen gesehn, wo zehn bis fünfzehn Millionen Kämpfer einander in Waffen gegenüberstehen werden. Nur zwei Umstände haben bis heute den Ausbruch dieses furchtbaren Krieges verhindert: erstens der unerhört rasche Fortschritt der Waffentechnik, der jedes neuerfundene Gewehrmodell durch neue Erfindungen überflügelt, ehe es nur bei einer Armee eingeführt werden kann, und zweitens die absolute Unberechenbarkeit der Chancen, die totale Ungewißheit, wer aus diesem Riesenkampf schließlich als Sieger hervorgehen wird.

Diese ganze Gefahr eines Weltkriegs verschwindet an dem Tag, wo eine Wendung der Dinge in Rußland dem russischen Volk erlaubt, durch die traditionelle Eroberungspolitik seiner Zaren einen dicken Strich zu machen und sich mit seinen eignen, aufs äußerste gefährdeten innern Lebensinteressen zu beschäftigen, statt mit Weltherrschaftsphantasien.

…daß eine russische Nationalversammlung, um nur die dringendsten inneren Schwierigkeiten zu überwinden, sehr bald allem Drängen nach neuen Eroberungen einen entscheidenden Riegel vorschieben muß.

Europa gleitet wie auf einer schiefen Ebene mit wachsender Geschwindigkeit abwärts, dem Abgrund des Weltkriegs von bisher unerhörter Ausdehnung und Heftigkeit entgegen. Nur eins kann hier Halt gebieten: ein Systemwechsel in Rußland. Daß er binnen wenig Jahren kommen muß, daran kann kein Zweifel sein.«

Man kann nicht umhin zu bemerken, daß in dieser Charakteristik der Lage Europas und in der Aufzählung der Ursachen, die zum Weltkrieg führen, ein wichtiges Moment außer acht gelassen wurde, das dann eine entscheidende Rolle gespielt hat, und zwar das Moment des imperialistischen Kampfes um Kolonien, um Absatzmärkte, um Rohstoffquellen, das schon damals von sehr ernster Bedeutung war; es wurde außer acht gelassen die Rolle Englands als eines Faktors des kommenden Weltkriegs, das Moment der Widersprüche zwischen Deutschland und England, der Widersprüche, die schon damals von ernster Bedeutung waren und dann eine fast bestimmende Rolle in der Entstehung und Entwicklung des Weltkriegs spielten.

Ich glaube, daß dieses Versäumnis den Hauptmangel des Engelsschen Artikels darstellt.

Aus diesem Mangel entspringen die übrigen Mängel, unter denen die folgenden hervorzuheben nötig wäre:

a) Die Überschätzung der Rolle des Dranges des zaristischen Rußlands nach Konstantinopel im Heranreifen des Weltkriegs. Wohl hat Engels als Kriegsfaktor anfangs die Annexion von Elsaß-Lothringen an Deutschland an die erste Stelle gesetzt, aber dann schiebt er dieses Moment in den Hintergrund und die Eroberungsbestrebungen des russischen Zarismus in den Vordergrund, wobei er behauptet, daß die »ganze Gefahr eines Weltkriegs an dem Tag verschwindet, wo eine Wendung der Dinge in Rußland dem russischen Volk erlaubt, durch die traditionelle Eroberungspolitik seiner Zaren einen dicken Strich zu machen«.

Das ist natürlich eine Übertreibung.

b) Die Überschätzung der Rolle der bürgerlichen Revolution in Rußland, die Rolle der »russischen Nationalversammlung« (bürgerliches Parlament) bei der Verhütung des herannahenden Weltkrieges. Engels behauptet, der Sturz des Zarismus sei das einzige Mittel zur Verhütung des Weltkriegs. Das ist eine offensichtliche Übertreibung. Eine neue, | bürgerliche Ordnung

in Rußland mit ihrer »Nationalversammlung« hätte den Krieg schon deswegen nicht verhüten können, weil die Haupttriebfedern des Krieges in der Ebene des imperialistischen Kampfes zwischen den entscheidenden imperialistischen Mächten lagen. Es handelt sich darum, daß seit der Niederlage Rußlands in der Krim (in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) die selbständige Rolle des Zarismus auf dem Gebiet der Außenpolitik Europas bedeutend zu sinken begann, und kurz vor dem imperialistischen Weltkrieg spielte das zaristische Rußland im wesentlichen die Rolle einer Hilfsreserve für die Hauptmächte Europas.

c) Die Überschätzung der Rolle der zaristischen Macht als der »letzten starken Festung der gesamteuropäischen Reaktion« (Engels’ Worte). Daß die zaristische Macht in Rußland eine starke Festung der gesamteuropäischen (und auch der asiatischen) Reaktion war – darüber kann es keinen Zweifel geben. Aber daß sie die letzte Festung dieser Reaktion war – das ist mit Verlaub zu bezweifeln.

Es ist notwendig festzustellen, daß diese Mängel des Engelsschen Artikels nicht nur „historischen Wert“ haben. Sie haben auch eine sehr wichtige praktische Bedeutung oder mußten sie haben. In der Tat: Wenn der imperialistische Kampf um Kolonien und Einflußsphären als Faktor des herannahenden Weltkriegs außer acht gelassen wird, wenn die imperialistischen Widersprüche zwischen England und Deutschland ebenfalls außer acht gelassen werden, wenn die Annexion Elsaß-Lothringens an Deutschland als Kriegsfaktor in den Hintergrund, der Drang des russischen Zarismus nach Konstantinopel als der wichtigste und sogar bestimmendste Kriegsfaktor aber in den Vordergrund geschoben wird, wenn schließlich der russische Zarismus die letzte Stütze der gesamteuropäischen Reaktion ist – ist es dann nicht klar, daß ein Krieg – sagen wir – des bürgerlichen Deutschlands gegen das zaristische Rußland kein imperialistischer, kein räuberischer, kein volksfeindlicher Krieg, sondern ein Befreiungskrieg oder fast ein Befreiungskrieg ist?

Es ist kaum zu bezweifeln, daß ein analoger Gedankengang den Sündenfall der deutschen Sozialdemokratie am 4. August erleichtern mußte, als sie beschloß, für die Kriegskredite zu stimmen und die Losung der Verteidigung des bürgerlichen Vaterlandes gegen das zaristische Rußland, gegen die „russische Barbarei“ usw. verkündete.

Es ist charakteristisch, daß Engels in seinen 1891 geschriebenen Briefen an Bebel (ein Jahr nach der Veröffentlichung seines Artikels), in | denen er die Perspektiven des herannahenden Krieges behandelt, direkt sagt, daß »der Sieg Deutschlands also der Sieg der Revolution ist«, daß er schreibt, »wenn Rußland Krieg anfängt, druf auf die Russen und ihre Bundesgenossen, wer sie auch seien«.

Es ist verständlich, daß bei einem solchen Gedankengang kein Raum ist für den revolutionären Defätismus, für die Leninsche Politik der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.

So steht es mit den Mängeln des Engelsschen Artikels.

Offenbar war Engels von dem damals (1890/91) sich anbahnenden französisch-russischen Bündnis, das seine Spitze gegen die österreichisch-deutsche Koalition richtete, beunruhigt und steckte sich das Ziel, in seinem Artikel die Außenpolitik des russischen Zarismus zu attackieren und der öffentlichen Meinung Europas und vor allem Englands jedes Vertrauen zu ihr zu nehmen. Aber bei der Verfolgung dieses Ziels ließ er eine Reihe anderer wichtiger und sogar bestimmender Momente außer acht, was eine Einseitigkeit des Artikels zur Folge hatte. Lohnt es sich nach all dem Gesagten, Engels’ Artikel in unserem Kampforgan, dem Bolschewik, als einen richtunggebenden oder jedenfalls höchst lehrreichen Artikel abzudrucken? Denn es ist doch klar, daß eine Veröffentlichung im Bolschewik bedeuten würde, ihn stillschweigend gerade als solchen zu empfehlen.

Ich denke, es lohnt sich nicht.

19. Juli 1934

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