Kommunistische Korrespondenz 2017 »

Die KORRESPONDENZ ZWISCHEN DEN CCBLOGGERN (1) konzentriert sich auf die VOR- UND NACHBEREITUNG DES ARBEITSTREFFENS (2) im Sommer 2017 und das von dort aus inzwischen erfolgreich in die Tat umgesetzte gemeinsame elektronische Publikationsprojekt COMMUNIST CORRESPONDENCE BLOG (3). Hinzu kommt der schon seit längerem stattfindende (KOMMUNISTISCHE) GEDANKENAUSTAUSCH (5).

Im Mittelpunkt des Arbeitstreffens hatte der Marxismus und der Antisemitismus in ihrem Verhältnis zueinander gestanden. Der Marxismus als (künftiges) Herrschaftsinstrument der aus den Resten der untergegangenen SED hervorgekrochenen Neuen Bourgeoisie und der Antisemitismus der Alten Bourgeoisie, von dessen Geruch sie sich durch den inzwischen von ihr übernommenen penetranten kompensatorischen Philosemitismus zu befreien sucht, um ihre einst gemeinsam mit den Nationalsozialisten beschlossene und in ihrem Namen von diesen betriebene Auslöschung der europäischen Staatsbürger ‚jüdischer Herkunft‘ symbolhaft ungeschehen zu machen. Und mit dem Ziel, im Konkurrenzkampf mit den heutigen Welthegemonialmächten ihre singuläre, rein moralische Welthegemonie als Spätgeburt des Wilsonischen World-War-One-Idealismus zu errichten. Dazwischen vegetiert die entweder an den Antisemitismus der Alten oder den Marxismus der Neuen Bourgeoisie gefesselte (historische) Arbeiterklasse politisch vor sich hin.

In der ÜBER DAS KAPITAL (4) zusammengestellten KORRESPONDENZ wird der Versuch unternommen, die nach der Auflösung der Marx-Gesellschaft in die Rosa Luxemburg Stiftung abgebrochene Diskussion mit verändertem Schwerpunkt fortzusetzen: der von Karl Marx in Lohnarbeit und Kapital und Lohn, Preis, Profit erhobenen Forderung nach Abschaffung des Lohnsystems als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse. Dieses steht und fällt, wie in KAPITAL Band I von ihm entwickelt wird, mit der Produktion des Mehrwerts durch die unmittelbaren Produzenten, wie Marx 1864 in einem Vortrag vor dem Generalrat der International Workmen‘s Association herausgearbeitet hat, der unter dem Titel Lohn, Preis, Profit erst in den 1890er Jahren ins Deutsche übersetzt wurde.

Als Haupthindernis für die Aneignung dieser Forderung durch die unmittelbaren Produzenten erweist sich der Ökonomismus, der Gewerkschaftsfunktionären und marxistischen Theoretikern der Neuen Bourgeoisie erlaubt, den Arbeiterklassen aller Länder die Realisierbarkeit eines Kapitalismus ohne Mehrwertproduktion vorzugaukeln, den sie ihnen als ‚Sozialismus‘ verkaufen. Dagegen ist in der von Marx in KAPITAL Band III erwähnten Fabrikkooperation, bei der die Arbeiterklasse das kooperative Management ‚ihrer‘ Fabrik übernimmt und dem Kapitalisten den Durchschnittsprofit zahlt, die Mehrwertproduktion zwar nicht beseitigt. Aber indem diese Arbeiter in den Kooperativfabriken selbst als Besitzer der Produktionsmittel aktiv werden, erfahren sie praktisch, wie Arbeit ohne Mehrwertproduktion betrieben werden könnte und eines Tages ohne das Mehrwert produzierende Kapital praktiziert werden wird. Neben den Gewerkschaften als Schulen des Klassenkampfs würden die Kooperativfabriken hierdurch zu Schulen des Kommunismus werden. Ihr Erfolg stünde im umgekehrten Verhältnis zu der in diesem sozialen Experiment zu gewinnenden Einsicht, daß mit dessen Durchführung die Aufhebung der Mehrwertproduktion zwar prinzipiell nicht möglich, diese aber für das Überleben der Menschheit unbedingt notwendig und auf die Dauer dringend erforderlich ist…

Die unterschiedliche Schreibweise in den Original-E-Mails wurde beibehalten und lediglich an den vorgegebenen Font angepaßt. Alle Zusätze und Kürzungen wurden in eckigen Klammern angezeigt; die meisten Fußnoten wurden nachträglich von mir hinzugefügt. Diese drücken nicht (unbedingt) die Ansicht des Schreibers der jeweiligen KORRESPONDENZ aus. Sie haben ergänzenden, erläuternden und teilweise kommentierenden Charakter. Die gesamte KOMMUNISTISCHE KORRESPONDENZ liegt zusammengefaßt in einem GESAMTTEXT vor.

Ulrich Knaudt, Bochum, den 04.02.2018.

 

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04.04.2017 »

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»Stellen wir uns doch einfach mal vor«, so versucht die junge Welt die kürzlich erfolgte Lahmlegung des venezolanischen Parlamentes durch das Oberste Gericht ihren Lesern nahezubringen, »das Bundesverfassungsgericht erklärt ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz für rechtswidrig – und Bundestagspräsident Norbert Lammert verkündet kackfrech, daß ihn dieses Urteil nicht interessiert, weil die Richter eh nur das tun, was Angela Merkel ihnen sagt. Die Folge wäre eine Staatskrise, denn die verschiedenen Gewalten müssen sich gegenseitig kontrollieren«. [1] »Müssen«? Im Fall Venezuelas wäre eher »müßten« angebracht! Denn dort kontrollieren die Drei Gewalten einander schon seit längerem nicht mehr »gegenseitig«. Spätestens nach dem Tod von Hugo Chávez, als Nicolás Maduro am 14.04.2013 mit mickrigen 50,78 % zu dessen Nachfolger gewählt worden war. Unter Maduro ist das Land (nach dem katastrophalen Scheitern von Chávez‘ bolivarianischem Sozialismus) inzwischen so heruntergewirtschaftet, daß nicht mehr nur die notorischen Chávez-Gegner aus der gehobenen städtischen Mittelschicht, sondern immer mehr Bewohner der Armenviertel und Studenten auf die Straße gehen und verlangen, daß die bei der Parlamentswahl im Dezember 2015 mit einer Zweidrittel-Mehrheit siegreiche bürgerliche Opposition endlich eine Regierung bilden und über die Absetzung Maduros eine Volksabstimmung stattfinden wird. Beide ‚Ansinnen‘ wurden bisher mit allerlei juristischen und verfassungsrechtlichen Tricks verhindert. Einer der letzten bestand in der Umbesetzung des Obersten Gerichts, dem Tribunal Superior de Justicia (TSJ) mit mehrheitlich Maduro treu ergebenen Verfassungsrichtern, die am 29. März das neue Parlament für abgesetzt und sich selbst zur Legislative erklärt hatten. [2]


Dazu von der jW der
»kackfrech(e)« Kommentar: daß nun mal »der Oberste Gerichtshof in Caracas das letzte Wort bei der Auslegung der Verfassung und bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der anderen Staatsgewalten« ausübe. Nur, daß sich hier das Oberste Gericht keineswegs darauf beschränkt hat, »das letzte Wort bei der Auslegung der Verfassung und bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der anderen Staatsgewalten« zu haben, sondern daß es die erste der drei Gewalten, das Parlament, für nicht mehr existent erklärt hat! In bürgerlichen Verfassungen ist es aber das Parlament, das einzig und allein als der oberste Souverän seine Auflösung bis zur Wahl eines neuen beschließt. Alles andere wäre ein Putsch! Also war dieser Beschluß des TSJ ein Putsch von Links, durchgeführt von Maduros handverlesenen linken Verfassungsrichtern!

Und wollten wir das von der jW konstruierte deutsche Fallbeispiel ernsthaft fortspinnen, hätte der deutsche Parlamentspräsident vielleicht seine Abwahl durch das Parlament riskiert, aber wohl kaum eine »Staatskrise« oder einen Putsch ausgelöst. Was an diesem Konstrukt aber besonders gruselig anmutet, ist, daß bereits die politisch abweichenden Ansichten eines Verfassungsorgans (wie die hypothetisch angenommene Äußerung Herrn Lammerts: daß »die Richter eh nur das tun, was Angela Merkel ihnen sagt«) bereits zu einem unlösbaren Verfassungskonflikt führen soll, während auf der anderen Seite die komplette Stillegung der Ersten durch die (regierungshörigen) Richter der Dritten Gewalt in Venezuela der jW offenbar keinerlei Probleme bereitet. Vielmehr wird daraus nicht weniger »kackfrech« geschlossen, daß »es völlig legitim« sei, »daß die Regierung alles rechtlich Mögliche [sic!] unternimmt, um ihren Sturz zu verhindern«. Gemeint ist die in bürgerlichen Demokratien übliche Ablösung der alten durch eine legal gewählte neue Regierung.


Daraus läßt sich nur der eine Schluß ziehen, daß von der Linken die demokratischen Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft offenbar nur solange eindringlich beschworen und vehement eingeklagt werden, wie sie noch die Regierungsgewalt mit der restlichen Bourgeoisie teilen muß. Sobald sie sich aber auf dem Weg zu der von ihr ersehnten Alleinherrschaft wähnt, werden schrittweise alle Hebel in Richtung ‚Sozialismus‘, ‚Antiimperialismus‘, ,Antikapitalismus‘ umgelegt, die politischen Gegner pauschal zu ‚Feinden der Demokratie‘ erklärt und deren Anführer mit Hilfe fragwürdiger juristischer Verfahren und polizeilicher Maßnahmen aus dem Verkehr gezogen. Eine Vorgehensweise, die in Stil und Ausgestaltung den Putinschen Demokratievorstellungen aufs Haar gleicht.[3] Dazu gehört auch, daß die von der Regierung geplanten eigenen politischen Ferkeleien vor ihrer Durchführung vorsorglich der Opposition in die Schuhe geschoben werden. So wird der venezolanischen Opposition von der jW unterstellt, diese bestehe nur dann auf der Einhaltung der Regeln der Demokratie,
»wenn es ihr in den Kram paßt«, und deshalb sei es albern, »nun genau diese Herrschaften zu Hütern der Verfassung und der Rechtsstaatlichkeit erklären zu wollen«. Als Hüter der Verfassung hätte eigentlich das Oberste Gericht agieren sollen, anstatt mit seinem Richterspruch das gesamte Parlament wegzuputschen! Daß der Putsch ausnahmsweise einmal nicht von Rechts, sondern von Links kam, könnte in Zukunft auch woanders Schule machen…!


Wer bisher als Leser der
jungen Welt und des Neuen Deutschland meinte, zwischen den marxistisch-leninistischen und den marxistischen SED-Nachfolgern wesentliche politische Unterschiede festzustellen, der muß bei der Lektüre des ND vom 1./2. April zur Kenntnis nehmen,[4] daß die Rechtfertigung des Putsches des Obersten Gerichts in Venezuela zwar zunächst in einer geschickt über drei Ecken argumentierenden Darstellung aufbereitet wird, aber, wenn es ums Eingemachte geht, das ND ebenso knallhart wie die jW den Putsch verteidigt. Ohne auf Maduro als Mastermind dieses Putsches einzugehen, wird zunächst auf die einzige Regierung innerhalb der OAS verwiesen (Bolivien), die sich (im Gegensatz zu den übrigen 14 Mitgliedern der Organisation Amerikanischer Staaten) laut ND nicht von dem Coup der Verfassungsrichter gegen das Parlament distanziert habe. Ein verdeckter Hinweis darauf, daß die ‚antiimperialistische‘ Solidarität eigentlich verlangt hätte, daß sich alle OAS-Staaten mit Maduro und seinem Verfassungsgericht solidarisch zeigen und im üblichen ‚antiimperialistischen‘ Jargon hätten erklären sollen, daß an den katastrophalen Verhältnissen in Venezuela allein ‚der Westen und in erster Linie die USA‘ schuld seien, usw. Nachdem es diese Hintertür genommen hat, kann das ND nun einträchtig und gemeinsam mit der jW Maduro die Treue schwören: so hat man auch im ND nichts mehr dagegen, wenn der bürgerliche Oppositionsführer mit den klassischen Werkzeugen der politischen Justiz in Anwendung der ‚Methode Putin‘ durch seine Verurteilung zu 14 Jahren Gefängnis aus dem Verkehr gezogen wird: Denn »Lopez hatte zu Protesten aufgerufen und keinen Hehl daraus gemacht, daß ihm am Sturz der Regierung mit allen Mitteln gelegen ist«.[5] Auch findet das ND nichts dabei, daß »die regierende sozialistische PSUV[6]« es sich nicht nehmen läßt, »kurz nach den verlorenen Parlamentswahlen im Dezember 2015 und kurz vor der Neukonstituierung des Parlaments die alte [parlamentarische] Mehrheit zur Neuberufung von 13 der 32 obersten Richter zu nutzen [sic!], bevor die Opposition mit der neuen Mehrheit zum propagierten „Systemwechsel“« ansetzen kann. (Man beachte: wenn ‚die Rechten‘ die Mehrheit im Parlament erobert haben, ist das schon der „Systemwechsel“!) Wie zuvor in der jW wird auch vom ND der Staatsstreich des TSJ entschieden gerechtfertigt: »Damit ist es nach dem Beschluß des obersten Gerichtes erst mal vorbei.« Um im ND dann mit offenen Bandagen im Stil der jW zur Sache zu gehen: »Die Regierung von Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro wehrt sich mit allen Mitteln [sic!?]. Der Beschluß des Obersten Gerichtes, das Parlament wegen Mißachtung von Beschlüssen [welcher Beschlüsse?] kaltzustellen, ist formal nachvollziehbar. [Nicht mal rein formell wäre er dies!] Auf dieser Wellenlänge setzt das ND seine Erwägungen zur Verteidigung des Putsches in einem Leitartikel fort:[7] Daß die Opposition [d.h. die neu gewählte Parlamentsmehrheit!] die Rechtsprechung des Obersten Gerichts negiert, ist in [!?] einer Gewaltenteilung inakzeptabel. [Wenn unter einem parlamentarischen System mit »Gewaltenteilung« eine Gewalt eine andere auflöst, spricht man gewöhnlich von einem Putsch! Unter Linken ‚Demokraten‘ offenbar nicht!? Aber es kommt noch einen Zahn härter:] Daß das oberste Gericht vor Neukonstituierung des Parlaments im Vorgriff auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit der Regierung nahestehenden Richtern neu aufgestellt wurde, ist ebenso Fakt. Daß es bei der Entmachtung des Parlaments de facto [!] nicht um Recht [?!], sondern um die Kraft des Faktischen ging, ist offensichtlich. Ein Ausweg aus der Abwärtsspirale ist das sicher nicht.« Aber doch zumindest ein entscheidender Verzögerunsfaktor, um zu verhindern, daß das Maduro-Regime nicht sofort auf dem Müllhaufen der Geschichte landet! Zur Verlangsamung dieser »Abwärtsspirale« – mehr hat die Die Linke im Falle Venezuelas nicht auf der Pfanne! – müssen offene Rechtsbrüche wie dieser durch Schaffung post-faktischer Fakten zur Verteidigung des ‚bolivarianischen Sozialismus‘ halt hingenommen werden.


Jeder Leser, der seinen politischen Verstand noch beisammen hat, wird angesichts der Demonstration dieses bemerkenswerten Beispiels post-faktischen Verständnisses bürgerlicher Demokratie nicht nur am ‚lupenreinen Charakter‘ dieser ‚Demokraten‘ zweifeln, er sollte sich auch die absehbaren Folgen einer demokratischen (Un)Geisteshaltung wie dieser vor Augen führen, wenn in naher Zukunft unter der rot-rot-grünen Kanzlerschaft des Heiligen Martin Deutschland aus der EU und der NATO ausstiege und wenn es sich mit den
beiden früheren Teilen seiner post-faktischen staatlichen Existenz unter die Kuratel des (Putinschen) Moskowitertums begäbe! Was keineswegs so unwahrscheinlich ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, da diese Linke auch auf europäischer ‚Ebene‘ gute Chancen hat, im südlichen und westlichen Europa an die Regierung zu kommen. Die Folgen wären mit der nach dem Linken Putsch in Venezuela eingetretenen Entwicklung dann durchaus in vielerlei Hinsicht vergleichbar.


Die Ironie
der Geschichte ist aber, was Venezuela betrifft, die, daß Maduro, als er feststellen mußte, daß die Staaten der OAS bei dem Putsch seines Obersten Gerichts gegen das Parlament nicht mitziehen würden, dem TSJ kurz entschlossen befahl, die Entmachtung des Parlaments durch die obersten Richter wieder zurückzunehmen.[8] Welch eine Farce! Dem Staatsreich folgt ein Staatsstreich im Staatsstreich und im übrigen eine klatschende Ohrfeige für die junge Welt und das Neue Deutschland, die, sich so nahe am Ziel der Realisierung ihrer post-faktischen Wunschvorstellungen ‚sozialistischer Demokratie‘ wähnend, etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt, aber ungewollt ein bemerkenswertes Lehrstück dazu abgeliefert haben, was von ihnen als ‚lupenreine Demokraten‘ auf diesem abschüssigen Gelände linker Politik demnächst noch alles zu erwarten ist.[9]


Angesichts der momentanen politischen Wandlungsprozesse ‚
back to the roots‘ in Richtung des reinen Chavismus, Sozialdemokratismus oder gar Kommunismus (Retour à Reims?) muß niemand mehr all zu verwundert sein, wenn das Zweite Deutsche Fernsehen, in seiner allabendlichen Nachrichten-Magazin-Sendung an entscheidender Stelle einen dieser linken ‚lupenreinen Demokraten‘ ausgerechnet zu ‚den Ereignissen in Syrien‘ zu Wort kommen zu läßt. Am 04.04. berichtet das Heute Journal,[10] über Assads Giftgasattacke auf die Bevölkerung von Khan Sheichoun,[11] einer kleinen Stadt in der nordwestlichen Provinz Idlib, die bisher unter der Beteiligung des säkularen Widerstands gegen das Assad-Regime gehalten werden konnte, welches bekanntlich erklärt hat, daß es vorhabe, ganz Syrien (von seiner sunnitischen Bevölkerungsmehrheit) zu ‚befreien‘. Dieses in der als crime against humanity (aus der UN-Charta falsch ins Deutsche übersetzte) Verbrechen gegen die Menschheit sollte aber nicht nur den Prozeß des ethnic cleansing mit aktiver russischer, iranischer usw. Hilfe vorantreiben, um einen sunnitisch- schiitischen Bevölkerungsaustausch vorzunehmen. Dieser Giftgasanschlag als offensichtliches internationales Verbrechen war auch als Provokation gegen die in Brüssel stattfindende europäischen Syrien-Konferenz gedacht.[12] Und nicht zuletzt auch dafür, die Syrien-Politik der neuen US-Regierung und deren Verhältnis zu der im Sommer 2015 von der Obama-Regierung gezogenen, dann aber nicht durchgezogenen, Red Line zu testen.[13]


Jan van Aken, als Mitglied der „Partei DIE LINKE“ und „Ehemaliger UN-Luftwaffeninspekteur“ untergetitelt, stimmt im Heute Journal mit den Machern der Sendung ebenso wie dem ‚regierungskritischen‘ linken (übrigens auch rechten!) Mainstream weitestgehend überein, wenn er sich bei den möglichen Verursachern dieses Giftgasangriffs auf nichts festlegen will was auch eine Festlegung ist! Jedenfalls wenn man die seit den letzten zwei Jahren tagtäglichen Angriffe der Luftwaffe Putins und Assads auf die syrische Zivilbevölkerung einfach ignoriert: Faß-Bomben, Splitter-Bomben, Cluster-Bomben und all den anderen üblichen ‚Stoff‘. Diesmal ist es aber ein Giftgasangriff mit Sarin und begleitet von Bildern von mit dem Erstickungstod ringenden Kindern aufgenommen mit der Handy-Cam! Ein bewußter Paukenschlag als Herausforderung an Trump: Was ist jetzt mit Ihrer Red Line, Mr. President? Angesichts dieses für das Assad-Regime und seine russischen und iranischen Paten zur täglichen Routine gewordenen Massenmords kann es sich der Experte der „Partei DIE LINKE“ sogar leisten, vom »Assad-Regime« zu sprechen und auch gegenüber den ziemlich ans Absurde grenzenden Verlautbarungen des russischen Militärs eine gewisse Skepsis bezeugen, in denen behautet wird, daß das Sarin aus einem aus Versehen bombardierten Giftgaslager der Islamisten ausgetreten sei. (Bekanntlich zerstäubt Sarin beim Aufschlag der Granate und tötet nur diejenigen, die sich unmittelbar in dem Giftgasnebel befinden.) Mit derselben Überzeugungskraft hätte Herr van Aken auch die Behauptung widerlegen können, daß die Erde eine Scheibe sei: »Das Regime versucht ja zu sagen: Vielleicht ist eine Chemie-Fabrik getroffen worden, da kam das Giftgas her… Halte ich auch für unwahrscheinlich; denn dann hätten wir mittlerweile auch Bilder gesehen von einer getroffenen Chemie-Fabrik.« Hält er für unwahrscheinlich…! Vor allem, wer hätte die Bilder aufnehmen und veröffentlichen sollen? Die entscheidende Schlußfolgerung aus van Akens Statement besteht in der Aussage, daß alle beteiligten Seiten gleichermaßen an den Verbrechen beteiligt sind, womit der Adressat der Verehrung aller Putin-Freunde erst mal aus der Schußlinie genommen ist: »Wir wissen, daß das Assad-Regime in großen Mengen z.B den Nervenkampfstoff Sarin hergestellt hat. Das Allermeiste davon wurde von den Vereinten Nationen gesichert und abtransportiert und zerstört. Aber bei einem solch großen Programm kann man nie ausschließen, daß hier und da noch die eine oder andere Granate liegt. So eine Rakete kann das jetzt gewesen sein. Sie kann [können] beide Seiten eingesetzt haben. Aber Sarin ist das Wahrscheinlichste.« Mit der Bestätigung der von so gut wie niemandem bestrittenen Tatsache, daß das Giftgas Sarin gewesen sei, erhält gleichzeitig van Akens These größere Glaubwürdigkeit, daß »beide Seiten « es eingesetzt haben könnten. Und darauf kommt es schließlich an.


Wer nach dem US-Militärschlag gegen einen syrisch-russischen Luftwaffenstützpunkt[14] das Heute Journal vom 07.04. einschaltete,[15] begegnete erneut unserem
„ehemaligen Luftwaffeninspekteur“. Nachdem US-Präsident Trump das Überschreiten Red line wider Erwarten sanktioniert hatte, wurden die Zuschauer mit einem weniger zuvorkommend auftretenden Putin-Freund von der „Partei DIE LINKE“ konfrontiert als das letzte Mal. Denn diesmal stellte sich nicht mehr die Frage, ob das über Khan Sheikhoun niedergegangene Giftgas Sarin oder etwas anderes gewesen, sondern ob die Stadt im Nordwesten Syriens überhaupt von Putins und Assads Luftwaffe oder von wem auch immer angegriffen worden sei. Und dieses Mal ist es die Redaktion selbst, die über der Frage nach den Verursachern dieses Angriffs, von denen US-Präsident Trump behauptet, daß es nur der syrische Präsident Assad gewesen sein konnte, den Schleier des Nichtwissens ausbreitete. Das beginnt schon mit der redaktionellen Einleitung: »Vieles erinnert derzeit an die Ereignisse im August 2013, als in der Nähe von Damaskus Hunderte Menschen an dem Nervengift Sarin starben und Barak Obama damals von der überschrittenen „Roten Linie“ sprach. Daß es Sarin war, wurde später von UN-Inspekteuren belegt. Aber leider nicht, wer dieses Nervengift verschossen hatte. Die Schuldzuweisungen bzw. -abstreitungen von damals sind mit den heutigen praktisch identisch. Wahrheiten sind schwer zu finden in einem Krieg, zumal in einem Krieg, in dem es weder den Massenmörder Assad noch die diversen Dschihadistengruppen interessiert, welche Kriegsverbrechen sie begehen und in die auch noch so viele andere Akteure involviert sind«, behauptet Heute Journal-Sprecherin Marietta Slomka. Dem hat Jan van Aken eigentlich nichts mehr hinzuzufügen: Die von den Militärs der USA veröffentlichte Karte, auf der syrische Flugbewegungen eingezeichnet sind, besagt gar nichts, heißt es in einem eingespielten Beitrag. Und van Aken ergänzt: »Es ist so dünn. Daran läßt sich nur absehen, daß ein Flugzeug der Syrischen Luftwaffe zum Zeitpunkt in der Gegend war. Aber, daß die Giftgas abgeworfen haben, ist völlig unklar. Damit ist gar nichts bewiesen…« Das ist nun die günstige Gelegenheit, seine in der Sendung von 04.04. aufgestellte Hypothese, noch einmal zu untermauern: »Die allermeisten Chemiewaffen in Syrien sind vernichtet, aber natürlich ist es gut möglich, daß einzelne Granaten oder Raketen mit dem Giftgas beiseite gebracht worden sind.« Von wem auch immer! Erneut wird die absurde Behauptung der russischen Armeeführung von der Bombardierung eines Giftgaslagers von Redaktion und Van Aken als unglaubwürdig zurückgewiesen. Was dafür aber zu der für alle Beteiligten erlösenden Antwort führt, die deckungsgleich mit der Linie der Assad-Propaganda ist und die da lautet. Putin und Assad haben damit nichts zu tun. Es waren die Terroristen. Dies wiederum eine Steilvorlage für van Akens Weißwäsche zweier Kriegsverbrecher: »Die Al-Nusra-Front, natürlich hat sie ein politisches Interesse an so einem Chemiewaffeneinsatz, weil sie vielleicht hoffen, daß damit die Amerikaner in den Krieg gegen Assad gezogen werden. Das hätte ja auch geklappt. Aber das ist genauso spekulativ wie andersrum, daß Assad das eingesetzt hat. Wir wissen es einfach nicht.«


Journalisten müssen zuerst nach Beweisen fragen – das gehört zu ihrem Job, ebenso wie zu dem eines Richters oder Staatsanwalts. Selten stellt jemand auch die Frage nach den Zusammenhängen, in denen sich der zu erkundende Sachverhalt darstellt und nach der Logik, in der er sich entwickelt haben muß. Auch ein Ein Kriegsverbrecher-Tribunal muß zuallererst die Indizien zusammentragen, um eines Tages zu einem sicheren Urteil über die von Putin und Assad begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu gelangen. Die Zusammenhänge, innerhalb derer sich diese Verbrechen abgespielt haben, sind nicht nur allgemein bekannt, sondern türmen sich über vielen unbewiesenen Fakten auf, bevor sie von handfesten Beweisen untermauert werden können. ‚Die syrische Opposition‘, wie sie von westlicher Seite bezeichnet wird, also der säkulare Widerstand gegen das Assad-Regime, dem die Zusammenhänge, in denen diese Verbrechen tagtäglich geschehen, über die Maßen bekannt sind, hat akribisch viele Beweise gesammelt, die in (hoffentlich) absehbarer Zeit den Kriegsverbrechertribunalen zur Verfügung gestellt werden sollen. Ein wichtiges Instrument, damit das Syrische Volk, die Selbstachtung und den Respekt zurückzuerobern wird, die bei seiner Darstellung als reines Verbrechensopfer häufig auf der Strecke bleiben


Die revolutionären Jugendlichen, die 2011 in Daraa an die Hauswand schrieben: ‚Das Volk will den Sturz des Regimes‘, konnten vielleicht nicht wissen, daß Regimes wie dieses (und heute die vielen anderen linken Regimes, die per ‚(konter-)revolutionärem Staatsstreich an die Macht gekommen sind) anders gestrickt sind als bürgerliche Regimes in den ‚westlichen‘ Ländern, in denen kapitalistische Produktionsweise (in ihrer höchst möglichen Ausprägung) herrscht. Daß in Ländern des ‚westlichen‘ Kapitalismus gestürzte Regierungen durch eine andere der miteinander konkurrierenden Parteien einfach abgelöst werden, weil sie alle derselben herrschenden Bourgeoisie angehören. Daß aber in Ländern mit anti-‘westlichen‘ Regimes die herrschende Oligarchie, Partei, Clique nur auf wenige Personen oder Gruppen von Personen konzentriert ist, die wenn sie gestützt werden, alles verlieren – alles was sie über Jahre und Jahrzehnte unter ihrer Herrschaft zusammengerafft haben und was sie sich auch nicht durch den Druck der Straße, Presse, Öffentlichen Meinung, da ihre
„formal rechtliche“ Abwahl „faktisch“ unmöglich ist, so einfach aus der Nase ziehen lassen werden. Die revolutionären Jugendlichen aus Daraa haben den Völkern, die verdammt sind, unter solchen Regimes zu leben, Mut gemacht, es dennoch immer wieder zu versuchen, diese Regimes zu stürzen. Deren Terror gegen die ‚eigene‘ Bevölkerung ist nur das Zeichen dafür, auf wie wackligen Füßen sie stehen.

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[1] junge Welt 01./02.04.2017 Staatskrise in Venezuela. Legitime Antwort.
[2] NZZ 31.03.2017
Alle Macht in Maduros Händen.
[3] Um nur ein Beispiel für den stattfindenden wechselseitigen Lernprozeß zu nennen, vgl. FAZ 19.01.2017
Putin erhält venezolanischen Friedenspreis. Der erste Hugo-Chávez-Friedenspreis des Landes Venezuela geht an – Wladimir Putin. Damit solle Putins Rolle im syrischen Bürgerkrieg als „großer Anführer des Friedens“ gewürdigt werden, heißt es.
[4] ND 01./02.04.2017
Venezuelas Regierung in Bedrängnis. Entmachtung des Parlaments durch das Oberste Gericht stößt international auf Ablehnung.
[5] Diese und die folgenden Unterstreichungen von mir, U.K.
[6] …d.h.
el Partido Socialista Unido de Venezuela.
[7] ND 01./02.04.2017
Venezuela in der Abwärtsspirale. Martin Ling über die Entmachtung des Parlaments de jure und de facto.
[8] FAZ 03.04.2017
Venezuela nimmt Entmachtung des Parlaments zurück. Entscheidung des Obersten Gerichts / Bruch in der Einheitspartei / Proteste in Caracas. Ausführlich: FAZ 03.04.2017 Alles doch nicht so gemeint. Venezuelas Oberstes Gericht revidiert sein eigenes Urteil zur Entmachtung des Parlaments. Maduro läßt sich als Versöhner feiern. Doch die Lage spitzt sich weiter zu.
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/in-venezuela-spitzt-sich-die-lage-unter-maduro-zu-14954443.html
[9] Im ND vom 15.,16.,17.04.2017 lesen wir inzwischen einen halbherzigen Zwar-Aber-Rückzieher unter der Überschrift:
Venezuela braucht eine linke Alternative. Darin wird zwar die Geltung einzelner post-faktischer Fakten wieder zurückgenommen, wie etwa des autoritäre Regierungsstils Maduros oder der Botmäßigkeit des Obersten Gerichts diesem gegenüber. Und es wird festgestellt, daß diese Regierung »bei demokratischen Wahlen derzeit wohl keine Chance«, bzw. große Chancen hätte, abgewählt zu werden. Die einzige Alternative böte der Rückweg zur »progressiven Ausrichtung des Chavismus«, d.h. das »Emporkommen einer linken Alternative, die in Verbindung mit sozialen Bewegungen als dritter politischer Akteur die lähmende Polarisierung aufbrechen könnte«, um »die positiven Seiten des chavistischen Erbes zu retten«. Aber könnte es nicht auch sein, daß die Venezolaner, soweit sie sich nicht am »chavistischen Erbe« mästen, genau in ihm die Ursache für die katastrophale Situation ihres Lande erblicken müssen und dorthin auf keinen Fall zurück wollen? Der Edel-Chavismus als Dritter Weg zwischen Revolution und Konterrevolution in Venezuela ist eine typisch linke Sackgasse!
[10] w
ww.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-4-april-2017-102.html
[11] FAZ 06.04.2017
Tödliches Gas. Der Giftgasangriff in Idlib übertrifft das übliche Maß an Grausamkeit und läßt den Westen seine Position überdenken. Will Assad noch einmal die roten Linien testen?
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/syrien-krieg-giftgas-angriff-in-idlib-uebertrifft-mass-an-grausamkeit-14959059.html
[12] FAZ 06.04.2017
Keine Kumpanei mit dem Regime. Die Außenminister sprechen in Brüssel – über Syrien und die Schuldfrage beim Giftgasangriff.
[13] EINspruch 08.10.2015
www.parteimarx.org/wp-content/uploads/2015/10/pM-160210-EINspruch-081015.pdf
FAZ 08.04.2017 Trumps Syrien-Kurswechsel.
Strategie gesucht. Für seinen Vergeltungsschlag gegen Syrien wird Amerikas Präsident parteiübergreifend gelobt. Vermisst werden Ansagen, wie es jetzt weitergehen soll. Großer Unmut regt sich derweil an Donald Trumps Wählerbasis.
http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/trumps-syrien-kurswechsel-strategie-gesucht-14963261.html
[14] FAZ 08.04.2017 Trumps Syrien-Kurswechsel.
Strategie gesucht. Für seinen Vergeltungsschlag gegen Syrien wird Amerikas Präsident parteiübergreifend gelobt. Vermisst werden Ansagen, wie es jetzt weitergehen soll. Großer Unmut regt sich derweil an Donald Trumps Wählerbasis.
http://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/trumps-syrien-kurswechsel-strategie-gesucht-14963261.html
[15] https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-7-april-2017-100.html

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AKTUELL »

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Dieser Text soll in absehbarer Zeit in REAKTIONEN 2016 veröffentlicht werden. Er erscheint nun vorab in EINspruch AKTUELL. Darin wird der Vortrag, den Sarah Wagenknecht im letzten Winter im Deutschlandfunk gehalten hat aus Anlaß der Veröffentlichung des Ersten Bandes des Marxschen Kapital vor 150 Jahren, Stück für Stück unter die Lupe genommen und festgestellt, daß die Kernbestandteile der Marxschen Theorie über Bord geworfen worden sind (der wichtigste – die Mehrwerttheorie), woraus sich die Frage ergibt, warum sich die Marxistische Linke eigentlich noch der Marxschen Theorie bedienen muß, wo doch jede beliebige Wirtschaftsethik, die die Wirksamkeit ihrer Pflästerchen gegen die Unbilden der kapitalistischen Produktionsweise beschwört, dieselben Wirkungen erzielte?


Diese Frage wird in einem kurzen Resümee abschließend untersucht, mit dem vorläufigen Ergebnis, daß die von den einstigen Verfechtern der ‚Neuen Marx-Lektüre‘ geforderte politische Unschuld der Marxschen Theorie nicht mehr besteht, weil
diese von der marxistischen Linken längst für ihre fragwürdigen politischen Zwecke eingespannt wurde. Marx, der selbst kein Marxist sein wollte („Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin“), hat die Trennung zwischen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit (Kritik der politischen Ökonomie) und der Politik der Marxschen Partei (Manifest der Kommunistischen Partei) rigide eingehalten, aber nicht verhindern können, daß seine wissenschaftliche Theorie bereits von der Sozialdemokratie, später der Sowjetunion und heute von der KP Chinas für ganz andere politische Ziele als der Befreiung der Arbeiterklasse zu dienen, Verwendung gefunden hat.


So wie die ganze Sozialpolitik der marxistischen Linken am Ende darauf aus ist,
dem Kampf zur „Wiedereroberung untergegangener Königreiche“ (Mao) zu dienen, so soll das Marxsche Kapital das theoretische Gerüst für den Feldzug der marxistischen Linken für die Errichtung einer Zweitauflage DDR von Putins Gnaden liefern, die sie nicht nur der Arbeiterklasse als Erfüllung sozialistischer Träume, sondern auch der (west)deutschen Bourgeoisie als lohnendes Ausbeutungsprojekt schmackhaft zu machen versucht.

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Kommunistische Korrespondenz 2016 »

Die an dieser Stelle bisher erschienenen REAKTIONEN werden unter dem Namen KOMMUNISTISCHE KORRESPONDENZ fortgeführt. Sie werden auch eine veränderte Funktion erfüllen.

In den REAKTIONEN war der Austausch der E-Mails, der sich mit verschiedenen Teilnehmern zu unterschiedlichen Streitpunkten (bspw. in der Marx-Gesellschaft) ergeben hatte und soweit diese von allgemeinem Interesse waren, in rein chronologischer Gliederung dokumentiert worden. Daher unterlagen die darin angeschnittenen Themen keiner vorgegebenen inhaltlichen Bestimmung und Gliederung und wechselten über die Jahre hinweg jeweils mit den gerade miteinander korrespondierenden Gesprächspartnern und je nach vorhandener inhaltlicher Interessenlage (Ökonomie, Politik, Geschichte der Klassenkämpfe, Dialektik, Materialismus u.a.m.).

Die REAKTIONEN 2001-2015 dokumentieren daher die ganz unterschiedlichen Versuche, sich (mehr oder weniger entschlossen) vom Marxismus der deutschen Linken abzunabeln, der unwiderruflich zum politischen Versumpfen in den vagen Begrifflichkeiten verurteilt ist, die der Alten und Neuen Bourgeoisie möglichst wenig anhaben sollen und können.

Die REAKTIONEN werden durch die KOMMUNISTISCHE KORRESPONDENZ abgelöst. Diese soll in Zukunft die Debatten zwischen den Bloggern im Kommunistischen Korrespondenz Komitee (ccc) wiedergeben und den Gedankenaustausch zwischen den Bloggern im communist correspondence blog (ccblog) fördern und pflegen.

Die vorliegende Ausgabe der KOMMUNISTISCHEN KORRESPONDENZ 2016 ist nach folgenden Themenschwerpunkten gegliedert:

1. Arbeitstreffen des Kommunistischen Korrespondenz Komitees

a. Vorbereitung

b. Nachbereitung

2. Kommunistischer Gedankenaustausch

3. Die Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff

4. Weltmarkt, Weltmächte und ihr Ringen im Nahen und Fernen Osten um die Herrschaft über Europa

5. DAS KAPITAL

Die Themenschwerpunkte können oben als einzeln oder hier als Gesamttext aufgerufen werden.

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08.11.2016 »

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Ein Leser meiner EINsprüche fragte mich kürzlich, woran es liege, daß der EINspruch so schrecklich russophob sei. Eigentlich schrieb ich doch ganz interessante Texte. Meine Antwort war eine Aufstellung von Städtenamen und Jahreszahlen, mit denen jeder Europäer – zumindest noch meiner sozial inkompetenten Generation – jeweils ein russisches Staatsverbrechen verbindet. Diese Liste beginnt mit Katyn (1940) und endet vorläufig bei Aleppo (2016), Verbrechen, die der russische Staat, wenn man so will, im Windschatten der noch um einiges unfaßbareren Verbrechen des deutschen Staates auf seinem Weg zur Weltherrschaft auf seinem Verbrechenskonto angesammelt hat. Meine Gegenfrage war, ob Putin heute nicht gerade dabei sei, die Einzigartigkeit der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus ein wenig zu relativieren?


Opfer der russischen Staatsverbrechen waren nicht nur die Völker, nationalen Minderheiten und Nationen innerhalb des sowjetischen Imperiums und seiner ‚Randgebiete‘ (wie z.B. Afghanistan), sondern auch die Russen selbst, die ähnlich wie die Deutschen (ein direkter Vergleich verbietet sich wegen der Einmaligkeit der deutschen Verbrechen) für die von ihrem Staat verübten Verbrechen von den Völkern, an denen sie verübt wurden (und nicht nur von ihnen), als Verbrechervolk gehaßt werden. Als deutscher Staatsangehöriger werde ich daher ‚die Russen‘ schon deshalb nicht hassen können (und wollen), weil das Verbrechenskonto des deutschen Staates mit Verbrechen angefüllt ist, die diejenigen des russischen Staates in ihrer Ungeheuerlichkeit qualitativ in den Schatten stellen. Ich kann also die Russen gar nicht hassen. Was ich hasse, das ist, daß der russische – genauso wie der deutsche Staat ‚die Deutschen‘ – ‚die Russen‘ zu Komplizen seiner Verbrechen macht oder gemacht hat und daß sich ‚die Deutschen‘ zu Komplizen der deutschen Staatsverbrechen machen ließen. Solange daher der pauschale Vorwurf der Russophobie wie das Damoklesschwert über ‚den Deutschen‘ schwebt (und künstlich in der Schwebe gehalten wird), werden ‚die Deutschen‘ ihre Komplizenschaft mit dem deutschen Staat nicht aufgeben und gezwungen bleiben, die ‚eigenen‘ Verbrechen zu relativieren oder gar zu ignorieren, woraus zur allgemeinen Freude aller Verbrecherstaaten ständig neuer Völkerhaß gespeist wird. Oder daß ‚die Deutschen‘ – und das ist das andere Extrem – ‚den Russen‘ vor lauter Liebe um den Hals zu fallen, was ihnen eine noch größere Verachtung unter den Völkern, einschließlich des russischen einbringen wird. Diese jedem vernunftbegabten Menschen politisch höchst verdächtig erscheinen müssende Selbstverachtung wird durch die radikale Infragestellung der Existenz des deutschen Staates als solchem, wie sie von den Bakunisten von Ums Ganze vertreten wird (‚Kein Tag für Deutschland! Staat. Nation. Kapital. Scheiße‘), schließlich zur höchsten Absurdität gesteigert. [1]


Am allerhassenswertesten an den russischen Staatsverbrechen wirkt auf mich aber die große Lüge, daß diese Verbrechen im Namen des Kommunismus und für die Verteidigung der Diktatur des Proletariats verübt wurden und daß der Klassenkampf zwischen dem revolutionären Proletariat und der Weltbourgeoisie, zwischen Revolution und Konterrevolution unter dem Vorwand, einen rein nationalen Verteidigungskampf gegen das faschistische Monster führen zu müssen, liquidiert wurde, was, anstatt diesen Verteidigungskampf in den weltrevolutionären Klassenkampf zu integrieren, notwendig neue Monster gebären mußte.


Soweit mein Einspruch gegen den von einem besorgten Leser gegen den EINspruch erhobenen Vorwurf der Russophobie.


Nun könnte der Beobachter dieser Auseinandersetzung den berechtigten Einwand machen, meine Verteidigung des einzig wahren Kommunismus, dessen Realisierung all diese Staatsverbrechen hätten verhindern können, gegenüber dem falschen diene einzig und allein dem Zweck, mich als Angehörigen des deutschen Staatsvolkes, und letzten Endes auch dieses Volk selbst, von dem Vorwurf der Russophobie und, um das Maß voll zu machen, von dem der Judenfeindschaft und dem an ‚den Juden‘ verübten deutschen Staatsverbrechen zu entlasten. Gegen einen solchen Vorwurf ist kein Kraut gewachsen. Auch nicht durch den Nachweis, daß Vorwürfe wie dieser (je stiller, desto wirkungsvoller) in Wirklichkeit zum Repertoire der antiwestlichen Propaganda Putin-Rußlands gehören, deren sich deutsche Linke wie die Rechte als verlängerter Arm Putins bedienen, um politisch an die Macht zu kommen. Ähnliches könnte auch für meine Kassandrarufe gelten, die davor warnen, daß Putins Propaganda lediglich darauf aus sei, daß ähnlich wie bei der Russifizierung von Teilen des georgischen und ukrainischen Staates die Anwendung dieser Salamitaktik früher oder später auch der Souveränität aller übrigen osteuropäischen Staaten und schließlich auch der des deutschen Staates drohen wird, sollten sich die Europäer nicht freiwillig den russischen Weltherrschaftsinteressen unterwerfen. Aber an all diesen Warnungen vor Rußlands neuem Imperialismus (Imperialismus in seiner ursprünglichen Bedeutung), mögen sie durch noch so schreiende Tatsachen bestätigt werden, hängt der ständige Argwohn der Völker Ost- und Südeuropas, daß dies nur Entlastungsversuche seien, die von ‚den Deutschen‘ zur Verteidigung gegen den Vorwurf ihrer Komplizenschaft mit den deutschen Staatsverbrechen verwendet werden, der wie Bleigewichte an ihnen hängt.


Dennoch sehe ich keinen Grund – oder erkenne zumindest keinen an ‒ mich für die im Interesse der deutschen Bourgeoisie verübten Verbrechen des deutschen Staates persönlich zu entschuldigen. Der einzige Vorwurf, den ich mir persönlich gefallen lasse, wäre der, nicht alles getan zu haben, um an der Aufhebung (nicht nur einer irgendwie gearteten rechts oder links gestrickten Negation) der kapitalistischen Produktionsweise zu arbeiten und mich so an der Befreiung der Menschheit von ihrer Vorgeschichte zu beteiligen (damit sie in Zukunft noch eine Geschichte hat). Dazu gehört, mich mit den Einwänden und Argumenten hauptsächlich derjenigen Kommunisten (oder Communisten) auseinanderzusetzen, die, wie ich meine, eine verengte Perspektive zu den Klassenkämpfen auf der Welt einnehmen und die sich dieser Aufgabe meinen dadurch entziehen zu können, indem sie die Last des Vorwurfs der mentalen Duldung der oder inneren Beteiligung an den deutschen Staatsverbrechen persönlich auf sich nehmen, um sich von der Last des Argwohns der europäischen Völker gegen ‚die Deutschen‘ zu befreien.


Machen wir uns nichts vor: der Zwei-plus-Vier-Vertrag, auf dem die staatliche Existenz des deutschen Staates völkerrechtlich gründet, ist kein Friedensvertrag, sondern das Ergebnis eines Deals zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, die sich durch diese Vereinbarung aus ihrer Verantwortung für Deutschland als bisherige Besatzungsmächte befreit haben und der so, wie er politisch auf wackligen Beinen steht, auch in einem ernstzunehmenden Konfliktfall zwischen den Vertragspartnern jederzeit widerrufen werden könnte, ohne im Unterschied zur Zeit vor 1990 unbedingt einen Weltkrieg auszulösen. Das heißt, daß dieser Vertrag jederzeit durch einen neuen Deal zwischen der alten westlichen und der sich neu formierenden östlichen Supermacht (bisher noch ohne China!) ersetzt werden kann – zumal die USA durch das Öffnen der Büchse der Pandora (Krieg gegen Saddam Hussein) die dadurch entstandene russisch-iranisch-chinesische Achse tagtäglich stärker gemacht hat. Dann würde nicht nur der wunderschöne Besinnungsaufsatz, an dem ‚die Deutschen‘ seit der ‚Wiedervereinigung‘ gestrickt haben, um sich den Namen der Gerechtesten unter den Gerechten (ohne Superlativ geht es bei ihnen nun mal nicht) zu verdienen, zu Makulatur werden – und das von der gesamtdeutschen Antifa mit staatlicher Unterstützung hochgepäppelte preußische Plebejertum erhöbe wieder seine Fratze als faschistische Bestie, um in einem Befreiungskrieg (zweiter Teil) die völkisch wieder umdefinierte Nation zu verteidigen. Les extrèmes se touchent. Beide Extreme würden sich, sollte der frisch gewählte US-amerikanische Immobilienhändler und Häuserkapitalist das Europäische Haus dem russischen Hausbesetzer in einem großen Deal zwischen den Supermächten überlassen, in dem großrussischen Roll back in gegenseitiger Haßliebe zwischen der Rechten und der Linken vereint wiederfinden. Das Verlotternlassen ganzer Stadtteile gehört ja bekanntlich zu den Beschleunigungsfaktoren der Immobilienspekulation in Betongeld, und Hausbesetzer sind für gewöhnlich die nicht nur geduldeten, sondern häufig gewünschten Vorboten der Gentrifizierung, während das Abfackeln der gentrifizierten Stadtteile wiederum, wie von athenischen Anarchisten ab und zu exemplarisch vorgeführt, wiederum als Vorwegnahme all dessen interpretiert werden könnte, was dem ‚Europäischen Haus‘ in Zukunft noch alles blüht.


Die Bildungsreise des ‚scheidenden US-Präsidenten‘ zu den Wurzeln der westlichen Demokratie ließe sich nach der Wahl des neuen dann wohl auch als Abschiedsreise von Europa interpretieren: sie enthält zugleich die über die Amtszeit des alten Präsidenten hinausweisende Botschaft, daß die Steuerzahler der EU, an ihrer Spitze die deutschen, sich von der Rückzahlung der Griechenland gestundeten Kredite endgültig mental verabschieden sollten, da das US-Kapital und der von ihm dominierte IMF kein neues Geld in das griechische Faß ohne Boden mehr versenken werden. Dieses klassische beggar-thy-neighbor-Lehrstück aus dem Bestand der Großen Weltwirtschaftskrise von vor 80 Jahren hatte sich in dem tête à tête zwischen Madame Lagarde und dem telegenen Salonkommunisten Varoufakis bereits angekündigt und bedeutet, daß die Deutschen für ihren Anspruch auf die moralische Hegemonie in Europa finanziell kräftig bluten sollen, indem sie auch noch für die häßlichsten Papierchen aus dem Athenischen Giftschrank geradestehen müssen, deren Nichteinlösbarkeit den absehbaren, dann aber nicht allein griechischen Staatsbankrott herbeiführen würde. Wohl nicht zufällig ist Berlin die nächste Station von Obamas Abschiedsreise, wo Frau Merkel eben dies verklickert und sie darauf verwiesen werden soll, wie eng die Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott (besser: der Rettung der alten oligarchischen Familien Athens, die wegen der neben ihnen Platz nehmen wollenden neuen linken Staats-Oligarchie ein wenig zusammenrücken müssen) mit der Verteidigung Europas vor dem zu erwartenden Zugriff ‚der Russen‘ in Wirklichkeit verknüpft ist….

NACHTRAG 07.12.2016


In den Tagesthemen vom 07.12. wird von einem Wendepunkt im sog. Syrischen Bürgerkrieg berichtet. Der Bericht selbst scheint einen Wendepunkt in der ‚westlichen‘ Berichterstattung zu diesem Thema darzustellen. Ein ARD-Reporter habe sich, so der Sprecher, zusammen mit »syrischen Regierungstruppen … in die umkämpfte Stadt Aleppo« gewagt. Das ist in der Tat ein Novum! Denn bisher haben es die ‚westlichen‘ Medien vermieden, sich für die Propaganda des Assad-Regimes einspannen zu lassen und auf der anti-‘westlichen‘ Propagandawelle des russischen Staatsfernsehens mitzusurfen. Eine Ausnahme waren bisher die den Standpunkt von Damaskus einnehmenden Ex-SED-Blätter Neues Deutschland und junge Welt. Nun scheinen auch die Tagesthemen in dieser Richtung eine Wende zu vollziehen, wenn dort im Tonfall von Russia Today (RT Deutsch) über Assads Krieg gegen das Syrische Volk berichtet wird: »Die syrische Armee ist fest entschlossen, Ost-Aleppo endgültig zu erobern.« Bravo! Das hört sich ja schon mal ganz gut an!


Daß Putin und Assad seit den letzten Wochen verstärkt die Zivilbevölkerung im Ostteil von Aleppo mit Faßbomben, Bunkerbrechern und Giftgas traktieren, daß sie gezielt und systematisch Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Bäckereien und Märkte dem Erdboden gleichmachen, von solchen Kriegsverbrechen läßt sich schlecht berichten, wenn man sich auf die Seite der Kriegsverbrecher begeben hat und als
embedded journalists meint hinter die Wahrheit dieses Krieges zu gelangen und dort über ihn anders berichten zu können, als Assads und Putins Medien tagtäglich darüber verlauten lassen. Dazu paßt z.B. die Selbstbeschränkung auf die banale Mitteilung, daß die Einwohner der »umkämpften Stadt … rauswollen aus der Hölle im Osten Aleppos«. Näheres dazu, etwa, wer in diesem ‚Bürgerkrieg‘ gegen wen und wofür kämpft, wird dem Zuschauer erspart. Kein Hinweis darauf, daß jeder, der nicht für das Regime ist, von vornherein zum ‚Terroristen‘ erklärt wird, egal, ob er ein Killer des IS ist oder ein Oppositioneller ist. Also Assad-Gegner zu sein ist gleich IS, wobei Letzterer solange in Ruhe gelassen wird, wie er Assad-Gegner als ‚Ungläubige‘ einschüchtert und umbringt.


Kein Wunder, daß auch die Tagesthemen diesem Propaganda-Konstrukt aufsitzen. Das hört sich dann so an (Tagesthemen:) »Seit Wochen versucht die syrische Armee die Opposition und Dschihadisten aus der Stadt zu bomben. … Dieses Mal«, so berichtet ein Armeeangehöriger, »sei die syrische Armee dank der Hilfe von Rußland, der libanesischen Hezbollah und Irans besser aufgestellt«. Dieser wörtlich: „Nach einigen erfolgreichen Militäroperationen mit unseren Verbündeten haben wir heute 65-70% unter unserer Kontrolle“. (Tagesthemen:) »Selbst oppositionelle Aktivisten gehen davon aus, daß Ost-Aleppo bald unter der Kontrolle der syrischen Armee ist. Das liegt auch an deren Feuerkraft am Boden und aus der Luft. Die treibt nicht nur die Zahl der Toten unter den gegnerischen Kämpfern in die Höhe, sondern auch [sic!] die der Zivilisten.«


Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Weil große Teile der Syrischen Armee zu den ‚Terroristen‘ übergelaufen sind, gilt in Syrien inzwischen folgende Arbeitsteilung: iranische Revolutionsgarden, libanesische Hisbollah, schiitische Kommandos aus dem Irak und Afghanistan, die Shabbiha aus Assads hauseigener Nachzucht von Kleinkriminellenkommandos als Halsabschneider, sie alle haben die ‚Drecksarbeit‘ am Boden übernommen, während aus der Luft von russischen und syrischen Kampfjets die Infrastruktur ganzer Stadtteile in Schutt und Asche gelegt und diese für die Zivilbevölkerung zur Hölle gemacht werden. Daß viele ihrer Bewohner, um nicht zwischen die Fronten zu geraten, in den westlichen Teil Aleppos fliehen wollen, ist einleuchtend, sagt aber wenig aus über ihre politische Stellungnahme zum Assad-Regime, die sie auch gegenüber westlichen Fernsehteams besser für sich behalten. (Da müssen dann die schon zum xten Mal verwendeten Aufnahmen des Syrischen Fernsehens mit ihren Assad laut schreiend lobpreisenden Großmüttern aushelfen…)


Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß von einzelnen auf der Seite der Syrischen Revolution kämpfenden Gruppen, die sich von Al Qaida und dem IS getrennt haben, aus revolutionärem Übereifer, oder auch weniger revolutionären Gründen, Angehörige der Zivilbevölkerung daran gehindert werden, Ost-Aleppo zu verlassen. So berichtet ein von dort geflüchteter 13-Jähriger (wohl eher zu seinem Selbstschutz als den Tatsachen entsprechend!):
„Die Dschihadisten wollten uns nicht gehen lassen, um sich mit uns zu schützen. Manche, die fliehen wollten, wurden getötet.“ Als seine Eltern mit ihm zu dem Platz gehen wollten, wo das Regime Busse für die Bewohner Ost-Aleppos bereitgestellt hat, „…haben sie uns gezwungen, wieder zurückzugehen“. Wenn die verantwortlichen Redakteure der Tagesthemen nicht nur die offiziellen Verlautbarungen des Assad-Regimes, sondern auch die ‚oppositionellen‘ Web Sites aufgesucht hätten, wäre ihnen vielleicht aufgefallen, daß die Bewohner, die Ost-Aleppo als erste haben verlassen wollen, unmittelbar Gefahr liefen, von Assads Scharfschützen erschossen zu werden. Nun wird berichtet, daß Freunde und Verwandte, die sich auf diesen Weg gemacht haben, spurlos verschwunden sind. Männer unter 40 Jahren sollen für die Syrische Armee als Kanonenfutter rekrutiert worden sein. Vielleicht lassen sich all solche Details nicht in einem einzigen Tagesthemen-Beitrag unterbringen. Deshalb muß man aber nicht gleich Assads und Putins Propagandaabteilungen auf den Leim gehen und sich auf das Niveau von Russia Today begeben…


Wohl als Ausgleich und u
m dem äußeren Anschein von Ausgewogenheit zu genügen, wird in demselben Beitrag der Tagesthemen über die Demonstration einiger weniger Aufrechter unter unseren Schriftstellern und Künstlern vor der Russischen Botschaft in Berlin berichtet, die dort (über ihr »altes Megaphon…«) die Beendigung des „Massenmords in Aleppo“ fordern. Eine fürwahr längst überfällige Premiere! Warum diese aber erst jetzt? Angesichts der gefühlten Niederlage der Syrischen Revolution nimmt sich die Besetzung des Mittelstreifens vor der russischen Botschaft nicht allein wegen der geringen Teilnehmerzahl der Demo eher wie deren Begräbnisfeier aus…


Aber man werde am Ball bleiben, versichern einzelne Teilnehmer dem Fernsehen. Da nimmt sich die vom Tagesthemen-Sprecher in den Raum gestellte Frage, wo angesichts des „Massenmords in Aleppo“ eigentlich die Friedensbewegung bleibe, reichlich rhetorisch und auch ziemlich unpassend aus. (Oder sollte den Tagessthemen entgangen sein, daß die politische Optik der Friedensbewegung der 80er Jahre nie über Mutlangen hinausgereicht hat, in der uns plausibel gemacht werden sollte, daß die alleinige Gefahr von der Stationierung der Pershings ausgehe, von der die Sowjetunion sich notfalls ‚moralisch gezwungen‘ sehen werde, die BRD vorsorglich in Schutt und Asche zu legen? Heute wissen wir, daß diese Pseudodialektik auch nicht hat verhindern können, daß das Gesellschaftssystem der Sowjetunion den Weg seines friedlichen Übergangs in den Untergang gegangen ist.)


Die Frage nach der Friedensbewegung wird auch an einen ‚Aktivisten‘ der Ärzte gegen den Atomkrieg weitergereicht. (Die in seiner Antwort sich selbst verschlingende Logik hätte auch einem professionellen Kreml-Sprecher alle Ehre gemacht):
„Wir tun uns sehr schwer, die alten Mächte, die wir noch als Blöcke erlebt haben, gleichermaßen [sic!] kritisch zu betrachten…“ Will sagen, daß, wenn ‚wir‘ uns nicht mental um einen Ausgleich zwischen der bisherigen alten und der sich formierenden neuen ‚östlichen‘ Supermacht bemühen, sich die eine Seite immer als ungerecht behandelt sehen wird. (Welche Seite das wäre, läßt sich unschwer erraten!)


Von einer ähnlichen Pseudodialektik
ist auch Angela Merkels Parteitagsrede befallen, in der die rhetorische Frage gestellt wird, warum die Anti-TTIP-Bewegung nicht auch mal gegen Assad demonstriert habe? [2] Die schlichte Antwort würde lauten: Weil die Anti-TTIP-Bewegung Verträge über Zollerleichterungen durchaus nicht ablehnt, sondern nur diesen Vertrag, der mit den USA abgeschlossen werden soll. Dagegen spräche überhaupt nichts gegen einen Freihandelsabkommen der EU mit Putins Eurasischer Wirtschaftsgemeinschaft. Merkels spontanes Eintreten für die Zivilbevölkerung von Aleppo hätte vor 5 Jahren, als die öffentlich geäußerten Meinungen in Deutschland noch weit weniger stark russifiziert waren, noch für Aufsehen gesorgt. Heute atmet ihre rhetorische Frage denselben Geist, wie den der vor der russischen Botschaft versammelten Friedensfreunde. Den Geist des ‚Friedens mit Assad‘.


Sie trennen die berechtigte Sorge um die in Ost-Aleppo eingeschlossene Zivilbevölkerung von der Revolution in Syrien gegen das Assad-Regime. So etwa der Schriftsteller Peter Schneider gegenüber den Tagesthemen: Man muß gar nicht für die eine oder andere Kriegspartei Partei ergreifen. Man muß für die Zivilbevölkerung Partei ergreifen. Neunzig Prozent der Opfer in diesem Syrien-Krieg – und zumal in Aleppo – sind zivile Leute so wie wir.« Sind denn die Kämpfer auf seiten des Widerstands gegen das Assad-Regime in ihrer überwiegenden Mehrheit keine »Leute so wie wir«? Schwirrt da in dem Kopf von Peter Schneider vielleicht noch ein Rest Guevaristischer Guerillaromantik herum? Auch kommt die Sorge um die »Leute so wie wir« reichlich spät, nachdem der Massenmörder Assad mit russischer und iranischer Hilfe (und chinesischer Unterstützung im Weltsicherheitsrat) etwa eine halbe Million unter russisch-syrischem Bombenhagel getöteter Syrer auf dem Gewissen hat!


Als einziger Lichtblick in dieser Sendung zeigt sich die Lagebeurteilung der Sprecherin der Stiftung für Wissenschaft und Politik, die zu bedenken gibt, daß es, nachdem Assad von außerhalb Milizen (Hezbollah, Revolutionsgarden usw.) rekrutiert hat, nahegelegen habe, daß auch die Aufständischen »Militärunterstützung … bekommen. Da aus dem Westen keine Unterstützung gekommen ist« (denken wir an die von Obama gegenüber Assad gezogene ‚Rote Linie‘! [3]), »haben sie dann darauf gesetzt, die Unterstützung aus den islamistischen Kreisen anzunehmen«. Wodurch die Aufständischen, so wäre zu ergänzen, dem Kalkül Putins und der ‚Anti‘-IS-Propaganda Assads ins offene Messer gelaufen sind.


Aber vergessen wir die Krokodilstränen der Alt-68er und ihren Nachruf auf die Syrische Revolution, ebenso die rhetorische, weil politisch unangebrachte Nachfrage bei der alten Friedensbewegung (bei der zwangsläufig ein fauler Frieden mit Assad und Putin herauskommen muß)! Noch ist die syrische Revolution nicht tot. Sie hat in Aleppo eine Schlacht verloren (alles andere käme einem Wunder gleich).


Im Internet ist das Video einer Studentenversammlung in einer iranischen Universität zu sehen, in der der Sprecher unter dem begeisterten Beifall der Studenten die Frage stellt, warum in Iran zur iranischen Beteiligung an den Verbrechen des Regimes in Syrien geschwiegen werde? [4] Atmosphärisch erinnert diese Szene an Obamas Rede in Kairo am 04. Juni 2009, als er unter den ägyptischen Studenten, und wie sich zeigen sollte, nicht nur unter diesen, den Ausbruch des sog. Arabischen Frühlings auslöste. Heute herrscht wieder arabischer Winter. Vielleicht ist das Video auch nur ein fake, worin die Furcht der Mullah-Autokratie zum Ausdruck kommt, für Tausende in Syrien gefallener Iraner in einem imperialistischen Krieg Rechenschaft geben zu müssen. [5] Wahrscheinlich aber auch nicht. Inzwischen werden aus den iranischen Gefängnissen Strafgefangene für den Krieg in Syrien rekrutiert, denen, wenn sie zurückkommen, ihre Rehabilitierung als Märtyrer versprochen wird. [6] Vielleicht setzt sich der Arabische Frühling im Iran als Iranischer Frühling fort, eben dort, wo einst der Aufstand gegen das Schah-Regime begann, aber dann von den Islamisten Khomeinis gekapert wurde?


Aus Sicht der Syrischen Revolution hat sich ihr Kampf gegen das Assad-Regime längst in einen antiimperialistischen Befreiungskrieg gegen Rußland, China, Iran, (und deren syrische und syrisch-kurdische Marionetten) verwandelt, die Syrien und den ganzen Mittleren Osten (wozu, nicht zu vergessen, auch der Jemen gehört) unter sich aufteilen wollen. Noch unterstützt die Türkei aus eher fadenscheinigen Gründen die Freie Syrische Armee (um sie als ihre Vorhut für die Wiederrichtung des Osmanischen Reiches zu mißbrauchen), noch exportieren die Saudis ihre kaum mehr zu bändigenden inneren Widersprüche zwischen weltlichem Öl-Kapitalismus und wahabitischem Gottesstaat durch ihre Unterstützung der Gotteskrieger in den islamischen Ländern, um diese Widersprüche nicht im eigenen Land ausfechten zu müssen. (Hierzu gehört auch der vom ‚Arabischen Frühling‘ ausgelöste Stellvertreterkrieg der Saudis mit Iran in Jemen.) Aber die Verweltlichung und Verwestlichung der Orientalischen Despotien schreitet (so, wie die kapitalistische Entwicklung selbst) im positiven wie negativen Sinn unaufhaltsam voran und wird sich (solange sie keinen Weltkrieg auslösen) früher oder später auch gegen diese selbst richten. So, wie auch der Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, bzw. zwischen schiitischer und wahabitischer revolutionären Demagogie, zur Ernüchterung der sich darin bereichert habenden Neuen Bourgeoisie führen wird, die den gewonnenen Reichtum gewinnbringend anlegen muß.


Die europäische und die japanische Bourgeoisie steht vor dem ungelösten Problem, wie sie sich gegenüber der sich auf der russisch-chinesischen Achse formierenden nach Welthegemonie strebenden Koalition positionieren soll. Die ‚Flüchtlingskrise‘ der letzten beiden Jahre hat für die Europäer bereits einen Vorgeschmack dessen geliefert, was von der gegen den alten imperialistischen ‚Westen‘ in Bewegung gesetzten sich gleichermaßen proletarisierenden wie faschisierenden Massenarmut der Dritten Welt in Zukunft zu erwarten ist, und nicht minder von dem von der Weltwirtschaftskrise erzeugten westlichen, politisch weißen, Plebejertum, das einem neuen weißen Faschismus zustrebt. Von der alten westlichen Bourgeoisie Europas geht nicht gerade der Eindruck aus, als habe sie vor, die ‚westliche‘ Demokratie sowohl gegen den weißen wie auch gegen den neuen multi-coloured Faschismus der ‚Dritten Welt‘ verteidigen zu wollen, hinter dem Rußland und China stehen. Diese neuen Achsenmächte scheinen jedenfalls zu allem bereit zu sein und entschlossen, beide Abarten des Faschismus gegen den ‚Westen‘ in Bewegung setzen. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die durch die neue Administration vertretene US-Bourgeoisie ihren alten Wahlspruch wiederentdeckt hat: if you can‘t beat ‘em, join them. Auf Syrien scheint er jedenfalls schon mal zu passen.


Der Widerstand der Europäer gegen den Chauvinismus der weißen Arbeiterklasse, die Trump an die Regierung gebracht hat und dessen europäische Ableger von Putin weiterhin intensiv gepflegt werden, wird, mögen sich die Europäer (unter dem Beifall der westlichen Linken) auch noch so ostensiv und intensiv gegen ihn anstemmen, erfolglos bleiben, solange (was sich in Syrien bereits gezeigt hat) das Zwillingsverhältnis, das zwischen dem politisch weißen Chauvinismus und dem Faschismus der ‚Verdammten dieser Erde‘ nicht politisch geklärt worden ist. Von um so größerer strategischer Bedeutung ist daher der Verteidigungskampf der den Völkern der ‚Dritten Welt‘ von den alten Kolonialmächten ursprünglich aufoktroyierten ‚westlichen‘ Demokratie. Die 2011 in den arabischen Ländern vom ‚Westen‘ ausgerufene demokratische Kulturrevolution ist nicht nur an der ungelösten sozialen Frage, sondern vor allem an der so gut wie nicht stattgefundenen Säkularisierung der islamischen Gesellschaft gescheitert, gegen die sich die autokratischen Verfechter der Mullah-Herrschaft ständig zur Wehr setzten, indem sie der Konservierung des Islam die höhere Weihe das Kampfes gegen den westlichen Kolonialismus gegeben haben.


Für die Europäer stellt sich daher die Frage, ob sie in ihrer strategisch exponierten Position zwischen den sich neu formierenden bzw. neu orientierenden Supermächten mit beiden Formen des Faschismus den Kampf aufnehmen werden oder sich wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis die Ohren zustopfen, während die Rudermannschaft sehnsüchtige Blicke in Richtung auf die eine oder andere Seite des Faschismus wirft. Eben darin steckt die Existenzfrage der Europäer, die von Obama bei seinem Abschied von den von ihm als US-Präsident aufgesuchten historischen Stätten westlicher Demokratie (entsprechend einseitig) gestellt wurde, die aber trotz der in ihr als ausweglos erscheinenden Situation zugleich das Potential zur Lösung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt enthält. In welcher Richtung diese erfolgen wird, steht im Mittleren Osten nach wie vor zur Entscheidung an.

-euk

[1] parteimarx.org REAKTIONEN 2010 vom 27.11., 04.12., 05.12., 06.12., 10.12.2010 zum Ums-Ganze-Kongreß: SO, WIE ES IST, BLEIBT ES NICHT!
[Die vollständige Fassung der Fußnoten siehe PDF-Version dieses Textes.]
[2] Rede der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Essen am 06.12.2016.
[3] Vgl. parteimarx.org BLogbuch 1 25.05.2014 Revolution und Konterrevolution in Europa.
[4] Al Arabiya english 08.12.2016 (abgerufen): Video: Iranian student condemns his country‘s intervention in Syria.
[5] Al Arabiya english 11.12.2016 (abgerufen):
More than 1,000 combatants from Iran killed in Syria.
[6] Al Arabiya english 11.12.2016 (abgerufen): Iran frees criminals if they volunteer in Syria.

 

[gepostet am 13.12.2016]

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20.09.2016 »

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Dieser Tag ist kein symbolisches Datum, wie es der 16.07., der Tag des gescheiterten Putschs (auf Bestellung) in der Türkei oder der 15. Jahrestag von Nine/Eleven gewesen wären, die jeweils einen EINspruch verdient hätten. Heute ist, so fangen für gewöhnlich Kriminalromane oder -filme an, ‚ein ganz normaler Tag‘, der nur mir allein als ein solcher aufgefallen ist, und mich meine Zeitungslektüre unterbrechen und diesen EINspruch anmelden läßt – obwohl ein Stapel ungelesener Bücher abzuarbeiten wäre. Hic Rhodos


Die FAZ hat heute ein Interview mit Gerhard Schröder aus ihrer Sonntagszeitung vom 18.09. abgedruckt und meldet, daß Schröder morgen den Ludwig-Erhard-Preis bekommt. [1] Zweifellos als Anerkennung dafür, daß er der Agenda 2010 ‒ nicht zuletzt gegen die antikapitalistische Demagogie der gesamtdeutschen Linken, von der die SPD zerrissen zu werden drohte – zum Durchbruch verholfen hat. [2]


Diese Preisverleihung fällt in eine Zeit der nicht mehr enden wollenden Weltwirtschaftskrise, da die westdeutsche Bourgeoisie die von ihr erzielten Profite wegen der unterhalb der bisherigen Durchschnittsprofitrate zu erwartenden Profitrate lieber beim Glücksspiel an der Börse verzockt (bekanntlich ein Nullsummenspiel ohne Mehrwert und Produktivitätssteigerung), als ein höheres Wachstum des Kapitals anstreben zu wollen ‒ mag die EZB die Kapitalzinsen so weit senken, wie sie will. Gepriesen wird mit dem Ludwig-Erhard-Preis [3] jener Schröder, der als Bundeskanzler (in einer sich zuspitzenden ‚revolutionären Situation‘), da alle Wege zur Erhöhung des absoluten Mehrwerts versperrt schienen, durch den von ihm bewiesenen Realismus verhindert hat, daß die (west)deutsche Wirtschaft den Bach runterging: das bedeutete, den Wildwuchs bei den ‚Arbeitskosten‘ durch Verlagerung des ‚Arbeitgeberanteils‘ an der Arbeitslosenhilfe als Sozialkosten auf den Bundeshaushalt, m.a. W. auf die Steuerzahler umzulegen, deren Masse (das ist die von Oskar Lafontaine nicht verstandene Ironie der Agenda 2010!) wiederum die Lohnempfänger ausmachen, und damit dem Kapital zumindest die Erhöhung des relativen Mehrwerts zu garantieren. Mit der Einführung der Agenda 2010 am 1. Januar 2005 war der Arbeitslose zum Fürsorgeobjekt des Staates geworden, von dessen Sorge um sein Wohlergehen er in der Schönen Neuen Sozialstaats-Welt willkommen geheißen wurde. Im Godesberger Programm der SPD waren die westdeutschen Arbeiter bereits von der Arbeiterklasse zum ‚Sozialpartner‘ des Kapitals geschrumpft worden; mit Schröders Hartz-Reformen hat die deutsche Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt im ‚Grundwiderspruch‘ von Lohnarbeit und Kapital ausgespielt. Aus diesem Gegensatz fällt der Arbeitslose nach einem Jahr Arbeitslosigkeit offiziell heraus und wird zum Sozialfall degradiert; die Arbeitslöhne der sich noch in Arbeit befindenden Wählerklientel der SPD (und darin bestand der Trick) blieben entgegen Oskar Lafontaines sozialdemagogischen Unkenrufen zunächst (einschließlich der von ihnen zu zahlenden Sozialabgaben) unangetastet. Die Arbeiterklasse hatte sich in eine vom Staat alimentierte Schicht des (neuen) Plebejers einerseits und in eine (nach der Leninschen Definition) klassische Arbeiteraristokratie andererseits gespalten. [4] Die ‚Plebejer proben den Aufstand‘ – aber als revolutionäre Farce! [5] Schröders Coup (ohne Frage zur Entlastung »der Arbeitgeberseite«, die dadurch in die Lage versetzt werden sollte, »mehr Beschäftigung zu schaffen«), hat ihm die ewige Feindschaft der sich (in ‚proletarischer‘ Pose) an der untergegangenen DDR orientierenden ökonomistischen linken Kleingeister in Partei und Gewerkschaft eingetragen, die er frohen Herzens zur WASG (der Keimform der sich Richtung Westen ausbreitenden post-SED) ziehen lassen konnte – weil ihm dieser Coup zugleich die Chance eröffnete, vor der ‚neuen sozialen Bewegung‘ (freudig) das Handtuch werfen und noch während seiner Amtszeit als Bundeskanzler seinen Übergang zum Lobbyisten als Vorsitzender des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG in die Wege leiten zu können.


Marx hat Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts in Die Klassenkämpfe in Frankreich die französische Arbeiterklasse darauf aufmerksam gemacht, daß die proletarische Revolution nur in Ländern mit einer entwickelten industriellen Bourgeoisie Sinn macht und das auch nur dann, wenn die Proletarier ihre verengte Sichtweise auf den ‚Sozialismus in einem Land‘ überwinden. [6] Wenn diese Überlegungen immer noch Gültigkeit haben (wovon ich ausgehe), dann beruht die Stamokap-Theorie, mit der Schröder seine revolutionären Jugendsünden [7] einst theoretisch untermauert hat, auf eben jener einseitigen Orientierung, vor der Marx die revolutionäre französische Arbeiterklasse gewarnt hat und erweist sich als wortwörtliche Umsetzung der Stalinschen These vom ‚Sozialismus in einem Land‘. [8]


Auf dieser theoretischen Grundlage konnten die Interessen des Kapitals mit denjenigen der westdeutschen Arbeiterklasse problemlos vereinbart und (das ist die Ironie der Geschichte) die ökonomistische Kleingeisterei der SED-Anhängerschaft innerhalb der SPD kleingehalten werden. In den Köpfen der‚westdeutschen Arbeiterklasse‘ wurde Schröders ‚Sozialismus in einem Land‘ zur gemeinsamen Kampfansage von Lohnarbeit und Kapital an die ausländische Konkurrenz auf dem Weltmarkt unter Führung ‚der Amerikaner‘. Schröder hat mit seinem ‚Sozialismus in einem Land‘ der ‚westdeutschen Bourgeoisie‘ einen großen Dienst erwiesen, den sie mit der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises nachträglich zu würdigen weiß…


Alles das war Stamokap…! Ich krame in meiner Erinnerung und dann aus den verstaubten Tiefen meines Bücherschranks ein Bändchen aus jener Zeit hervor, als die Stamokap-Theorie Anfang der 70er Jahre Konjunktur hatte. [9] Es fällt mir nachträglich auf, daß die Formel vom ‚Sozialismus in einem Land‘ eine doppelte Bedeutung hatte, je nachdem, ob auf dem Sozialismus oder in einem Land die Betonung liegt (wobei das eine, der Sozialismus, das andere entweder ein- oder ausschloß). Die Stamokap-Anhänger waren der festen Überzeugung, daß sich die Sache mit dem einen Land durch den in beiden Teilen Deutschlands zu errichtenden (stärker oder schwächer ‚stalinistisch‘ ausgeprägten) Sozialismus ganz von selbst erledigen werde. [10] (Für die heutige marxistische Linke hat sich die Herstellung der staatlichen Einheit 1989 in einem Land vor dem Erreichen des Sozialismus als ‚historische Katastrophe‘ erwiesen, deren Auswirkungen sie durch Rückgriffe auf die verstaubte Programmatik der Juso-Linken zu minimieren sucht.) Ob aber der Sozialismus, der hatte kommen sollen, eher einer im Stil Schröders oder Honeckers geworden wäre, wurde angesichts des Staatsbankrotts der DDR und nachdem diesem die Einheit beider deutscher Staaten in einem Land zuvorgekommen war, weder vom ‚deutschen Volk‘, noch von der ‚deutschen Arbeiterklasse‘, sondern von den Vier Siegermächten entschieden. ‚Wir sind das Volk‘ war eher Begleitmusik als der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Durchgesetzt hat sich als Blaupause für den gesamtdeutschen Kapitalismus seitdem der ‚demokratische Sozialismus‘ Schröders und der Stamokap der Juso-Linken, gleichgültig, ob in der Regierung die christdemokratische Einheit oder der sozialdemokratische Sozialismus dominiert. In der Quersumme ergab sich daraus der christlich-sozialdemokratische Sozialismus in diesem einen Land.

In dem FAS-Interview gibt Schröder den elder statesman, der sich die Freiheit nimmt, gewisse schlichte Erkenntnisse auszusprechen, um die die um ihre Wählerstimmen besorgten Politiker und Parteigenossen lieber einen großen Bogen machen. Bei der Abgaskomödie, die gegenwärtig um den Stamokap-Betrieb VW aufgeführt wird, kann er sich zu Recht nicht des Eindrucks erwehren, »daß Strafzahlungen für Fehlverhalten, etwa bei Siemens oder aktuell bei Bosch und VW, eher das Ziel haben, die deutsche Industrie in einem internationalen Konkurrenzkampf zu schädigen«. [11] Gut gebrüllt Löwe! Das stimmt! ‒ aber leider nur zur Hälfte, da dieser »internationale Konkurrenzkampf« die originalgetreue Umsetzung der beggar-thy-neighborPolitik aus den 30er Jahren ist, bei der im Mahlstrom der Weltwirtschaftskrise jeder den neben ihm Wasser tretenden Weltmarktkonkurrenten zu seiner eigenen Rettung unter die Wasserlinie zu drücken versucht. Schröders Verteidigung der Interessenlage des deutschen Kapitals unterscheidet sich bestenfalls wegen der darin angestimmten nüchterneren Tonart von der antikapitalistischen Demagogie der ‚westlichen‘ Linken, die ihren für dumm verkauften Wählern und Anhängern einzureden versucht, es gäbe einen besseren (Rußland und China) und einen schlechteren Kapitalismus (‚der Westen‘), und deshalb säßen in der EU die guten Kapitalisten im Süden und die bösen im Norden, die allerbösesten (selbstverständlich!) in der Mitte Europas. Schröders Rettungsversuch für das deutsche Kapital scheint sich einer derart schlichten linken Demagogie zunächst nicht bedienen zu müssen. Dann aber zeigt sich, daß auch er mit seinen linken SPD-Genossen, den SPD-Wirtschaftsminister eingeschlossen, die These vom angeblich qualitativen Unterschied zwischen CETA und TTIP teilt, womit er sich Der Linken, den linken Grünen und der SPD-Linken annähert, die die Illusion verbreiten, daß Staaten, deren kapitalistische ‚Geschäftspartner‘ sich wechselseitig über die Senkung ihrer Zollschranken zu Lasten Dritter einigen wollen, sich in ‚kapitalistische‘ und ‚antikapitalistische‘ einteilen ließen. [12]


Wollte man die antikapitalistische Demagogie der gesamtdeutschen Linken wörtlich nehmen, lägen die ‚sozialistischen‘ Knebelverträge der Sowjetunion mit den damaligen Comecon-Staaten als Warnhinweis wesentlich näher. Aber auf diesen Vergleich verzichtet sie lieber. Zumal bei einer Ablehnung von TTIP (und der Einigung über ein zahnlos gewordenes CETA-Abkommen) der linke und rechte Antiamerikanismus sich wie immer in der Mitte (‚wo man Wahlen gewinnt‘) treffen werden. Soweit reicht Schröders Realismus dann doch nicht, daß er die fragwürdigen Berührungspunkte zwischen der Rechten und der Linken (siehe Gabriels Besuch im letzten Winter bei einer Pegida-Versammlung) vermeidet: »Mit Kanadiern verhandelt man auf Augenhöhe, mit den Vereinigten Staaten ist das nicht sichergestellt.« [13]


Was heißt »auf Augenhöhe«? Kanada und die EU sind nun mal, anders als (heute noch) die USA, keine ‚Weltmarktführer‘; ein Rangunterschied, auf den die USA großen Wert legen und gleichzeitig akzeptieren müssen, daß ‚die Europäer‘ die fehlende »Augenhöhe« durch die Übernahme der Argumente der TTIP-Gegner kompensieren werden, die sie als zusätzliche Verhandlungs-Chips mit in die Waagschale legen werden. Auch ganz egal, ob sie damit den rechten und linken Antiamerikanismus, den ‚America-First‘-Trumpismus oder die antikapitalistische Sozialdemagogie der ‚westlichen‘ Linken mit ihrem Wunsch-Kandidaten Bernie Sanders bedienen. Und schließlich auch, daß ‚die Europäer‘ dabei den Ausstieg der USA aus den TTIP-Verhandlungen provozieren werden, sollte die Obama-Administration, nicht ihre wichtigsten Trümpfe für das US-Kapital durchbekommen. Ein gefährliches Spiel! Ob dieser Trump am Ende nur eine Lusche war (Schröder spielt laut Interview Skat und nicht Schach), wird sich spätestens Ende des Jahres zeigen. Dann wäre nach einem Wahlsieg des Putin-Verehrers Trump und der Blockade der Freihandelsabkommen durch eine antiamerikanische Einheitsfront von Rechts bis Links das ‚westliche‘ Europa von seinen transatlantischen Verbindungen »auf Augenhöhe« abgeschnitten (Mother England wieder einmal ausgenommen, die nach dem Brexit zu ihrer special relationship zu den USA zurückkehren wird). In dem sich daraus ergebenden worst case scenario müßte sich die EU auf den Spuren Marco Polos wiederum auf die Seidenstraße begeben, wo sie nur ein einziges chinesisch-russisches Entgegenkommen zu erwarten hat: plattgewalzt zu werden.


Hieran zeigen sich sowohl die Grenzen des Schröderschen Realismus als auch der bereits in der Stamokap-Theorie versteckte Pferdefuß sozialdemokratischer Außen- und Wirtschaftspolitik, deren Hauptanliegen schon immer war, zwischen der westdeutschen Bourgeoisie und ‚dem Osten‘ unabhängig von der gerade bestehenden Weltlage erträgliche und einträgliche Wirtschaftsbeziehungen herzustellen. Das klappte auch sehr gut, solange der US-Hegemon allein den Weltmarkt beherrscht hat und der großrussische Sozialimperialismus sich zumindest in Europa mit dem Comecon zufriedengab. (Ein anderes Thema ist die imperialistische Konkurrenz der USA und der Sowjetunion in der damaligen sog. Dritten Welt.) Es entspricht auch voll und ganz dieser hegemonistischen Logik, daß aus dem Freund der Arbeiterklasse Gerhard Schröder nach seiner Abwahl als Bundeskanzler im Jahre 2005 der Vorsitzende des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG geworden ist, der in seiner Person eine ideale Verbindung zwischen (west)deutschem Stamokap und russischem Oligarchen-Kapitalismus eingegangen ist. Auch darin hat er der (gesamt)deutschen Bourgeoisie einen großen Dienst erwiesen.


Es haben sich schon häufig berühmte Deutsche in die Dienste der russischen Zaren begeben wie Stein, Arndt oder Clausewitz Anfang des 19. Jahrhunderts. Wenngleich zu jener Zeit eher gezwungenermaßen, weil unter der napoleonischen Besetzung Preußens Leuten wie Stein die Fortsetzung ihrer Tätigkeit im preußischen Staatsdienst von Napoleon untersagt worden war. (Ganz abgesehen davon herrschte unter dem Adel Europas so eine Art aristokratischer Internationalismus, bei dem es kaum eine Rolle spielte, aus welchem Land die Staatsdiener an den europäischen Höfen stammten.) Auf eine vergleichbare Zwangssituation kann sich Gerhard Schröder nicht berufen. Es sei denn, wir wollten, den politischen Standpunkt rechter und linker Putinisten einnehmend, behaupten, weil das ‚westliche‘ Europa unter US-amerikanischer Kuratel stehe, habe sich Schröder in die Dienste von ‚Zar Putin‘ begeben müssen. Seit der Annexion von Teilen Georgiens (2006) und der Krim (2014) und dem offenen militärischen Eintritt Rußlands in den sog. syrischen Bürgerkrieg (2015) hat die Fragwürdigkeit des Schröderschen Lobbyismus und der deutschen ‚Ostpolitik‘ insgesamt für das ‚westliche‘ Europa einen politisch und militärisch zunehmend selbstmörderischen Charakter angenommen.


Inzwischen ist es auch beim allerletzten Kommentator innerhalb der deutschen Presselandschaft angekommen, daß ‚der Flüchtlingsstrom‘, der sich seit letztem Herbst über das ‚westliche‘ Europa ‚ergießt‘, irgendetwas mit der von Assad und Putin unter Mithilfe des Iran und des Islamischen Staats in Syrien durchgeführten systematischen ethnischen Säuberung zu tun haben muß und daß die ‚Flutung‘ Europas mit ethnisch gesäuberten nahöstlichen Flüchtlingen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der schrittweisen militärischen Rückeroberung von Teilen des früheren großrussischen Imperiums stehen muß. Und daß dieses ‚Flüchtlingsdrama‘ wiederum (das wäre der nächste Erkenntnisschritt) auf das üble Spiel verweist, in das Putin mit China im Rücken und dem Iran an seiner Seite das ‚westliche‘ Europa (je primitiver desto wirkungsvoller) zunehmend verwickelt hat, deren Politiker von einer politischen und moralischen Niederlage zur nächsten taumeln. Noch ist es nur das SED-Blättchen junge Welt, in dem der Moskau-Korrespondent der FAZ übel dafür abgewatscht wird, daß er es gewagt hat, die lange Schleimspur, die der deutsche Wirtschaftsminister auf seinem Weg in den Kreml hinterlassen hat, zurückzuverfolgen. [13] Könnte dann nicht auch über kurz oder lang, wenn man eins und eins zusammenzählt, der (von Assad gegen die Arabische Revolution in Syrien inszenierte) ‚syrische Bürgerkrieg‘ die passende Blaupause für einen echten Bürgerkrieg im ‚westlichen‘ Europa abgeben? Wofür die Scharmützel zwischen rechten und linken Putinfreunden anläßlich der sog. Flüchtlingskrise einen ersten Vorgeschmack geliefert haben, nach dem Motto: Deutschland einig Bürgerkriegsland?


»Es geht nicht darum«, wie Schröder den FAS-Lesern jovial zusichert, »daß man keine Kritik äußern darf. Mir geht es darum, daß klar wird, daß wir ohne Rußland keinen internationalen Konflikt lösen können« (obwohl ‚wir‘ mit Rußland ständig von einem »internationalen Konflikt« in den nächsten getrieben werden) »und daß es ohne die Zusammenarbeit mit Rußland auch keine Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent geben wird«, (obwohl Putin durch ‚unsere‘ »Zusammenarbeit mit Rußland«, bisher ähnlich wie Hitler in den 30er Jahren, keineswegs dazu bewegt werden konnte, auch nur einen Millimeter der von ihm ‚zurück‘eroberten ‚heimatlichen Erde‘ an deren bisherige Besitzer, in diesem Fall Georgien und die Ukraine, zurückzugeben). Schröder hat die ‚westliche‘ Forderung nach vollständiger Einhaltung des Minsker Abkommens, dessen Erfüllung als Voraussetzung für die schrittweise Zurücknahme der westlichen Sanktionen gegen Rußland einen offenen Krieg an der russisch-ukrainischen Grenze hatte verhindern sollen und das eine schrittweise Truppenentflechtung auf beiden Seiten sowie die begrenzte Autonomie des Donbass innerhalb der Ukraine vorsah, längst aufgegeben und empfiehlt statt dessen die Anpassung ‚unserer‘ Politik an die Putinsche Salamitaktik, d.h. er will das Minsker Abkommen, das mehr sein wollte als eine reine Waffenstillstandsvereinbarung durch eben eine solche nach dem Prinzip tit for tat ersetzen: »Wenn es erste Fortschritte gibt, dann sollten die Sanktionen gelockert werden.« Diese Verhandlungen der ‚Europäer‘ »auf Augenhöhe« werden dadurch zu Beziehungen zwischen dem Aggressor und dem Opfer der Aggression, dessen Hilflosigkeit durch die rhetorische Frage Schröders zusätzlich verhöhnt wird: »Glaubt jemand ernsthaft, daß man im Donbass mit einer von Kiew abhängigen Polizei [sic!!!] für Sicherheit sorgen könnte?« Nein, das glaube ich auch nicht! Denn solange Putins lumpenproletarische Geheimdienst-Mafia dort unter dem Schutz der russischen Armee ihre freundlich-terroristische Herrschaft aufrechterhält, muß die Forderung nach Ausübung der ukrainischen Souveränität im Donbass ein Witz bleiben! Und Schröder setzt noch einen drauf: »Das geht nur mit einer Föderalisierung.« Einer Föderation des künstlichen Gebildes von Novo Rossija mit der russischen Föderation oder der Rückkehr des Donbass in die Ukraine als autonome Region innerhalb des ukrainischen Staates? Welche von diesen »Föderalisierung(en)« er dabei im Sinn hat, sagt Schröder nicht. Der nächste Satz enthält darauf aber einen kleinen Hinweis: »Sonst fühlen sich die Leute dort nicht sicher.« Wenn er mit »die Leute« Putins »Leute« gemeint hat, trifft das durchaus zu! Diese werden sich um so sicherer fühlen dürfen, je weiter Putin mit seiner Salami-Taktik bei den ‚Europäern‘ vorankommt. »In der Hinsicht gibt es in der Kiewer Regierung und beim dortigen Präsidenten Positionen, die man [?] so nicht akzeptieren kann.« Und welche wären das? Die auf der Einhaltung der staatlichen Souveränität der Ukraine beharrenden »Positionen« der ukrainischen Regierung und/oder die durchaus mehr als fragwürdigen »Positionen« der ukrainischer Rechten, die es, wie überall in Europa, auch in der Ukraine gibt und die dort gemeinsam mit der moskautreuen Linken als faschistischer bzw. kommunistischer Popanz für Putin und seine Propagandamaschine jeweils einen guten Job machen? Diese »Positionen« näher zu definieren, darauf läßt sich Schröder nicht ein. Es bleibt bei Andeutungen und dem Wink mit dem Zaunpfahl:. »Darüber könnte auch die Bundesregierung nachdenken.« Damit es ihr nicht eines Tages genauso ergehen wird wie heute der Ukraine und dem sich offenbar allzu weit nach ‚Westen‘ hinausgelehnt habenden‘ Oligarchen Poroschenko?


Bisher hat diese Bundesregierung trotz der Kotaus des deutschen Außenministers vor dem Potentaten in Moskau und den Schleimspuren des Wirtschaftsministers bis in Putins Datscha hinein sich in ihrem Kern immer noch als ‚beratungsresistent‘ erwiesen. Das würde sich mit einer rot-rot-grünen Koalition im nächsten Jahr schlagartig ändern. Die frühere SED strebt hinter ihrer smiley-freundlichen Gorbi-Maske zurück an die Macht – und dieses Mal in ganz Deutschland. Ihre Machtergreifung wäre der nächste Schritt in dem von Putin angepeilten europäischem Bürgerkrieg. Dafür wird in Berlin schon mal der rot-rot-grüne Ranzen geschnürt, während drüben am Horizont die Rechten mit den Nazis auf ihre Gelegenheit lauern, ihrerseits in diesen Bürgerkrieg einzusteigen. Der nächster Zug Putins in seinem eurasischen Mühlespiel! Er braucht nur noch die Wahlen in den USA abzuwarten, dann wird Trump als Präsident der USA der nächste Trumpf in Putins Blatt sein, den er gegen ‚die Europäer‘ ausspielen wird.


Mit einer rot-rot-grünen Regierung wäre der gesamtdeutschen Bourgeoisie und Putins Rußland erneut ein großer Dienst erwiesen. Darin würden Schröders Stamokap-Sozialismus mit der seit 1968 sich verkleinbürgerlichenden Kulturrevolution der Grünen und dem anti-‘westlichen‘ ‚Anti‘-Kapitalismus der Post-SED-Linken zu einer großen Synthese verschmelzen und die ideologische Grundlage für Putins eurasisches Europa bildeten, das von dem neuen Plebejertum von Rechts in Schach gehalten würde. Das rot-rot-grüne Deutschland als Alternative zum Atomtod, der den ‚Europäern‘ bei Widerstand gegen Putins politische und militärische Salamitaktik angedroht wird. Nur daß dieses Mal den in Ostpreußen (in der oblast‘ Kaliningrad) aufgestellten nach Westen ausgerichteten Mittelstreckenraketen keine Pershings gegenüberstehen werden! Die modernste und als solche revolutionärste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft wird sich vor dieser ‚glänzenden‘ Perspektive stehend (‚Lieber rot als tot!‘) überlegen müssen, ob sie Teil dieses auf den ersten Blick unlösbar erscheinenden Problems oder Teil der revolutionären Lösung sein wird!

-euk

[1] (Da der EINspruch eher der Textgattung des Essays angehört und weniger der des wissenschaftlichen Aufsatzes, wird in dieser Version des Texte auf Fußnoten weitestgehend verzichtet. Zusätzliche Erläuterungen befinden sich in den Fußnoten der pdf-Version dieses Textes.)
FAZ 19.09.2016 Altkanzler im Interview. Müssen Reformer Wahlen verlieren, Herr Schröder?
[2] Aus Schröders Regierungserklärung vom 14.03.2003 zitiert Oskar Lafontaine in seinem Buch Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2005, 60, die wichtigste, von seinen Spin-Doktoren am stärksten versponnene Passage und setzt, anstatt diesen Spin zu durchschauen oder gar zu entlarven, dem darin betriebenen Etikettenschwindel platteste soziale Demagogie entgegen. Beides verschmilzt in einem ‚rot-roten‘ Scheingegensatz zu einem einzigen großen Mißverständnis – in Wirklichkeit einem großen Betrug.
[3] Der Preis geht zu gleichen Teilen an Schröder und den FAZ-Herausgeber Holger Stelzner. Die Laudatio hält der deutsche Finanzminister.
[4] Siehe Karl Marx in einem Brief an die russische Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski“ MEW 19 (107-112),111, worin er auf die Verwandlung der römischen Bauern in Plebejer anspielt, die sich aber nicht in Lohnarbeiter verwandelt haben, sondern in einen »faulenzender Mob, noch verächtlicher als die sog. „poor whites” der Südstaaten der Vereinigten Staaten«.
[5] Anders als in dem gleichnamigen Theaterstück von Günther Grass, der zwischen politischen und sozialen Revolutionen keinen Unterschied macht, hat Brecht in seinem berühmten Gedicht, in dem es heißt, daß die Partei der Arbeiterklasse zur Lösung der Probleme, die sie mit dieser hat, sich einfach ein anderes Volk suchen soll, zwar den Schwerpunkt im Widerspruch zwischen politischer und sozialer Revolution falsch gesetzt, dieser Widerspruch ist aber zumindest noch vorhanden. Anders als der römische Plebs könnten die heutigen Plebejer, wenn dieses Mißverhältnis gerade gerückt würde, unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen die richtige Bestimmung der Beziehung zwischen der sozialen und der politischen Revolution als notwendig zu lösender Widerspruch gehört, durchaus wieder Teil der proletarischen Revolution werden.
[6] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 MEW 7 (11-107), 19: »Wie die Arbeiter glaubten, neben der Bourgeoisie sich emanzipieren, so meinten sie, neben den übrigen Bourgeoisnationen innerhalb der nationalen Wände Frankreichs eine proletarische Revolution vollziehen zu können. …«
[7] Schröder im FAS-Interview: »Auch wenn ich zugeben muß: Ich selbst war als Juso in den 1960er Jahren noch mit der Planung der Revolution beschäftigt«.
[8] Die These vom ‚Sozialismus in einem Land‘ wurde erstmals 1924 von Stalin in die Debatte geworfen und Ende der 20er Jahre nach dem Sieg über seine Hauptgegner innerhalb der KPdSU(B) politisch in die Praxis umgesetzt. Sie besagt nach Isaak Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie Bd. I, Berlin 1979, 306,320, »daß Rußland für sich allein in der Lage sei, eine durch und durch organisierte sozialistische Wirtschaft aufzubauen. …«
[9] Freimut Duve (Hg.): Der Thesenstreit um „Stamokap“. Die Dokumente zur Grundsatzdiskussion der Jungsozialisten, Hamburg 1973.
[10] So heißt in dem in Der Thesenstreit…, 71, abgedruckten „Hamburger Strategiepapier“, das mit »Der Weg zur Demokratie« überschrieben ist: »Da die sozialistische Demokratie in der BRD nur durch eine ständig größer werdende und aktivere Teilnahme aller Teile der arbeitenden Bevölkerung an der Planung, Leitung und Kontrolle der Gesellschaft auf allen Gebieten und auf allen Ebenen erreicht werden kann – d.h. durch das aktive Eintreten der Mehrheit der Bevölkerung für den Sozialismus – wird der Sozialismus für die BRD eine beispiellose Entfaltung der Demokratie und somit das Gegenteil eines totalitären Staates darstellen.«
[11] Siehe Fn. 1.
[12] Gegen den ‚freihändlerischen‘ Marx hat die gesamtdeutsche Linke alle Mühe, ihren anti-‘westlichen‘ Antikapitalismus aufrechtzuerhalten. Marx stellt in seinem Redemanuskript für den internationalen Kongreß im September 1847 in Brüssel über die Auswirkungen des Freihandels auf die Lage der Arbeiterklasse die dort versammelten Ökonomen vor die Wahl: »Entweder muß man die gesamte Ökonomie, wie sie gegenwärtig besteht, ablehnen, oder man muß zulassen, daß unter der Handelsfreiheit die ganze Schärfe der Gesetze der politischen Ökonomie gegen die arbeitende Klasse angewandt wird. Bedeutet das, daß wir gegen den Freihandel sind? Nein…«
[13] Siehe Fn. 1.
[14] junge Welt 24./25.09.2016 Der Schwarze Kanal. Aus den Unterlagen; FAZ 21.09.2016 Deutsch-russisches Defilee. Eine Passage aus den Leitartikel des Moskau-Korrespondenten der FAZ, Friedrich Schmidt, hat den ständigen Autor des Schwarzen Kanals, Arnold Schölzel derart in Rage gebracht, daß er diese über eine ganze Spaltenlänge in der jW zitiert und in seinem Kommentar den stärksten Tobak früherer SED-Propaganda auffährt, indem er Schmidt unterstellt, daß sein ironischer Hinweis auf das Defilee westlicher Putin-Freunde vor dem Kreml-Herrscher »wie frisch aus einem Dossier von BND, Verfassungsschutz oder einer anderen Nachfolgeorganisation des Reichssicherheitshauptamtes« daherkomme.
[15] Siehe Fn. 1; dies gilt auch für die nachfolgenden Zitate aus dem Schröder-Interview.

[gepostet 20.10.2016]


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01.05.2016 »

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Warum die Marxsche (Mehr)Werttheorie eine hinreichende Erklärung für die Ursachen und Gründe der gegenwärtigen Weltmarktkrise des Kapitals liefert, warum es für die heutigen Arbeiterklassen Sinn macht, das „Kapital“ neu zu lesen bzw. für sich überhaupt erst zu entdecken und warum sich schließlich der Marxsche Kommunismus als einziger Ausweg aus dieser Krise und einem drohendem Weltkrieg anbietet. [1]


Wir sollten den Deutschen nicht nur immerfort Böses unterstellen, aber auch nicht wie die Deutschnationalen von Pegida und AfD ins entgegengesetzte Extrem verfallen und Deutschland über alles und alle anderen Nationen stellen. Vielleicht war die Kanzlerin schlauer als wie sie von Rechts verteufelt und von Links in den Himmel gehoben wurde. Vielleicht hat sie ihr berühmtes Selfie deshalb pressewirksam geknipst, weil sie als promovierte Physikerin weiß, wie mit vorhersagbaren Ereignissen umzugehen ist. Und leicht vorhersehbar war im Spätsommer letzten Jahres gewesen, was passiert, wenn Deutschland auf die sog. Flüchtlingswelle genauso reagiert wie Ungarn und die Balkanländer: Stacheldraht, Tränengas, Grenzen dicht oder gar wie die (verspätete) Reaktion ‚der Griechen‘ zeigte, (bei denen alles ohnehin mit einer gewissen Verspätung passiert): Flüchtlingslager! Wären ähnliche Maßnahmen auch vonseiten ‚der Deutschen‘ erfolgt, wäre auf den Titelseiten der ‚antifaschistischen‘ und ‚antideutschen‘ Blätter Europas zu lesen gewesen: Deutschland vertreibt Flüchtlinge mit Tränengas (oder Gewehrkugeln, wie die AfD vorschlug) von seinen Grenzen und richtet Lager ein! Bei den Worten ‚Grenze‘ und ‚Lager‘ reagieren ‚die Deutschen‘, ob Jung, ob Alt, wie allgemein bekannt ist, aus extrem verschiedenen Gründen, leicht panisch…


Wenn Merkel also damit rechnen konnte, was sich als Reaktion auf ihr fröhliches Flüchtlings-Selfie an den Stränden griechischer Ägäis-Inseln abspielen würde (zumal sie über den von Assad und mit Putins Hilfe verübten und im heimlichen Einverständnis mit den islamistischen Rassenkriegern koordinierten Völkermord in Syrien bestens informiert gewesen sein wird), dann war nach der rigiden Reaktion Ungarns auf den ‚Flüchtlingsstrom‘ in Richtung Norden auch die Kettenreaktion der an der ‚Balkanroute‘ liegenden Staaten mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersehbar (die der österreichische Jung-Metternich in das chauvinistisch anmutende Bild von den wie Dominosteine umfallenden Balkanländern kleidete). Es waren also dieses Mal nicht ‚die‘ Deutschen, die für die schrecklichen Bilder sorgten, sondern die anderen EU-Länder, die in wortwörtlicher Erfüllung desselben das Dublin-Abkommen brachen, indem sie so reagierten als wären sie die EU, die den ‚Flüchtlingsstrom‘ schon längst hätte eindämmen müssen – wodurch die an diesem Gesetzesbruch eindeutig nicht beteiligte Kanzlerin größeren (moralischen) ‚Schaden vom deutschen Volk‘ abwenden konnte. Dafür liebte Die Linke (der die Moral ziemlich egal war, Hauptsache es kamen zur Freude Putins so viele Rrrefutschies wie möglich!) Merkel ‚über alles‘, während Die Rechte (bis hinein in die christliche Schwesterpartei) wegen der an ‚Vaterlandsverrat‘ grenzenden politischen Leichtfertigkeit der Kanzlerin fast überschäumte.


Auch erwies sich die Reaktion der katastrophenerprobten deutschen Bevölkerung als vorhersehbar, wenn wir uns an ihre riesige Spendenbereitschaft anläßlich der Tsunami-Katastrophe an den Stränden von Aceh und Sri Lanka erinnern. Wegen ihrer sprichwörtlichen Tüchtigkeit zur Anstands- und Wohlstandsnation verdammt, können ‚die Deutschen‘ es nun mal nicht mit ansehen, wenn unschuldige Menschen (zumal an ihren beliebten Urlaubsstränden) von Naturkatastrophen heimgesucht werden. (Als sich im thailändischen Phuket das Meer viel weiter als das sonst Wattenmeer zurückzog, betrachteten deutsche Gäste das als prima Gelegenheit für eine Strandwanderung zum Muschelsammeln…) Daher schlummert in so ziemlich jedem von uns (Älteren) – und das soll auf Grund persönlicher Erfahrungen nicht zynisch klingen! – wegen unserer seit den Bauernkriegen des Mittelalters regelmäßig katastrophischen und selten revolutionären Geschichte ein unstillbares Helfersyndrom, das aber häufig (aus ziemlich niedrigen politischen Beweggründen) mit der pharisäerhaften Pose daherkommt: wir sind nicht so wie die anderen (Deutschen), und schon gar nicht, wie Ihr denkt, daß wir sein müßten… das alles verbunden mit der polit-romantischen Forderung, ‚die Grenzen auf!‘ zu machen und unterstützt von jenem inbrünstigen ‚Rrefjutschies wellkamm hier!‘-Gekreische vom letzten Herbst, das schon anhob, noch bevor sich das erste Pegida-A… als ‚Retter der Nation‘ an irgendeiner Bahnsteigkante hätte blicken lassen…


Aber lassen wir das für‘s erste! Fragen wir lieber nach der diesen Ereignissen zugrunde liegenden Ökonomie (‚..it‘s the economy, stupid!‘). Auch auf diesem Arbeitsfeld hat sich ‚die Kanzlerin der Flüchtlinge‘ durch die ‚Bankenrettung‘ und die Rettung der Umsätze der Autoindustrie durch die Erfindung der ‚Abwrackprämie‘, sowie die (gemeinsam mit dem Vizekanzler am Nordpol) beschlossene ‚Rettung‘ der Atomwirtschaft vor den zu erwartenden ihr über den Kopf wachsenden Ewigkeitskosten und, last but not least, durch die Rettung der Windmüller vor dem Preisverfall auf dem Strommarkt (bezahlt von den Stromkunden) als mutige Retterin des deutschen Kapitals erwiesen. So insgesamt vor den zu erwartenden katastrophalen Folgen der 2008 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise, die sich wie ein Virus von den ‚wirtschaftlich erkrankten‘ (USA, EU) auf die noch ‚gesunden‘ Länder (China) ausgedehnt und über die BRIC-Staaten inzwischen die gesamte Weltwirtschaft erfaßt hat! Oder warum befinden sich die Ölpreise im Keller? Weil der Bedarf der Abnehmer nach diesem strategischen Rohstoff global radikal geschrumpft ist!


Anders als bei den sonst üblichen, sich in gewissem zeitlichen Abstand wiederholenden, lokal wirksamen und daher meistens auch beherrschbaren Konjunkturkrisen (bei denen die Ölpreise für gewöhnlich inflationär steigen) und in denen der Staat dem unter vorübergehender Absatzflaute leidenden Kapital wieder auf die Beine hilft, erweist sich diese Krise wegen ihrer Langlebigkeit und ihres globalen Charakters als Krise der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt. Ähnlich wie nach der Großen Depression Anfang der 30er Jahre könnte auch diese Weltwirtschaftskrise zu einem Weltkrieg führen, der die zu erwartende Arbeitslosigkeit (auf der Welt) durch gewaltige Rüstungsaufträge mit einem Schlag beseitigen soll. Zur Frage der Vermeidung solcher Krisen haben aber weder die bürgerlichen noch die linken Ökonomen überzeugende Erklärungen anzubieten; u.a. auch deshalb, weil sie um einen entscheidenden Begriff der politischen Ökonomie, mit dessen Hilfe dem besonderen Charakter dieser Krise auf Spur zu kommen wäre, einen großen Bogen machen – den Begriff des
Mehrwerts.


Karl Marx, der praktizierende Revolutionär und Revolutionär unter den Ökonomen, der diesen Begriff ‚entdeckt‘ hat, liefert mit seiner
Mehrwert-Theorie (in dem dreibändigen „Kapital“) die bisher einzig vernünftige und in sich konsistente Erklärung dafür, warum in Ländern, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, der Ausbruch ökonomischer Krisen grundsätzlich nicht vermieden werden bzw. warum die kapitalistische Wirtschaft nicht in einem krisenfreien Normalzustand verharren kann. Demgegenüber hat in der Sprache der Ökonomen der Begriff des Mehrwerts lediglich die Bedeutung des zusätzlichen Nutzens, den ein nützlicher Gegenstand oder ein vorteilhaftes Geschäft seinem Nutznießer einbringt…


Im
Mehrwert steckt der Begriff des Werts, für den die Ökonomen kaum eine bessere Erklärung haben: Bestimmte Dinge erhalten dadurch einen Wert, weil sie sich vorteilhaft gegen ein anderes Ding tauschen lassen, wodurch der sog. homo oeconomicus einen fremden Gegenstand (im eigenen Interesse und wegen der Nützlichkeit von Tauschgeschäften für das Wohl der Allgemeinheit) in seinen persönlichen Besitz bringt. Nach der Ansicht von Marx dagegen wird einem Ding nicht durch den Tauschakt Wert verliehen, sondern durch die an ihm vorgenommenen Veränderungen bewerkstelligt durch menschliche Arbeit. Wert zu haben ist nichts Moralisches oder Psychologisches, sondern etwas äußerst Praktisches: ursprünglich hat der Wert aller vom Menschen für seinen persönlichen Bedarf produzierten Dinge allein in ihrem Gebrauchswert bestanden, also darin, von ihnen konsumiert werden zu können. Erst seitdem die Menschen nicht mehr von der Hand in den Mund leben, sondern in der Lage sind, Überschußprodukte herzustellen, die sie entweder gegen andere Produkte tauschen oder die sie von vornherein als Waren produzieren, spaltet sich der Wert in den Gebrauchswert und den (Tausch-)Wert. (Der Begriff des Tauschwerts verweist auf die Austauschsituation, der des Werts auf den Arbeitsprozeß.) Der Wert einer Ware ist daher bestimmt durch die Menge menschlicher Arbeit, die im gesellschaftlichen Durchschnitt für ihre Produktion aufzuwenden ist. Er spaltet sich in den Gebrauchswert, den die Ware für ihren potentiellen Käufer (den Konsumenten) hat und den Wert, den sie durch die Arbeit (ihres Produzenten) erhielt. Um diesen Wert schwankt ihr Preis, der (auf dem Markt) in der ideellen Vorstellung des Käufers für diese Ware taxiert wird (wobei der Verkäufer meist besser weiß, wieviel Arbeit in ihr steckt). Zur Bestimmung des Werts aller Waren im Verhältnis zueinander verdoppelt sich ihr Wert im Geld als allgemeinem Äquivalent. (Und das Geld selbst kann als Devisen zur Ware werden, deren allgemeines Äquivalent dann das Gold ist, dessen Wert ebenfalls durch die zu seiner Produktion durchschnittlich gesellschaftlich notwendige Arbeit, gemessen in Arbeitszeit, bestimmt wird.) Hier schließt sich zunächst der Kreis.


Marx demonstriert im Ersten Band des „Kapital“ (Kapital I), bevor er zum kapitalistischen Produktionsprozeß und zu dem von den unmittelbaren Produzenten für die Kapitalisten erzeugten Mehrwert kommt, in den ersten Drei Kapiteln an den Grundbegriffen der politischen Ökonomie, daß diese voller Paradoxien und metaphysischen Schrullen stecken, denen, weil jeder vernünftigen Erklärung bar, auf Grund ihres Widersinns, nur durch einen Absurditätsbeweis theoretisch beizukommen ist. [2] (Unter diesen absurden Verhältnissen geht es zu wie in dem Märchen Von des Kaisers neuen Kleidern: jeder redet sich ein, daß diese Art zu produzieren die vernünftigste Sache von der Welt sei, obwohl jeder wissen müßte und im Grunde auch weiß, was ihm von jedem Zyniker bestätigt wird, daß diese Produktionsweise nur auf Grund bestimmter absurder Voraussetzungen überhaupt funktioniert.) Marx beweist in dem Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware [3] der Zunft der bürgerlichen Ökonomen (Ausnahmen bestätigen die Regel) und der gesamten ökonomischen Wissenschaft gegenüber voll bissiger Ironie, daß ihre theoretischen Annahmen und die darauf fußende Behauptung, die kapitalistische Produktionsweise würde (von den üblichen kleinen Krise abgesehen) ansonsten reibungslos funktionieren, wegen der dabei auftretenden Paradoxien und logischen Inkonsistenzen, von denen sie wie von einem Krebsgeschwür innerlich aufgefressen wird , unhaltbar ist.


In den Abschnitten, die den Produktionsprozeß des Kapitals und die Produktion des (
absoluten und relativen) Mehrwerts behandeln (3. bis 5. Abschnitt) scheint das Absurditätenkabinett aus dem Fetisch-Kapitel nur noch ferne Erinnerung und abgehakt zu sein. Aber der Skandal, den die Produktion des absoluten Mehrwerts im kapitalistischen Produktionsprozeß darstellt, wird erst in seinem ganzen Umfang und um so plastischer hervortreten, wenn der Leser (und das ist theoretisch jeder auf dem heutigen Entwicklungsstand des Kapitalismus für eine Mehrwert produzierende oder diesen reproduzierende Tätigkeit ausgebildete Mensch – der für die Lektüre nur genügend Zeit mitbringt) sich die ursprünglich natürliche Produktionsweise der unmittelbaren Produzenten mit ihrer ausschließlichen Produktion von Gebrauchswerten immer wieder vor Augen führt und gedanklich als eine Art Kontrastmittel einsetzt, um die dabei gewonnene Vorstellung als ständigen Kontrapunkt der real existierenden Abnormalität der kapitalistischen Produktionsweise entgegenzusetzen, und wenn er dabei gleichzeitig im Hinterkopf behält, daß Marx den historischen Beweis für das reale Vorhandensein dieser ursprünglichen Produktionsweise in der Geschichte der Menschheit (zunächst!) den Anthropologen überläßt. [4] Ohne die Aktivierung dieser ‚Hintergrundinformationen‘ wird „Das Kapital“ eher wie das Werk eines (linken) Vulgärökonomen gelesen werden.


Die zu seinen Lebzeiten (noch nicht sehr zahlreichen) Leser, die sich mit Kapital I zufrieden geben mußten, hatten sich mit dem darin von Marx gelieferten (zweifellos bereits epochalen) Nachweis zu begnügen,
daß und wie die Arbeiter für den Kapitalisten Mehrwert produzieren. Erst nachdem die zwar noch nicht druckfertigen, aber im großen und ganzen abgeschlossenen beiden folgenden Bände von Friedrich Engels nachträglich in eine allgemein lesbare Form gebracht und publiziert worden waren, zeigte sich, daß auch der Begriff des Mehrwerts selbst (nun aus der vom Autor hypothetisch eingenommenen Perspektive des seinen Profit optimierenden einzelnen Kapitalisten und der des Gesamtkapitals) von ähnlichen, jetzt noch handfesteren Paradoxien heimgesucht wird als es mit dem Begriff des Werts geschieht. [5] Diese Paradoxien verweisen nun jedoch auf keine ferne Vergangenheit, sondern auf die Zukunft der Menschheit und vor allem darauf, daß diese jegliche Hoffnung, die Krise der kapitalistischen Produktionsweise werde vom Kapital anders als durch einen Weltkrieg (oder in der perversen Logik bürgerlicher Ökonomen), anders als durch die ‚schöpferische Zerstörung‘ des gesellschaftlichen Reichtums gelöst werden, fahren lassen kann. Es sei denn, die Menschheit kehrt, bevor sie sich und den von ihr geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum der ‚schöpferischen Zerstörung‘ durch das Kapital unterwirft, dieser absurden Situation den Rücken und zu ihrer ursprünglichen natürlichen Produktionsweise zurück – nur dieses Mal auf dem Niveau der modernsten aller bisher von ihr entwickelten Produktionsweisen.


Marx wird den Druck der weiteren Bände des „Kapital“ wohl auch deshalb hinausgezögert haben, weil er den historisch anthropologischen Gegenbeweis gegen den in den Theorien der ‚Klassiker‘ herumspukenden „
Mystizismus der Warenwelt“ [6] bewußt zurückgestellt hat (dies sowohl aus Gründen der Darstellung als auch zwecks Vermeidung der historischen vor der zunächst von der Sache her gebotenen Kritik der Kategorien der politischen Ökonomie). Mit den ursprünglich natürlichen Produktionsweisen der Menschheit hat er sich daher erst in einem späteren Arbeitsstadium konkret befaßt. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Studien führen bei Herausgebern und Interpreten seiner Schriften ein seltsam isoliertes Eigenleben, wodurch sich deren Zusammenhang mit dem „Kapital“ nicht ohne weiteres herstellt. Aber erst dadurch läßt sich eine direkte Verbindungslinie von den Paradoxien des Wertbegriffs im ersten Kapitel von Kapital I zum tendenziellen Fall der Profitrate in Kapital III und zu der absurden Schlußfolgerung ziehen, daß die Mehrwertproduktion des Kapitals mit jeder Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und Vergrößerung ihres Umfangs die eigenen ‚Ertragsgrundlagen‘ tendenziell unterminiert und die Profitrate minimiert. [7]


Zwar ist der barbarische Charakter der Arbeitsverhältnisse einschließlich der brutalen Kinderarbeit, wie er in den Kapiteln über die Produktion des
absoluten Mehrwerts in Kapital I für das 19. Jahrhundert in England beschrieben wird, [8] inzwischen auf Grund der Klassenkämpfe in den Metropolen des Kapitalismus und durch die Verlagerung des Schwerpunkts der Mehrwertproduktion vom absoluten zum relativen Mehrwert entsprechend relativiert worden. Jener ist aber bezogen auf die kapitalistischen Weltwirtschaft keineswegs aus der Welt. Nehmen wir nur die sweat shops (Schwitzbuden) in den von unseren Kreuzfahrtschiffen heimgesuchten ‚exotischen‘ Ländern und lassen wir uns nicht von unserem heimischen sozialdemokratisch parfümierten Wohlfühl-Kapitalismus und der Denkweise und Mentalität der darin und in ihren ständischen Privilegien festgefahrenen hiesigen Arbeiterklasse einlullen, die ihre Existenzberechtigung als Klasse nur noch daraus herzuleiten scheint, daß die bisher ausschließlich für den Konsum der (von ihrem arbeitslosen Einkommen lebenden) Bourgeoisklasse produzierten Luxusprodukte nun auch problemlos bei der Arbeiterklasse an den Mann (und die Frau) gebracht werden, was von Kreisen Linker Sozialdemokraten als ‚soziale Gerechtigkeit verkauft wird. Es ist daher auch kein Wunder, wenn der aus dem Maghreb als angeblicher syrischer Flüchtling einreisende Nichtsnutz, von dieser Sorte Arbeitslosigkeit angezogen wird und gleichfalls zu profitieren hofft. Das zumindest macht immer noch den entscheidenden Unterschied zu unserer wohlgenährten und sozial umsorgten, dafür umso intensiver schuften dürfenden Arbeiteraristokratie aus, sowie zu den von Assads und Putins Bomben aus ihren Städten und Dörfern vertriebenen politischen Flüchtlingen, die in Europa vorübergehenden Schutz suchen. Seine Freunde und Unterstützer findet der orientalische Mob in Deutschland nur bei Putins Linksautonomen, Links gestrickten Sozialdemokraten, linken Grünen und grünen Linken, die den gesellschaftlichen Reichtum durch die Produktion von noch mehr Staatsschulden auf den Schultern der Masse der Bevölkerung zu ‚vergesellschaften‘ vorhaben. Worunter bei näherem Hinschauen nur die exklusive Gesellschaft ihres linken Clans zu verstehen ist, mit dem sich kein mit politischer Vernunft begabter Mensch gemein machen möchte (genausowenig wie mit dessen Gegenpart, den red necks, die in Trump, dem Brexit und einem in Deutschland eigentlich längst als abgestorben geltenden reaktionären Preußentum (à la DDR) ihre Erlöser vom Kapitalismus gefunden zu haben meinen).


Der in Kapital I von Marx geführte Beweis,
daß die Lohnarbeiter im kapitalistischen Produktionsprozeß für den Kapitalisten Mehrwert produzieren und erst in zweiter Linie Waren und Gebrauchswerte, hat wegen der bestehenden ungleichmäßigen Entwicklung des Weltkapitals nichts von seiner Virulenz eingebüßt. Diese wird durch die im tendenziellen Fall der Profitrate erneut zutage tretenden Paradoxien unmittelbar praktisch bestätigt:

Im kapitalistischen Produktionsprozeß sind (verkürzt formuliert) zwei Arten von Produzenten aktiv: die Produzenten des Kapitals (oder: die Kapitalisten) und die unmittelbaren Produzenten (die von den Kapitalisten ‚beschäftigten‘ Lohnarbeiter), die den Mehrwert produzieren. Und damit der Kapitalist auch ‚etwas davon hat‘, daß er Lohnarbeiter ‚beschäftigt‘, enthält der Wert der produzierten Waren (oder das Warenkapital) nicht nur den Lohn, den der Arbeiter (oder die Arbeiter in ihrer Gesamtheit als Klasse) zum Überleben für sich und seine Familie benötigt, sondern auch einen Betrag, der über den ihm gezahlten Lohn hinausgeht. Diesen bezeichnet der Kapitalist aus seiner Perspektive als seine Kosten, die aufzuwenden sind, um Arbeitskräfte zu verpflichten und Produktionsmittel anzuschaffen. Diese Kosten hat er (im Kostpreis) bereits in das von ihm aufzutreibende Kapital eingepreist mit dem Ziel, den im Voraus berechneten Mehrwert (oder seine ‚Rendite‘) zu erzielen. Wäre er anders vorgegangen, hätte er bestenfalls als Wohltätigkeitsorganisation antreten können, und nicht als jemand, der diese ganze Veranstaltung (wie es bei Wohltätigkeitsveranstaltungen nach der Methode von Beggars‘ Banquet wohl kaum anders geschieht) allein um des Profits willen betreibt. Aber je mehr die Kapitalisten (und das Kapital im allgemeinen) getrieben von ihren Konkurrenten zwecks Steigerung der Produktivität und Einsparung von Lohnkosten (Sparsamkeit ist wortwörtlich genommen der Grundgedanke aller Ökonomie!) in den laufenden Produktionsprozeß investieren, desto weniger Arbeiter müssen wegen dieser Arbeits(kosten)einsparung ‚beschäftigt‘ werden. Dadurch nimmt die absolute Zahl der ‚beschäftigten‘ Lohnarbeiter in Relation zum Wert des zusätzlich investierten (konstanten) Kapitals ab (wohlgemerkt, Marx vergleicht hier bewußt Äpfel mit Birnen!) und damit auch die Möglichkeit, relativ zum zusätzlich eingesetzten Gesamtkapital realtiv mehr Mehrwert zu produzieren. Das Verhältnis des Mehrwerts zum Gesamtkapital bezeichnet Marx als Profitrate. Diese wird zwar nicht absolut, aber auf die Dauer tendenziell sinken, obwohl oder gerade weil Staat und Kapital durch eine Reihe von (Kompensations-)Möglichkeiten dieser Tendenz gegenzusteuern versuchen (und dabei ‚auf Kosten der Steuerzahler‘ auf immer neue Möglichkeiten verfallen), um dem tendenziellen Fall der Profitrate ‚proaktiv‘ zu begegnen (Produktionsverlagerung in Billiglohnländer, Verbilligung der Rohstoffe, Reduzierung der Transportkosten durch immer größere Containerschiffe, Verkürzung der Transportwege durch neue Kanalbauten usw. usf.); dem Leser werden bestimmt weitere solcher zur Anwendung kommenden Kompensationsmöglichkeiten einfallen. Aber irgendwann nähern sich all diese Ausweichmöglichkeiten von Kapital und Staat dem Ende der Fahnenstange. Und es wächst schließlich die Einsicht, daß in den Industrieländern (und zunehmend in den zu Industrieländern aufsteigenden ‚Entwicklungsländern‘) das Mißverhältnis zwischen der tendenziell sinkenden absoluten Zahl der Mehrwert produzierenden Arbeiter und dem immer größeren Umfang des relativ dazu eingesetzten zusätzlichen Kapitals durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit (‚auf Sicht fahrend‘) zwar zeitweise aufgefangen, grundsätzlich aber nicht beseitigt werden kann. Wenn die Köpfe der Mehrwertproduzenten trotz Steigerung des pro Kopf produzierten Mehrwerts absolut immer weniger werden, sinkt bezogen auf das Gesamtkapital (trotz gesteigerter Produktivität) langfristig die Mehrwertmasse und daher tendenziell auch die Profitrate des Kapitals. Diese beständig einander widerstreitenden Tendenzen müssen sich schließlich in einer großen Krise, wie wir sie momentan erleben, Luft machen.


Das heißt, der, wie er im Jargon Der Linken bezeichnet wird, ‚Finanzmarkt getriebene Kapitalismus‘ ist zwar Auslöser der Weltmarktkrise des Kapitals, aber nicht ihre eigentliche Ursache gewesen. Und all die pseudorevolutionären Trostpflaster gegen den ‚Neoliberalismus‘, von denen sich Die Linke ständig ein neues für ihre ‚sozialen Bewegungen‘ ausdenkt (sei es ihr Ruf nach ‚sozialer Gerechtigkeit‘ oder die ‚gerechte Verteilung‘ der Staatseinnahmen und -ausgaben unter Arm und Reich oder der Endkampf der 99% Arme gegen das 1% Superreiche usw.) dienen als ‚anti-kapitalistische‘ Placebos nur dem einzigen Ziel: an die entscheidenden Schalthebel der Regierungsgewalt zu gelangen, um auf den Melkschemeln des Staates als Steuereintreiber und -verteiler dauerhaft Platz zu nehmen und auch mal das Geld aus dem Fenster werfen zu dürfen – die Linke Variante des von besonders schlauen Ökonomen erdachten ‚Helikopter-Gelds‘, nach dessen Abwurf die Wirtschaft angeblich rapide wachsen wird. Dadurch wird zwar keineswegs der tendenzielle Fall der Profitrate ausgehebelt werden, wohl aber der Widerstand da, wo er noch besteht, gegen die strategischen Ziele des Völkerbeglückers und Kriegstreibers Gospodin Wladimir Wladimirowitsch Putin!


Die hier gezogene und dem Leser vielleicht nicht sofort einleuchtende Verbindungslinie zwischen dem
Fetischcharakter der Ware und dem tendenziellen Fall der Profitrate kann in dieser groben Skizze nur angedeutet werden. Zumindest wird dabei der entscheidende Unterschied zur bürgerlichen Ökonomie deutlich, der Marx (und das ist der Kern seiner Kritik der politischen Ökonomie) die Ökonomie der unmittelbaren Produzenten, oder wie er sie auch bezeichnet, die politische Ökonomie der Arbeiterklasse entgegensetzt (wogegen sich die im Stil früherer SED-Propaganda beschworene ‚historischen Rolle der Arbeiterklasse‘ als historisch beispiellose Heuchelei ausnimmt), während die Vulgärökonomie darunter ausschließlich die Mehrwertproduktion der Lohnarbeit für das Kapital versteht. In der Existenzkrise, von der die kapitalistische Produktionsweise in größeren Abständen auf Grund der ihr innewohnenden Paradoxien und Widersprüche befallen wird und wogegen sich alle Kompensationsmittel letztlich als wirkungslos erweisen, stellt sich irgendwann die Frage, ob die Menschheit diese absurde Situation nicht verlassen sollte anstatt zu erleben, wie sich diese Krise in einem neuen Faschismus und einem weiteren Weltkrieg Luft macht.


Die Zinsen sinken, die Rohstoffpreise sinken, die Löhne gehen kaum über die Rate der erhöhten Produktivität hinaus – nur die Waffenproduktion und die Sozialausgaben steigen, wovon wiederum der Konsum (durch Staatsintervention auf Kosten der Masse der Lohnsteuerzahler) ‚angeregt‘ werden soll – alles beliebte und gebräuchliche Kompensationsmittel, um den
tendenziellen Fall, der in einen absoluten Fall der Profitrate umzuschlagen droht, aufzufangen. Aber die von der Federal Reserve, der Europäischen Zentralbank und der Weltbank an die Adresse der Kapitalisten gerichtete Aufforderung, doch bitte, weil Kapital auf Grund der Zins-Politik der staatlich gelenkten Banken zum Nulltarif zu haben ist, wieder mehr zu investieren, verhallen ungehört – weil die zu erwartende Profitrate die ‚Risiken‘ der Neuinvestitionen nicht ‚abdeckt‘. Hier wird der Fetischcharakter der Ware und der tendenzielle Fall der Profitrate zur unmittelbaren gesellschaftlichen Realität. Jetzt wird auch die bisher sozial(demokratisch) abgefederte ‚westliche‘ Arbeiterklasse unruhig, und ihre Gewerkschafts-Häuptlinge in den südlicheren Ländern der EU graben das Kriegsbeil aus. Aber der von dort ertönende Schlachtruf der ‚linken‘ Klassenkampfkrieger geht ins Leere und bleibt noch Wasser auf die Mühlen linker Gewerkschaftsbürokraten, die mit der Rückkehr zu theatralischen „Klassenkampf“inszenierungen ihren Mitgliederschwund zu kompensieren suchen – und zur Putinisierung Europas schon mal ihr kleines Scherflein beizutragen!


Wahrscheinlich haben wir alle noch nicht ganz begriffen, wenn wir nach Syrien oder in den Osten der Ukraine blicken, daß der Dritte Weltkrieg längst begonnen hat: zwischen bürgerlicher Demokratie und faschistischer Barbarei, zwischen westlichem Kapitalismus und russisch-chinesischer Billig- und Zwangsarbeit, zwischen dem politischen Gangsterismus (nichts anderes ist die arabische Konterrevolution des
Islamischen Staates) und dem schwankenden Rechtsboden der bürgerlichen Gesellschaft, die unter dem wachsenden Druck der um ihre Privilegien fürchtenden ‚weißen‘ Arbeiterklassen und des ‚multikulturellen‘ (sozial)imperialistischen Kleinbürgertums zunehmend dünnhäutiger geworden ist. Der Islam gehört nicht zu Deutschland? Natürlich nicht! Er gehört eigentlich nirgendwohin, weil seine Staatsauffassung ubiquitär ist und weil er neben seinem Gottesstaat keinen Staat duldet und jedem anderen mit Vernichtung droht! Ecrasez l‘infame! Dieser Ausruf Voltaires meint die Infamie, die jeder Religion innewohnt, und mit der doch bitte jeder, wie es ihm behagt, selig werden möchte und solange er damit seinen Mitmenschen nicht auf den Geist geht! Aber Religion war schon immer ein politisches Geschäft der herrschenden Klassen mit den von ihnen zu beherrschenden Volksmassen – geschlossen mit unlauteren Mitteln zum Zwecke der Selbstunterdrückung und Selbstausbeutung und zum Wohle der Ausbeuter. Religion ist auch ein billiges politisches Placebo gegen die ökonomischen Krisen des Kapitalismus. Religionen lassen sich nicht verbieten; sie werden erst verschwinden, wenn die Verhältnisse, unter denen sie das ‚Opium des Volkes‘ sind, zum Verschwinden gebracht worden sind. Aber wenn der heutigen Menschheit vom islamischen Gottesstaat der Krieg erklärt wird, reicht die Gewißheit in dem Satz der Kanzlerin: ‚Wir hatten die Aufklärung‘, gegen die Infamie dieses Gottesstaates nicht aus, dann muß ihm wie einst dem Faschismus der Krieg erklärt werden. [9] Diese Kriegserklärung bleibt eine leere Drohung, wenn sie nicht als erstes mit der Forderung nach radikaler Trennung von Kirche und Staat, d.h. der sofortigen Privatisierung aller Staatskirchen auf dem Boden des ach so aufgeklärten deutschen Staates beginnt!


In einer Sozialstudie aus dem Jahr 1845, die sich mit der
Lage der arbeitenden Klasse in England beschäftigt und worin die nach dem Ausbruch einer Handelskrise hervorgerufenen Verhältnisse beschrieben werden, die früher oder später zu einem blutigen Aufstand der arbeitenden Klassen führen werden, erklärt Friedrich Engels, daß der gewaltsame Charakter dieser Aufstände nur in dem Maße einen milderen Verlauf nehmen werde, „wie das Proletariat sozialistische und kommunistische Elemente in sich aufnimmt.“ Denn der „Kommunismus steht seinem Prinzipe nach über dem Zwiespalt zwischen Bourgeoisie und Proletariat, er erkennt ihn nur in seiner historischen Bedeutung für die Gegenwart, nicht aber als für die Zukunft berechtigt an; er will gerade diesen Zwiespalt aufheben.“ [10] Engels will vermutlich damit sagen, daß in seinen Augen die Kommunisten in dem von der kapitalistischen Produktionsweise hervorgerufenen Chaos vielleicht die einzigen sein werden, die die menschliche Zivilisation vor der zwangsläufig darin ausbrechenden Barbarei werden retten können. Wenn wir den Krieg des Islamismus gegen die ‚westliche‘ Zivilisation als ein Moment dieser Barbarei betrachten, würden wir wohl auch in diesem Fall Engels Recht geben müssen. Er war sogar davon überzeugt, daß, wenn es gelingen würde, „das ganze Proletariat kommunistisch zu machen, ehe der Kampf ausbricht“, dieser „sehr friedlich ablaufen“ werde und „daß bis zum Ausbruch des ganz offnen Kriegs der Armen gegen die Reichen, der jetzt in England unvermeidlich geworden ist, sich wenigstens soviel Klarheit über die soziale Frage im Proletariat verbreiten wird, daß mit Hülfe der Ereignisse die kommunistische Partei imstande sein wird, das brutale Element der Revolution auf die Dauer zu überwinden“ und gleichzeitig einer Konterrevolution vorzubeugen. Dies ist den Revolutionen des 20. Jahrhunderts nicht gelungen. Sie haben den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und sind, weil ihnen das nicht gelang, auf brutale Weise gescheitert.


In einer Zeit, da die Verwirrung groß ist, weil Revolution und Konterrevolution niemals so dicht beieinander lagen und die Verwechslungsgefahr zwischen beiden zunimmt, sind die von Engels angestellten Überlegungen aktueller denn je. Denn da die im Namen des revolutionären Kommunismus begonnene proletarische Revolution vom konterrevolutionären Kommunismus eingeholt und übernommen wurde und überall mit dem Marxismus hausieren geht, sollten die Parteigänger des Marxschen Kommunismus als erstes den Kommunismus von seiner Doppeldeutigkeit und seinem zwiespältigen Charakter befreien und als erstes den Marxismus auf den heute erst wirklich wahr gewordenen Ausspruch von Karl Marx zurückführen: Alles, was ich weiß, ist, daß ich kein Marxist bin!


Im „Kapital“ hat Marx die Methode entwickelt, wie man die kapitalistische Produktionsweise sich in ihren eigenen Widersprüchen verfangen läßt und wie diese Widersprüche auf die Spitze getrieben von ihren eigenen Fehlschlüssen und Paradoxien aufgefressen werden. An dieser Methodik sollten sich die Marxschen Kommunisten in den anstehenden Auseinandersetzungen mit dem Marxismus der Neuen Bourgeoisie und dem konterrevolutionären Kommunismus orientieren.


-euk

[1] Da der EINspruch eher der Textgattung des Essays angehört und weniger des wissenschaftlichen Aufsatzes, wurde auf Fußnoten weitestgehend verzichtet. Soweit sich zusätzliche Erläuterungen als notwendig erweisen, finden sich diese in der pdf-Version dieses Textes.

[2] Die näheren Ausführungen zu dieser These finden sich auf dieser Home Page unter: DAS KAPITAL DEBATTE 1 Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König werden.

[3] Kapital I, Erstes Kapitel, 4. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis.

[4] Vgl. im selben Abschnitt 4. die bei Ökonomen beliebten Robinsonaden und weitere Beispiele, in denen die Menschen mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln produzieren und ihre Arbeitskraft als gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.

[5] Kapital III, Dritter Abschnitt. Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate.

[6] Wie Fußnote 3.

[7]Kapital III, 15. Kapitel. Entfaltung der inneren Widersprüche des Gesetzes. III. Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung.

[8] Kapital I, 8. Kapitel. Der Arbeitstag. Englische Industriezweige ohne legale Schranke der Exploitation.
[9] Siehe dazu in der pdf-Version Fn. 10.

[10] Siehe die letzten drei Absätze in Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England.

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22.03.2016 »

Wer aus aktuellem Anlaß die Zeitungsartikel und Briefe liest, die Marx und Engels in der ersten Hälfte der 50er Jahre zur sog. Orientkrise geschrieben haben, wird einige frappierende Ähnlichkeiten zu unserer heutigen ‚Orientkrise‘ (die längst nicht mehr so heißt), aber auch gewisse Unterschiede entdecken, die sich eineinhalb Jahrhunderte später, nachdem eine proletarische Revolution, deren Konterrevolution und zwei Weltkriege über Europa hinweg gewalzt sind, ergeben haben. Auch zu jener Zeit muß es für die beiden revolutionären Intellektuellen eine Horrorvision gewesen sein sich vorzustellen, was passieren würde, wenn es dem russischen Zarentum gelungen wäre, das Osmanische Reich zur Kapitulation zu zwingen, sich an der Meerenge des Bosporus festzusetzen und von dort ausgehend das Schwarze Meer, das östliche Mittelmeer und (vorbereitet durch die systematische Ausbreitung des Panslawismus und der russischen Orthodoxie) den Balkan zu beherrschen. Marx und Engels waren keine Pazifisten. Rußland war und blieb auch weiterhin, wie sich 1848 gezeigt hatte, der Hauptstützpunkt der europäischen Reaktion. Wenn die weitere Expansion des Russischen Weltreiches von den westlichen Großmächten England und Frankreich im sogenannten Krimkrieg (1854-56) hätte ernsthaft verhindert werden sollen, dann hätte die russische Hegemonialmacht an Armen und Beinen amputiert und ihre Zugänge zur Ostsee und zum Schwarzen Meer blockiert werden müssen. Dazu hätten sie letzten Endes, woran Napoleon 1812 gescheitert war, den Zaren zur Kapitulation zwingen müssen, auch, um ihn daran zu hindern, den englischen China-Handel via Schwarzes Meer und Türkei (Trabzon) zu blockieren. (Den Suezkanal gab es noch nicht.) Dadurch wäre Rußland, und das war für Marx und Engels daran die zentrale Überlegung, als Hauptstützpunkt der europäischen Reaktion ausgefallen und die proletarische Revolution enorm beschleunigt worden. Allerdings auch die ‚Befreiung‘ des ‚kranken Mannes am Bosporus‘ von der Last seines altersschwach gewordenen Imperiums (das vom Persischen Golf bis nach Tunesien reichte). Marx und Engels waren auch keine antiimperialistischen Romantiker. Sie unterstützten alle Bestrebungen der Völker und Nationen, die sich eine eigene Kultur und möglichst auch eine eigene herrschende Klasse zulegen und verteidigen konnten, in der Erwartung, daß dabei im Laufe der Zeit auch das Proletariat entstehen werde, das den Kampf gegen die Bourgeoisie, aber auch gegen fremde Eroberer aufnimmt. So unterschieden sie z.B. zwischen jenen Balkanvölkern, denen, wie den Serben, dies im Widerstand gegen die türkische Besatzungsmacht, bereits ansatzweise gelungen war und jenen, die im Zustand von Hirten und Straßenräubern verharrten. Diese christlichen Völker befanden sich generell in dem Widerstreit, daß, je stärker der Druck der islamischen Besatzungsmacht zunahm, sich der Einfluß des Panslawismus vergrößerte, mit dem alleinigen Ziel Moskaus, den ‚Kranken Mann am Bosporus‘ mitsamt Islam vom Balkan zu verjagen und ihn dort zu beerben.

Als der halbherzige Versuch Englands und Frankreichs, das Vordringen Moskaus Richtung Balkan-Halbinsel und Konstantinopel (mit der künftigen Bezeichnung Zaregrad) am Bosporus zu stoppen, schließlich in dem ergebnislosen blutigen Gemetzel auf der Krim fehlgeschlagen und der alte Zustand des Status quo ante durch einen faulen Frieden (den Frieden von Paris 1856) und damit der Hauptstützpunkt der Reaktion in Europa wiederhergestellt worden waren, verlegte sich das Zarentum nun verstärkt darauf, innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung, da sich die revolutionären Klassenkämpfe nicht mehr gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die feudale Reaktion, sondern gegen die Bourgeoisie selbst richteten, das linke Jakobinertum, vor dessen Ansteckungsgefahr es seine eigene Intelligenzija mit allen Mitteln (Zensur, Polizei, Sibirien) unbedingt meinte schützen ‘zu müssen, durch ‚aktive Maßnahmen‘ zu fördern und zu stärken. Gegen diesen zaristischen Jakobinismus richtete sich wiederum, was Marx einmal als foreign policy der working class einem liberalen Freund der Arbeiterklasse gegenüber bezeichnet hatte, der die Arbeiter ihren ‚Klassenkampf‘, die Bourgeoisie aber deren Außenpolitik hatte machen lassen wollen. Die Reaktion war, so läßt sich daraus entnehmen, durch die europäischen Revolution von 1848 zwar angeschlagen, aber nicht zu Boden gegangen; und wer ihr den entscheidenden Schlag versetzen konnte, war nicht mehr die europäische Bourgeoisie, sondern das Proletariat. Daher richteten sich in dieser veränderten Situation die ‚aktiven Maßnahmen‘ des Zarentums gegen die explosive Verbindung der foreign policy der working class mit der proletarischen Revolution, die durch die Stärkung jener Kräfte an ihrer weitere Entfaltung gehindert werden sollte, die wie Bakunin oder Carl Vogt von der ‚reinen proletarischen‘, also jakobinischen, Revolution tagträumten. Der zaristische Jakobinismus sollte aber nicht nur Einfluß auf die revolutionäre Bewegung nehmen, sondern zugleich damit die bürgerliche Öffentlichkeit erschreckt werden, für die der Zar als Retter vor den revolutionären Umtrieben der Kommunisten erschienen wäre.

150 Jahre später befindet sich Europa gegenüber Putins Neuem Zarentum in einer vergleichbaren und wenig besseren Lage…

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Reaktionen (2015) »

Diese REAKTIONEN enthalten den Entwurf zur Gründung eines Kommunistischen Korrespondenz Komitees, das einen kommunistischen KorrespondenzBlog herausgeben soll und das eines Tages die REAKTIONEN fortsetzen und diese wahrscheinlich überflüssig machen wird. Im Nachhinein werden sich die REAKTIONEN dann vielleicht als dessen Vorform darstellen. Aber es wäre eine Illusion zu glauben, das eine würden sich naturwüchsig aus dem anderen entwickeln.

REAKTIONEN 2015
REAKTIONEN ANHANG 1
REAKTIONEN ANHANG 2
REAKTIONEN ANHANG 3
REAKTIONEN ANHANG 4
REAKTIONEN ANHANG 5
REAKTIONEN ANHANG 6

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Ulrich Knaudt an F.W. (04.01.2015)
Betreff: LINKS


Lieber F.W., herzlichen Dank für die Neujahrsgrüße, die ich mit Verspätung erwidere. Ebenso vielen Dank für die Links zu dem ‚Interview‘ »Etwas über das Proletariat« und ‚Eine Erwiderung…‘ [1]


… Das Adorno-Zitat am Schluß von ‚Eine Erwiderung‘ hat mir gefallen. Wenn man es auf die in dem ‚Interview‘ angesprochene Situation in der Ukraine überträgt, würde sich zeigen, das bisher niemand die Gründe benennen kann oder zumindest genauer untersucht hat, warum (nicht nur dort) »die Türen verrammelt« sind. Die liegen meiner Ansicht nach in der Geschichte zunächst einmal der russischen Revolution und allem, was daraus danach gefolgt ist. Diese beginnt nicht 1917, sondern mit der Entdeckung der Narodniki und Tschernyschewskis durch Marx und Engels nach ihrer Abrechnung mit Bakunin in der IWA [2] und nach dem Untergang der Commune.


Wenn die ukrainischen Genossen ihre eigene Situation mit den seit dieser Zeit stattfindenden Auseinandersetzungen abgleichen würden, kämen sie auch sehr schnell darauf, daß z.B. die Bolschewiki in der Ukraine, anstatt sich mit den Bauern und den Arbeitern gegen Grundbesitz und Kapital zusammenzuschließen, wie mal bemerkt wurde, die Vorrechte der russischen Grundbesitzerklasse in der Ukraine, die wahrscheinlich denen der englischen in Irland sehr ähnelte, verteidigen ‚mußten‘, um die Sowjetunion gegen die internationale Konterrevolution zu verteidigen. Inwieweit die Rada und die ukrainischen Grundbesitzer tatsächlich politisch identisch waren, wäre zu untersuchen. Auf jeden Fall hätten die Bolschewiki, wenn sie sich an die Marxschen Sassulitsch-Briefe gehalten hätten und nicht nur an das KAP[ITAL], auch zu Feinden nicht nur der ukrainischen, sondern auch der russischen Grundbesitzerklasse werden müssen. So aber verteidigten sie (möglicherweise ungewollt) die russischen gegen die ukrainischen Grundbesitzer und gegen die ukrainischen Bauern, während die Leninsche Lösung der N[ationalen]F[rage] zur (Stalinschen) Phrase verkam und diese sich auf der Grundlage des linken Sozialimperialismus in russischen Großmachtchauvinismus verwandelte. Die NF war ohne B[auern]F[rage] unlösbar. Daran leiden die Revolutionäre in der Ukraine augenscheinlich bis zum heutigen Tag, während ich bei der westeuropäischen Linken keinerlei Gefühlsregungen dieser Art feststellen kann, offenbar weil sie sich hier mit Putins Hilfe kurz vor dem März 1917 wähnt, damit Putin dann dem ‚ukrainischen Faschismus‘ ungestört an die Gurgel gehen kann. Solange fressen sie weiter Kreide und tarnen sich als Demokraten.


Vorläufiges Fazit: Die Frage nach dem Proletariat stellt sich auf doppelte Weise historisch. Einmal im Sinne der Analyse der Geschichte der bisherigen Revolutionen seit 1789, zum andern als Aufarbeitung der Marxschen Analysen der proletarischen Revolution in Frankreich in Verbindung mit der Europäischen Revolution von 1848 und ihren politischen Folgen. Diese Verbindung läßt sich auf bürgerliche, kleinbürgerliche oder sonst wie herstellen, oder aber unter dem Gesichtspunkt der Foreign Policy der Working class. Nur dann entgeht die Debatte über das Proletariat den sonst allgemein üblichen Abstraktionen, in denen auch die Diskussion in den o.g. Texten befangen ist.


Damit aber noch nicht genug: weil die Frage nach der Foreign Policy selbstverständlich mit der Foreign Policy der europäischen Groß- und Hegemonialmächte zusammenhängt. Von letzteren gab es bis 1848 Großbritannien, Rußland und bis 1815 Frankreich (für Marx endet die Französische Revolution 1815!) und dazu die Großmächte Österreich und Preußen. Beide versuchten, ihren Einfluß in Deutschland und nicht etwa Deutschland[s] (was für ein monströses Gebilde das ‚Altreich‘ auch immer nach dem 30-jährigen Krieg gewesen sein mag!) gegen die beiden Hegemonialmächte zu verteidigen. Die Foreign Policy der Marxschen Partei geht 1848 und danach von dieser Konstellation aus…


Das KAP muß also nicht nur unter dem internationalen (siehe Indien), sondern auch unter diesem ’nationalen‘ Aspekt gelesen werden. Wird es aber nicht! Dann muß die Lektüre eben in Abstraktionen hängenbleiben!


Wie Du leicht erkennen kannst, bin ich schon aus diesen Gründen an der Debatte in der Ukraine äußerst interessiert.


Putins Rußland will wieder Hegemonialmacht werden, um den USA und (danach seinem momentanen Verbündeten) China Paroli bieten zu können. Dazu muß er zumindest die Eroberungen der alten Zaren in Europa wieder herstellen und die ‚Tragödie‘, von der das Stalinsche Weltreich mit seinem Zusammenbruch getroffen wurde, revidieren.


Es grüßt herzlich

Ulrich Knaudt

[1] Vgl. F.W. an U.K. (30.12.2014):

hallo ulrich knaudt,

hiermit melde ich mich mal wieder mit dem hinweis auf zwei texte:

hier eine erklärung ukrainischer linker zur kollaboration der „roten hilfe“ mit den pro-russischen kräften in

der ukraine:

http://avtonomia.net/2014/12/19/nam-ne-potribna-vasha-pidtrimka-wir-brauchen-diese-unterstutzung-nicht/

und hier ein interview mit einem marxisten, der auf seiten der ukrainischen armee gegen die separatisten

kämpft:

https://dasgrossethier.wordpress.com/2014/12/25/fur-mich-als-marxisten-ist-die-wahl-zwischenden-

weisgardisten-und-petljura-anhangern-offensichtlich/

beste grüße und einen guten rutsch,
f. w.

[2] International Workers Association (Internationale Arbeiter Assoziation).

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Ulrich Knaudt an F.W. (06.01.2015)
Betreff: NACHTRAG

Lieber F.W., …Zu dem Thema Marx-Rußland-Narodniki empfehle ich meinen Aufsatz in Beiträge zur Marx-Engels-Forschung NF 2012, 56ff. Vielleicht auch als Empfehlung an weitere Interessierte.

Viele Grüße

Ulrich


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F.W. an Ulrich Knaudt (07.01.2015)
Betreff:
NACHTRAG


Hallo Ulrich Knaudt, vielen Dank für deine Mails. … Deinen Empfehlungen, insbesondere der, »die Marxschen Analysen der proletarischen Revolution in Frankreich in Verbindung mit der Europäischen Revolution von 1848 und ihren politischen Folgen« aufzuarbeiten, kann ich nur beipflichten. Ich habe letztes Jahr »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850« gelesen. Im 3. Kapitel schreibt Marx, dass die französischen Arbeiter ihre Aufgabe nicht in den nationalen Wänden, sondern letztendlich nur durch einen langwierigen Weltkrieg lösen werden können, in den der damalige Weltmarkthegemon England mit hineingerissen wird. Dass das Proletariat seine revolutionäre Aufgabe nicht in den nationalen Wänden lösen kann, scheint mir nach wie vor für die europäischen Nationen zu gelten. Wenn sich die Prognosen der bürgerlichen Ökonomen für 2015 bewahrheiten werden und in Venezuela, Russland und China (und noch anderen Staaten) Krisen ausbrechen, wäre in deren Gefolge mit Klassenkämpfen zu rechnen, die sich direkt gegen die Lieblingsdespoten der europäischen Linken richten und deren proletarische, klassenkämpferische Phrasen Lügen strafen würden. Aufgrund der Aufstände, die es in den letzten Jahren in Venezuela gab, ist es nicht völlig unwahrscheinlich, dass die Situation dort zu einer revolutionären reift. Die Frage ist nur, wie der Funke auf das alte Europa überspringen kann, um hier zum Katalysator der Klassenkämpfe zu werden.


Occupy in Europa war ja wohl nur ein schwaches Echo auf den arabischen Frühling und mit seinem kleinbürgerlichen Antikapitalismus noch dazu kein vorwärts weisendes. …


Die Beitrage zur Marx-Engels-Forschung 2012 werde ich mir besorgen.


Gibt es eigentlich irgendwelche deutschsprachigen Monographien über die Geschichte der Narodniki und

der Narodnaja Wolja?


Bisher konnte ich über verschiedene Literaturhinweise nur folgende Bücher auftun: »Winterpalast. Rußland auf dem Weg zur Revolution 1825 – 1917« von Edward Crankshaw, »Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich« von Richard Pipes, »Zaren und Terroristen« von Avrahm Yarmolinsky.

Beste Grüße,

F.W.


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Ulrich Knaudt an F.W. (07.01.2015)

Betreff: COMMUNE RURALE


Lieber F.W., … Deine Frage nach deutschsprachiger Literatur in puncto Narodniki läßt sich leider nur negativ beantworten. Mein Aufsatz befaßt sich, wenn Du ihn liest, mit der Zeit 1860-1885. Dafür habe ich in den meisten Fällen englischsprachige Literatur benutzt. Dazu gehört der Klassiker über die populist and socialist movements in Rußland von Venturi, allerdings ein Wälzer. Nach deutschsprachigen Autoren zu diesem Thema habe ich mich nicht umgesehen, wohl auch, weil ich meistens nur nicht-deutschen Autoren über den Weg traue und solchen, die keine ‚Sozialgeschichte‘ schreiben. Weitere Hinweise auf meine früheren Aufsätzen (= Vorträge vor der Marx-Gesellschaft) findest Du dort auch.


Als ich die Klassenkämpfe in Frankreich schon einmal vor längerer Zeit angefangen [habe] zu lesen, bin ich auch über diese Stelle gestolpert. Also ticken wir auch hier ziemlich ähnlich. Inzwischen bin ich mit den drei Frankreich-Aufsätzen fast durch. Ausgangspunkt war zum einen die Bauernfrage (wie sollte es anders sein), deren Behandlung in den 20 Jahren eine gewisse Änderung erfährt und zum anderen die Frage des Niederreißens des Staatsapparats, worauf Lenin in Staat und Revolution so großen Wert gelegt hat. Bei genauerem Hinsehen ist es aber nicht allein das, worauf es Marx ankommt, sondern eine Kombination aus Zentralismus und Selbsttätigkeit der Produzenten im Verhältnis zwischen Paris, den Provinzstädten und dem bäuerlichen Land.


Die Prognosen der ökonomischen Sterndeuter werden sich höchstwahrscheinlich bewahrheiten. Nur fragt es sich, welche Art Revolution dann ins Haus steht.


Venezuela ist praktisch am Ende, die Ukraine auch. Nur daß in der Ukraine das Volk mit der Konterrevolution schon reiche Erfahrungen gesammelt hat. In Venezuela noch nicht, vielleicht, weil das Kleinbürgertum dort elitärer und reicher ist? Auf jeden Fall wird, wenn es dort eine Revolution gibt, diese auch eine ähnlich[e] wie in der Ukraine sein. Nur daß das Volk auf der Straße dann wie in Syrien mit kubanischen Comites por la defensa de la revolución und iranischen Revolutionsgarden zu tun bekommen wird. Obama hat die Monroe-Doktrin zum alten Eisen geworfen, weil man damit in Lateinamerika keine anti-oligarchischen Bewegungen mehr beeinflussen kann.


Alles prima, nur, daß die letzten 25 Jahre nicht wirklich dazu beigetragen haben, daß sich jenseits des Linken Sumpfes irgendwo so etwas wie eine Marxsche Partei hätte bilden können. Eine solche ist mir aber nicht bekannt. Dazu waren wir einfach zu schwach und zu unentschlossen. Schön, wenn es anders gewesen wäre! Wahrscheinlich haben wir viel zu lange auf Die Linke gestarrt, wie das Kaninchen auf die Schlange. Aber so ist nun einmal die Lage.

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

P.S. Charlie-Hebdo… jetzt geht’s los?

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P.T. an Ulrich Knaudt (08.01.2015)

Betreff: VERSCHIEDENES


Lieber U., …Was die Reproduktion bei Marx angeht, so demonstriert dieser zwar, dass sie theoretisch nicht funktionieren kann, aber nur in dem Sinne, dass sie eben nicht perfekt funktioniert ohne dass sich in ihrem Fortschritt Widersprüche ergäben (es gibt kein Gleichgewicht in der Reproduktion). Wenn man die Reproduktion aber etwas weniger abstrakt betrachtet als Marx, dann ist ja auch klar, dass sie über begrenzte Zeiträume hinweg ablaufen („funktionieren“) kann, bis sich die Widersprüche als Krisen bemerkbar machen. Um den Zeitpunkt des offenen Ausbruchs der Krise zu verschieben, hat man sich ja allerlei einfallen lassen, besonders was Geld und Kredit angeht, allerlei staatlichen Interventionismus und nicht zuletzt die Eroberung des Weltmarkts. David Harvey würde sagen, dass der Kapitalismus gelernt hat, die Krisen zeitlich und räumlich zu verschieben. In diesem Sinne sind meiner Meinung nach übrigens auch die frühen Regulationstheoretiker zu verstehen, die noch mit Marx gearbeitet haben. Die haben sich nämlich gewundert, warum in der Nachkriegszeit es so lange dauerte, bis der Kapitalismus wieder seine ersten schweren Krisen in den Kernländern produzierte (Aglietta versucht ja noch werttheoretisch zu demonstrieren, wie durch Geldpolitik und Inflation die Verluste des nicht-verwerteten Kapitals verallgemeinert werden). …

Viele Grüße

P.T.
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Ulrich Knaudt an P.T. (08.01.2015)
Betreff:
…NUR DIE WURST HAT ZWEI


Lieber P.T. …Außerdem wäre zu fragen, ob Reproduktion und Akkumulation in China tatsächlich (noch) zusammenfallen oder sich schon längst auseinanderentwickelt haben. Marx geht ähnlich vor (wenngleich er kein Pragmatist ist), indem er alle Möglichkeiten einer Position (verbunden mit der Annahme, daß die Reproduktion funktioniert) durchspielt und das Nicht-Funktionieren als Beweis nimmt dafür, daß sie nicht funktionieren kann und dann auch andeutet, warum nicht. Aber vielleicht kommen wir mal dazu, das genauer zu diskutieren, besonders im Zusammenhang mit KAP[ITAL] III. Wenn kein Gleichgewicht, dann Krise. Also ist Krise immer schon latent.


Zu »Eroberung des Weltmarkts« ist anzumerken, daß kapitalistische Produktionsweise und Weltmarkt von vornherein verkoppelt sind, eine widersprüchliche Einheit bilden. Also nicht, wie Proudhonistische Idylliker glauben: zuerst gab es den G[ebrauchs]Wert, dann kam der T[ausch]Wert hinzu, dann die (kapitalistische) Ware und dann der Weltmarkt. (Man sieht diese Verkopplung wunderschön an Englands Konkurrenzkampf mit Frankreich um den damaligen Weltmarkt mit den Folgen: Kontinentalsperre usw.) Harvey hat recht nur was heißt das?


Der Volksmund reimt sich das so zusammen: das dicke Ende kommt zum Schluß, nur niemand weiß, wann Schluß ist. Auch wenn die Keynesianer das Ende nach hinten verschieben, kommen sie nicht umhin zu überlegen, was denn dann passieren kann? Konstruktive Zerstörung? Kriege? Revolutionen?

Tschüß und viele Grüße

U.
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Ulrich Knaudt an F.W. (24.01.2015)

Betreff: REAKTIONEN 14


Hallo F.W., …

Noch eine andere Frage: in der jW von heute heißt es vom Bündnis „Dresden nazifrei“ unter unter der Rubrik Abgeschrieben zu dem Tod von Iris Bayad: »Wir wollen uns an dieser Stelle dazu kurz äußern, so, wie wir von Beginn an versucht haben, sensibel zu diesem Fall zu kommunizieren. Ein Mensch ist gestorben. Und doch flackert auf so manchen Seiten im Netz nun die kaum verhohlene Freude und Häme über die Identität des Täters auf. Wir werden auf unserer Seite konsequent alle Kommentare in dieser Richtung löschen. Es ist gut, das der Tod von Khaled aufgeklart scheint« (U.v.m. U.K.) Dieses »scheint« hat schon ziemlich Orwellsche Dimensionen. Statt einer notwendigen Selbstkritik an der ursprünglich vorhandenen Bereitwilligkeit, sofort gewußt zu haben, wer nur der oder die Täter sein kann/konnten, wird zunächst einmal die »Freude und Häme« gegenüber der Linken angep…; statt die Aufklärung der Falles durch Gentest + das Geständnis des Täters zur Kenntnis zu nehmen, sind es immer die anderen, die mit ihrer »kaum verhohlenen Freude und Häme« usw. über die Linke herfallen. Ein höherer Grad an Unaufrichtigkeit ist nach dieser ‚anti-rassistischen‘ Heuchelei kaum mehr möglich… [1]

[1] Vgl. junge Welt 17./18.01; 24./25.01.2015 jeweils unter der Rubrik Abgeschrieben. Wer heute nach diesen beiden Artikeln im Archiv der jW sucht, findet dort eine Orwellsche Leerstelle (während alle übrigen unter dieser Kategorie veröffentlichen Beiträge entweder gebührenpflichtig oder frei zugänglich aufgelistet sind). Er müßte sich dazu schon wie anno Knopf ins Zeitungsarchiv begeben. Im Zeitalter des world wild web eine Zumutung! So erklärt in der Ausgabe der jW vom 17.01. dazu die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V. (ISD): »In den letzten Monaten häufen sich vermehrt Berichte über Übergriffe auf People of Colour und schwarze Menschen, die mit dem Tod des 20jährigen Khaled Idris Bahray einen weiteren Höhepunkt erreichen. … Am 12. Januar verließ Khaled Idris Bahray seine Wohnung in Dresden, um einkaufen zu gehen. Zeitgleich fand eine Pegida-Demonstration statt, er kehrte nicht zurück und wurde erst am nächsten Morgen blutüberströmt und tot aufgefunden. … Jonas Berhe, Vorstand des ISD-Bund, dazu: „Nach den Erfahrungen mit dem sogenannten NSU muß gelernt werden. Es kann nicht sein, daß schwarze Menschen in Deutschland nicht den gleichen Schutz vom Staat und seinen Behörden erfahren wie weiße Menschen.« Deshalb fordert die Initiative eine lückenlose Aufklärung usw., die aber nicht das nach den Vorgaben des ISD erwartete, sondern laut jW vom 24.01. das für ihn höchst peinliche Ergebnis zutage förderte, daß der 20jährige Khaled von einem Mitbewohner erstochen wurde. Das Bündnis Dresden nazifrei muß dazu in der jW vom 25.01. einräumen, daß eine »konsequente Polizeiarbeit in alle Richtung« stattgefunden habe, möchte aber gleichzeitig betonen, daß »Asylsuchende und allgemein Menschen (vermeintlich) anderer [sic!] Herkunft immer wieder über Anfeindungen durch Gesten, Worte oder Taten, die sie in ihrem Alltag in dieser Stadt (erleben müssen)«, berichten. »Daß sie eine Stimme bekommen, daß sie gehört werden und wir gemeinsam an einer Gesellschaft arbeiten, in der Mensch unabhängig von Herkunft und Aussehen unmißverständlich willkommen sind, dieses Anliegen haben viele nach dem Tod von Khaled auf die Straße getragen. Und dies ist und bleibt auch unser Ziel und Antrieb. Mehr haben wir nicht festzustellen.« Unerschütterlich wird in dieser allzu simplen Feststellung an der Spaltung Deutschlands in die rassistisch verseuchte Mehrheitsgesellschaft und ‚uns‘, die einzig wahren Antirassisten festgehalten. Eine Haltung, die an Lessings Nathan der Weise erinnert: »Tut nichts, der Jude wird verbrannt!« Da ist es schon ein kleiner Hoffnungsschimmer, wenn vom Berliner Social Center 4 All, in der Weihnachtsausgabe der jW eingeräumt werden muß, daß zu den Häuserbesetzungen zwecks Gründung von Zentren für Migranten nur wenige gekommen seien, weil die »außerparlamentarische Linke im Moment ein Mobilisierungsproblem« habe und man sogar zu der Einschätzung kommen müsse, »daß das, was wir als linksradikale Szene kennen, nicht mehr der Bezugsrahmen ist, mit dem man politisch arbeiten kann.«


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F.W. an Ulrich Knaudt (27.01.2015)

Betreff: REAKTIONEN 14


Hallo Ulrich Knaudt,

Was das Spektakel von und gegen PEGIDA angeht, halte ich für die größte Heuchelei, dass es dabei angeblich um den Islam gehen soll und beide Seiten das zum Anlass nehmen, um daraus eine Art Kulturkampf zu machen. Einer Studie zufolge (http://www.spiegel.de/media/media-35641.pdf) haben nur 23% der PEGIDAisten »Islam, Islamismus oder Islamisierung« als Grund für ihre Teilnahme an den Protesten angegeben, d.h. 77% haben dies verneint! Und trotzdem erzählen uns alle möglichen Linken (von den Pfaffen natürlich über die Politiker bis zu den linksradikalen ‚Antiras‘), dass es sich bei PEGIDA um eine ‚islamfeindliche‘ Bewegung handelt. Ich denke, der Islam ist für die nur ein ‚Ticket‘ anderer Bedürfnisse und Interessen, z.b. nach dem guten alten ‚Wohlfahrtsstaat‘, der 60er und Anfang 70er Jahre, als die türkischen und arabischen Migranten noch keine Islamisten waren. Mit dieser sozial-konservativen Nostalgie unterscheidet sich PEGIDA aber nur wenig von der pro-keynsianischen und anti-neoliberalen Mainstream-Linken. Der Unterschied liegt eher z.B. in der Fremdenfeindlichkeit bei den Rechten und der“Fremdenfreundlichkeit“ oder, böse gesagt, dem Philo-Rassismus und Kulturalismus der Linken.

Viele Grüße,

F.W.
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Ulrich Knaudt an F.W. (27.01.2015)

Betreff: REAKTIONEN


Hallo F.W., …

Im Prinzip gebe ich Dir zu PEGIDA recht. Unter dem Gesichtspunkt der dort aufgetauchten Parole »Putin hilf!«, von der es, soweit ich es von hier aus erkennen konnte, mehrere Varianten gibt, bekommt die Sache aber noch einen weiteren ‚Dreh‘. Ich werde versuchen, das im nächsten BLogbuch auseinanderzudröseln.


Spannend finde ich ja auch den neuen griechischen Verteidigungsminister, dessen Personalie in dieselbe Kerbe haut: Links und Rechts haben das gleiche gute Verhältnis zu Moskau. Gleichzeitig hat sich damit der Antifa-Popanz der Linken in rechtes Wohlgefallen aufgelöst: antieuropäischer Antikapitalismus, antikapitalistischer Antiamerikanismus, ein neuer Antiimperialismus, wie er den BRIC-Staaten ins Konzept paßt (zu denen noch Argentinien hinzuzuzählen wäre).

Eine antiimperialistische Kampffront.

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

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F.W. an Ulrich Knaudt (28.01.2015)

Betreff: REAKTIONEN


zu PEGIDA + Putin:

auf Facebook war am 10.01.2015 zu lesen:

»Der russische Präsident hat, nach Angaben aus Pegida-nahen Kreisen in Dresden, seine Freunde an seinem ehemaligen Arbeitsplatz die Residenten des KGB in Dresden gebeten, Pegida organisatorische und, falls notwendig, finanzielle Hilfe zu erweisen.« Dies bezieht sich auf einen Artikel von Dieter Wonka in der Leipziger Volkszeitung vom 10.01.15, der dann auch als Scan hochgeladen wurde. Ich habe ihn mal an die Mail angehangen. Der Artikel ist leider nicht besonders gut lesbar. Die PEGIDA-Putin-connection wird im letzten Absatz angesprochen. [1]

[1] LVZ 10.01.2015 Berliner Bonbons. Das Erbe von Strauß und Schröders Nähe zu Putin. Dieter Wonka über Anekdoten abseits des Berliner Politikalltags: »Putin ist von Schröder früher als lupenreiner Demokrat geadelt worden. Und der russische Präsident, so heißt es jetzt aus dem Umfeld der Pegida-Regisseure von Dresden habe Freunde an seinem früheren KGB-Einsatzort Dresden gebeten, organisatorisch und im Bedarfsfall auch finanziell mit Rat und Tat parat zu stehen.«


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Ulrich Knaudt an P.T. (07.02.2015)

Betreff: ICH WILL AUCH ZU DEUTSCHLAND GEHÖREN


Hallo P.T., anbei die Glosse, die zumindest ich lustig fand. [1] Außerdem berührt sie sich thematisch mit dem BLogbuch Januar 2015… .

viele Grüße

Ulrich

[1] FAZ 07.02.2015 »Gehören Fraktur. In der Frage aller Fragen, was nämlich alles zu Deutschland gehört, sind wir dank dem Bundespräsidenten und der Kanzlerin ein gutes Stück weitergekommen. Da wollte sich der Vizekanzler natürlich nicht lumpen lassen. Er ergänzte die Reihe, in der sich schon der Islam und Auschwitz befanden, um die Pegida-Bewegung und das Recht, rechts sein zu dürfen, ja sogar deutschnational. „Hört, hört, Völker, die Signale!“, kann man da nur rufen.«


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Ulrich Knaudt an F.W.
(22.02.2015)

Betreff: JE NE SUIS PAS MARXISTE


Hallo F.W., im Anhang ein Aufsatz von Michael Heinrich über Marx und Marxismus. [1] Ich kenne d.A. aus der M.[arx]-G.[esellschaft]. Sein Grundirrtum: er macht Marx zwar nicht zum Marxisten, aber dafür zum Akademiker, der er seit Bonn nicht mehr war und nicht sein wollte. Als Kritiker war er Kritiker als Kommunist war er Kommunist. Das bekommt M.H. nicht auf die Reihe, und heraus kommt über den Kommunisten allerlei ungereimtes Zeug. Zum Werkzeug des Wissenschaftlers gehört ‚omnis dubitandum esse‘ als Methode, der Revolutionär käme nicht weit, wenn er alles bezweifeln wollte… Auf jeden Fall ein interessanter Einblick in die Argumentationsweise des akademischen Marxismus.


Die anderen Texte befassen sich mit dem endgültigen Abstieg Der Linken (oder zumindest ihres linkesten Flügels) zu Kreaturen des Putinismus und zu linken Quislingen. [2]


Das grosse Thier, Februar 2015, »Die „Einheit der Völker“…« hat mir sehr gut gefallen. … Der Aufsatz beschreibt den Eindruck, den ich auf ähnliche Weise empfand, als ich Meldungen über diese seltsame Demo gelesen habe. [3] Warum stellen sie das Thier nicht komplett ins Netz und sammeln Spenden…?

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

[1] ND 24.01.2014 Michael Heinrich: „JE NE SUIS PAS MARXISTE“. Marx wollte keinen „Marxismus“ als identitätsstiftende „Wahrheit“. Ihn interessierte vielmehr das kritische Geschäft der Unterminierung von Gewissheiten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/959492.je-ne-suis-pas-marxiste.html

[2] jW 20.02.2015 Stimmungsmache gegen Linke-Hilfe.

http://www.jungewelt.de/2015/02-20/064.php
Die Linke: Wolfgang Gehrke, MdB – Auf humanitärer Mission – Bericht über eine „skandalöse“ Reise in die Ostukraine.

http://www.waehlt-gehrcke.de/index.php?option

[3] Das grosse Thier 12.02.2015 Die „Einheit der Völker“ gegen „Charlie Hebdo“.

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F.W. an Ulrich Knaudt (25.02.2015)
Betreff:
Aw: JE NE SUIS PAS MARXISTE


Hallo Ulrich Knaudt,

vielen Dank für die Texte. Michael Heinrichs Einführung war für mich die erste Heranführung an die Kritik der politischen Ökonomie. Als ich angefangen habe, das »Kapital« selber zu lesen, hat sich das Ganze dann doch etwas anders dargestellt.


Das Grundproblem in seinem Artikel ist m.E. die Zurückweisung der materialistischen Dialektik von Marx und ihre Auflösung in irgendwelche »sinnvolle(n) Konzepte von Materialismus und Dialektik« oder beliebig anwendbare »Modelle«, entsprechend dem akademischen Methodenpluralismus. Statt der »großen Methode« viele »kleine Methoden«, könnte man vielleicht sagen. Und da Marx ja ein Spezialist für Ökonomie war, habe seine Methode auch ausschließlich Gültigkeit für diesen »Fachbereich«. In der Politik kann man sich dann wohl pragmatisch nach anderen, letztendlich bürgerlichen Gesichtspunkten orientieren. Wenn Marx aber einen »Leitfaden« für materialistische Forschung überhaupt und nicht nur der Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie entwickelt hat, ist auch der anti-ontologische Affekt von Heinrich hinfällig.


Ich denke, Marx hat auch als Theoretiker keinesfalls alles angezweifelt, jedenfalls wenn das heißen soll, dass er als dogmatischer Skeptiker zu keinen positiven Resultaten gekommen sei. Z.b. wenn er im »Kapital« feststellt, dass Arbeit ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens ist, ohne deshalb »die Arbeit«, entkleidet von ihrer historischen Form, zu einer selbständigen Seinsform zu machen.


Der Hinweis auf den fragmentarischen Charakter vieler Arbeiten von Marx ist wohl eher eine Ausflucht davor, z.B. die Staatskritik oder die politischen Einschätzungen von Marx ernst zu nehmen. Seine angebliche Inkohärenz wird zum Anlass zu genommen, Marx »kritisch« aus dem Arsenal der bürgerlichen Wissenschaft zu ergänzen. Damit befindet sich Heinrich auf dem Niveau der Theoretiker der 2. Internationale, die glaubten, eine bei Marx fehlende Ethik oder Ästhetik in Anlehnung an Kant in ihren Marxismus einflechten zu müssen.

[…]

Viele Grüße,

F.W.

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F.W. an Ulrich Knaudt (04.03.2015)

Betreff:cold and hot war


Hallo Ulrich Knaudt,

im Anhang befinden sich zwei Texte, einmal ein Interview mit der Historikerin Anne Applebaum über die Großmachtpolitik Russlands und die Position des Westens [1] und noch ein Papier der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen über die russische Kriegsführung in der Ukraine [2], das ich aber noch nicht gelesen habe.


Applebaum benennt in ihrem Artikel ziemlich klar das Missverhältnis zwischen Russland als einem militärisch relativ mächtigen Staat und der EU, insbesondere Deutschland, als militärisch verhältnismäßig bedeutungsloser Macht. Von daher wird Deutschland in den Verhandlungen mit Russland von russischer Seite kaum ernst genommen, wenn sie nicht die USA im Rücken haben. Das hatte auch schon der Ex-US-Diplomat John Kornblum kürzlich in einer Talkshow bestätigt. In der saß übrigens auch Gabriele Krone-Schmalz, eine ziemlich abscheulichen Putinistin, die jetzt einen Bestseller hingelegt hat: http://www.amazon.de/Russland-verstehen-Ukraine-Arroganz-Westens/dp/3406675255/

Viele Grüße,

F.W.

[1] Basler Zeitung 03.03.2015 Rußland will einen neuen Kalten Krieg. »Die Historikerin und Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum über die Fehler des Westens im Umgang mit Moskau, die Zukunft der Ukraine und die Lage der amerikanisch-europäischen Beziehungen.«

[2] Nikolay Mitrokhin: Infiltration, Instruktion, Invasion. Rußlands Krieg in der Ukraine. www.forschungsstelle.uni-bremen.de/UserFiles/free/OE_8_2014_Mitrokhin.pdf

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Ulrich Knaudt an F.W. (09.03.2015)


Hallo F.W.,

vielen Dank für die Infos. Da ich mich in den letzten Wochen mit dem BLogbuch herumplage und parallel die REAKTIONEN 2013 und 2014 bearbeitet habe, komme ich außer die FAZ zu lesen, zu kaum noch etwas anderem. Aber das soll sich wieder ändern. Ich werden die mir von Dir zugesandten Papers in den nächsten Tagen lesen und kommentieren.


Das Buch von Frau Applebaum Der eiserne Vorhang habe ich mit großem Interesse gelesen. Daran ist mir endgültig klar geworden, was ich schon immer vermutet habe, daß Stalins Konterrevolution von links kam, was durch die Darstellung von Applebaum überaus deutlich wird: d.h. Export der Revolution auf den Spitzen der Bajonette der Roten Armee und mit entscheidender Unterstützung des Geheimdienst- und Propaganda-Apparates, während Putins Neozarismus sich der gleichen Mittel bedient, aber schlicht reaktionär mit allem was dazu gehört, ist. Außerdem lese ich gerade von Frank Dikötter: Maos großer Hunger. Hieran wird deutlich, daß der Große Sprung… eine haargenaue Kopie von Stalins Zweiter Revolution und der Hungersnot in der Ukraine war. Stalin und Mao wollen den Kommunismus erzwingen ohne Rücksicht auf Verluste bzw. die Menschen, die ihn wollen, aber nicht können dürfen, weil es den linken Radikalismus dazu an jeglicher Subtilität (und Dialektik) mangelt und alles mit Gewalt durchgesetzt werden soll: Einmarsch der Roten Armee, Suche nach ‚Klassenfeinden“

, Einsetzen der Massenpropaganda, Lob der bisher errungenen Erfolge, Säuberung des Apparats und Positionierung der eigenen Leute. Das alles unter maßgeblicher Leitung des Geheimdienstapparates. Der berühmte XX. Parteitag war daher nur der Wechsel vom geheimpolizei- zum kriminalpolizeilichen Sozialismus. Mehr steckte wahrscheinlich nicht dahinter.


Ich schicke Dir einen FAZ-Artikel über Odessa. [1] Auch der ist für mich, was die Klärung der Hintergründe dieses einschneidenden Ereignisses betrifft, weiterhin unbefriedigend. Zumindest wird deutlich, daß sich jede einseitige Schuldzuweisung verbietet: vielleicht wollten alle jeder für sich von einem Skandal dieser Art profitieren. Die Reise von Frau Timoschenko unmittelbar nach dem Unglück deutet jedenfalls darauf hin. Auf der anderen Seite wurden die prorussischen Kräfte nicht gezielt umgebracht, wovon unsere linke Presse schwadroniert. Ich wollte Dir noch einen Bericht über die Ausführungen eines Bundeswehr-Generals schicken, worin unverblümt die russischen Subversionspläne für Europa zum Ausdruck kommen. Wenn ich ihn finde, schicke ich ihn Dir. Bei der Suche nach diesem Artikel fand ich noch einiges Interessante zu diesem Thema. [2] Frau Krone-Schmalz war langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau. Ihrem späteren Putinismus wurde dabei bestimmt intensiv nachgeholfen. Ihr Buch werde ich jedenfalls nicht lesen. Osteuropa ist stark auf die Ukraine abonniert. Es gibt schon mehrere reichhaltige Sonderbände, die Mensch nicht alle lesen kann. Mitrokhins Aufsatz werde ich mir aber zu Gemüte führen.


Zum Schluß noch mal zu M. Heinrich: wir sollten bei der foreign policy der Arbeiterklasse nicht die political economy der working class vergessen. Ich denke, das ist der entscheidende Gesichtspunkt gegenüber dem akademischen Marxismus. Daß er die foreign policy ‚vergißt‘, könnte man fast noch als verzeihlich ansehen. Die Wissenschaft sollte von allem Politischen frei sein. Bei Heinrich wird aber der Kontrast zu der political economy der working class besonders deutlich, wie sein Aufsatz im N[euen]D[eutschland] (ND ist nun mal keine wissenschaftliche Zeitschrift) besonders eindringlich demonstriert. Soweit erst mal.


Ich schicke Dir die REAKTIONEN 2013 und 2014 und die dazugehörigen Anhänge. Einer ist das Produkt einer Debatte zwischen H.B. und mir; wenn Dir Dialektik Spaß macht, ist die vielleicht nicht uninteressant. [3] In einem weiteren Anhang beschäftige ich mich Heinrich Harbachs Sozialismus reloaded, nur wichtig, wenn Dir die im DKP-Umfeld geführte Sozialismus-Debatte irgendwas sagt, die man eher vernachlässigen kann. [4] Spannender wären vielleicht die Exzerpte zu Marx: Herr Vogt, einer Schrift, die von der Linken möglichst geschnitten und umgangen wird. Steht ja auch für sie Peinliches drin… [5]

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

[1] FAZ 07.03.2015 Die Tragödie von Odessa. Vor einem Jahr brannte das Gewerkschaftshaus in der ukrainischen Stadt am Schwarzen Meer. Es gab Tote und Verletzte. Unabhängige Ermittler glauben nicht, daß ein Massaker verübt wurde. Die offizielle Strafverfolgung kommt nicht voran – und die Stadt nicht zur Ruhe.

[2] FAZ 04.03.2015 So kämpfen die Russen in der Ukraine. Bis heute streitet Moskau ab, daß russische Soldaten an Kämpfen im Osten der Ukraine beteiligt sind. Überraschend offen berichtet nun ein junger russischer Panzerfahrer über seinen Einsatz beim Kampf um Debalzewe.

FAZ 04.03.2015 Die Ukraine ist der Anfang vom Ende. Warum die Aggression Rußlands ein Zeichen von Schwäche ist und sich der Westen trotzdem auf alles gefaßt machen sollte. Ein Gespräch mit dem ehemaligen Dissidenten Adam Michnik, heute Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung „Gazeta Weyborrcza“.

[3] REAKTIONEN 2013 ANHANG 1 Dialektik. Einwände gegen Colletti und Stalin.

[4] REAKTIONEN 2014 ANHANG 1 Exzerpte zu Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt.

[5] REAKTIONEN 2014 ANHANG 2 Exzerpte und Notizen zu Karl Marx: Herr Vogt.


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F.W.
an Ulrich Knaudt (22.03.2015)
Betreff:
AW: BL115


Hallo Ulrich Knaudt,

vielen Dank für das neue Blogbuch und die Materialien aus den vorherigen Mails. Ich bin bisher leider noch nicht dazu gekommen, alles zu lesen. Besonders dankbar bin ich für die Exzerpte aus ‚Herr Vogt‘. Mein erster Versuch, mich durch den Originaltext von Marx zu kämpfen, ist nämlich leider gescheitert.


Der Satz, der dir aus einer Veranstaltungsankündigung von Theorie Praxis Lokal aufgefallen ist (»Die Unterentwicklung der revolutionären Theorie auf der ganzen Welt ist die erste Unterentwicklung, die jetzt überwunden werden muss.«), wie du in den REAKTIONEN 2013 schreibst, ist übrigens dem Text »Der Klassenkampf in Algerien« von der Situationistischen Internationale entnommen, der hier online abrufbar ist:

http://www.si-revue.de/der-klassenkampf-in-algerien


In diesem Text haben die Situationisten der Perspektive auf ein nachholendes Akkumulationsregime mit Staatssklaverei nach östlichem Vorbild die »generalisierte Selbstverwaltung« der Produzenten entgegengesetzt, wie sie damals in Algerien sich von unten her zu konstituieren begann. Ein interessantes Statement, da die eher am Rätekommunismus orientierten Situationisten damit keine äquidistante Position zum antikolonialen Kampf beziehen und zugleich einen Trennstrich zum ‚Antiimperialismus‘ nach sowjetischem oder chinesischem Vorbild gezogen haben.


Anbei noch ein kurzer Artikel aus der ZEIT über die deutschen Freunde des Putinismus. [1]

[…]

Viele Grüße,

F.W.

[1] DIE ZEIT 19.03.2015 RUSSLANDS NATIONALE BEFREIUNGSBEWEGUNG Heimat, Freiheit, Putin. Die Nationale Befreiungsbewegung NOD ist Teil der russischen Propaganda in Deutschland. Ihre Botschaften kommen auch in der akademischen Mittelschicht an.


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Ulrich Knaudt an F.W. (23.03.2015)
Betreff: BL115


Hallo F.W., vielen Dank für Deine Mail und den ZEIT-Artikel. Ich hatte beim Schreiben [des Blogbuchs 1 2015] auf den Einwand gewartet, daß der Putin-Hilferuf aus Dresden der persönliche Einfall eines Demo-Teilnehmers gewesen sein könnte und daher von mir überbewertet werde. Der hervorragend recherchierte ZEIT-Artikel (ich bin sonst kein Freund der ZEIT) beweist das Gegenteil. Als weitere Bestätigung ist heute auch die FAZ aufgewacht und weist nach, daß das ganze gezielt aus Moskau gesteuert oder zumindest dort wohlwollend geduldet wird. [1]


Um den ‚Klassenkampf in Algerien‘ werde ich mich kümmern. Die Dutschke-Rede, aus der ich im BLogbuch [2] ein paar Sätze zitiert habe, müßte heute dahingehend relativiert werden, daß nicht nur »wir« in Vietnam tagtäglich »vernichtet« werden, sondern der Antiimperialismus Moskauer Provenienz, der zwar von ‚Peking‘ legitimerweise als Waffe der Selbstverteidigung gegen die Neuen Zaren Anwendung fand, [d]er aber generell, wie von ‚Peking‘ [geschehen] nicht hätte instrumentalisiert werden dürfen. Hierin lag bereits der Wurm, der das Ganze als Lügengebäude zum Einsturz brachte. Vor allem auch wir (die westdeutsche Linke) haben ihn instrumentalisiert. Nämlich dazu, die sog. Nationale Frage in die Dritte Welt zu ‚exportieren‘. Auch das rächt sich heute in Gestalt der Querfront, an der der FSB nun systematisch zu arbeiten scheint.


Meine These, die im letzten BLogbuch nur angerissen wird, lautet: daß es in Deutschland schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts zwei nationale Befreiungsbewegungen gegeben hat: eine jakobinische mit dem Gallischen Hahn usw. [3] und eine zarische, zu der die damalige Linke mit Herrn Vogt [4] gehört hat, die den Gallischen Hahn im Sinne Louis Bonapartes zum linken Sozialimperialismus ‚weiterentwickelt‘ hat.


Eine der wichtigsten Figuren der zarischen deutschen Befreiungsbewegung gegen Napoleon als Werkzeug großrussischer Weltpolitik ist der Freiherr vom Stein, der zeitweise auch in Diensten des Zaren gestanden hat. Das verweist auf F[riedrich].E[ngels].‘ Auswärtige Politik des russischen Zarentums, worin sich dieser ausdrücklich auf die Marxschen Studien zur russischen Diplomatie bezieht, usw. [5] Es geht immer noch um die Frage, welches Deutschland wir wollen: das jakobinische oder das Deutschland des Ancien régime. Wie aus den drei Marxschen Frankreich-Texten [6] deutlich wird, sah Marx in der [Pariser] Commune die unmittelbare Fortsetzung [der Revolution] von 1789. Seine ‚Klassenanalyse‘ bewegt sich zwischen 1789 und 1871. Ich finde, daran sollten wir weiterhin anknüpfen, zumal angesichts des Neuen Zarentums, das sich heute hier breitmacht.

Hier wird einiges zu tun sein.

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

[1] FAZ NET 23.03.2015 ‚Konservatives Forum‘ Des Kremls rechtsextreme Freunde. Was unmöglich erscheint, ist in Sankt Petersburg wirklich geworden: ein Treffen der ‚Internationalen Nationalisten‘. Der Kreml versucht, mit der Veranstaltung Freunde im Westen zu gewinnen.

[2] BLogbuch Januar-Februar 2015 „Charlie“, der Salafismus und wir Deutschen.

Rudi Dutschke auf dem Internationalen Vietnamkongreß in Berlin vom 17.-18.02.1968: »Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden wir auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase. Wenn in Vietnam der US-Imperialismus überzeugend nachweisen kann, daß er befähigt ist, den revolutionären Volkskrieg erfolgreich zu zerschlagen, so beginnt erneut eine lange Periode autoritärer Weltherrschaft von Washington bis Wladiwostok.«

[3] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Einleitung, MEW 1, 391: »Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns

[4] Ulrich Knaudt an F.W. (09.03.2015), [5].

[5] EINspruch 01.07.2015.

[6] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich MEW 7 (11-107); Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte MEW 8 (115-207); Der Bürgerkrieg in Frankreich MEW (319-362).


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F.W. an Ulrich Knaudt (08.04.2015)
Betreff:
Flugblatt


Hallo Ulrich Knaudt,

gestern fand in Leipzig eine kleine Kundgebung vor dem russischen Konsulat aus Anlass der Solidaritätstage für den vom FSB nach Moskau verschleppten ukrainischen Anarchisten Alexander Koltschenko statt. Dort wurde folgendes Flugblatt verteilt und verlesen:

https://weltcoup.wordpress.com/2015/04/08/erklarung-zu-den-internationalen-solidaritatstagenfur-

alexander-koltschenko/

Ich habe es als PDF angehängt.

Viele Grüße,

F.W.

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Ulrich Knaudt an H.B. (11.04.2015)

Betreff: MARX DER WISSENSCHAFTLER


Lieber H., es hat mich sehr gefreut, daß wir mal wieder telefonieren konnten …


1. Colletti: ich verstehe nicht, was Du an dem hast. [1] Seine Dialektik ist mit das unlogischste Zeug, das mir seit längerer Zeit begegnet ist. Die aristotelische Logik und die Marxsche Dialektik haben jedenfalls soviel gemeinsam, daß die eine nicht ohne die andere auskommt, aber die Marxsche gleichzeitig den von Aristoteles gepriesenen goldenen Mittelweg überschreitet. Wie sollen die Extreme einerseits bei sich sein und sich andererseits einander berühren können (les extrêmes se touchent)? Das ist mit Collettis Dialektik nicht zu bewerkstelligen, die im Grunde aus erratischen logischen Begriffsklötzen besteht, die einerseits die eigene Existenz negieren, die sie anderseits gar nicht haben (Subreption des ‚ist‘). Dieses sich Negieren und nicht Negieren-Können ist ihr Wesen, ein seltsames Wesen! Falls unsere Debatte eine Fortsetzung finden sollte, werde ich mich mit Collettis Platon-Interpretation auseinandersetzen, wofür ich bisher keine Zeit hatte.


2. Marx-Interpreten ([Karl] Reitter): Du hast unter den KAP-Interpreten zwei Strömungen genannt, deren einer Du auch Ulrich Knaudt hinzurechnest. In dem Chaos ist davon bei mir so gut wie nichts hängengeblieben, und Du tätest mir einen großen Gefallen, wenn Du die Zeit fändest, diese Differenz in ein paar Sätzen näher zu bestimmen. Ich sehe natürlich ganz andere gegensätzliche Positionen, aber gerade deshalb wäre Deine ‚Einteilung‘ der Marx-Interpreten für mich sehr wichtig. Soweit ich mich erinnere, spielt dabei der Hegelsche Substanz-Begriff für die Bestimmung der Arbeit eine entscheidende Rolle. [2]


3. Klaus Müller: Ich schicke Dir seinen Aufsatz aus dem heutigen N[euen]D[eutschland]. [3] Mir fiel auf, daß er die Marxschen Kategorien stark dualistisch bestimmt. {Z.B. abstrakte Arbeit (Tauschwert produzierend) vs. konkrete Arbeit (Gebrauchswert produzierend)}. Mit der »abstrakt menschlichen« und der »konkret nützlichen Arbeit« weiß er nichts anzufangen. Außerdem mißfällt mir diese gnädige Tour, mit der d.A. im Namen heutiger Wissenschaft bei dem sich nicht mehr ganz so auf dem Laufenden befindlichen Marx ‚Fünfe grade sein‘ läßt. Da ist es schon nicht weiter zu verwundern, daß er ähnlich wie D.[ieter]W.[olf] über kein Organ für die Marxschen Absurditätsbeweise verfügt, an denen der aristotelisch-hegelsche Substanzbegriff im KAP[ITAL] I zerrieben wird. Aufgefallen ist mir auch, daß er [gemeinsam] mit vielen Marx-Interpreten (jedenfalls soweit ich sie gelesen habe), große Reserven gegenüber dem »Tendenziellen Fall der Profitrate« hegt. Mir ist noch nicht klar, warum er nicht der einzige ist, der dabei den Löffel abgegeben hat. Wenn ich weiter mit KAP[ITAL] III sein werde, werde ich vielleicht darauf stoßen, woran das liegt.

Soweit erst mal und alle Gute

U.

[1] REAKTIONEN 2013 ANHANG 1 Dialektik. Einwände gegen Colletti und Stalin.

[2] DAS KAPITAL DEBATTE 1 Ulrich Knaudt: Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König werden.

[3] ND 11.04.2015 Geschöpft, verteilt, getauscht. Klaus Müller über Bleibendes und Ungelöstes in der ökonomischen Theorie des Karl Marx.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/967554.geschoepft-verteilt-getauscht.html

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Ulrich Knaudt an F.W. (11.04.2015)

Betreff: UKRAINE


Lieber F.W., vielen Dank für das sehr interessante Flugi. [1] Wenn es Dir
nichts ausmacht, erlaube ich mir dazu ein paar Bemerkungen…:


1. Wer ist A. Koltschenko? Wo wurde er verhaftet? Von wem genau? Was wird ihm in einzelnen vorgeworfen (wenn dazu bereits etwas verlautbart wurde)? Der Leser erfährt nur durch das »eroberte Territorium«, daß es sich wohl um den russisch okkupierten Teil der Ukraine handelt.


2. Rußland führt nicht nur »in der Ukraine«, sondern dadurch auch gegen die Ukraine einen (asymmetrischen) Krieg. Daher auch nicht allein einen Krieg gegen den Maidan. Ohne Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit kein Maidan und umgekehrt! Es hängt von der konkreten politischen Situation ab, welches Moment davon gerade dominiert. Aber beide gehören zusammen (Die Parallele zum Spanischen Bürgerkrieg fällt ins Auge.)


3. Sehr gut der Bezug zu Syrien und dem Iran, sowie zu den dort sich im Gang befindlichen politischen Revolutionen. Der Hinweis wäre nicht schlecht, daß bereits Marx und Engels Rußland als »Gendarmen der Konterrevolution« bezeichnet haben (vgl. das o.g. Motto) … »Zarenreich«»Hegemonie« werden angedeutet. Mehr geht wahrscheinlich in einem Flugblatt nicht.


4. Zu den Protestbewegungen in den BRIC-Staaten hätten sich aktuelle Beispiele angeboten (Brasilien, Venezuela, Hongkong). Die hiesige Linke wird sich immer als progressiv verkaufen. Das gehört zu ihrem label. Hier wären Hinweise gut gewesen, die zeigen, warum ihnen dieses label niemand mehr abnimmt (Palästinenserlager Jarmuk und die aktive faschistische Rolle der PFLP-GC auf der Seite der Assadschen Konterrevolution).


5. Die Bestimmung des Verhältnisses der politischen zur sozialen Revolution wird zwar angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Fakt ist, daß dieses Verhältnis in der Ukraine ein anderes sein muß (Oligarchenherrschaft, Bedrohung der staatlichen Souveränität) als momentan in den westlichen Ländern (Griechenland vielleicht ausgenommen). Obgleich sich diese Situation ändern kann. Daher ergäbe sich eine Ergänzung des Mottos am Schluß: »Gegen die russische Aggression in der [und gegen die] Ukraine«. An diesem Punkt herrscht vermutlich noch Diskussionsbedarf.


Mit hat das Flugi gefallen. Eine wichtige Diskussionsgrundlage für unsere weitere Debatte!


Viele Grüße

Ulrich Knaudt

[1] Siehe: Anleitung zum Kampf. https://weltcoup.wordpress.com/2015/14/08/erklarung-zu-den-internationalensolidaritatstagen-fur-alexander-koltschenko/

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F.W. an Ulrich Knaudt (13.04.2015)

Betreff: Aw: UKRAINE


Hallo Ulrich Knaudt, vielen Dank für deine treffenden Bemerkungen zu dem Flugblatt. Das größte Manko ist auf jeden Fall, dass nicht auf den gegen die nationale Unabhängigkeit der Ukraine gerichteten Charakter von Russlands Krieg hingewiesen wurde. … Wenn du nichts dagegen hast, würde ich deine Mail weiterleiten.

Viele Grüße,

F.W.
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R.W. an Ulrich Knaudt (17.04.2015)

Betreff: DIALEKTIK


Hallo Ulrich Knaudt,

im Anschluß an den Dialektik-Artikel [1] eine Ergänzung aus dem Bereich Ökonomiekritik:

In der Erstauflage des ‚Kapital‘ von 1867 heißt es am Ende des 1. Kapitels:

»Die Ware ist unmittelbare Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert, also zweier Entgegengesetzen. Sie ist daher ein unmittelbarer Widerspruch.«


Später heißt es:

»Der immanente Widerspruch der Waare als unmittelbarer Einheit von Gebrauchswerth und Tauschwerth, als Produkt nützlicher Privatarbeit, die ein nur vereinzeltes Glied eines naturwüchsigen Gesammtsystems der nützlichen Arbeit oder der Theilung der Arbeit bildet, und als unmittelbar gesellschaftliche Materiatur abstrakter menschlicher Arbeit – dieser Widerspruch ruht und rastet nicht, bis es sich zur Verdopplung der Waare in Waare und Geld gestaltet hat« MEGA² II.5, p. 54.

[1] REAKTIONEN 2013 ANHANG 1 Dialektik. Einwände gegen Colletti und Stalin.


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Ulrich Knaudt an H.B. (20.04.2015)
Betreff: DIALEKTIK


Lieber H, anbei einige nachträgliche Überlegungen zu unserer Debatte vom vorletzten Wochenende. [1] Ich hoffe, daß wir dadurch ein paar mm weiter gekommen sind.

Viele Grüße

U.

[1] REAKTIONEN 2015 ANHANG 1.

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Ulrich Knaudt an R.W. (29.04.2015)

Betreff: DIALEKTIK


Lieber R.W., zunächst einmal vielen Dank für Deine wertvollen Hinweise zu »Gegensatz«/ »Gegenteil«/»Widerspruch« im Marxschen KAP[ITAL] I. Außerdem Sorry für meine verspätete Antwort. Ein Grund war, daß ich mich noch einmal durch das Dialektik-Kapitel in der Marxschen Kritik am Hegelschen Staatsrecht durchgebissen habe und zu keinem zufriedenstellenden Schluß gekommen war. Die Zitate, die Du zu den verschiedenen Begriffen der Dialektik gefunden hast, demonstrieren, daß Marx angefangen von diesem frühen Text mit dem Thema nicht fertig war, aber gleichzeitig elementare Begriffe beibehalten hat, siehe z.B. den der »Extreme«. Gerade von diesem ist Colletti höchst angetan und vergißt dabei, daß es sich um einen Begriff aus der aristotelischen Syllogistik handelt, in der die Extreme, die Mitte und der Schluß Elemente der Formen des logischen Schließens sind. Übrigens heißt die Marxsche ‚Werttheorie‘ in englischsprachigen Texten ‚theory of forms of value‚, was der Marxschen Intention wahrscheinlich eher entspricht als unsere ‚Werttheorie‘. Für Colletti sind die »Extreme« der Einstieg in seine dualistisch gefaßte Interpretation der Dialektik, mit der Marx nix zu tun hat, weil er sich an die logischen Formen Hegels hält, aber gleichzeitig Hegels Tendenz zum Mystizismus kritisiert, wenn er schreibt: »Man kann sagen, daß in seiner [= Hegels] Entwicklung des Vernunftschlusses die ganze Transzendenz und der mystische Dualismus seines Systems zur Erscheinung kommt. Die Mitte ist das hölzerne Eisen, der vertuschte Gegensatz zwischen Allgemeinheit und Einzelnheit.« [1] Damit ist z.B. der Gegensatz zwischen dem absoluten Souverän (Einzelnheit) und seiner Regierung (Allgemeinheit) in Hegels Staatsrecht gemeint. Und so, wie in diesen Verhältnissen für Colletti nur die »Extreme« zählen und er diese isoliert auffaßt und als Kantische »Realopposition« interpretiert, so ist Hegel auf der anderen Seite davon überzeugt, daß sich alle Probleme durch die Bereitschaft und den Glauben aller Beteiligten an die Vermittlung der »Extreme« lösen lassen, was zu absurden Konsequenzen à la Sommernachtstraum führt: »Man sieht, es ist eine Gesellschaft, die kampfeslustig im Herzen ist, aber zu sehr die blauen Flecken fürchtet, um sich wirklich zu prügeln, und die beiden, die sich schlagen wollen, richten es so ein, daß der Dritte, der dazwischentritt, die Prügel bekommen soll, aber nun tritt wieder einer der beiden als der Dritte auf, und so kommen sie vor lauter Behutsamkeit zu keiner Entscheidung.« [2] Wenn Colletti untersucht hätte, »auf welchem Wege Marx zu dieser Konzeption der Realopposition, d.h. des Gegenverhältnisses unvereinbarer Gegensätze gelangt ist«, [3] wäre er darauf gestoßen, daß es jene banalen Verwechslungskomödien sind, aus denen als Ausweg nur noch eine gewaltsame Kollision der Gegensätze oder seine von Kant übernommene »Realopposition« übrigbleibt. Damit verbleibt Collettis Dialektik nicht nur in den Schranken Kantischer Dualismen, sondern bestätigt auch die von Marx bei Hegel kritisierten mystischen Grundlagen seiner Auffassung von Dialektik: »Es ist merkwürdig, daß Hegel, der diese Absurdität der Vermittlung auf ihren abstrakten, logischen, daher unverfälschten untransigierbaren Ausdruck reduziert, sie zugleich als spekulatives Mysterium der Logik, als das vernünftige Verhältnis, als den Vernunftschluß bezeichnet. Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden… usw.« [4] Hiervon ausgehend ergeben sich interessante Parallelen zu den verrückten Formen der Wert(form)theorie, die ich an dieser Stelle nur andeute und über die wir, so es Dir gefällt, demnächst weiter debattieren sollten.

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

[1] Karl Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1 (203-333), 288.

[2] Karl Marx: Kritik…, 292.

[3] Lucio Colletti: Marxismus und Dialektik, Frankfurt M./. Berlin. Wien 1977, 8.

[4] Karl Marx: Kritik…, 292.


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Ulrich Knaudt an Gegen die Strömung (11.05.2015)

Hallo (ehemaliges) Buchladen-Kollektiv,

leider komme ich erst jetzt dazu, auf GdS 1/2015 (Zu den Mordanschlägen faschistischer Söldner gegen linke Satiriker und jüdische Menschen in Paris) zu antworten. Ein Grund war die Fertigstellung des BLogbuchs 1 2015 (parteimarx.org), das sich, wohl nicht ganz zufällig, mit dem gleichen Thema befaßt. Wenn Ihr es gelesen habt (wenn nicht, solltet Ihr das nachholen) werdet Ihr bemerken, daß zwischen GdS und pM in Bezug auf die politische Einordnung des Angriffs von Al Qaida auf die Zeitschrift Charlie Hebdo starke Unterschiede bestehen (um nicht zu sagen, Welten liegen). Das beginnt bereits mit der Überschrift, in der Ihr die Djihadisten einfach als »faschistische Söldner« tituliert – und fertig ist die Laube.


Nun muß man nicht im einzelnen auf die Unterschiede zwischen Al Qaida und Daesh (ISIS) eingehen, wie es im BLogbuch versucht wird. Dennoch wäre ihre Bezeichnung als ‚Islamisten‘ in der Tat ziemlich oberflächlich. Eher sollte uns interessieren, warum z.B. die Gotteskrieger von Daesh ausschließlich für die Gründung eines Gottesstaates (in Syrien +Irak + Libanon) eintreten, Al Qaida dagegen, die sich in Syrien Al-Nusra nennt, für den Sturz des Assad-Regimes und die Errichtung eines Gottesstaates in den heutigen Grenzen Syriens, nicht jedoch, wie der Name Daesh besagt, irgendwo in den Tälern von Euphrat und Tigris zwischen Arabischem Golf und Mittelmeer? Das erinnert doch allzu sehr an Hitlers Umwidmung Polens und der Ukraine in das Generalgouvernement und den Warthegau. Außerdem müßte dem Beobachter der Entwicklung der letzten Jahre im Nahen Osten eigentlich aufgefallen sein, daß Daesh vom Assad-Regime weitestgehend unbehelligt geblieben ist (seine Faßbomben läßt Assad, abgesehen davon, daß es sich generell um ein Kriegsverbrechen handelt, solche nicht diskriminierenden Waffen zu verwenden), nicht auf die von Daesh ‚befreiten Gebiete‘ im Norden Syriens fallen, sondern diese gezielt auf Schulen, Krankenhäuser und Märkte werfen, womit er objektiv Völkermord betreibt, um den revolutionären Widerstand seiner Basis in der Bevölkerung zu berauben – eine altbekannte Anti-Guerilla-Strategie), während Al-Nusra (wenn auch nicht immer) mit säkularen Regimegegnern zeitweise einen Waffenstillstand und koordinierte Aktionen verabredet.


Ein typisches Beispiel aus den letzten Wochen ist das Palästinenserlager Yarmouk, wo die Freie Syrische Armee (FSA) und lokale säkulare Widerstandsgruppen sich gemeinsam mit Palästinensern gegen die syrische Soldateska verteidigt haben (die sich inzwischen hauptsächlich aus libanesischer Hezbollah und iranischen Revolutionsgarden rekrutiert) und dabei auch weiterhin erfolgreich geblieben wären, wenn die Gotteskrieger von Daesh nicht versucht hätten, unter stiller Duldung des Regimes Yarmouk zu übernehmen; sie wurden zurückgeschlagen, weil dort jeder weiß, daß die Gotteskrieger von Daesh gerne die Hälse ihrer Feinde abschneiden, Frauen vergewaltigen und versklaven, Kinder zu Kindersoldaten umerziehen und da, wo sie Fuß fassen, ihren islamischen Tugendterror installieren. (Unsere alten Bekannten von der PFLP übrigens bekämpften dort auf der Seite Assads ihre eigenen Landsleute) M.a.W., wenn Ihr die ‚Islamisten‘ pauschal zu »faschistischen Söldnern« erklärt, solltet Ihr zumindest einen, wenn vielleicht auch nicht allzu großen, Unterschied darin machen, wen Assad von den verschiedenen ‚Regimegegnern‘ gewähren läßt, solange sich ihr religiöses Sektierertum gegen die Arabische Revolution in Syrien richtet oder wen er sogar offen unterstützt: das ist in erster Linie Daesh und weniger Al-Nusra. (Es würde zu weit führen, an dieser Stelle ausführen zu wollen, warum Al-Nusra weniger oder vielleicht sogar überhaupt keine Deals mit Assad abgeschlossen hat. Ein Grund könnte sein, daß diese Organisation von der Türkei, den Golfstaaten und Saudi-Arabien ‚unterstützt‘ oder konkret: bezahlt wird.)


Als zweites wäre zu fragen, von wem Assad außer der indirekten Unterstützung durch Daesh, von außen Unterstützung gegen den Widerstand der Assad-Gegner erhält? Da ist einmal die diplomatische und militärische Unterstützung durch China und Rußland (das einen Flottenstützpunkt in Syrien hat) und da ist die direkte Unterstützung durch den Iran, der die Hezbollah und seine Revolutionsgarden ins Land schickt. Diese Entwicklung scheint inzwischen soweit zu gehen, daß Assad seinen eigenen Laden offenbar nicht mehr ganz im Griff hat und kürzlich seinen Geheimdienstchef unter Hausarrest stellen mußte, weil dieser offenbar gegen die iranische Fremdherrschaft Fäden zur Opposition gesponnen hat. (Al Arabiya English 11.05.) Vielleicht verlassen bereits die Ratten das sinkende Schiff? Kerrys gestriger Besuch bei seinem Kollegen in Moskau scheint zu bestätigen, daß die K… am Dampfen ist.


Mit Eurer »Söldner«-Theorie stochert Ihr in einem Heuhaufen herum, ohne auf irgendeinen greifbaren Unterschied zu stoßen, wer hier Freund und wer Feind, wer revolutionär ist und wer konterrevolutionär. Das heißt, ein entscheidendes Manko Eurer Agententheorie besteht darin, daß, weil Ihr die seit 2011 stattfindende Arabische Revolution, wie ich schon des öfteren bemerkt habe, völlig ignoriert, Ihr auch nicht in der Lage seid, die verschiedenen politischen und sozialen Kräfte in den arabischen Ländern von Marokko bis in den Jemen in dieser Revolution politisch einzuordnen. Der ‚Islamismus‘ ist ein Werkzeug der Konterrevolution, welches von den beiden Hauptkontrahenten im Nahen Osten Iran und Saudi-Arabien mit ihrem jeweiligen Anhang seit 2011 zwecks Liquidierung der im wesentlichen säkular ausgerichteten Arabischen Revolution eingesetzt wird. Der Unterschied zwischen den Saudis und den Mullahs in Teheran ist der, daß die Saudis den Export des Wahabismus in den alten (kolonialen) Grenzen des Nahen Osten betreiben, die Mullahs dagegen ihre islamische Revolution überall hin exportieren, weil sie von Veränderungen des territorialen Status quo kaum betroffen wären. Dafür wird schon Rußland sorgen. Da die Arabische Revolution neben Ägypten in Syrien am weitesten fortgeschritten ist, ist das dort herrschende Regime mit allen nur von einem Faschistenhirn ausgeklügelten Mitteln auch am radikalsten gegen die Revolutionäre Bewegung vorgegangen (BLogbuch 1 2014), indem es nicht nur das alawitische (= Assad-treue) Lumpenproletariat (shabiha), sondern Teile des (sunnitischen) Islamismus instrumentalisiert und gegen den revolutionären Widerstand eingesetzt hat. Syrien war neben dem Irak Saddam Husseins eines der am weitesten fortgeschrittenen säkularen Regimes im Nahen Osten. Von da aus ergeben sich bestimmte Verbindungen zu den kaukasischen Islamisten (ein kaukasischer Islamist kandidiert für die Nachfolge des wohl schwer verwundeten ‚Kalifen‘ Al-Baghdadi), die wiederum vom russischen Geheimdienst unterwandert sind. Daß Ihr derartige Differenzierungen, und es gibt noch weit mehr, nicht zur Kenntnis nehmt, ist höchst bedauerlich. Am gravierendsten erweist sich aber Eure Ignoranz gegenüber der Arabischen Revolution.


Zu Pegida ist alles Nötige in BLogbuch 1 2015 gesagt. Vielleicht nur dieser eine Satz: Solange Ihr die eine oder andere religiöse Sekte, sei es das Christentum, sei es der Islam, von einem bornierten anti-christlichen Standpunkt kritisiert, und das heißt, daß Ihr den Boden der Konkurrenz zwischen den religiösen Sekten (egal, welcher) nicht verlaßt, seid Ihr nicht davor gefeit, gegen den Rassismus des christlichen Herrenmenschen den Rassismus des islamistischen Gotteskriegers zu setzen und den einen durch den anderen zu ersetzen. Die Unterschiede zwischen den religiösen Sekten bestehen ausschließlich im Grad ihrer Zivilisierung durch die bürgerliche Gesellschaft, auch wenn deren Wirkung zumeist nur sehr oberflächlich ist. Im übrigen sind sie gleichermaßen reaktionär.


Am Schluß Eurer Broschüre Religion. Opium des Volkes. Opium für das Volk [1] zitiert Ihr (30) einen Hinweis von Marx über das Duckmäusertum der Christen. Wie paßt dieses dann zum christlichen Herrenmenschen, dessen faschistischen Charakter Ihr pauschal jedem weißen ‚Westler‘, speziell dem deutschen, die Kommunisten vielleicht ausgenommen, zu unterstellen scheint, und wie paßt das dazu, daß Teile der preußischen Aristokratie (20. Juli) und beider christlicher Kirchen gegen Hitlers Herrenmenschentum, dessen negative Auswirkungen für den Ruf jedes zivilisierten Europäers auch für einen human denkenden Preußen und Christenmenschen nicht mehr zu übersehen war, gegen Hitler Widerstand geleistet haben?


Diese anti-weißen Herrenmenschen-Verallgemeinerungen sind weder historisch nachvollziehbar, noch werden sie dem (wenn auch halbherzigen) Widerstand gegen Hitler historisch gerecht. Auf die gleiche Weise wird von Euch der Widerstand gegen das Assad-Regime schlichtweg ignoriert, ganz zu schweigen von der Arabischen Revolution. Mit derartig pauschalen politischen Einschätzungen ist der Aufbau einer revolutionären Bewegung kaum möglich.


Mit solidarischen Grüßen

Ulrich Knaudt

[1] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung MEW 1 (378-398), 378: »Das religiöse Elend ist einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Relgion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, sie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«

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H.B. an Ulrich Knaudt (15.05.2015)

Betreff: H.-J.-Krahl-Institut / Empfehlung


Lieber U.,

Du hast auch die Mitteilung … zum Buch »Dutschkismus« erhalten. [1] Bestell es Dir, wichtig. Behandelt hauptsächlich Dutschkes Kritik am Bolschewismus, Erklärung desselben »Über die allgemeine reale Staatssklaverei«, Dein‘ Spezialthema / unser Dauerthema: Sowjetunion, Sowjets, Kritik mit Marx an Lenin etc., Dorfgemeinde, commune rurale, Sassulitsch, Plechanow …; insbes. Bedeutung, Besonderheit der ‚asiatischen‘ Produktionsweise…

Gruß

H.

PS: Dein letztes Mail zu unserer Tel.-Disk. [2] bringt mir leider nichts, schade.

[1] Carsten Prien: Dutschkismus mit Rudi Dutschke / Günter Berkhahn Über die allgemeine reale Staatssklaverei, Seedorf 2015.

[2] REAKTIONEN 2015 ANHANG 1.

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Ulrich Knaudt an H.B. (20.05.2015)

Betreff: Re: H.-J.-Krahl-Institut / Empfehlung


Lieber H., vielen Dank, daß Du an mich gedacht hast. Ich habe mir das Buch bestellt, aber noch nicht darin lesen können. … Macht nix, wenn Dir meine Attacken gegen den »Kantianer« (R.W.) Colletti »nix bringen« Bei Adorno, Negative Dialektik, fand ich eine zu unserem Thema interessante Bemerkung (17): »Wendet man, wie seit den Aristotelischen Kritikern Hegels repetiert wurde, gegen die Dialektik ein, sie bringe ihrerseits alles, was in ihre Mühle gerät, auf die bloß logische Form des Widerspruchs und lasse darüber so argumentierte noch Croce die volle Mannigfaltigkeit des nicht Kontradiktorischen, des einfach Unterschiedenen beiseite, so schiebt man die Schuld der Sache auf die Methode…« Dieses »einfach Unterschiedene«, das Adorno bei Croce vermutet, erinnert doch stark an das »a (=) nicht-a« Collettis. Um das näher beim Schopfe zu packen, müßte ich die italienischen Philosophen besser kennen, vermute aber, daß von diesem »einfach Unterschiedenen« über Gramsci zu Colletti vielleicht einige Verbindungen existieren. Also weiter im Text!

Viele Grüße

U.

[1] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, 17.

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Ulrich Knaudt an P.T. (25.05.2015)

Betreff: DECKCHEN STICKEN


Hi P.T., Frank Dikötter zitiert in Maos großer Hunger [1] den Vorsitzenden mit dem bekannten Zitat: Eine Revolution ist kein Deckchensticken. In der Übersetzung aus dem Englischen wird daraus eine Dinner Party. Was bedeutet dieses Wort in der wörtlichen Übersetzung?


Außerdem sind die Beiträge zur Marx-Engels-Forschung Neue Folge 2013 erschienen, die sich u.a. mit dem Verhältnis von Kapital und Weltmarkt befassen.


Abgesehen von den üblichen marxologischen Debatten finde ich den Aufsatz von Scongjin Jeong: Marx’s Crisis Theory as a Theory of World Market Crisis sehr interessant, da mich diese Frage schon seit langem umtreibt. Zumindest hält er die Theorie, »that globalization caused the crisis« für »questionable«.

Viele Grüße

U.

[1] Frank Dikötter: Maos großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China, Stuttgart 2014.


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P.T. an Ulrich Knaudt (29.05.2015)

Betreff: DECKCHEN STICKEN


Hi U.,

ich würde die Dinner Party in dem hier dem Sinn nach mit »gesittete Veranstaltung« übersetzen. Wörtlich ist es eine gesellschaftliche Abendveranstaltung am (bürgerlichen) Esstisch.

Viele Grüße,

P.T.

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Ulrich Knaudt an H.B. (09.07.2015)

Betreff: EINspruch NR. 1


Lieber H.,

Ich schicke Dir etwas zum Lesen. [1] Mit diesem Format will ich in kürzerer Frist politische Bemerkungen ins Netz stellen, da das BLogbuch immer umfangreicher ausgefallen ist.


Ich habe angefangen Dieter [Wolf]s Text in den Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung zu lesen und stelle fest, daß d.A. uns eine marxistische Systemtheorie vorsetzen will. [2] O.K. wenn es denn sein muß… das ist aber dann nicht mehr mein Ding!


Viele Grüße

U.

[1] EINspruch 01.07.2015.

[2] Dieter Wolf: Zur Architektonik der Drei Bände des Marxschen Kapitals, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung NF 2013 (95-128).


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Ulrich Knaudt an F.W. (09.07.2015)
Betreff: ARMENIEN


Hallo F., zunächst vielen Dank für die Armenien-Artikel, die ich erst jetzt gelesen habe. Soweit ich weiß, gehört Armenien zu den wenigen Ländern, die der Eurasischen Union beigetreten sind. Nicht mal Weißrußland ist so eng mit der Russischen Föderation politisch, ökonomisch, militärisch verzahnt wie Armenien. Um so erstaunlicher diese Demos, denen der heroische Charakter des Maidan zwar abgehen mag, die aber auch in dieser Form Ausdruck der Großen Wirtschaftskrise sind, von der die Welt momentan durchgerüttelt wird.


Siehe die sich anbahnende Finanzkrise in China! Rußland geht es auch nicht besser. Und mitten drin der Konflikt der EU-Staaten mit Griechenland, der stetig seinem Höhepunkt zustrebt.


Armenien befindet sich in einer ihm von Rußland angelegten Zwangsjacke, die aus den Streitigkeiten über Nagornij-Karabach zusammengeflickt ist und von Putin jederzeit fester zugezogen werden kann, sowie dem christlich-muslimischen Gegensatz, der von dem aserbaidschanischen Regime nach Belieben forciert werden kann. Hinter diesem steckt wiederum die Türkei.

Viele Grüße

Ulrich

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F.W. an Ulrich Knaudt (14.07.2015)

Betreff: ARMENIEN


Hallo Ulrich,

hier ein Artikel aus der WELT von gestern über die Investitionen Saudi-Arabiens in Russland:

http://www.welt.de/wirtschaft/article143933404/Der-Handschlag-der-Putins-riskanten-Plan-besiegelt.html


Und in Armenien haben die Leute jetzt aufgehört zu demonstrieren:

http://www.deutschlandfunk.de/armenien-und-russland-proteste-in-jerewan-ohne-grossesecho.

795.de.html?dram:article_id=325378


Der Hauptwiderspruch zu C. ist auf jeden Fall seine abstrakte Negation der deutschen Nation, die bei ihm irreversibel mit dem Weg zu Hitler verschmolzen zu sein scheint. Diese Negation ist aber beim Stand der Dinge eine (sozial-)imperialistische und keine kommunistische Lösung der nationalen Frage in Deutschland.


In diesen Widerspruch hat [er?] sich ja in der Diskussion verfangen.


Viele Grüße,

F.

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Ulrich Knaudt an F.W. (19.07.2015)

Betreff: BRIEF ALS ANHANG


Hallo F., nach etwas längerem Nachdenken anhängend einige Überlegungen … [1] und noch was zu Armenien [2].

Viele Grüße

Ulrich

[1] REAKTIONEN 2015 ANHANG 2. Siehe auch: parteimarx.org KOMMUNISMUS Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff (Entwurf).

[2] FAZ 14.07.2015 Wer kann, ist längst im Exil. Hilfe von außen: Ein Band über den Alltag Armeniens.


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F.W. an Ulrich Knaudt (31.07.2015)
Betreff:
Aw: BRIEF ALS ANHANG


Hallo Ulrich,

danke für deinen Brief und die zwei Artikel. Ich komme erst jetzt dazu, darauf zu antworten.


Deine Kritik an dem Buch von Neubauer, [1] seine negative Fixierung auf Deutschland sowie die Ausblendung und dadurch Legitimierung des russischen Expansionismus, teil ich. Da C.’s Position im Unterschied dazu noch ambivalent und gespalten ist (einerseits teilt er die abstrakte Negation der deutschen Nation, andererseits nimmt er politisch Stellung gegen den russischen Imperialismus und seine linken Unterstützer, wie Linkspartei und Co.), muss die Diskussion mit ihm fortgesetzt werden, bis sich dieser Widerspruch nach einer Seite hin auflöst und seine Position sich dadurch vereindeutigt.


Deinen Vorschlag »zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff« als arbeitsteiliger Kooperation stimme ich prinzipiell zu. Da ich aber […] von meinen zeitlichen Reserven her sehr eingeschränkt bin, wäre mein Beitrag zu einer wissenschaftlichen Arbeit zur Zeit nur sehr bescheiden. Ganz davon abgesehen, dass ich mir viele theoretische Grundlagen selber erst noch aneignen muss.


Besser praktizierbar wäre für mich daher eine Zusammenarbeit etwa auf dem Niveau der kommunistischen Korrespondenz-Komitees, wie du sie ja auch im ersten Beitrag zum Blogbuch angepeilt hast (http://www.parteimarx.org/?p=718). [2] Diese könnte u.a. darin bestehen, die gegenwärtigen politischen Widersprüche und Kollisionen entlang dem Klassengegensatz von Weltproletariat und Weltbourgeoisie sowie der neuen Ost-West-Spaltung nachzuvollziehen und zu kommentieren, etwa nach Art des EINspruchs über Tsipras Besuchs in St. Petersburg. [3] Möglicherweise führt die Diskussion dieser politischen Analysen dann auch zur Vertiefung auf dem Niveau der wissenschaftlichen Arbeit und der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.


P.S. Hier noch ein Artikel über Putins Tätigkeit als KGB-Agent in der DDR:

https://correctiv.org/recherchen/system-putin/artikel/2015/07/30/putins-fruehe-jahre/

Er hat dort u.a. einen Nazi als Agenten angeworben, der in den frühen 90ern maßgeblich die Nazi-Szene in Dresden aufgebaut hat. Das wirft möglicherweise auch ein Licht auf die Entstehung von PEGIDA und den russischen Beitrag dazu. Auf der Seite correctiv.org sind noch andere interessante Artikel, die ich aber noch nicht gelesen habe:

https://correctiv.org/recherchen/system-putin/

https://correctiv.org/recherchen/system-putin/artikel/2015/07/31/unter-spionen/

Ich habe die drei Artikel als PDF an die Mail angehangen.

Viele Grüße,

F.

[1] Emil Neubauer: Der hässliche Deutsche – Dritter Akt? Kritik der deutschen Zustände und Ideologie, Norderstedt 2015.

[2] parteimarx.org BLOGBUCH. BLogbuch zu den laufenden Klassenkämpfen.

[3] EINspruch 01.07.2015.


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Ulrich Knaudt an F.W. (06.08.2015)

Betreff: DER HÄSSLICHE DEUTSCHE


Hallo F., die folgenden vorläufigen Überlegungen zur Kenntnisnahme. [1] Bis auf das KKK.

Viele Grüße

Ulrich

[1] REAKTIONEN 2015 ANHANG 3.

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Ulrich Knaudt an P.T.
(08.08.2015)

Betreff: CHINAS MEERE


Hi P.T…. Im ND von diesem Wochenende fand sich ein zweiseitiger Aufsatz: Chinas Macht auf dem Meer. [1] Dabei wurde ich an eine Diskussion erinnert, die stattfand, als mir aufgefallen war, daß China irgendwo in Belutschistan einen großen Hafen baut, der damals dafür zu stehen schien, daß China zunächst ökonomisch in westlicher Richtung expandiert. Inzwischen wurden meine in ihrer Reichweite bescheidenen Überlegungen von der Realität, folgt man diesem Aufsatz, eindeutig übertroffen durch das, was sich darin als eine weltumfassende Expansion chinesischer ‚Wirtschaftskraft‘ darstellt. Was die Seestrecke Beijing-Hamburg betrifft, wird diese inzwischen als ‚maritime Seidenstraße‘ bezeichnet. Aber China soll auch den Durchstich in Nicaragua bauen wollen und wahrscheinlich muß man auch den Neubau des Suezkanals in diesem Zusammenhang sehen. Das stand aber nicht mehr in dem Artikel.


Im ND macht sich in letzter Zeit eine gewissen China-Kritik bemerkbar. Offenbar werden den Putin-Freunden die Chinesen auch allmählich unheimlich: »Es sieht so aus «, heißt es abschließend, »als ob China derzeit andere Sorgen hat, als irgendjemanden militärisch zu bedrohen. Doch viele westliche Politiker trauen Peking aus Prinzip nicht. Aber vielleicht sorgen wirtschaftliche Verzahnungen ja dafür, daß sich feindliche Töne abmildern. Ein chinesisches Sprichwort sagt: ‚Ein Freund mehr, ein Weg mehr‘«.


Sind es nur die ominösen „westlichen Politiker“, die Peking mißtrauen?


Ich hätte Dir den Artikel gerne geschickt, aber das ND ist mit dem Kopieren seiner Aufsätzen sehr geizig geworden. …

U.

[1] ND 08.08.2015 Ein gigantischer Plan. China greift nach dem Schlüssel zur Macht. Entlang der wichtigsten Seehandelswege baut das Reich der Mitte seit vielen Jahren Häfen oder kauft sich dort Liegeplätze. Gleichzeitig vergrößert es seine Handelsflotte und seine Containerschiffe. Damit sichert sich Peking die ökonomische Herrschaft über die Schiffsrouten und die Kontrolle über den Welthandel, der zu 90 Prozent über den Seeweg abgewickelt wird.


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Ulrich Knaudt an F.W. (08.08.2015)

Betreff: VOLL CORRECT(IV)!


Hi F., hier noch zwei Nachträge: einmal die Meldung aus dem DLF und zum anderen den Schwarzen Kanal, der sich mit Schaum vor dem Mund über den gelungenen Coup von CORRECTIV aufregt. [1] Einfach gelungen dieser Aufreger, der der DDR-Nomenklatura den Schaum vor den Mund treibt. [2]

Viele Grüße

Ulrich

[1] DLF 06.08.2015 DDR-Dienst agierte unter Neonazis im Westen. Die Stasi hatte die rechtsextreme Szene in der Bundesrepublik nach einem Bericht stärker unterwandert als bisher bekannt.

[2] JW Der Schwarze Kanal. Putin und der Giftpenis (Arnold Schölzel).

http://www.jungewelt.de/2015/08-08/016.php


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Ulrich Knaudt an H.B. (12.08.2015)
Betreff:
KAP III


Lieber H., … Zu Dutschke werde ich nicht sofort kommen, beeile mich aber mit dem, was ich gerade am Wickel habe. [1]


Ich schicke Dir einen Artikel aus N[eues]D[eutschland], worin sich jemand an KAP[ITAL] III und dem tendenziellen Fall der Profitrate abarbeitet. [2] Heraus kommt die alte Geschichte, nämlich der Versuch, die unmittelbaren Produzenten auszuweiten in Richtung Zirkulationssphäre. Außerdem sind Handys keine Produktionsmittel (c), sondern schlicht Waren. Insofern haben sie mit dem tendenziellen Fall der Profitrate unmittelbar nichts zu schaffen. In einem Artikel über den Einsatz von Robotern bei Audi (glaube ich) [3] wird als Illustration für die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals deutlich, wie radikal dies heute geschieht bspw. durch die ‚Zusammenarbeit‘ von Robotern mit den Arbeitern am Band. Der tendenzielle Fall der Profitrate ist ein ebenso unlösbarer Widerspruch wie der Fetischcharakter der Ware oder die Unverzichtbarkeit der zweiten Ware als Geld beim Kauf/Verkauf der eigentlichen Ware.


Ich schicke Dir noch einen Artikel über unser altes Milch-Thema. [4] Wir haben wahrscheinlich die Grüne Bourgeoisie unterschätzt, die objektiv die Großen Landwirtschaftsproduzenten gegen die kleineren ausspielt und sich an deren Stelle, nur eben öko, setzt…


Schließlich noch einen Literaturhinweis auf einen Dokumentenband über die KI, der zwar viel zu teuer ist. Aber man sollte zumindest wissen, daß es ihn gibt. [5]


Soweit erst mal, wenn Du mal wieder Zeit hast, laß von Dir hören. Alles Gute und viele Grüße

U.

[1] Siehe H.B. an U.K. (15.05.2015).

[2] ND 08.08.2015 Apples smarte Dinger und die fallenden Profitrate. Die Kopfarbeit von heute wirft Fragen zu der Marxschen Krisentheorie auf.

[3] FAZ 11.08.2015 Hand in Hand. Bei Audi arbeitet ein Roboter, der fühlen und sehen kann, zusammen mit Menschen. Angst, dass er sie einmal ersetzen wird, haben die Audianer bislang nicht.

FAZ 11.08.2015 Der 3D-Drucker fliegt immer mit. Die neue Produktionstechnik wirbelt nicht nur den Flugzeugbau durcheinander – das Personal muss Schritt halten.

[4] FAZ 07.08.2015 Niedriger Milchpreis bedroht wirtschaftliche Existenz der Bauern. Bauernverband sieht russisches Importverbot als Grund / Moskau vernichtet Lebensmittel.

Siehe auch: REAKTIONEN 2011 U.K. an H.B. 16.04.; 18.05.

[5] FAZ 21.07.2015 Interna aus einem welthistorischen Trauerspiel. Eine monumentale Quellensammlung zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1918 und 1943. Hermann Weber; Jakov Drabkin; Bernhard H. Bayerlein (Hg.): Deutschland, Rußland, Komintern, 2 Bde, Berlin 2015.


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F.W. an Ulrich Knaudt (17.08.2015)

Betreff: Aw DER HÄSSLICHE DEUTSCHE


Hallo Ulrich,

entschuldige, dass ich erst jetzt antworte. Ich habe gerade viel um die Ohren.


Die Idee Mailinglisten einzurichten, finde ich gut. Vielleicht könntest du als nächsten Schritt den [Einige Überlegungen…]-Entwurf auf die pM-Website stellen, zusammen mit dem Hinweis, dass wir auf Basis der dort skizzierten Punkten als politischem ‚Leitfaden‘ Informationen austauschen und diskutieren wollen. … Dann würden wir erst mal einen Überblick darüber bekommen, wer das Bedürfnis nach so einer Korrespondenz hat.


Irgendwie habe ich Tomaten auf den Augen, was ist AzK?


Danke für den Exkurs zum Antisemitismus. Dass dieser den Deutschen »von Natur aus« eigen sei, würde E.N. wahrscheinlich heftig bestreiten. Wenn er ihn aber als deutsche »Tradition« behauptet, ohne ihn auf die materiellen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und Klassenkämpfe zurückzuführen, macht er sich allerdings einer idealistischen Verabsolutierung des Antisemitismus schuldig.


Ein Aspekt, der m.W.n. bisher noch gar nicht in Verbindung mit der Entstehung des modernen Antisemitismus untersucht wurde, ist sein Zusammenhang mit der Herausbildung der Aktiengesellschaften und der daraus resultierenden Trennung der Leitungsfunktion des Kapitalisten (der arbeitende Kapitalist) vom Kapitaleigentum (parasitäre Finanzaristokratie). Das ist doch die gesellschaftliche Wirklichkeit, die sich im antisemitischen Dualismus vom schaffenden, arischen vs. jüdischen, raffenden Kapital auf irrationale Weise reflektiert.


Interessant sind auch Proudhon und Bakunin, von denen ganz klar antisemitische Äußerungen überliefert sind, und die beide nach der Einteilung im 3. Kapitel des Kommunistischen Manifests über die sozialistische und kommunistische Literatur zu den Vertretern des reaktionären, kleinbürgerlichen Sozialismus zu rechnen sind. Insofern war Hitler mit seiner »revolutionären« präventiven Konterrevolution auch ein Schüler Proudhons und Bakunins, indem er die Klassengegensätze leugnend, typisch kleinbürgerlich von der Interesseneinheit des Volkes ausgehend und seinem Nationalgefühl und Standesvorurteil »aufs plumpeste schmeichelnd« (Marx), die revolutionäre Stimmung in der Bevölkerung gegen die Juden als Sündenbock ablenkte.


Über Proudhons Antisemitismus ist vor ein paar Jahren dieses Buch erschienen, das ich aber noch nicht in

die Hände bekommen habe: http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-20286-6.html


Der Aufsatz »Rasse und Judentum« von Kautsky ist in dem Band »Marxisten gegen Antisemitismus« (herausgegeben von Iring Fetscher) abgedruckt, in dem ansonsten noch Texte von Engels, Bebel, Wladimir Medem, Luxemburg, Lenin, Gorki, Trotzki und Abraham Leon enthalten sind. Das Buch ist hier noch antiquarisch zu bekommen:

http://www.zvab.com/displayBookDetails.do?itemId=273993585


Ansonsten könnte ich auch eine Kopie machen.

Viele Grüße,

F.


P.S. Diesen Text hat mir ein Genosse weitergeleitet: http://liberadio.noblogs.org/?p=1529 Hatte bisher aber noch keine Zeit, ihn zu lesen.

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Ulrich Knaudt an F.W. (25.08.2015)

Betreff: EINIGE ÜBERLEGUNGEN


Hallo F., ich habe mich wieder mal etwas ausführlicher in meiner Antwort auf Deine letzte Mail ausgelassen. Ich hoffe, ich strapaziere nicht allzu sehr Deine kostbare Zeit. [1]

Maßgeblich ist der letzte Absatz meiner Mail über die Mailing Liste und darüber, was wir mit Einige Überlegungen… [2] anfangen sollten. Im Anhang noch etwas über die Nicht-Erwähnung des Hitler-Stalin-Paktes und wie sich Politologen mit dem Phänomen Hegemonie beschäftigen. [3]

Viele Grüße

Ulrich

[1] REAKTIONEN 2015 ANHANG 4.

[2] parteimarx.org KOMMUNISMUS Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf als Begriff (Entwurf).

[3] FAZ 18.09.2015 Und was wissen Sie über den 23.August 1939? Der Gedenktag, der keiner sein soll: Das von der EU proklamierte Erinnerungsdatum des 23. Augusts steht für die Warnung vor totalitären Systemen. Doch gerade einmal fünf Staaten begehen diesen Tag.

FAZ 24.06.2015 Wehe, wenn sie ihre Energie nach außen kehren. Was unterscheidet ein Imperium von einer Hegemonialmacht? Ulrich Menzel geht der Weltordnung auf den Grund und findet dort die Gründe für die Überlegenheit bestimmter Staatsformen.

Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Imperium und Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, Berlin 2015.


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F.W. an Ulrich Knaudt (31.08.2015)

Betreff: Aw: EINIGE ÜBERLEGUNGEN


Hallo Ulrich,

zu deinem Exzerpt zum Buch von E.N.: Ich habe bisher die Situation von 1890 zu der von 1914 als grundlegend verschieden eingeschätzt, so wie wahrscheinlich die meisten Linken. Schematisch gesagt: 1890 drohte ein hegemonistischer Krieg von Seiten Russlands und die Vaterlandsverteidigung war eine Notwendigkeit für die deutsche Arbeiterklasse, um ihre bisher erlangte Stellung zu verteidigen. 1914 stand ein imperialistischer Krieg an, in der beide Kriegsparteien expansionistische Ziele verfolgt haben, sodass Vaterlandsverteidigung auf Sozialchauvinismus hinausläuft. (So hatte ich auch Deine Ausführungen in »3. Vom linken Sozialimperialismus zum neuen Zarismus„, in: „Die unscharfe Relation Marx/’Marxismus’ Reflexionen über Revolution und Konterrevolution in Deutschland“« verstanden.) Lenin hat aber im Gegensatz zu Rosa Luxemburg in seinem Text von 1916 über die Junius-Broschüre bemerkt, dass unter bestimmten Bedingungen (bei Eroberung und Unterdrückung lebensfähiger Nationen) der imperialistische Krieg in einen hegemonistischen umschlagen kann und dadurch nationale Kriege in Europa möglich werden (hier wäre auch der Osteraufstand 1916 in Irland im Zusammenhang mit dem Krieg zu berücksichtigen). Da aber die Sozialdemokratie sich den Hohenzollern untergeordnet hatte, ihnen keinen Verteidigungskrieg aufzwang und dadurch eine Situation zuließ, in der beide Kriegsparteien einen expansionistischen Krieg führten was wäre dann die Alternative zu Lenins Taktik gewesen, für den Sturz der eigenen Regierung zu arbeiten, um dadurch ‚ans Ruder‘ zu kommen und dann gegebenenfalls auch die Vaterlandsverteidigung in die eigenen Hände zu nehmen?


Und ist die Mutter der Vaterländischen Kriege nicht bereits der Krieg des revolutionären Frankreichs gegen die Allianz der konterrevolutionären Monarchien?


Zum Antisemitismus: Ich glaube die antisemitische Reaktion auf die Aktiengesellschaft ist klassenmäßig nicht nur auf das Kleinbürgertum mit seiner Feindschaft gegen die moderne Industrie beschränkt, sondern es entsteht auf dieser Stufenleiter des Kapitals auch die Voraussetzung eines spezifischen Antisemitismus der fungierenden Kapitalisten. Da der über den Zins hinausgehende Profit als Unternehmergewinn erscheint, entsteht bei den fungierenden Kapitalisten die Illusion, zusammen mit den Lohnarbeitern (diese als »Arbeiter der Faust« und sie als »Arbeiter der Stirn«) den Kapitalisten als bloßen Eigentümern des Kapitals gegenüberzustehen. Goebbels hat 1925 zwischen gutem »Staatskapital« und bösem »Börsenkapital« unterschieden. »Staatskapital« klingt auf jeden Fall nicht mehr nach kleinteiliger Privatproduktion, sondern nach dem Ideologieschatz des preußischen Staatssozialismus der sozialdemokratischen »Neu-Lassallianer«, die von der staatlich organisierten Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg begeistert waren und diese als »Kriegssozialismus« feierten.


Marx hat gezeigt, dass das zinstragende Kapital eine verselbständigte Funktion des industriellen Kapitals ist und dass die fungierenden Kapitalisten, anders als die Lohnarbeiter, eine antagonistische Stellung zum Geldkapital einnehmen: »Der Zins ist ein Verhältnis zwischen zwei Kapitalisten, nicht zwischen Kapitalist und Arbeiter.« (MEW 25, 396) »[…] denn das zinstragende Kapital hat als solches nicht die Lohnarbeit, sondern das fungierende Kapital zu seinem Gegensatz; der verleihende Kapitalist steht als solcher direkt dem im Reproduktionsprozeß wirklich fungierenden Kapitalisten gegenüber, nicht aber dem Lohnarbeiter, der gerade auf Grundlage der kapitalistischen Produktion von den Produktionsmitteln expropriiert ist. Das zinstragende Kapital ist das Kapital als Eigentum gegenüber dem Kapital als Funktion. Aber soweit das Kapital nicht fungiert, exploitiert es nicht die Arbeiter und tritt in keinen Gegensatz zur Arbeit.« (MEW 25, 392)


In dem von Fetscher herausgegebenen Band findet sich am Anfang des Textes von Bebel ein Auszug aus

dem Protokoll des Parteitags der SPD von 1893, in dem es heißt, dass »die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, dass nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und dass nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann.« (S. 59) Auch wenn die Sozialdemokraten vorher bemerken, dass »die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen keine speziell jüdische, sondern eine der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche Erwerbsform ist« (S. 58), übernehmen sie hier anscheinend dennoch die ethnizistische Vorstellung vom speziell »jüdischen Kapital«. Außerdem fordern sie die antisemitisch verhetzten Kleinbürger und Bauern auf, »nicht bloß« gegen das jüdische Kapital (=Geldkapital) zu kämpfen, was bereits die halbe Miete zu sein scheint, sondern gegen alle Kapitalisten, d.h. PLUS das industrielle Kapital und das Kaufmannskapital. Damit entgehen ihnen aber die grundlegend verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Kapitalformen und die für das Proletariat daraus zu ziehenden politischen Konsequenzen. Die populäre Polemik und der Kampf gegen das Geldkapital entspricht dem Standpunkt des industriellen Kapitalisten und bedeutet für das Proletariat eine Verschiebung seiner Exploitationsquelle sowie eine Verkehrung des wirklichen Ausbeutungsverhältnisses. Diese falsche »Volksvorstellung [vom] Geldkapital, zinstragendes Kapital als Kapital als solches, als Kapital par excellence« (MEW 25, 389) hat sich die Bourgeoisie am Ende der Weimarer Republik zunutze gemacht hat, um ihre Sünden auf den Bock des »jüdischen Kapitals« abzuladen und den enormen Klassenhass auf diesen rassischen »Ersatzfeind« abzulenken.


Zur Mailingliste: Ich hatte mir das auch so vorgestellt, dass der Entwurf mit einem Kommentar veröffentlicht wird… Das wäre zugleich auch ein Anfang für das im Entwurf angedachte theoretische und politische Forum des Klassenkampfes.

Viele Grüße,

F.

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F.W. an Ulrich Knaudt (31.08.2015)

Betreff: Russische Expeditionskorps in Syrien


Hier ein ganz frischer Text über Russlands militärische Intervention in Syrien… [1]

[1] ynet news.com: Russian jets in Syrian skies. Russia has begun its military intervention in Syria, deploying an aerial contingent to a permanent Syrian base, in order to launch attacks against ISIS and Islamist rebels; US stays silent.


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Ulrich Knaudt an Marx-Gesellschaft (05.09.2015)
Betreff:
KARL REITTER


Hallo N., falls Du das Interview der j[ungen]W[elt] mit Karl Reiter noch nicht kennst, solltest Du es Dir zu Gemüte führen. [1] ‚Die größten Kritiker der Elche…‘ ist zwar ein blöder Spruch. Hier paßt er aber leider. Unser gemeinsamer Diskussionspartner Reitter tut so als richte sich seine Kritik gegen ‚Die neue Marx-Lektüre‘. Aber wer ist das? Die Marx-Gesellschaft assoziiert er dabei aus gutem Grund jedenfalls nicht. Na ja, und ‚der Klassenkampf‘! ‚Spät kommst du (nun auch damit heraus!), aber du kommst, Graf Isolan…!‘ Als ob in der M-G die Frage von Revolution und Konterrevolution niemals thematisiert worden wäre! Und beides sind ja wohl die entscheidenden Begriffe, wenn wir, wie nun auch Reitter, plötzlich den Klassenkampf für so wichtig halten. Bei ihm fehlen sie aber leider…

Viele Grüße

Ulrich

P.S. Wenn Du es für richtig hältst, kannst Du meinen Kurz-Kommentar + Anhang gerne weiterleiten.

[1] jW 05.09.2015 »Es gibt die Tendenz, den Fetisch selbst zu fetischisieren«. Gespräch mit Karl Reitter. Über die Mängel der ‚neuen Marx-Lektüre‘ und das politische Selbstverständnis der Klassiker.

http://www.jungewelt.de/2015/09-05/017.php

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Ulrich Knaudt:
Beschreibung eines (produktiven) Mißverständnisses und seiner Beseitigung (10.01.2016)


Am 06.09.2015 schickt N.R. das Reitter-Interview mit meiner obigen Notiz an die Marx-Freunde weiter mit der Bemerkung: »Inkürze noch ein kurzkommentar von ulrich knaudt dazu Viele Grüße«. Dieser »kurzkommentar« ist ein Mißverständnis, weil ich gar nicht die Absicht hatte, das Interview darüber hinaus zu kommentieren, da es eigentlich für sich selbst spricht. Am 06.10. fragt F.E. bei N.R. an: »Gibt es die Antwort von Ulrich Kandt schon?« und fügt hinzu, daß Viele das Interview unglaublich schlecht fänden. Denen wolle er diese Antwort schicken. Am 12.10 schicke ich meine Antwort an N.R., mit der Bitte, sie an alle Marx-Freunde weiterzuleiten, so auch an F.W. mit dem Vermerk: von N.R. wurde »an mich Deine Anfrage weitergeleitet, ob es von mir eine Wortmeldung zu besagtem Interview geben wird. O.K. Du hast mich überzeugt«. Daraufhin erfolgt von N.R. die Bestätigung: »Hallo an alle, Ulrich Knaudt hatte eine Anmerkung zu dem Interview mit Karl Reitter angekündigt. F.R. Hatte noch mal nachgehakt, ob sie komme. Anbei findet Ihr sie Viele Grüße«. F.E. teilt mir mit, daß er meine Anmerkung an die critique of value Gruppe auf Facebook weiterleiten werde. Am 13.10. bittet mich F.E. um mein O.K. für deren Übersetzung ins Englische. Am 13.10. schickt Karl Reitter eine kurze Replik und bittet um deren Weiterleitung an alle Marx-Freunde und an mich. Am 18.10. erfolgt darauf meine Antwort mit der Bitte an N.R., sie an alle Marx-Freunde weiterzuleiten. Daraufhin bittet mich N.R., diese doch an Karl Reitter persönlich zu schicken. »Ich will jetzt nicht dauernd Euren Briefwechsel vermitteln.« Ich antworte: »…da Karl Reitter seine Replik über Deine E-Mail-Adresse an Alle geschickt hat, so auch an mich, habe ich keine E-Mail Adresse von ihm. Heißt das, daß Du unsere Debatte auch an die übrigen Marx-Freunde nicht weiterleiten wirst? Das wäre schade. Viele Grüße« Am 19.10. wendet sich N.R. an Karl Reitter und an mich: »Lieber Ulrich, lieber Karl, damit ich nun nicht alle paar Tage ein mail von einem von Euch an den ganzen Verteiler schicke, mache ich Euch folgenden Vorschlag: Tragt Eure Debatte eine Weile aus und stellt dann eine Datei zusammen mit gegenseitigen Repliken und dann schicke ich das an Alle, ja? Viele Grüße« (Eine gute Idee!) N.R. schickt mir eine Kopie ihres Karl Reitter gemachten Vorschlags, daß Ulrich Knaudt seine Antwort »an Dich schicken soll und dass ich nun nicht alle paar Tage ein mail an den großen Verteiler schicken will mit der jeweiligen Replik.« Am 19.10. schickt N.R. ein letztes Mal meine an Karl Reitter persönlich gerichtete Replik mit der Bemerkung an die Marx-Freunde weiter: »Anbei der vorläufig letzte beitrag zur debatte zwischen knaudt/reitter«. Daraufhin erfolgt Karl Reitters an N.R. und an mich gerichtete postwendende Antwort: »…ehrlich gesagt habe ich an der Weiterführung dieser Debatte kein Interesse. Es erübrigen sich also irgendwelche Vereinbarungen bezüglich E-Mail Weiterleitung«. (Das ist schade!) Nachfolgend die Kritiken und Repliken zwischen Karl Reitter und mir verbunden mit dem Dank an N.R. für ihre bei der Weiterleitung unserer E-Mails bewiesenen Geduld.

Ulrich Knaudt


P.S. Die Aufnahme des EINspruchs 13.11.2015 in den Verteiler wurde von N.R. mit dem Argument abgelehnt, daß sie nicht anfangen werde, über diesen politische Kommentare zu verschicken Wenn sie damit anfange, dann werde sie »bald viel zu tun haben mit dem Verschicken von Antworten, Repliken, Kritiken, Zustimmungen. Das ist nicht meine Aufgabe. Dafür musst Du einen anderen Kommunikationsweg finden.« Dafür habe ich volles Verständnis. Wir arbeiten daran…


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Betr.: Anfrage zum Interview mit KARL REITTER

Vor F.E.s Anfrage bei N.R. und ihrer Mail vom 06.10., ob ich mich zusätzlich zu meinem kurzen Begleitkommentar zu Karl Reitters Interview mit der jungen Welt, das ich ihr am 05.09. geschickt hatte, noch einmal hätte zu Wort melden wollen, hatte ich das eigentlich nicht mehr vorgehabt. In meinem Kurzkommentar war es mir lediglich auf eine Richtigstellung zu der Behauptung Reitters angekommen, daß in der Marx-Gesellschaft (ohne die es keine ‚Neue Marx-Lektüre‘ gegeben hätte) das Thema Klassenkampf Fehlanzeige gewesen sei. Zum Beweis des Gegenteils könnte ich Reitter selbst als Zeuge anrufen, der zumindest bei einem der Vorträge zu diesem Thema, wie ich mich erinnere, zugegen war. Damit war die Sache eigentlich für mich erledigt.

Nachdem ich mir in der Zwischenzeit Reitters Interview noch einmal zu Gemüte geführt habe, halte ich es in der Tat für falsch, dieses einfach so für sich stehen zu lassen. In meinem Kurzkommentar hatte es geheißen, daß in dem Interview die »Frage von Revolution und Konterrevolution«, die in ihrem Verhältnis zum Klassenkampf »ja wohl die entscheidenden Begriffe« sind, fehlt.

Reitter verweist, abgesehen von seinen Überlegungen zum Wertgesetz, auf die ich mich ohne nähere Kenntnisnahme seines letzten Buches nicht einlassen werde, [1] zur Erläuterung des Verhältnisses des Klassenkampfes zum Staat auf Marxens Kritische Randglossen zu dem Artikel ‚Der König von Preußen und die Sozialreform‘… und will darin »zwei Dimensionen des revolutionären Prozesses« ausfindig gemacht haben: »Zum einen … gelte es, die politische Staatsmacht zu stürzen. Zum andern die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern und umzuwälzen«. Diesen Themen sei »Marx immer treu geblieben«. (Näheres zu den Kritische(n) Randglossen siehe: parteimarx.org REFLEXIONEN [2005] Über Uwe-Jens Heuer: Marxismus und Politik.)

Eine derart schematische Entgegensetzung von sozialer und politischer Revolution findet sich in den Kritische(n) Randglossen aber nicht. Der von Marx angenommene Ausgangspunkt dieses Widerspruchs ist ein anderer: nämlich, worin sich das Getrenntsein des Bürgers vom Staat (des Ancien régime!) von dem des Arbeiters grundsätzlich unterscheidet, wobei Marx mit Feuerbach davon ausgeht, daß »der Mensch unendlicher ist als der Staatsbürger«.

Während aber – und darin überschreitet Marx den Feuerbachschen Horizont – der Staatsbürger die Aufhebung der Trennung der dem Staat gegenüber einflußlosen Klassen vom Staatswesen (durch die politische Revolution) erreichen will, erhebt der Proletarier einen Anspruch auf »das wahre Gemeinwesen des Menschen«. Während für Arnold Ruge, gegen den die Kritische(n) Randglossen gerichtet sind, die soziale Revolution nicht ohne ihre politische Seele denkbar ist, wäre umgekehrt für Marx angesichts der herannahenden Revolution von 1848 die politische Revolution ohne ihre soziale Seele schlechterdings ein Schmarrn.

Man sieht bereits hieran, daß die Widersprüche in den Kritische(n) Randglossen durchaus anders gelagert sind als sich das Reitter mit seinen »zwei Dimensionen des revolutionären Prozesses« platterdings vorstellt, die er fein säuberlich in eine »politische Dimension« (die Revolutionen 1848 und 1871) und eine »soziale Dimension« (das KAPITAL und mit seinen Vorarbeiten) im Kopf von Karl Marx schematisch trennt, ohne Hinweis darauf, worin denn das, was besagtem »revolutionären Prozeß« zugrunde liegt, eigentlich besteht. Eine ähnlich schematische Trennung von sozialer und politischer Revolution findet sich bei Uwe-Jens Heuer in Marxismus und Politik, der aber zumindest den (wenn auch gescheiterten) Versuch unternimmt, sich zur Staat gewordenen Revolution und Konterrevolution als zentralem Ereignis in den Klassenkämpfen des 20. Jahrhunderts inhaltlich zu äußern, während hinter Reitters »zwei Dimensionen des revolutionären Prozesses« nicht nur, wie bei Heuer, Arnold Ruges »Unsinn« der »sozialen Revolution mit einer politischen Seele« (Marx s.o.) steckt, sondern die von der SED einstmals gepredigte ‚historische Rolle der Arbeiterklasse‘, die in ihrem Arbeiterstaat angeblich zur Geltung gebracht worden sei, allzu deutlich durchschimmert.

Außerdem wird Marx die Vorstellung von einer »Rätedemokratie« (Putinscher Prägung?) wahrscheinlich fremd gewesen sein, wie seine Herabstufung zu einem »Philosophen der Befreiung« durch d.A. zwar kein Sakrileg darstellt, aber an Marxens Bedeutung als politisch tätiger Revolutionär eindeutig vorbei argumentiert.

Soviel nachträglich zu Reitters Interview im Zentralorgan der post-SED-Presse, Junge Welt.

Passend zum Thema möchte ich auf Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff aufmerksam machen (parteimarx.org Papers KOMMUNISMUS), über die zu debattieren sich im letzten Sommer ein paar mit der parteiMarx korrespondierende Blogger verabredet hatten. Für unsere weitere Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff soll für alle an dieser Debatte Interessierten eine Mailing Liste organisiert werden, zu der ich auch die Marx-Freunde als Teilnehmer herzlich einlade.

Ulrich Knaudt

Bochum, den 12.10.2015

[1] Karl Reitter: Rubin, Backhaus und in Anschluss Heinrich – Wegbereiter der Neuen Marx-Lektüre Oder: was mit dem Vorwurf der „Naturalismus“ an die Adresse von Marx eigentlich transportiert wird, in: Karl Reitter (Hg.): Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder der Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der „Neuen Marx-Lektüre“, Wien 2015.


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Von Karl Reitter an N.R. (13.10.2015)

Betreff: WG: Ulrich Knaudt zum REITTER INTERVIEW


Liebe N.

sei so lieb, und leite diese kurze Antwort an alle weiter. …

Eine kurze Replik auf die Kritik von Ulrich Knaudt.

Lieber Ulrich, liebe GenossInnen, hier nur ein paar Zeilen zu deiner Kritik.

1. Die Marx Gesellschaft und die Neue Marx-Lektüre waren (und sind) zwei verschiedene Zusammenhänge. Ich habe nie behauptet, in der Marx Gesellschaft gäbe es den Klassenkampf als konstitutiven Begriff nicht. Sicher, einige der Protagonisten der Neuen Marx-Lektüre waren in der Marx Gesellschaft aktiv, aber es gab soweit ich es bei den Treffen beobachten konnte auch immer andere Stimmen und Auffassungen. Die Marx Gesellschaft wird im Interview nicht erwähnt, es wird auch kein indirekter Bezug hergestellt, ok?

2. Die Kritik an meiner Interpretation der Marxschen Aussage in den „Randglossen“ kann ich nicht nachvollziehen. Ausdrücke wie „platterdings“ und „schematisch“ sind keine Argumente. Die Sachlage ist bei Marx so, wie ich es darstelle.

3. Marx tritt in den Schriften zur Pariser Kommune sehr wohl für ein Netz von Räten bzw. Kommunen ein. „Die Pariser Kommune sollte selbstverständlich allen großen gewerblichen Mittelpunkten Frankreichs zum Muster dienen. Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen.“ (MEW 17; 339) „Ganz Frankreich würde sich zu selbsttätigen und sich selbst regierenden Kommunen organisieren, das stehende Heer würde durch die Volksmiliz ersetzt, die Armee der Staatsparasiten beseitigt, die klerikale Hierarchie durch die Schullehrer ersetzt, die Staatsgerichte in Organe der Kommune verwandelt werden; die Wahlen in die nationale Vertretung wären nicht mehr eine Sache von Taschenspielerstücken einer allmächtigen Regierung, sondern der bewußte Ausdruck der organisierten Kommunen; die Staatsfunktionen würden auf einige wenige Funktionen für allgemeine nationale Zwecke reduziert.“ (MEW 17; 545) Was da Putin damit zu tun haben soll, kann ich nicht nachvollziehen.

Nachsatz: Offenbar habe ich den Fehltritt begangen, in der Jungen Welt zu publizieren.

Ich bin sogar Online Abonnement und inzwischen Mitglied der KPÖ.

lg. Karl

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Betr.: Interview mit KARL REITTER

Lieber Karl Reitter,

da Du meine Kritik an Deiner Interpretation der »Marxschen Aussage« in den Kritische(n) Randglossen » nicht nachvollziehen« kannst und Deiner Meinung nach »die Sachlage bei Marx (so ist), wie ich es darstelle«, entnehme ich daraus, daß sich dieses Thema für Dich erledigt hat. Dann wirst Du mir gestatten, daß ich dies auch für mich in Anspruch nehme. Denn wir sind hier schließlich nicht in einem Pro-Seminar.

Bleibt noch die von Dir mit Unschuldsmiene gestellte Rückfrage nach der »Rätedemokratie« à la Putin. Die Räte oder Sowjets (abgeleitet von sovetovat‘ = beraten) sind eine bäuerliche Form der Selbstregierung der unmittelbaren Produzenten in Rußland gewesen, im Unterschied zur commune, deren Form von den Pariser Arbeitern der mittelalterlichen Munizipalverfassung entliehen wurde. Die zuletzt genannte Form ist also städtischer, erstere dagegen agrargesellschaftlicher Herkunft. Beide lassen sich nicht beliebig, wo es einem gerade paßt und überall anwenden.

Um Dir zu Deiner Frage, ob die »Rätedemokratie« etwas und wenn was mit Putin zu tun hat, auf die Sprünge zu helfen, empfehle ich Dir die Lektüre eines Aufsatzes von Friedrich Engels aus dem Jahr 1866 und darin das Kapitel Die Anwendung der Nationalitätsdoktrin auf Polen. (MEW 16, 159) Hier erläutert Engels die Anwendung dieser Doktrin und des darin enthaltenen »Rechts auf Revolution« durch die russischen Zaren, als sie leibeigene kleinrussische (heute: ukrainische) orthodoxe russische Bauern auf katholische polnische Grundherren hetzten und anschließend deren Latifundien und schließlich ganz Polen dem russischen Imperium einverleibten. Eine Vorgehensweise, deren Gemeinsamkeiten mit der Putinschen Politik in der Ukraine eigentlich jedem Betrachter einleuchten müßten. Engels erklärt diese so: »Rußland kennt keine Skrupel in der Wahl seiner Mittel . Man sagt, daß der Krieg Klasse gegen Klasse etwas äußerst revolutionäres sei; Rußland brach in Polen einen solchen Krieg vor ungefähr 100 Jahren vom Zaun, und es war ein schöner Klassenkrieg, als russische Soldaten und kleinrussische Leibeigene gemeinsam darangingen, die Schlösser der polnischen Adligen niederzubrennen, nur um die russische Annexion vorzubereiten; sobald diese vollbracht war, führten dieselben russischen Soldaten die Leibeigenen unter das Joch ihrer Herren zurück.« Rußland betreibt also nicht erst seit gestern jene überaus bemerkenswerte Kombination aus Klassenkampf (oder »Klassenkrieg«) und Annexionspolitik. Und daher ist auch die Engelssche Schlußfolgerung von höchst aktueller Bedeutung: »Erstes und vorrangiges Bestreben Rußlands ist die Einigung aller russischen Stämme unter dem Zaren, der sich selbst Herrscher aller Reußen (samoderžec vcech Rossijskich*) nennt, wobei es auch Weiß- und Kleinrußland einbezieht.« Wenn Putins ‚Klassenkrieger‘ den mit seiner militärischen Unterstützung eroberten Teil des ukrainischen Donbass Novo Rossija (Neu-Rußland) nennen, ist Deine Frage zur »Rätedemokratie« à la Putin damit eigentlich hinreichend beantwortet.

Nicht nur Lenin, sondern vor allem sein Amtsnachfolger, beide wollten in einem Land, das vor der Oktoberrevolution zu 90% von Bauern bewohnt wurde, die Landwirtschaft nach westlichem Vorbild kollektivieren, was, weil sie dabei Eulen nach Athen trugen, im ersten Anlauf auf absurde und gegen Ende der 20er Jahre auf katastrophale Weise gescheitert ist (vgl. parteimarx.org Papers DEBATTE 3 und 4). Wenn Du auf ähnliche Weise »Rätedemokratie« und »Kommunen« als beliebig austauschbare Formen der Selbstorganisation der unmittelbaren Produzenten bezeichnest, beweist das nur, daß Du nach wie vor nicht bereit bist, aus diesen eklatanten Irrtümern, die zur Verwandlung der Oktoberrevolution in die institutionelle Konterrevolution Stalins entscheidend beigetragen haben, irgendetwas zu lernen. Wer heutzutage den »Klassenkampf« predigt, sollte auch erklären können, ob und worin sich dieser von ihm verwendete Begriff vom »Klassenkrieg« des alten und neuen russischen Zarentums unterscheidet; sonst wird er seinen »Klassenkampf« zwangsläufig von der konterrevolutionären Seite der Barrikade aus betreiben.

Eine Bemerkung zum Schluß: Ich habe seinerzeit in der Marx-Gesellschaft nicht, wie jetzt aus Deinem Interview hervorgeht, gegenüber der entpolitisierten Neuen Marx-Lektüre schlicht den Klassenkampf gepredigt, sondern durch meine Beiträge konkret deutlich zu machen versucht, daß das Marxsche Kapital, ohne daß wir eine Verbindung zu dem von der Marxschen Partei betriebenen Klassenkampf herstellen, nicht zu verstehen ist oder bestenfalls als linke Vulgärökonomie ‚gelesen‘ wird. Eine solche Verbindung läßt sich aber nur herstellen, wenn für die Geschichte der Klassenkämpfe seit der Zeit von Marx und Engels die Frage von Revolution und Konterrevolution in den Mittelpunkt gestellt wird.

Ulrich Knaudt


Bochum, den 16.10.2015


* Die Engelssche Transkription wurde durch eine heute geläufige ersetzt. Die wörtliche Übersetzung lautet: »Selbstherrscher aller Russen«.

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Ulrich Knaudt an H.B. (05.09.2015)

Betreff: KARL REITTER


Lieber H., ich schicke Dir auf die Schnelle ein Interview mit Karl Reitter, in dem eigentlich auch die Marx-Gesellschaft, wenn er die Neue Marx-Lektüre zentral kritisiert, durchaus eine zentrale Rolle gespielt hat. Ich habe das Interview auch an N. geschickt mit der Empfehlung, es über ihren Verteiler weiterzuleiten. …

Viele Grüße

U.
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Ulrich Knaudt an F.W. (06.09.2015)

Betreff: INTERESSANTE TEXTE


Hallo F., während ich noch an einer Antwort zu Deinem wichtigen Einwand bastle, wollte ich Dir vorab einige Texte schicken, die ich kurz kommentieren will und die teilweise zu der israelischen web site passen, deren Infos inzwischen durch die nachfolgenden Ereignisse vollauf bestätigt wurden. [1] Dazu paßt die Reaktion Der Linken, die an Absurdität kaum noch zu überbieten ist: also nicht Assad, sondern die USA sind schuld daran, daß so viele Syrer in den letzten Jahren von ihm umgebracht wurden. [2] Daß ihnen das Thema auf den Nägeln brennt oder genauer: daß sie nicht wissen, wie sie sich aus diesem Dilemma herauswinden sollen, zeigt die Polemik in der jW gegen eine taz-Autorin (die in der Vergangenheit ganz gute Sachen über Syrien geschrieben hat), die sie in Grund und Boden stampfen. [3] Wie es dort tagtäglich zugeht, zeigt ein Bericht von der Bombardierung zweier syrischer Marktplätze zur vollen rush hour. [4] Wenn Du Dir das zu Gemüte führst, wird klar, daß das hippe Foto von dem ertrunkenen kleinen Syrer am türkischen Strand nicht für sich steht. Für sich betrachtet, verstellt es in unserer Wahrnehmung vielmehr die Gründe, warum sich so viele Syrer (wohl meistens middle class) auf diese gefährliche Reise begeben haben. Wenn Putin in Syrien tatsächlich eine zweite Front eröffnen wird, wäre Europa von zwei Seiten in die Zange genommen, eine Konstellation, die sich schon seit längerem andeutet. Dann wären aber auch die Ukraine und Syrien, was die russische Expansion angeht, nicht mehr voneinander zu trennen…


Schließlich noch das Interview mit einem früheren Teilnehmer an den Kolloquien der Marx-Gesellschaft, der steif und fest behauptet, dort sei nie über den Klassenkampf debattiert worden. [5] Wie albern. Interessant ist auf jeden Fall, daß dieses Thema innerhalb der Linken wieder hipp zu werden beginnt. (Siehe Juni-Nummer der PROKLA (175) unter dem Thema Klassentheorien).

Soweit erst mal. Ich beeile mich mit einer ausführlichen Antwort.

Viele Grüße

Ulrich

[1] siehe F.W. an Ulrich Knaudt (31.08.2015), [1].

[2] DLF 06.09.2015 Linkspartei. „USA Hauptverursacher der Flüchtlingstragödie“. Die Linkspartei hat die Bundesregierung aufgerufen, von den USA Geld für die Versorgung von Flüchtlingen zu fordern.

In einem Positionspapier der beiden stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht und Bartsch bezeichnen diese die USA als Hauptverursacher der Flüchtlingstragödie. Westliche Staaten unter der Führung der USA hätten ganze Regionen destabilisiert, indem sie unter anderem Terrororganisationen möglich gemacht und instrumentalisiert hätten. Von der deutschen Regierung verlangten die Politiker der Linken ein Ende der Rüstungsexporte und der – Zitat „Kriegsabenteuer der Bundeswehr“.

[3] jW 05.09.2015 Tabula rasa.

http://www.jungewelt.de/2015/09-05/027.php
[4] taz 05.09.2015
Debatte Gewalt in Syrien. Erst Assad, dann der Islamische Staat. Wer die IS-Miliz erfolgreich bekämpfen will, muss den Syrienkonflikt beenden. Dafür vor allem eine Alternative zum Assad-Regime.

[5] Ulrich Knaudt an Marx-Gesellschaft (05.09.2015), [1].


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Ulrich Knaudt an F.W. (13.09.2015)

Betreff: ZUR MAILING LISTE [1]


Hi F., dies [2] ist noch nicht das Vorwort [zu Einige Überlegungen…]. [3] ...

Viele Grüße

Ulrich

[1] REAKTIONEN 2015 ANHANG 5

[2] REAKTIONEN 2015 ANHANG 6.

[3] parteimarx.org KOMMUNISMUS Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf als Begriff (Entwurf).


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Ulrich Knaudt an P.T. (25.09.2015)
Betreff:
VERSCHIEDENSTES


Hi P.T., …
Das Buch, mit dem ich soviel Schwierigkeiten habe, stammt von Emil Neubauer (NB die Verlagsmitteilung auf der ersten Seite: »Emil Neubauer publiziert … Texte zur Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung. Er ist seit 2009 Mitglied der Partei Die Linke.«): Der hässliche Deutsche – Dritter Akt? Kritik der deutschen Zustände und Ideologie. [1] Der Titel ist gut gewählt. Denn Ideologie ist das Hauptthema des Buches. Man könnte auch sagen: Kulturkritik. Und dementsprechend geht d.A. ziemlich phänomenologisch und feuilletonistisch vor. Anything goes gegen den Antisemitismus der Deutschen, bzw. der deutschen Linken. Letzteres macht es möglich, überhaupt [darüber] weiter zu diskutieren. […] Noch ein Punkt, über den ich gerne mit Dir weiter debattieren würde: Gegen Ende der Kapitel über den T[endenziellen]F[all der]PR[ofitrate] stellt K.[arl]M.[arx] einen Zusammenhang zwischen letzterem und dem Wachstum der Bevölkerung her; d.h. der während der Hochkonjunktur entwickelte Level der Reproduktion der Arbeiterbevölkerung wird nach Eintreten des TPPR ‚redundant‘. [2] Wer z.B. mit M.[ichael]H.[einrich]s Marx-Kritik übereinstimmt, [3] könnte K.M. daraus einen Strick drehen und feststellen: daß es unter den heutigen Verhältnissen genau umgekehrt ist: je ‚positiver‘ sich die Konjunktur entwickelt, desto weniger sieht die arbeitende Bevölkerung ein, sich um die eigene biologische Reproduktion stärker zu kümmern, usw. ‚Kinder kriegen ist teuer‘. Nun besteht, wie ich annehmen würde, die Marxsche Methode darin, rein hypothetisch und zur Gewährleistung der ‚experimentellen‘ Bedingungen für die Reinheit der Theorie durch störende Nebeneffekte eine idealiter geschlossene Gesellschaft vorauszusetzen, deren Außenhandel bereits eine Abnormalität darstellt, die durch interne Effekte kompensiert wird. Es ist natürlich Blödsinn, dahinter so etwas wie Lists ‚geschlossenen Handelsstaat‘ zu vermuten… Die sich daran anschließende Frage ist jedenfalls: wodurch ist das Verhältnis zwischen der von K.M. vorausgesetzten Gesellschaft, in der der TFPR stattfindet und dem Weltmarkt bestimmt? Gilt der TFPR auch global und wenn ja, läßt sich die Weltwirtschaft einfach als Extension der nationalen Wirtschaft bestimmen? Ich belasse es erst mal dabei. Entscheidend ist auf jeden Fall der von K.M. zugrunde gelegte Begriff der Gesellschaft, der von der A.G. bis zur Gesellschaft eines bestimmten Staates reicht.

O.K. Das war’s erst mal.

U.

[1] Emil Neubauer: Der hässliche Deutsche – Dritter Akt? Kritik der deutschen Zustände und Ideologie, Norderstedt 2015.

[2] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd.3 MEW 25, 228: »Ein momentaner Überschuß des Surpluskapitals über die von ihm kommandierte Arbeiterbevölkerung würde in doppelter Weise wirken. Er würde einerseits durch Steigerung des Arbeitslohns, daher Milderung der den Nachwuchs der Arbeiter dezimierenden, vernichtenden Einflüsse und Erleichterung der Heiraten die Arbeiterbevölkerung allmählich vermehren, andrerseits aber durch Anwendung der Methoden, die den relativen Mehrwert schaffen (Einführung und Verbesserung von Maschinerie) noch weit rascher eine künstliche, relative Übervölkerung schaffen, die ihrerseits wieder ‒ da in der kapitalistischen Produktion das Elend Bevölkerung erzeugt ‒ das Treibhaus einer wirklichen raschen Vermehrung der Volkszahl ist.«

[3] Vgl. das Kapitel über den tendenziellen Fall der Profitrate in Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster 21999 (327-341), 329,330: »In diesem Abschnitt will ich zunächst deutlich machen, daß die Marxsche Begründung für dieses Gesetz unzureichend ist und daß auch die verschiedenen | in der Diskussion eingeführten Hilfskonstruktionen nicht ausreichend sind, um das nachzuweisen, was Marx zeigen wollte, die Existenz einer aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise entspringenden und sich langfristig durchsetzenden Tendenz zum Profitratenfall. Damit soll nicht abgestritten werden, daß die Profitrate fallen kann, sie kann fallen ebenso wie sie steigen kann. Das Problem ist aber, ob sich eine langfristig dominierende Tendenz aus den Grundbestimmungen der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise ableiten läßt. Und dafür erscheinen mir die von Marx selbst, sowie von anderen vorgebrachte Argumente nicht ausreichend zu sein.« Seit Erscheinen von Heinrichs Buch sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, in denen inzwischen eine epochale Wirtschaftskrise stattfindet. Vielleicht wird diese den Autor veranlassen, noch einmal über seine damaligen Überlegungen über Wirksamkeit dieses Gesetzes nachzudenken.


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Ulrich Knaudt an H.B. (27.09.2015)

Betreff: NF


Lieber H., vielen Dank für Deine Anregung die Dutschke-Veranstaltung betreffend. [1] …. Ich könnte Dir ein paar formale Gründe nennen, warum ich Deine Einladung nicht annehmen werde. Aber mit sowas lassen wir uns für gewöhnlich nicht abspeisen, also komme ich zum Kern der Sache.


Wenn es sich um eine Veranstaltung handeln würde, die in der abstrakt theoretischen Form … die NF thematisiert, wäre es vielleicht ein Anlaß gewesen, über meine Teilnahme ernsthaft nachzudenken. Aber der Teufel liegt immer im Detail. Diese Details enthält das Einladungsflugblatt »Eine überfällige Aufklärung…« en masse.


Dieses gliedert sich thematisch in drei Teile:

a. Nationalstaat und Demokratie

b. Sozialistische Wiedervereinigung

c. Dutschkes Geschichtsauffassung.

Ich beginne mit

c. Wenn ausgehend von Dutschkes angeblichem »genealogischen Geschichtsbegriff« Geschichte als »Abfolge von Generationen … erst eine Klassenkampfgeschichte« ergeben soll, dann laßt uns einen ‚Gotha‘ zusammenstellen, in dem die Abfolge dieser Klassenkämpfer, ihrer Hierarchien und ihre Verbindungen rekonstruiert wird, woraus dann unser revolutionäres Geschichtsbild und die Ab- und Rangfolge unseres revolutionären Hoch- und Niederadels hervorgeht. Ich muß nicht betonen, daß erstens [nach Karl Marx] die Menschen zwar ihre eigene Geschichte machen, dies aber nicht aus freien Stücken tun, weil sie Verhältnissen gehorchen müssen, die sie nicht selbst geschaffen haben. (Geschichte machen, aber auch eine solche schreiben, ist etwas anderes als den Versuchsaufbau in einem Labor zu konstruieren.) Und daß zweitens dieser »genealogische Geschichtsbegriff« durchaus mit der Stalinschen Geschichtsauffassung und dem Aufbau der sowjetischen Nomenklatura kompatibel ist. Ob das auch auf die Dutschkesche zutrifft, wäre zu untersuchen.


b.
Was R.[udi]D.[utschke] unter einer »sozialistische(n) Wiedervereinigung« verstanden hätte, wäre ebenfalls zu untersuchen. Ich bin seit den Zeiten R.D.s aber inzwischen zu der Auffassung gelangt, daß eine »sozialistische Wiedervereinigung« eine sozialfaschistische Wiedervereinigung hätte werden müssen, zu der der Reale Sozialismus (zum Glück!) nicht mehr die Kraft gefunden hat: weder die ‚moralische‘, noch die ökonomische, nicht einmal mehr die militärische. Daher Rückkehr zu Berijas Deutschland-Politik von 1953: Veräußerung der DDR zu den günstigsten Konditionen an ‚den Westen‘. Allerdings waren diese 1989 für die SU sehr viel ungünstiger geworden. Darüber jammert die ehemalige Nomenklatura vertreten durch die jW und ihre SED-Leserschaft seit Jahr und Tag. Meinte R.D., dieses Dilemma »sozialistisch« überspielen zu können? Ich rede gar nicht darüber, wie mit der von Stalin eingeleiteten konterrevolutionären Revolution umzugehen [gewesen] wäre.


a.
Abgesehen von den unter b. und c. behandelten historischen und theoretischen Fragen, über die ja noch ein wissenschaftlich fundierter Diskurs (à la Marx Gesellschaft) geführt werden könnte, enthalten die ersten beiden Absätze politische Statements, die als antagonistische Widersprüche zwischen uns und dem Feind und keineswegs mehr als Widersprüche im Volk (bzw. unter Theoretikern) zu behandeln sind. Mit Der Linken werde ich nicht mehr über Politik diskutieren! Sie ist als Feind (Klassenfeind und Staatsfeind!) zu bekämpfen, so, wie Putin und Assad zu bekämpfen sind. Staatsfeind wegen ihres revisionistischen Programms der Wiederherstellung der früheren à la Gorbatschow modernisierten und ‚demokratisierten‘ DDR und der Ersetzung der BRD durch dieselbe. Darin ähnelt sie den Nazen wie ein Ei dem anderen.


aa.
Die Nation ist die verhüllende Einheit das Klassenstaates. »Aber der Nationalstaat« (schon dieser politologische Begriff ist zum K…) »ist auch die gegebene Erscheinungsform der Demokratie« Ist denn die Demokratie keine verhüllende Ideologie des Klassenstaates? (siehe K.M.: Der 18. Brumaire,

etc.) [2]


ab.
Ausgehend vom »Nationalstaat« (ein Pleonasmus, da eine Nation ohne Staat eine windige romantische Angelegenheit ist und ein Staat ohne Nation nach Kant auch ein Staat von Teufeln sein kann, also die Nation (une et indivisible) den Staat impliziert, aber der Staat nicht unbedingt die Nation, was wir ja in Deutschland zur Genüge kennen gelernt haben) findet angeblich ein »Prozeß der Entdemokratisierung« statt, der zur »Postdemokratie« führen wird. Was wir darunter zu verstehen haben, besteht offensichtlich darin, daß Demokratie ohne Die Europäische Linke an der Macht keine Demokratie wäre. D.h. Demokratie erst im eigentlichen Sinn. Auf diese Linke Demokratie kann Europa wohlweislich verzichten. Aber auf sie legen die ‚lupenreinen Demokraten‘ vom Schlage Putins und all die anderen Anwärter auf die Hegemonie über den Weltmarkt, die die US-amerikanische ablösen soll, den allergrößten Wert. D.h. die europäische Linke bekämpft gemeinsam mit der europäischen Rechten die amerikanische Hegemonie in Europa. So wie einst Hitler die westliche Dominanz über den Weltmarkt bekämpft hat, um seine faschistische zu etablieren. Daher die Linke Demagogie gegen TTIP (Chlorhühnchen!) WTO, IMF usw. als Formen der ‚westlichen‘ Demokratie, die durch eine ‚wirkliche‘ Demokratie im Stile Hitlers, Putins und Assads ersetzt werden soll, als »demokratische« Phrase!


ac.
Daher soll die Aufgabe der Linken angeblich in der »Verteidigung der nationalstaatlichen Souveränität« (nicht etwa der nationalen Souveränität) bestehen und der »Demokratie«, ohne über das Verhältnis von Demokratie und Klassengesellschaft noch ein Wort zu verlieren. Schon gar nicht in der Ukraine, sondern wenn überhaupt, dann ausschließlich im ‚Westen’…

Lieber H., ich will Dir diese Veranstaltung nicht vermiesen … Ich finde es gut, wenn Du, da Du Dich nun mal zur Teilnahme entschlossen hast, versuchst, dort Deine Ansichten zur NF zu verteidigen und hoffe, daß in Deine Verteidigung viel Marx und Lenin und auch etwas aus unserer bisherigen Debatte einfließt. Aber ich fühle mich dank Putin und Assad weder mental noch politisch fähig und in der Lage, mit Vertretern der Linken noch friedvoll politische Argumente auszutauschen.


Abschließend erlaube ich mir, Dir einen Vorschlag zur weiteren Kooperation zu unterbreiten, über den ich mich in der letzten Zeit mit Bloggern und Lesern der pM auseinandergesetzt habe. [3]

Viele Grüße und viel Erfolg

U.

[1] Vortragsveranstaltung mit Dr. Matthias Stangel. Eine überfällige Aufklärung: Rudi Dutschke und die nationale Frage. Mit einer Einführung zum Thema ‚Die nationale Frage im Kontext der politischen Theorie Rudi Dutschkes‘ von Carsten Prien.

http://www.ousia-verlag.de
[2] Gemeint sind die drei Marxschen Aufsätze zur proletarischen Revolution in Frankreich, siehe
U.K. an F.W. (23.03.2015), [6]

[3] parteimarx.org KOMMUNISMUS Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff (Entwurf).


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Ulrich Knaudt an F.W. (13.10.2015)

Betreff: MAILING LISTE


Hallo F., die Mailing Liste scheint bereits spontan angelaufen zu sein. Zu dem Reitter-Interview, das ich Dir am 06.09. geschickt habe, habe ich mich dann doch noch etwas länger eingelassen [1] und […] heute eine Antwort von Reitter erhalten… Außerdem empfehle ich den neuen EINspruch vom 08.10. auf der Web Site der pM zur Lektüre. [2]

Viele Grüße

Ulrich

[1] s.o. Ulrich Knaudt: Beschreibung eines (produktiven) Mißverständnisses und seiner Beseitigung (10.01.2016).

[2] parteimarx.org EINspruch 08.10.2015.


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Ulrich Knaudt an P.T.
(13.10.2015)

Betreff: MAILINGLISTE


Hi P.T., die anvisierte Mailing Liste scheint ganz spontan angelaufen zu sein. [1] … Ausgangspunkt ist das Interview eines früheren Diskussionsteilnehmers der Marx-Gesellschaft mit der jungen Welt über sein neustes Buch. Offenbar kannte das Interview keiner, so habe ich es an den alten M[arx]G[esellschaft]-Verteiler mit einem Kurzkommentar geschickt, woraus schließlich ein längerer Kommentar wurde + Replik des darin Angesprochenen […] Wahrscheinlich nicht so spannend für Dich.


Außerdem schicke ich Dir drei FAZ-Artikel, einen über China, einen über ein Treffen von Regierungschefs mit Cameron und einen Bericht auf der Lokalseite der FAZ von einem regionale P[artei]T[ag] der Linkspartei. [2] Sehr aufschlußreich. Sie sind dort beim Warmlaufen schon richtig gut drauf die Jungs …! Klassenkampf ist angesagt!


In Europa scheint keiner der Regierungschefs Merkel noch ernst zu nehmen. Sie wären auf keinen Fall bereit, ihre staatliche Souveränität einfach wegen ein paar Flüchtlingen ante portas über Bord zu schmeißen. Wenn ich die deutschen Politiker dazu höre, ist das meiste dazu ein Schmarrn. Da hast Du völlig recht. Die Frage, die ich mir stelle, ist, was eigentlich hinter dieser scheinbaren staatlichen Selbstaufgabe unserer Regierungschefin steckt? Der Humanismus ist nur ein fake, oder? Was ist es dann? Soweit erst mal.

U.

[1] Siehe unter Ulrich Knaudt: Beschreibung eines (produktiven) Mißverständnisses und seiner Beseitigung (10.01.2016).

[2] FAZ 12.10.2015 Europlatz Frankfurt Zombifizierung statt Crash.

FAZ 12.10.2015 Spott über Berlin. Ein bemerkenswertes Treffen in London. FAZ 12.10.2015 „Flüchtlinge aufnehmen“. Linken-Parteitag: Notfalls Beschlagnahmungen.


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Ulrich Knaudt an H.B. (13.10.2015)

Betreff: REITTER


Lieber H:, … Die geplante Mailing Liste aus dem Klassenkampf-Begriff-Papier [1] scheint bereits spontan angelaufen zu sein. Dazu leite ich an Dich das Interview weiter, daß Karl Reitter der jW gegeben hat und das ich mit einem kurzen Kommentar an N. geschickt hatte, die wiederum von mir einen längeren Text erwartete, den ich erst gar nicht schreiben wollte und dann doch geschrieben habe. Darauf antwortet heute Karl Reitter [2] … Außerdem findest Du auf der Web Site der pM einen neuen EINspruch vom 08.10.

Viele Grüße

und meld‘ Dich mal

U.

[1] parteimarx.org KOMMUNISMUS Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf als Begriff (Entwurf).

[2] Siehe Ulrich Knaudt an Marx-Gesellschaft (05.09.2015).

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P.T. an Ulrich Knaudt (14.10.2015)
Betreff:
Re MAILINGLISTE


Hi U.,

wie immer danke für die Artikel.


Was da an Zitaten in der FAZ kolportiert wird, kann man glauben oder nicht. So sie denn so gefallen sind, sehe ich in den Äußerungen auf beiden Seiten schlicht ein falsches (ideales) Verständnis von staatlicher Souveränität und der Funktion von Grenzen mitschwingen, das in der Zeit militarisierter Grenzen im Kalten Krieg geboren und im EU Grenz- und Migrationsregime vergeblich versucht wurde fortzusetzen.


Grenzen sind in der Regel, wie die Geschichte zeigt, durchlässig und nicht dicht. Staatliche Souveränität ist nur juristisch absolut und unantastbar (sollten die Briten mit ihrem System geteilter Souveränitäten eigentlich am besten wissen), wird in der Wirklichkeit aber immer wieder neu herausgefordert und muss sich dann beweisen. Insofern sehe ich Merkels Politik auch nicht als staatliche Selbstaufgabe. Die Flüchtlingskrise lässt sich an den Grenzen nicht bewältigen, wenn man im Rahmen deutschen und internationalen Rechts handeln will. Die Alternative wäre der militärische Ausnahmezustand. Also muss man die Leute reinlassen und hier sehen, wie man damit fertig wird. Und das geht natürlich mit dem Gegenteil von staatlicher Selbstaufgabe einher, nämlich mit seiner Mobilisierung. Der Staat gibt sich nicht selbst auf. Was aufgegeben wird, ist vielleicht der letzte Rest von Carl Schmitt im staatsrechtlichen Denken der Bundesregierung und die Vorstellungen einiger Deutscher davon, was die deutsche Nation ausmacht.


Was Merkel letztlich treibt, ist schwierig zu sagen. Ein wenig humanistischen Idealismus gestehe ich ihr schon zu, aber eben auch eine realistische Abschätzung der Situation und dessen, was machbar ist und was nicht. Vor »wir schaffen das« war sie wie immer abwartend und hat ihre Stellung in Partei und Parlament abgeschätzt. Ihr Ausbrechen aus der Stellung war zum einen der Zwangssituation geschuldet und zum anderen der günstigen öffentlichen Stimmung. Und bezogen auf die vermutete staatliche Selbstaufgabe würde ich sagen, dass sie gerade dadurch, dass sie sich aus der Stellung ins Maneuver gewagt hat, sie eben auch dabei ist, staatliche Souveränität (wieder) herzustellen.


Bleibt noch abzuwarten, ob sich Merkel gegen die Seehofers und de Maizieres in ihrer Partei wird durchsetzten können. Deren Politik der Internierungslager im vorstaatlichen Raum (a pro pos Aufgabe von Souveränität) ist meiner Meinung nach schon aus praktischen Gründen zum Scheitern verurteilt und entblößt die Maxime »integrationswillig ist, wer sich zum Rechtsstaat bekennt« als wohlfeiles Gelaber.

Viele Grüße,

P.T.

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Ulrich Knaudt an H.B. (18.10.2015)
Betreff:
URQUHART


Lieber H., ich schicke Dir schon mal meine Kritik an Reitter. [1] Der komplizierte Name, der mir nicht einfiel: David Urquhart. In MEW 22,
Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, findest Du S. 13 in der Fußnote eine längere Bemerkung zu David Urquhart. F.[riedrich]E.[ngels]s Aufsatz ist im übrigen hochaktuell. Soweit erst mal.

Viele Grüße

U.

[1] Siehe unter Ulrich Knaudt: Beschreibung eines (produktiven) Mißverständnisses und seiner Beseitigung (10.01.2016).


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Ulrich Knaudt an F.W. (18.10.2015)

Betreff: REITTER II


Hallo F., ich habe mich sehr darüber gefreut, von Dir wieder zu hören. … Ich schicke Dir eine weitere Replik zu KARL REITTER. [1]

Auf Al Arabiya wurde über eine 200-Mann-Demo in Moskau zu Syrien berichtet. Jetzt hat Putin auch gegenüber der eigenen Bevölkerung den Bogen überspannt.

Viele Grüße

Ulrich

[1] Siehe unter Ulrich Knaudt: Beschreibung… (s.o.)
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Ulrich Knaudt an P.T. (20.10.2015)


Hi P.T.,

nachdem ich zu der Flüchtlingsproblematik eine wenig Abstand gewonnen habe, einige Bemerkungen als Antwort auf Deine E-Mail [vom 14.10.] und zu meiner Frage, was hinter »dieser scheinbaren staatlichen Selbstaufgabe unserer Regierungschefin steckt« oder stecken könnte. [1]


Putins jüngst erfolgte offene Intervention in den von Assad bisher wenig erfolgreich verlaufenen Versuchen, die Arabische Revolution in Syrien zu zerschlagen, wird vielleicht zu einer Neuaufteilung des Nahen Ostens zugunsten Rußlands, Chinas und des Iran führen, durch die sich auch die politischen Verhältnisse in Europa verändern würden. Bisher konnten die USA einen globalen Zwei-Fronten-Krieg vermeiden, weil sie Eurasien + China, mit dem Nahen Osten als Scharnier, von beiden Seiten in die Zange genommen haben. In dem Maße, wie dieses Scharnier seine Wirksamkeit verliert, werden China + Eurasien umgekehrt die USA + Europa in die Zange nehmen können. Dieses Szenario ist noch in der Entwicklung begriffen, wird aber immer deutlicher erkennbar. Den Hintergrund bildet der für seine Produzenten katastrophale Rohstoffmarkt, auf dem der Nahe Osten bisher eine entscheidende Rolle gespielt hat. Man nehme nur die Weigerung Saudi-Arabiens, seine Erdölproduktion zu drosseln, wodurch nicht nur dem Fracking das Genick gebrochen werden soll, sondern auch Rußlands Zahlungsbilanz immer weiter nach unten gezogen wird, sodaß sogar Putin gezwungen ist, mit der Ukraine ein relativ faires Lieferabkommen abzuschließen, während nach dem Atomdeal mit dem Iran der Erdölmarkt noch weiter zum Überlaufen gebracht wird. Das alles vor dem Hintergrund, daß der Großabnehmer China auch für andere Rohstoffe (Eisenerz-und Kohlelieferant Australien) bedenklich in die Knie geht… usw.


Mit Putins Einmarsch in Syrien soll der Arabischen Revolution der entscheidende Schlag versetzt werden. Ob sich für ihn daraus kein Rückschlag entwickelt, wird sich zeigen. Putin und Obama stützen ihre Nahostpolitik gemeinsam auf die Erklärung, diese ziele auf die Zerschlagung des Islamischen Staates (Daesh); der eine, um gedeckt durch diese Legende die Arabische Revolution in Syrien zu vernichten, der andere, um seine mangelnde Entschlossenheit zu bemänteln, deren Vernichtung nicht verhindert zu haben. Putin betreibt Assads
ethnic cleansing an der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit Syriens nun wesentlich wirkungsvoller als Assads Völkermörder, sodaß mit der Flucht der ausgebombten und enteigneten syrischen Bevölkerung in die Nachbarländer der Druck zunimmt, über die Türkei und Libyen in das reichere Europa zu fliehen, dem dadurch, und in dessen Mitte Deutschland, eine Syrianisierung seiner politischen Verhältnisse droht. Dies ist zugleich Putins Antwort auf die Boykottmaßnahmen der EU gegen Rußland nach seiner Annexion der Krim und von Teilen des Donbass.


Verglichen mit den alten Kolonialmächten England und Frankreich hatte Deutschland bisher noch ein gewisses Aufnahmepotential für Angehörige ihrer Kolonialvölker, das sich aber nun zunehmend erschöpft. Wenn Europa von Schutz suchenden Flüchtlingen überläuft, ist die[s] zugleich die unmittelbare Reaktion Putins auf den Wirtschaftsboykott Rußlands, nachdem die EU die drohende Staatspleite Griechenlands in der Geldschwemme der EZB ersäuft hat und die NATO dessen rußlandfreundliche linke Regierung davon ‚überzeugen‘ konnte, die Überflugrechte für Rußland Richtung Syrien wieder zu stornieren. Bisher sitzt Putin mit den aus der ‚Flüchtlingsschwemme‘ für Europa entstandenen Problemen und Widersprüchen am längeren Hebel. Von wem hier die ‚Flüchtlingskrise‘ innenpolitisch instrumentalisiert wird, ob von rechts oder links, ist dabei ziemlich gleichgültig. Wahrscheinlich werden beide Seiten von Rußland finanziell gefüttert und politisch ‚beraten‘. Hauptsache das ganze bringt für die Europäer viel Tuttifrutti. Putins Deal lautet: Rettung Assads gegen die Rettung Europas, in erster Linie Deutschlands, vor weiteren Assad-Vertriebenen. Dabei sitzt Rußland momentan am längeren Hebel oder beabsichtigt dies zumindest.


Ohne Europa keine eurasische Weltmacht. Putin als Bewahrer des Erbes Hitlers, nur auf den Kopf gestellt. In dieser Zwickmühle hat es Merkel auf den Spuren Katharinas II. und Bismarcks zumindest verhindert, daß ‚die Politik‘ in Deutschland nicht in Panik geraten ist. Das wird aber auf die Dauer nicht reichen, um zu entscheiden, wer am längeren Hebel sitzt. Souveränität, das hat bereits Napoleon vorgeführt, ist in der Tat ein relativer Begriff. Die Lektüre Carl Schmitts wird wohl eher die Berater Putins inspirieren als diejenigen Merkels. Großraumvölkerrecht ist Blut- und Bodenvölkerrecht, in dessen Namen Blut vergossen wird, damit daraus Reichtum (er)wächst. ‚Blut gegen Öl!‘, diese Gleichung der Linken der 80er Jahre ist so hinterwäldlerisch wie Carl Schmitts Völkerrecht und die Bedrohung des Lands durch das Meer verursacht durch den Klimawandel. Die Meere sind nicht nur so frei, sich je nach dem Wechsel der Kalt- und Warmzeiten auszudehnen oder zurückzuziehen, gegen die Freiheit der Meere haben rechte wie linke Blut- und Bodenverfechter kein Mittel, das ihren Untergang verhindert, auch nicht die kleinteilige grüne Blut- und Bodenwirtschaft…


Mit der Neuaufteilung des Nahen Ostens zugunsten von Rußland, Iran und China (im Hintergrund) werden sich die strategischen Verhältnisse Europas sowohl gegenüber dem ‚Osten‘ als auch den USA und ihren bisherigen Verbündeten Saudi-Arabien und Israel ändern, wobei letztere ebenso wie der ‚Osten‘ mit daran gearbeitet haben, daß die Arabische Revolution in eine Konterrevolution verwandelt wurde. Die einen durch ihre Islamisierung, die andern durch ihre Zerschlagung.


Obama will die Verleihung des Friedens-Nobelpreises nicht nachträglich Lügen strafen und auf jeden Fall ein zweites Nine Eleven verhindern.


Etwas chaotisch meine Überlegungen, nicht weniger chaotisch wie die Weltlage, die durch die Weltwirtschaftskrise chaotisiert wird, und die ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Bei der letzten dauerte dieses Chaos 12 Jahre. Aber das zu behandeln gehört zu den Krisenkapiteln im III. Band [des KAPITAL], der heute mal da bleibt, wo er ist.

U.

[1] U.K. an P.T. (13.10.2015)

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Ulrich Knaudt an H.B.
(25.10.2015)
Betreff: DUTSCHKISMUS


Lieber H., also hatte ich doch den richtigen Riecher, als ich das Einladungsflugblatt
für die Konferenz verrissen hatte. [1] RLS kauft einfach die ganze bankrotte Linke auf und vermarktet sie unter ihrem Label. [2]

Viele Grüße

U.

[1] U.K. an H.B. (27.09.2015).

[2] ROSA LUXEMBURG STIFTUNG NORDRHEIN-WESTFALEN

Mit Carsten Prien Dienstag, 17.11.2015 | 19:00 Uhr bis 22:00 Uhr Fabrik Heeder, Krefeld Virchowstr. 130 47805 Krefeld GESCHICHTE „Dutschkismus Rudi Dutschkes politische Theorie“ Lesung mit dem Autor Carsten Prien Der Autor Carsten Prien wird sein Buch „Dutschkismus. Die politische Theorie Rudi Dutschkismus vorstellen.

Für Prien ist Dutschkismus die Erkenntnis der notwendigen Einheit und historischen Gleichzeitigkeit von Kulturrevolution und politisch ökonomischer Revolution. Dies ist die Quintessenz aus der Selbstkritik kommunistischer Selbstentfremdung, von der aus sich sämtliche Elemente Dutschkes Denkens und Wirkens her ableiten lassen. Unter diesem programmatischen Titel stellt Carsten Prien in seinem Buch die Bedeutung Rudi Dutschkes jenseits biographischer und zeitgeschichtlicher Anekdoten erstmals so heraus, dass sie auf einen Begriff gebracht wird.


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F.W. an Ulrich Knaudt (25.10.2015)
Betreff: Aw: REITTER II


Hallo Ulrich,

In den Anhang der Mail befindet sich die Übersetzung eines Interviews mit Boris Reitschuster als PDF, das ich zufällig auf Facebook gefunden habe. Hier der Link dazu:

http://reitschuster.de/index.asp?newsid=22474

Von Reitschuster habe ich mir mal das Buch Putins Demokratur besorgt, aber noch nicht gelesen … Er war bis Februar diesen Jahres Leiter des Büros des ‚Focus‘ in Moskau und wurde dann »gegangen«. In dem Interview wird u.a. nochmal verdeutlicht, wie die deutsche Bourgeoisie die politischen Interessen Deutschlands aufgrund ihrer Geschäftsinteressen mit Russland verkauft.

Viele Grüße,

F.

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Ulrich Knaudt an F.W. (28.10.2015)

Betreff: DAS WAR’S MIT KARL REITTER


Hallo F., … Vielleicht gibt es zu Reitter noch nachzutragen, daß er auf eine weitere Diskussion mit mir verzichtet hat, nachdem N., die bisher immer meine Mails an die Marx-Freunde weitergeleitet hat, sich zunächst weigerte, auch diese Kritik weiterzuleiten. Ich solle sie doch an ihn selbst schicken. Kenne ich Reitters E-Mail Adresse? Außerdem war es eine öffentliche Kritik. Davon hat sie dann aber wohl Abstand genommen und zähneknirschend die Weiterleitung meiner Antwort an Reitter in die Wege geleitet. Mal sehn, ob sie das auch in Zukunft tun wird. Es scheint jedenfalls einige Marx-Freunde zu geben, die darauf Wert legen.


Von der Sache mit dem Focus-Leiter in Moskau las ich auch in der FAZ. Auf jeden Fall vielen Dank für das Interview, das die Sache noch intensiver und konkret beleuchtet.


Noch zwei Fragen:

1. Das Heute Journal brachte Bilder von einer Pegida-Demo in Dresden, auf der gerufen wurde: »Merkel nach Sibirien – Putin nach Berlin!« (Die anchor Frau tat sichtlich geschockt…)

2. Die FAZ brachte gestern (27.) auf ihrem FAZ-NET Auftritt das Foto von einer ebensolchen Demo, in der auf der einer kreisrunden Scheibe (Euro- oder SED-Abzeichen?) Merkel in Nazi-Uniform abgebildet war, die am Arm eine rote Armbinde trägt (kennt man schon aus Polen und Griechenland) mit einem € statt einem Hakenkreuz drauf und folgender Inschrift: »National Stasi Agency. In IM Erika we trust«.


Ich kann mir zwar dazu einiges zusammenreimen. Aber falls Du über eine genauere Erklärung für dieses rechte back to the USSR-Verhalten hast, z.B. aus der Lokalpresse, wäre ich sehr daran interessiert.

Daß eine ‚Fraktion‘ (siehe: Dimitroff-These?) der Bourgeoisie in ihrer Wahrnehmung der deutschen und europäischen Realität nach Moskau schielt, läßt sich umfangreich belegen. Daß aber einer solcher Trend auch ‚von unten‘ kommt und dann auch noch von rechts muß einen Wessi wie mich doch sehr erstaunen (Als früherer Berlin-Wessi verfüge ich zumindest noch über Reste einer Antenne in diese Richtung).

[…]

Viele Grüße

Ulrich

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Ulrich Knaudt an Gegen die Strömung (30.10.2015)


Hallo (ehemaliges) Buchladen-Kollektiv, vielen Dank für Gds 6-7/ und 8/2015. In der Tat bildet das Fehlen jeder ernsthaften Reflexion über die Grundfragen des Kommunismus das entscheidende Hindernis für die Beteiligung der Kommunisten an den zukünftigen Klassenkämpfen in Europa in der von der Marxschen Partei gewiesenen Richtung. Dieser Aufgabe widmet sich auch der Blog parteiMarx. Dort findet Ihr aktuell unter der Kategorie KOMMUNISMUS den Entwurf für Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff (Entwurf), der Vorschläge enthält, wie diese Arbeit am Begriff des Klassenkampfes zu beginnen wäre. Warum dann aber nicht Arbeit am Klassenkampf selbst? Weil die politischen Differenzen zwischen all jenen, die noch bereit sind, sich darüber auf revolutionäre Weise Gedanken zu machen, erwartungsgemäß so elementar sind, daß dadurch jede weitere Debatte von vornherein blockiert ist. Das betrifft auch unsere bisherige Korrespondenz.


Nehmen wir den Artikel
Solidarität (8/2015) als Beispiel: dieser zeigt, daß wir, was die EU und Griechenland betrifft, von konträren Einschätzungen der Klassenkämpfe ausgehen, die mit der strategischen Stellung Europas zwischen den (neuen) Weltmächten USA, China, Rußland zusammenhängen, die miteinander im Nahen Osten um die Vertiefung ihres dort verloren gegangenen oder neu zu befestigenden Einflusses und um die Welthegemonie ringen, wovon wiederum ihre Stellung auf dem Weltmarkt (und umgekehrt ihre Weltherrschaft) abhängt. Die Rückwirkungen dieser Auseinandersetzungen erlebt Europa momentan hautnah in Gestalt der sog. ‚Flüchtlingskrise‘.


Eure Frage danach,
»was Imperialismus überhaupt ist und welche Besonderheiten der deutsche Imperialismus hat«, ist berechtigt! Nur besteht ein entscheidender politischer Unterschied darin, ob, was den deutschen Imperialismus betrifft, dieser zu den genannten (Möchtegern- oder realen) Weltmächten gehört oder nicht, obwohl auch die deutsche wie jede andere Bourgeoisie davon träumt, ihre Position, an deren Erringung sie im ersten Anlauf im 20. Jahrhundert gescheitert ist, eines Tages zurückzuerobern. Das heißt: Ihr stellt zwar abstrakt die richtige Frage, aber konkret scheint Ihr von einer derartigen Unterscheidung rein gar nichts zu halten, weil Ihr wie jeder Metaphysiker von einem ewig gleichen deutschen Imperialismus ausgeht. Dieser metaphysische Standpunkt läßt sich bei näherer Betrachtung der Weltlage, der Widersprüche zwischen den Imperialisten und den stattfindenden Klassenkämpfen nicht aufrechterhalten. Er führt in der Sache zu nichts und in der Analyse der Klassenkämpfe nicht wirklich weiter.


Eine weitere von mir grundsätzlich nicht geteilte Einschätzung findet sich in dem beiliegenden Blockupy-Flugblatt: Mal abgesehen davon, daß der direkte Angriff der ‚Bakunisten bei der Arbeit‘ (siehe: REAKTIONEN 2010, 53-56) auf die Büttel der Staatsmacht sich ziemlich lächerlich ausnimmt (jedenfalls auf den im Fernsehen gezeigten Handyvideos), geht Euer Rating der Fraktionen der deutschen Linken nach dem Grad der jeweils von diesen gezeigten Militanz politisch an der Wirklichkeit vorbei. Könnte es in dieser Frage nicht eher so sein, daß es Der Linken deshalb nicht auf die von Euch geforderte Militanz ankommt, weil sie sich wohl eher als Vorposten einer in ihrem ‚Hinterland‘ aufgestellten Armee begreift und verfrühtes Losschlagen nur ihre wahren Absichten (und die ihres politischen Paten) verraten würde? Die Linke wird ganz genau wissen, daß sie nur als Marionette der hinter ihr stehenden Militärmacht die Machtfrage stellen und ‚legal‘ an die Regierung kommen wird? (So, wie das einst Stalin in den Ländern Osteuropas gelungen ist.) Also war Die Linke auch in Frankfurt nicht so dumm, sich militant am Sturm der Bakunisten auf das Euro-Palais zu beteiligen und clever genug, deren Militanz weder zu verurteilen, noch in den Himmel zu loben, sondern nur ein wenig zu relativieren: in Wahrheit sei, wie sie meint, die Gewalt von der Polizei ausgegangen; die ‚Aktivisten‘ hätten sich dagegen nur zur Wehr gesetzt. Einfach lachhaft! Jeder weiß, daß das eine Lüge ist. Liegt es da nicht nahe, sich nach den Erfahrungen der Europäer mit den Annexionen von Teilen Georgiens und der Ukraine durch Rußland zu fragen, ob nicht auch hinter der Zurückhaltung Der Linken in Frankfurt und anderswo das Kalkül stehen könnte, daß sich momentan die Machtfrage nur deshalb nicht stellt, weil das ohnehin nur eine Frage der Zeit ist? Auf jeden Fall hat die von Euch vermutete mangelnde revolutionäre Aktivität dabei nicht die entscheidende Rolle gespielt! Hier wären wir wieder bei Griechenland und dem Verhältnis Rußlands zur EU. Worin unterscheidet sich Putins Politik von derjenigen der alten Zaren im 19. Jahrhundert? Eigentlich in gar nichts! Was Marx und Engels von dieser Politik gehalten haben, könnt Ihr in den MEW nachlesen.


Zum Schluß einige Bemerkungen zu
Warum wissenschaftlicher Kommunismus? Es ist überaus lobenswert, daß in Euren Veröffentlichungen diese Frage immer wieder behandelt wird. Was in diesem Aufsatz bei allen Hinweisen auf die Bedeutung von Marx und Engels als revolutionäre Theoretiker und Praktiker allerdings zu kurz kommt, ist der grundsätzlich subversive Charakter, der im Marxschen Kommunismus steckt und bei Eurem Versuch einer Ableitung des Materialismus aus den Methoden der Naturwissenschaften zwangsläufig auf der Strecke bleiben muß. Diese Vorgehensweise erinnert doch allzu sehr an den Grundkurs Stalins in Über dialektischen und historischen Materialismus. Der Marxsche Materialismus unterscheidet sich von dem Stalinschen gerade darin, daß jener nicht primär aus den Natur(wissenschaften), sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen bestimmte Klassen der Gesellschaft unterworfen sind, abgeleitet ist. Näheres dazu findet Ihr auch auf der Website der parteiMarx unter REAKTIONEN 2013 ANHANG Dialektik. Einwände gegen Colletti und Stalin. In Ökonomische Probleme des Sozialismus geht Stalin sogar offen gegen die Marxsche Werttheorie vor, indem er behauptet, die Marxschen Kategorien im KAP[ITAL] hätten sich im Stalinschen Sozialismus bereits als überflüssig erwiesen (siehe: REAKTIONEN 2012 ANHANG 2, 22).


In unserer
Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff sollten wir also nicht unreflektiert mit den sog. Klassikern umgehen, selbst wenn es sich um Marx und Engels handelt. Da sich der Marx-Engelssche Parteibegriff von demjenigen Stalins in vieler Hinsicht positiv unterscheidet, weil er sehr viel reflektierter als der Stalinsche von den unmittelbaren Produzenten ausgeht, gibt es genügend Anlaß, um den Stalinschen Kommunismus von Grund auf zu kritisieren. Dabei läßt sich die Arbeit am Begriff nicht von der Geschichte der Klassenkämpfe trennen. Auch hier liefern Marx und Engels entscheidende strategische Hinweise, die, wenn wir sie ins 20. Jahrhundert fortschreiben, eine Antithese gegen Stalins kanonische Geschichte der KPdSU(B) liefern. Auch dazu findet Ihr auf der Website der parteiMarx unter der Kategorie DEBATTE einige, wenn auch noch viel zu wenige, Versuche, diese Geschichte im Sinne der unmittelbaren Produzenten kritisch zu reflektieren. Außerdem ist es ja inzwischen total chic geworden, die ökonomischen Schriften von Marx ‚neu zu lesen‘. Eine entsprechende Lektüre der Texte zu den Klassenkämpfen findet dagegen nicht statt. Während also mit der ‚Neuen Marx-Lektüre‘ eine Marxisierung Stalins, ohne die notwendige Kritik an Stalin selbst und dessen Nachbetern im Realen Sozialismus, stattfand, besteht die Gegentendenz, der Ihr zu folgen scheint, in der ‚Stalinisierung‘ von Marx. Beides würde ich als einseitig betrachten. Als ein Ausweg aus diesem Dilemma entstand daher der Vorschlag der gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff, für den ich Euer Interesse, wie ich hoffe, geweckt habe.


Mit solidarischen Grüßen

Ulrich Knaudt

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Ulrich Knaudt an H.B. (08.11.2015)

Betreff: Re: WG: Sehenswertes


Lieber H., vielen Dank für den Hinweis. [1] Leider hatte ich nicht mehr im Kopf, daß manche Beiträge nur kurzfristig gespeichert werden und verfügbar sind.

[…]

Das Stichwort ‚Reservearmee‘ ist auf jeden Fall zutreffend. Denn durch den relativ ‚leeren‘ Arbeitsmarkt steigen die Preise für eine Arbeitskraft. Deshalb ist ein Angebotsüberschuß für das Kapital immer am besten. Und der Tiefpunkt im Arbeitskräfteangebot war wohl längst überschritten, daher auch Angelas Selfie mit Angehörigen der künftigen Reservearmee.

[…]
Viele Grüße

U.

[1] …auf die Sendung: 3sat, vom 30.10.2015, 20.15 Uhr: Der Arbeitsmarktreport – Das Märchen vom Fachkräftemangel!


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Ulrich Knaudt an H.B.
(22.11.2015)

Betreff: DUTSCHKISMUS


Lieber H., vielen Dank noch mal für Deinen Hinweis auf den ousia-Verlag [1] und den Vortrag von Stangel. Ich habe erst jetzt die Zeit gefunden […], mir den Vortrag anzuhören. Entgegen meinen ursprünglichen Befürchtungen, daß er dieselbe Tendenz entwickeln würde wie Priens Einleitung (einseitige Verteidigung der nationalen Souveränität gegen ausschließlich ‚westliche‘ internationale Organisationen), setzt sich diese in dem Vortrag nicht an zentraler Stelle fort. Im Rahmen dessen, worauf sich d.A. eingeengt durch den selbstgewählten akademischen Kontext einläßt (einlassen muß) finde ich ihn in der Tendenz (besonders die Bemerkung zur Rudi-Duschke-Straße…) durchaus in Ordnung. Vor allem stimme ich mit ihm darin überein, worauf er den Schwerpunkt seiner Einschätzung legt, daß die westdeutsche Linke spiegelbildlich der französischen Linken zur Zeit von Marx gleicht (
Karl Vogt), [2] die lieber bonapartistisch als deutsch sein wollte, was dazu führte, daß sie vor allem pro-zarisch wurde. Daran hat sich nichts geändert, nur, daß wir es heute mit Zar Wladimir zu tun haben.


Dutschke war ein sozialistischer Befürworter des ‚Dritten Weges‘ in Deutschland. Was ihn von den bürgerlichen Vertretern dieses Richtung unterschied. Worin er vor allem über diese hinausging, war sein Antiimperialismus. Wenn ich meinen eigenen politischen Werdegang betrachte, entdecke ich einerseits darin viele Gemeinsamkeiten mit den hier dargestellten Positionen R.D.s. Das Problem, auf das ich, wenn ich mich näher mit seinen Ansichten zu NF befassen wollte, stoßen würde, bestünde wahrscheinlich darin, daß

1. R.D. die Geschichte der Klassenkämpfe, und darin die Frage von Revolution und Konterrevolution in der SU und in China nicht entscheidend in seine Konzeption mit einbezieht (dazu wäre eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Lenin, Stalin und Mao erforderlich gewesen, wofür Bloch oder Benjamin politisch nicht hinreichend sind).

2. er unsere eigene, deutsche Geschichte nicht als Geschichte von Revolution und Konterrevolution seit den Bauernkriegen versteht, worauf sich allein politische Identität historisch zu gründen vermag. (Er stellt die Frage der Identität abstrakt; und daher kann sie von ‚links‘ leicht negiert werden und von rechts auf offene Ohren stoßen. Die unmittelbare Folge ist R.D.s politischer Romantizismus gegenüber den klassenkämpferischen westlichen und südlichen europäischen Arbeiterklassen unabhängig von der politische Zielbestimmung und dem sozialen Gehalt ihrer Kämpfe. Das wissen heute die Putinisten in Griechenland, Spanien, Portugal in ihrem Sinne auszubeuten).

3. ich mich nach wie vor frage, wieso er gemeint hat, die Grünen trotz ihres konterrevolutionären Charakters als eine revolutionäre Partei des ‚Dritten Weges‘ mißzuverstehen, anstatt an diesem Weg zu entlarven, daß sie die Kulturrevolution der ‚Studentenbewegung‘ für die politischen Zwecke des imperialistischen Kleinbürgertums ausgebeutet haben? (…und sie als Kulturrevolution für die Bourgeoisie heute fortzusetzen).

Die akademische Beschäftigung mit R.D. stößt anhand dieser Fragen zwangsläufig auf ihre Grenzen. Davon abgesehen finde ich die Beschäftigung mit diesen ‚Thema‘ überaus nützlich und anregend.


Ich habe es noch nicht geschafft, R.D.s Aufsatz in dem Dutschkismus-Buch zu studieren. Vielleicht werden sich daraus weitere Überlegungen ergeben.


Bedauerlich, daß Du die Veranstaltung als ungenügend empfunden hast. Vielleicht lag das ja auch daran, daß solche wie die o.g. Fragen nicht diskutiert werden konnten. Wahrscheinlich geht das auch nicht, ohne daß der akademische Charakter der Beschäftigung mit diesem Thema gesprengt würde.


Ich bleibe am Ball.

Viele Grüße

U.

[1] Der digitale Newsletter des ousia-Verlages enthält einen Tonmitschnitt der Vortragsveranstaltung mit Dr. Matthias Stangel vom September 2015. Siehe U.K. an H.B. 27.09.2015.

[2] REAKTIONEN 2014 ANHANG 2 Exzerpte und Notizen zu Karl Marx: Herr Vogt.


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30.01.2016 »

Eigentlich hatte ich es längst aufgegeben, mich mit der linken Presse noch inhaltlich auseinanderzusetzen. Bei den Ausgaben des Neuen Deutschland (ND) und der jungen Welt (jW) vom letzten Januarwochenende sollte man eine Ausnahme machen, da in der jW eine Rede Wladimir Putins zur Nationalen Frage abgedruckt ist, [1]  und im ND einige überaus bemerkenswerte Schlußfolgerungen aus seinem Propagandacoup im Fall ‚Lisa‘ gezogen werden. [2] Dieser wird der der westdeutschen Bourgeoisie, zumindest jenem Teil, der keinen Osthandel betreibt, vielleicht endgültig klargemacht haben, daß der Kalte Krieg keineswegs zu Ende, sondern lediglich in ein neues Stadium getreten ist. Verändert hat sich nur der Schwerpunkt dieser Propaganda, durch den der traditionelle Antifaschismus des 20. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt wird.

Hatte sich das ND in seinen Stellungnahmen zu Putins ‚Lisa‘-Kampagne zunächst recht wortkarg und schmallippig auf die Wiedergabe von Agenturmeldungen beschränkt, [3] so hat es seine Zurückhaltung in der Wochenendausgabe vom 30.01. aufgegeben. Darin wird von Jörg Kronauer folgende Rechnung aufgemacht: Wenn ‚der Westen‘ fortfahre, die großrussische Einflußsphäre in Osteuropa oder gar Rußland selbst durch seine Unterstützung von ‚farbigen‘ Revolutionen zu destabilisieren, dann dürfe sich niemand wundern, wenn Putin darauf mit der Förderung von massenwirksamen rechten Protestbewegungen im ‚westlichen‘ Europa reagiert. [4] (Die westliche Linke hat er ohnehin politisch in der Tasche.) Rußland habe nach 1991 »jahrelang stärkeren Anschluß an den Westen gesucht«, ohne daß sich »der Westen« auf eine strategische Kooperation habe festlegen lassen. Daraufhin habe Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz den »Westen« vor einer Ausdehnung seines Einflusses auf russische Kosten gewarnt, »bis der Ukraine-Konflikt das Faß zum Überlaufen brachte« (…war es dieser sog. »Konflikt« oder war es Putin, der mit der Annexion der Krim das Faß… usw.?) und Rußland veranlaßt habe, seinerseits mit der Einmischung in die inneren Angelegenheiten ‚westlicher‘ Staaten zu reagieren. Dazu gehöre die russische Unterstützung von Kräften auch »der äußersten Rechten«, wie von Marine Le Pen, die im Herbst 2014 aus Rußland einen Millionen-Kredit erhielt und von Teilen der AfD und Leuten um die Zeitschrift Compact, wie (der ehemals linke Konkret-Autor) Jürgen Elsässer, deren Sympathie für Rußland »zuweilen erwidert« wird. »Dabei ist die russische Einmischungsstrategie nur im Westen abgeschaut. Wie deutsche Stellen vor und während der Proteste auf dem Maidan ihre Kontakte auch zu ukrainischen Faschisten intensivierten, so strecken russische Stellen jetzt ihre Fühler auch zur äußersten Rechten in der Europäischen Union aus.«

Wir müssen dieser Logik entsprechend also in Zukunft zwischen zwei Sorten von Faschismus unterscheiden: zwischen einem anti-‘westlichen‘, aber fortschrittlichen, der die Unterstützung Putins und jetzt auch des ND genießt, und der dafür sorgt, daß der »Westen« fleißig destabilisiert wird, einerseits und einem ‚wahren‘ Faschismus andererseits, der im sog. »Ukraine-Konflikt das« (von Putin auf der Krim und im Donbass aufgemachte) »Faß zum Überlaufen« gebracht habe und der dafür herhalten muß, daß die ‚bunte Revolution‘ auf dem Maidan gegen Janukowitschs Oligarchen-Herrschaft (von Putins Gnaden) im klassischen Stil sowjetischer Propaganda als ‚faschistischer Putsch‘ denunziert werden kann. [5] So gesehen ist der Fall ‚Lisa‘ erst der Anfang einer ganz neuen Art (groß)russischer Öffentlichkeitsarbeit in Europa, die aber nicht mehr, wie in früheren Zeiten, vor allem durch die Entlarvung Westdeutschlands als Hort des Faschismus funktioniert, sondern, wie bereits im Baltikum erprobt, durch die demonstrative Verteidigung der sog. ‚nationalen Interessen‘ russisch-stämmiger Minderheiten per Falschmeldungen und Hetzsendungen des russischen Fernsehens.

So geschehen Anfang des Jahres in Berlin, wo die dort lebenden Rußlanddeutschen von russischen Sendern wie Russia Today oder Rossija 2 im Stil von Pegida und AfD gegen Merkels Willkommenspolitik gefüttert werden, die unmittelbar dafür verantwortlich gemacht wird, daß eine russisch-stämmige 13Jährige von schwarz gelockten Asylsuchenden angeblich entführt und vergewaltigt worden sei (während sich zur gleichen Zeit Die Linke darüber den Kopf zerbricht, wie ihre ‚Willkommensarbeit‘ noch stärker politisiert werden kann). [6] Daß sich, wie von der nach der Vermißten suchenden Polizei verlautbart, „unsere Lisa“ stattdessen wegen ihres schlechten Schulzeugnisses nicht nach hause getraut und bei einem Freund übernachtet hat, [7] deutet auf ein Familienklima hin, das wohl auch für chauvinistisch getürkte Falschmeldungen aus der Moskauer Propagandaküche besonders leicht empfänglich ist. Die daraufhin von einschlägigen Kreisen organisierten Demonstrationen ‚empörter‘ und ‚besorgter‘ russisch-stämmiger Mütter und Väter vor dem Bundeskanzleramt, die auch nach Bekanntgabe des wahren Sachverhalts unbeirrt fortgesetzt wurden, machen deutlich, daß die politische Entfernung zwischen Moskau und Berlin inzwischen kürzer geworden [8] und was vom realen Sozialismus der früheren DDR noch in den Köpfen fortlebt, zunehmend in die Reichweite der Putinschen Propaganda gerät – ob durch Parolen im Stil von Pegida und AfD in den dafür empfänglichen Teilen der deutschen Bevölkerung oder durch die Stärkung der die ‚Refugees‘ exaltiert ‚willkommen‘ heißenden anti-‘westlichen‘ radikalen und weniger radikalen deutschen Linken, deren russophile Denkungsart bis weit in die SPD hineinreicht. Welche von beiden scheinbar einander entgegengesetzten politischen Stimmungen dabei gerade ‚Presse macht‘, ist prinzipiell austauschbar.

Dazu paßt der von der jW freudig aufgenommene Versuch Putins, erneut in die alt ehrwürdige Debatte über die Nationale Frage aus der Zeit der Gründung der UdSSR (und irgendwann wieder über die Deutsche Frage?) wie in einen Museumszug einzusteigen. Für die Ulbricht-Fraktion der in der Ex-DDR-Linken auferstandenen (oder nie untergegangenen) SED ein freudiger Anlaß, große Teile dieser Rede in der jW ganzseitig abzudrucken. [9] Was die historische Bedeutung dieser Debatte, die kurz vor und während des Ersten Weltkriegs in der revolutionären Bewegung Rußlands geführt wurde, betrifft, ist daran zu erinnern, daß Lenin Ende 1922 von seinem Krankenbett aus dem allzu übereifrigen Volkskommissar für Nationalitätenfragen dabei in die Parade gefahren war, den alten unitarischen von Moskau aus autokratisch regierten Vielvölkerstaat in der leicht abgewandelten Form der zum Jahreswechsel gegründeten UdSSR wieder auferstehen zu lassen, während Lenin mit seinen letzten Kräften versuchte hatte, in Stalins Entwurf die unitarisch-autokratische durch eine demokratisch-zentralistische Staatsform zu ersetzen. Dabei wäre die Union von staatlich souveränen Sowjetrepubliken zumindest formell ernst genommen worden, deren unvermeidlich auseinanderstrebende Elemente nach Lenins Konzept durch die eiserne Klammer einer proletarischen Partei Marxscher Prägung hätte zusammengehalten werden sollen. [10]

Einmal abgesehen davon, worin der von den Bolschewiki postulierte Anspruch auf das Marxsche Erbe im einzelnen begründet gewesen sein mochte, sollte man sich fragen, was es heute bedeutet, wenn Putin die Nationale Frage wieder aus der Versenkung der revolutionären Vergangenheit Rußlands hervorholt und den krampfhaften Versuch macht, eine Verbindungslinie zu seinem eigenen Regime herzustellen. Das erinnert nicht von ungefähr an Louis Bonapartes (Napoleon III.) Versuche, seine Regierung als Fortsetzung der Herrschaft seines Onkels, des Großen Napoleon, hinzustellen und dadurch zu legitimieren. Um, ausgehend von seiner traurigen Gestalt, eine direkte Verbindungslinie zur Oktoberrevolution zu ziehen, kann Putin in seiner Rede nur darauf verweisen, daß er aus beruflichen Gründen zwangsläufig KP-Mitglied habe sein müssen und nach eigenem Eingeständnis auf dem Lernfeld des Marxismus-Leninismus ein ziemlich unaufmerksamer KGB-Schüler gewesen sei. Das ist denn auch schon alles, was ihn nach seiner eigenen Auskunft mit der revolutionären Vergangenheit Rußlands verbindet. Abgesehen davon, daß ihm Lenin, wie er, catching for compliments, gerne eingesteht, eher ein Buch mit sieben Siegeln geblieben sei, kann Putin mit der Leninschen Politik wenig anfangen (was reichlich unklug ist, wenn man bedenkt, daß die Herrschaft der neuen Bourgeoisie in der Sowjetunion auf der Kanonisierung Lenins beruhte, ein Erbe, auf dessen harausragende Bedeutung der putintreue russische KP-Vorsitzende Sjuganow erbost hinweist [11]). Vielmehr distanziert sich Putin von der auf Befehl Lenins vorgenommenen Erschießung der Zarenfamilie und vor allem Tausender von Geistlichen ebenso wie von der Zersetzung der russischen Front durch die Bolschewiki im Ersten Weltkrieg, aber vor allem, und das ist ausschlaggebend, von Lenins Position zur Nationalen Frage.

Während Stalin laut Putin »für die Idee einer weitreichenden Autonomie der Bestandteile der künftigen Sowjetunion eintrat«, d.h. für die großrussische Vormachtstellung über die auf ‚Nationalitäten‘ ohne eigene staatliche Souveränität reduzierten Nationen der Sowjetunion, die russische ausgenommen, habe Lenin der Stalinschen Auffassung »die Idee … einer völligen Gleichberechtigung einschließlich des Rechts auf Austritt aus der Sowjetunion« entgegengesetzt. »Das war genau dieser Sprengsatz mit Zeitzünder unter dem Gebäude unserer Staatlichkeit.« [12] Nun braucht niemand mehr darüber zu rätseln, was Putins inzwischen klassisch gewordener Ausspruch vom Untergang der Stalinschen Sowjetunion als geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu bedeuten hat [13] und wo zum Thema Nationale Frage Putins Präferenzen liegen: …wohl kaum beim proletarischen Internationalismus, den Lenin auf die Lösung der Nationalen Frage in Rußland vergeblich anzuwenden versucht hat.

Fassen wir zusammen: Nach dem direkten Eingreifen des großrussischen Möchtegern-Imperiums in den Vernichtungskrieg der mörderischen Assad-Clique gegen die Arabische Revolution in Syrien und den Folgen des gemeinsam mit dem islamo-faschistischen Regime des Iran von der russischen Luftwaffe begonnenen ethnic cleansing der sunnitischen Städte und Dörfer Syriens (getreu dem Vermächtnis von Assads Vater Hafez al Assad, der 1982 die Stadt Hama nach einem Volksaufstand dem Erdboden gleich gemacht hatte) ist eine ‚Flüchtlingswelle‘ (in der Größenordnung der Vertreibungen der Deutschen nach Hitlers faschistischen Krieg ‚aus dem Osten‘) Richtung Europa in Gang gesetzt worden, die die Wirkungen des von Putins Zwickmühle ausgeübten Drucks auf Europa tagtäglich zunehmen läßt. In Syrien leistet ihm der Islamische Staat, wie von Assad bereits hinreichend erprobt, direkt und indirekt wertvolle Hilfe; einerseits, indem er den unmittelbaren Vorwand für die russische Aggression gegen das syrische Volk geliefert hat und der, solange er von der russischen Luftwaffen nur symbolisch angegriffen wird, seinen Terrorismus ausschließlich gegen ‚den Westen‘ und gegen Ziele in Europa richten wird; andererseits, indem der Terrorismus des IS dem Assad-Regime und seinem russischen Paten tagtäglich einen hervorragenden Vorwand liefert, um den Kampf der Arabische Revolution in Syrien zum Werk von ‚Terroristen‘ und den Terrorismus des Islamischen Staats mit der Arabischen Revolution in einen Sack zu stecken und auf ihn draufzuhauen.

Mit der von russischen Medien erzeugten ausländerfeindlichen ‚Lisa‘-Provokation, bei der es letzten Endes wie bei Hitlers Angriff auf den Sender Gleiwitz nicht mehr darauf ankommt, ob Merkels Asylpolitik richtig oder falsch ist, sondern daß es sie überhaupt gibt, steckt die unmißverständliche Ankündigung Putins, daß Rußlands Weg Richtung ‚Westen‘ über Berlin führt, während die westdeutsche Linke (die ostdeutsche sowieso), bereit ist, dem ‚Befreier‘ Europas und ‚Retter‘ der Menschheit vor dem US-amerikanischen Kapitalismus, Palmzweige auf seinem Weg zu streuen. Davon zeugen diese beiden Publikationen in den wichtigsten Blättern der deutschen Linken zum Fall ‚Lisa‘ bzw. über die Putinschen An- und Einsichten zur Nationalen Frage, ohne besonderes Aufsehen erregt zu haben oder gar miteinander in einen direkten Zusammenhang gebracht worden zu sein. Noch wird beides, Putins Westpolitik und sein Verhältnis zur früheren Sowjetunion, getrennt voneinander verhandelt, wenngleich die naheliegende Verbindung zwischen beidem für Europa eine hoch explosive ‚syrische‘ Mischung abgibt .

Abschließend nur drei Sätze zu Putins Friedensgesprächen (Friedensgespräche?) im sogenannten syrischen ‚Bürgerkrieg‘ (nicht zu verwechseln mit Friedensverhandlungen, die es nur stattfinden, wenn eine Seite kapituliert hat – und das sind bisher nicht Assad und Putin!) Diese dienen Putin lediglich dazu, das für das Assad-Regime mit Unterstützung der russischen Luftwaffe gegen die Syrische Revolution gewonnene Terrain völkerrechtlich abzusichern und zum Ausgangspunkt für den nächsten Schritt bei der imperialistischen Expansion Rußlands im Nahen Osten zu machen. Dieses Schema hat bereits in der Ukraine ganz prima funktioniert und beinhaltet, daß seit dem Überfall Rußlands auf Georgien 2009 jeder Waffenstillstand nur das Eintreten eine Atempause vor der nächsten Eroberung bedeutet. [14] Die europäische Bourgeoisie hat ‚leider‘ (sie wollte es nicht anders) den Augenblick verpaßt, ihre Solidarität mit der Arabischen Revolution in Syrien als ihre eigene Schicksalsfrage beim Schopf zu packen (dazu waren die Putin-Freunde in der europäischen Linken zu stark), was sie und Europa heute davor bewahrt hätte, in die Putinsche Zwickmühle zu geraten, anstatt, hin- und hergerissen zwischen christlicher Nächstenliebe und dem chauvinistischen Freßneid der ‚kleinen Leute‘, sich auf die Verhinderung der großrussischen Aggressionsabsichten Putins zu konzentrieren. Das europäische Kapital hat die entscheidende politische Schlacht in und um Europa bereits verloren. Daran wird auch die weltoffene Asylpolitik Merkels, die nur solange der Welt gegenüber geöffnet bleiben wird, wie sie dem deutschen Kapital für seine moralischen Eroberungen auf dem Weltmarkt in den Kram paßt, bei all ihrer großen taktischen Klugheit wohl nicht mehr viel ändern.

-euk

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[1] jW 30./31.01.2015 Kommunismus gefällt mir. Antworten Wladimir Putins auf Fragen zu Lenin, der Sowjetunion und ihrem Zerfall.
www.jungewelt.de/2016/01-30/012.php?sstr=Kommunismus|gef%C3%A4llt|mir
[2] ND 30./31.01.2015 Putins Gegenangriff. Für Kräfte der extremen Rechten ist ein Bündnis mit der Macht im Osten verlockend. (Dazu der Aufmacher:) Seit geraumer Zeit versuchen westliche Staaten, den Einfluß Rußlands in Mitteleuropa zurückzudrängen. Das will Moskau sich nicht länger gefallen lassen.
www.neues-deutschland.de/artikel/999968.putins-gegenangriff.html?sstr=Putins|Gegenangriff
[3] ND 27.01.2016 Lawrow fordert Aufklärung. Nach angeblicher Vergewaltigung meldet sich der russische Außenminister zu Wort.
www.neues-deutschland.de/artikel/999516.lawrow-fordert-aufklaerung.html?sstr=Lawrow|fordert|Aufkl%C3%A4rung
[4] ND 30./31.01.2015 Putins Gegenangriff…
[5] Ob und, wenn ja, was die »ukrainischen Faschisten« angeblich oder tatsächlich mit den Anhängern Banderas verbindet, die die deutsche Invasion geduldet haben, um gegen diejenige Stalins zu kämpfen und nicht umgekehrt, steht auf einem andern Blatt! Dazu wäre zuallererst die Frage zu beantworten, wie die Banderisten gleichzeitig gegen Hitlers Vernichtungskrieg und gegen die Vernichtung der Masse der ukrainischen Bauern hätten kämpfen sollen? Wenn der Holodomor tatsächlich diese große politische Ungeheuerlichkeit war, als welche er von ‚westlichen‘ Autoren beschrieben wird, warum ist der Kampf, um diesen zu verhindern, nicht bereits 1932 begonnen worden, als die Masse der bäuerlichen Bevölkerung der Ukraine von Stalin systematisch ausgehungert wurde, anstatt erst nach der Invasion der faschistischen Eroberer? Denn danach war es Stalin, der die Sowjetunion, einschließlich der Ukraine, vom Faschismus befreit hat, und nicht die Banderisten! ‒ Noch so eine dieser tollen Zwickmühlen, wie sie im Sinne Putins (und Jörg Kronauers) als politische Gangsterlogik im Stil ihres gemeinsamen Lehrmeisters so hervorragend funktioniert!
[6] ND 06./07.02.2015 Neue Allianz für eine solidarische Stadt. Tausende Geflüchtete leiden in Berlin unter dem Behördenversagen – was macht die antirassistische Bewegung?
www.neues-deutschland.de/artikel/1000710.neue-allianz-fuer-eine-solidarische-stadt.html?sstr=Neue|Allianz|f%C3%BCr|eine|solidarische|Stad
[7] ND 30./31.01.215 Fall aufgeklärt. 13-Jährige versteckte sich bei einem Bekannten.
www.neues-deutschland.de/suche/?and=Fall+aufgekl%C3%A4rt.+13J%C3%A4hrige&search=1&modus=0&display=1&sort=1
[8] Worauf auch die ungewöhnliche Demarche des russischen Außenministers zum Fall ‚Lisa‘ hindeutet. Siehe Fn. 3: ND 27.01.2016 Lawrow…
[9] jW 30./31.01.2015 Kommunismus… Dazu der Aufmacher: Bei einer Tagung der „Gesamtrussischen Volksfront“ im südrussischen Stawropol wurde der russische Präsident Wladimir Putin … nach seinem Verhältnis zum Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin … befragt.
[10] parteimarx.org STREITPUNKTE STREITPUNKT 2 Warum Lenins „letzter Kampf“ gegen den linken Sozialimperialismus nicht zu gewinnen war. Siehe auch: parteimarx.org DEBATTEN DEBATTE 1 Die unscharfe Relation Marx/Marxismus – Reflexionen über Revolution und Konterrevolution in Deutschland.
[11] jW 30./31.01.2015 Sjuganow contra Putin. »“Die von von Lenin und Stalin ins Werk gesetzten Veränderungen zusammengenommen haben innerhalb von 20 Jahren das Potential des Landes auf das Siebzigfache gesteigert“, unterstrich Sjuganow. „Die heutigen Machthaber dagegen haben ein Land bekommen, das nach allen wichtigen Indikatoren zu den ersten drei oder fünf Ländern auf der Welt zählte, und sie haben es an den Bettelstab gebracht, abhängig von Infusionen aus dem Ölexport. Sie haben in 25 Jahren nicht geschafft, das Land von diesem Tropf zu befreien“, faßte der Vorsitzende der Kommunisten Rußlands bitter zusammen.«
[12] jW 30./31.01.2015 Kommunismus…
[13] FAZ 08.09.2014 Putins Ambitionen. Ich denke dabei nicht nur an die Krim.
www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/wie-putin-seit-jahren-seine-grossmachtplaene-umsetzt-13139437.html
[14] Siehe: parteimarx.org BLogbuch 3 2009 Remember, remember the day of … eight seven!

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13.11.2015 »

Vor dem Schwarzen Freitag, dem 13.


Nun ist es also heraus! Ursache für den Absturz der russischen Verkehrsmaschine auf dem Sinai war eine Bombe. [1] Willkommen im Club!


Das kommt dabei raus, wenn die Regionalmacht wieder Weltmacht werden will! Der Spezialist für künstlich herbeigeführte und genial vertuschte Flugzeugabstürze (Stichwort: Smolensk, MH17) wird nun selbst ‚Opfer‘ eines solchen, bei dem es nichts mehr zu vertuschen gibt. [2] Er wurde es selbstverständlich nicht persönlich. Und allein darum verbietet sich jede Schadenfreude. Feind der Menschheit ist ja nicht die gehobene russische middle class, die sich, anders als die Masse der russischen Bevölkerung, noch einen Urlaub in Sharm El Sheikh leisten kann, sondern der von ihr mehrheitlich gewählte russische Präsident. Er war es auch, der seiner Armee befohlen hatte, Präsident Assad bei seinem Mörderhandwerk gegen die syrische Zivilbevölkerung zur Hand zu gehen. [3] Schadenfreude verbietet sich auch, weil dies die insgeheime Übereinstimmung mit den islamistischen Menschheitsfeinden bedeutet. Die Erinnerung an Charly Hebdo ist noch frisch. [4] Besonders an die Ausbrüche klammheimlicher Freude bei der westlichen Linken nach dem 11.09.2001, als man die Angriffe von Al Qaida auf die ‚Ungläubigen‘ in den twin towers noch als eine, wenn auch schon eine stark verunglückte antiimperialistische Aktion zu interpretieren pflegte [5] (eine politische Denkart, die in dem von rechts bis links anzutreffenden Antiamerikanismus bis heute nachwirkt). Schadenfreude verbietet sich schließlich, weil die Islamofaschisten vom Islamischen Staat (Daesh) [6], die vorgeben, das Assad-Regime zu bekämpfen, aber hauptsächlich die Zivilbevölkerung terrorisieren und die Assad-Gegner dezimieren helfen, zur Avantgarde im Kampf gegen die Neuauflage des sowjetischen Sozialimperialismus aus den 80er Jahren rehabilitiert würden. Allein deshalb sollte Syrien kein zweites Afghanistan werden.


Also keine Rachegefühle, keine klammheimliche Freude! Dafür endlich politische Klarheit darüber, daß Putins Traum von einer ohnehin nie ernstgemeinten Rolle des Vermittlers zwischen Assad und der Arabischen Revolution endgültig geplatzt ist. Mag die russische Regierung auch behaupten, von Assad zu Hilfe gerufen worden zu sein, wie ihr Außenminister ständig wiederholt, und mag er die russische Aggression in Syrien als völkerrechtlich legal darstellen, auch die Hilfe für einen Völkermörder gilt als Beihilfe zum Völkermord und ist ein internationales Verbrechen wie dieser selbst. [7] Wie zur Bestätigung dessen, daß nun auch von russischer Seite nicht mehr zu bestreiten ist, daß die russische Verkehrsmaschine über dem Sinai von den Islamofaschisten zum Absturz gebracht wurde, scheint die syrische Armee, seitdem sie von Rußland direkt aus der Luft unterstützt wird, ausnahmsweise auch mal militärisch wichtige Stellungen des Islamischen Staates anzugreifen. [8] Bislang hatten sich die russischen Luftangriffe zu 80% auf Stellungen der ‚Assad-Gegner‘ gerichtet. [9] Die von Putin in die Umgebung des russischen Flottenstützpunkt Tartus verlegten ‚Verstärkungen‘ sind in Afghanistan angekommen. [10]


Wenn Putin aber glaubt hat, er könne dabei Assads Spielchen einfach übernehmen, der die Islamofaschisten und die Kämpfer der Syrischen Revolution immer schon als ‚Terroristen‘ in einen Topf geworfen hat und von jenen die Drecksarbeit gegen die Syrische Revolution erledigen läßt, dann haben sich nach dem Flugzeugabsturz in Ägypten Assads schmutzige Tricks, auf die die europäische Linke immer wieder allzu gerne freudig reinfällt, [11] von selbst erledigt.


Die Arabische Revolution in Syrien steht nun vor der Entscheidung, ob sie sich an dem von Rußland gegen den Islamischen Staat erklärten drôle de guerre (seltsamen Krieg) beteiligen oder ob sie es mit den Islamofaschisten Al Baghdadis halten will, der unter der Einheitsfront aller Gläubigen gegen den russischen Eindringling die Unterwerfung der umma unter sein islamofaschistisches Regime versteht. Sollte sie sich für Al Baghdadi entscheiden, dann wäre die Syrische Revolution schließlich doch noch Assads und Putins trickreichen Manipulationen zum Opfer gefallen. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann nur in einem klaren Schnitt und einer eindeutigen Absage an die Islamofaschisten und ihren Rassen- und Religionskrieg gegen die arabischen Völker bestehen. Menschheitsverbrechen mit Verbrechen gegen die Menschheit zu beantworten, würde das sichere Ende des legitimen Widerstands gegen das mörderische Assad-Regime und die russische Aggressoren bedeuten. Die eindeutige Ablehnung der von verzweifelten Widerstandsgruppen gegen Angehörige der Alawiten in einem Vorort von Damaskus in Szene gesetzten Käfig-Aktionen durch die Syrische Nationale Koalition (SNC) können als ein deutlicher Hinweis gewertet werden, daß die Syrische Revolution diesen Weg nicht einzuschlagen gedenkt. [12]

Nach dem Schwarzen Freitag, dem 13.


Mit dem Schwarzen Freitag in Paris ist die jüngere Weltgeschichte um ein weiteres magisches Datum reicher. Aber der Aufstand der ‚Verdammten dieser Erde‘ aus den Pariser Banlieues gegen die jugendbewegte gehobene middle class in den hippen Szenekneipen des Pariser Ostens unter dem Kampfruf Pour la Syrie! war ein Fake. Ein Staat namens Syrien ist, worauf schon der Name dieser Organisation hindeutet, in dem von Daesh erträumten Weltreich nicht vorgesehen. In der islamistischen umma soll es bis auf diesen einen überhaupt keinen weiteren Staat oder eine Nation geben.


Im Frühjahr 2011 war der Islamismus für wenige glückliche Augenblicke der Arabischen Revolution zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. [13] Ihre unvermeidlichen Rückschläge wurden für die Islamofaschisten zum willkommenen Anlaß, um die von der Revolution vorerst nicht einlösbare Hoffnung der arabischen Jugend auf ein Ende ihrer sozialen Perspektivlosigkeit für die Errichtung des islamistischen Gottesstaates auszuschlachten und den bisher geübten revolutionären Widerstand gegen die alten arabischen Regimes auf das Konto des Salafismus umzubuchen. Ob den Salafisten auch in den Pariser Banlieues Ähnliches gelungen ist, bleibt zunächst unklar. Zumal dort keine Revolution stattgefunden hat, die islamistisch umgedreht werden müßte. Es fiel nur auf, daß die Djihadisten vom 13.11. nicht älter waren als die von ihnen attackierten Pariser Kneipenbesucher. Vielleicht ein islamistisch verschleierter Klassenkrieg der Banlieue gegen das Establishment? Sehr schnell hat sich aber herausgestellt, daß die djihadistischen Glaubenskrieger, die wahllos in Cafés, Restaurants und einem Musikpalast auf die Besucher schossen und vorgehabt hatten, im Stade de France eine Massenpanik zu erzeugen, ‚alte Kunden‘ aus des Salafistenszene sind, die überdies nicht aus Pariser, sondern Brüsseler Vorstädten stammen.


Vor allem aber war der Zeitpunkt für diese Aktion nicht ohne tieferen Hintersinn gewählt worden: ein jedem Moslem heiliger Freitag und der Vorabend der Wiener Konferenz, auf der die USA und Rußland mit einigen Mittelmächten, darunter Frankreich und Deutschland, über die ‚Syrienfrage‘ und die ‚Flüchtlingskrise‘ beraten wollten. Wie hätte ‚dem Westen‘ drastischer vor Augen geführt werden können, daß nach der von Assad und Putin ständig wiederholten Leier, daß die Arabische Revolution und die Konterrevolution des Islamischen Staats ein und derselbe Terrorismus seien, der nun nicht mehr allein auf den Nahen Osten eingegrenzt werden kann! Und wieso, fragt man sich inzwischen in der Presse, haben die Hauptakteure der islamistischen Killertruppe vor der Durchführung ihres Massakers des öfteren zu ihren Auftraggebern nach Syrien reisen können, ohne daß dies den ‚Sicherheitsbehörden‘ nicht hätte auffallen müssen? [14]


Ein Ergebnis der Wiener Konferenz war übrigens, daß Putin mit den westlichen Großmächten und den USA wieder in einem Boot sitzt, (so als hätte es die Annexion der Krim und von Teilen des Donbass nie gegeben) und daß alle Beteiligten inzwischen Assads und Putins Legende beglaubigt haben, daß es von nun an nicht mehr das verbrecherische Assad-Regime, sondern daß es nur noch den Islamische Staat im Bündnis mit Rußland zu bekämpfen gilt. Dieser game change wäre ohne die Pariser Massaker eher gar nicht oder aber nicht so schnell zustande gekommen. [15] Unter den Teppich gekehrt wurde dagegen das ethnic cleansing der syrischen Städte und Dörfer durch Assads Faßbomben und russische Kampfjets mit dem Ziel der Destabilisierung und Spaltung Europas durch einen nicht mehr abreißenden ‚Strom‘ von Flüchtlingen über die Balkanroute Richtung Norden, bei dem sich Erdogan bisher fleißig als Beschützer der Schlepperbanden betätigte, wie aus dem plötzlichen Nachlassen des ‚Flüchtlingsstroms‘ nach dem Abschuß eines russischen Kampfflugzeuges an der syrischen Grenze durch die Türkei geschlossen werden muß. [16] Die gegen die Syrische Revolution von Assad und Putin inszenierte Konterrevolution ist über das Geheimdienstkonstrukt des Pariser 13. November endgültig in Europa angekommen. Putin hat seine Zwickmühle wieder einmal zugezogen und bei diesem Befreiungsschlag zugunsten Assads Europa als Geisel genommen. [17] Nur bloß keine Verschwörungstheorien!


Hier wird dann auch die Frage zu stellen sein, ob die Havarie der russischen Urlaubermaschine über dem Sinai nicht aus derselben Trickkiste stammt, aus der sich Assad bei der Vernichtung der Syrischen Revolution seit Jahr und Tag bedient; in diesem Fall, um Putins zukünftige aktive Beteiligung am syrischen ‚Bürgerkrieg‘ moralisch und psychologisch vor dem russischen Volk zu rechtfertigen? Der Trick von Assads enger Fernbeziehung zum djihadistischen Terrorismus besteht wie gesagt darin, daß dieser von Assad nicht an seiner Entfaltung gegenüber der Syrischen Revolution gehindert, aber gleichzeitig vermieden wurde, daß sich Assad  dabei
selbst die Finger schmutzig macht (obwohl es da kaum noch etwas schmutzig zu machen gibt). Lieber halten sich Assads Gangsterdepartments aus Armee und Geheimdienst an völlig Unbeteiligte, bei deren Familien ein sattes Lösegeld zu holen ist, wenn diese nicht in Assads Folterkellern verschwinden sollen. [18] Die Bilder, die ein geflüchteter Polizeifotograf jetzt in London ausgestellt hat, zeigen die Folteropfer dieser Staatsmafia, die nicht gezahlt haben oder nicht zahlen konnten. [19] Die weltweite Allianz gegen den Islamischen Staat gleicht dem weltweiten Kampf der Geheimdienste gegen einen Popanz, der von allen Beteiligten nur deshalb am Leben erhalten wird, um einem offenen Zusammenstoß ‚des Westens‘ mit den Schutzherren der sich islamisierenden ‚Dritten Welt‘, d.h. mit Rußland und China, so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen.


Und wenn wir diesen Gedanken noch einen Tick weiter spinnen, dann lassen sich Assads trickreiche Manöver auch auf den 13. November in Paris übertragen. Da dort kein Ghettoaufstand, wie er häufig in amerikanischen oder britischen Vorstädten vorkommt, stattgefunden hat, sondern eine autonome Salafistengruppe mit aktiver Kampferfahrung im ‚syrischen Bürgerkrieg‘ und gebrieft von einem bereits seit längerem zum Djihad blasenden Islamischen Heiligen, [20] am Werk war, wird dieser Heilige Krieg auch Monsieur le Président nicht ganz ungelegen gekommen sein, um seinerseits zum Krieg gegen die Heiligen Krieger blasen zu können.


Dadurch haben sich nicht nur Hollandes Aussichten für die Anfang Dezember stattfindenden Regionalwahlen ein wenig aus dem demoskopischen Keller herausbewegt, es wird auch die rasant zunehmende Militarisierung der Gesellschaft von den Bürgern bereitwilliger akzeptiert und nicht zuletzt die Rüstungsproduktion wieder angekurbelt werden, wovon als freudige Botschaft die Aktienkurse der Rüstungsfirmen künden. Von Obama gab es sogar einen Klaps auf die Schulter und die Beschwörung jahrhundertealter amerikanisch-französischer Freundschaft. Vergessen die üblichen Kabalen und Intrigen zwischen den erbitterten Konkurrenten auf dem Weltmarkt des Kapitals. Und wer wird dann noch was dagegen haben können, wenn Frankreich trotz Georgien, Krim und Ukraine seine alten oder noch älteren Verbindungsfäden zu Rußland wieder aufnimmt, wovon Sarkozys bürgerliche Mitte und Frau Le Pens ‚rechter Sektor‘ schon seit längerem schwärmen, um endlich auch ‚die Deutschen‘ von beiden Seiten fester zu umarmen.


Die Legitimität des Aufrufs der Bourgeoisie zur Verteidigung ihrer Nation gegen den Islamofaschismus steht und fällt mit der Beantwortung der Frage, ob sich Hollande und seine ‚westlichen‘ Bündnispartner ihrerseits aus Assads und Putins Trickkiste bedienen werden, wenn sie sich im Krieg gegen den Islamischen Staat nicht nur mit Putin, sondern notfalls auch auch mit Assad meinen verbünden zu müssen. Damit würden sie zwangsläufig zu Komplicen der Konterrevolution in Syrien und zu Mitbeteiligten am verbrecherischen Krieg gegen die syrische Bevölkerung und dazu beitragen, daß diese auch weiterhin von russischen Langstreckenbombern und Cruise missiles bombardiert wird. Aber warum gerade Frankreich? Vielleicht darum, weil Putin und Assad mit Deutschland noch Bedeutenderes vorhaben? Der 13. November paßte jedenfalls ausgezeichnet zur Untermauerung von Putins in Wien vorgetragenen These, daß der Krieg gegen den Islamischen Staat nur Erfolg haben wird, wenn er zu seinen Bedingungen stattfindet – als drôle de guerre…


Das dazu passende traurige Nachspiel lieferte die deutsche Linke in der Debatte über die Beteiligung Deutschlands am Krieg gegen den Islamischen Staat. Mit ihrem Griff tief in die Kiste des Radikalpazifismus hat sie die Assadsche und Putinsche Dialektik um eine weitere Variante bereichert. [21] Denn wer wie die deutsche Linke jeden Krieg, also auch einen Verteidigungskrieg ablehnt, entzieht sich dadurch auch einer Stellungnahme zu dem politischen Charakter des jeweiligen Krieges und bestreitet für die darin Angegriffenen die legale Möglichkeit, sich gegen den Heiligen Krieg des Islamischen Staats, dem entscheidenden Mitspieler in dieser Dialektik, zu verteidigen, die Verteidigung der Arabischen Revolution gegen Putins und Assads Konterrevolution eingeschlossen. [22] Mit ihrem Radikalpazifismus hat sich die deutsche Linke endgültig als die politischen Spießgesellen dieser Mördergang qualifiziert und dafür den Boden bereitet, die Anwendung der bewährten Spielchen Assads und Putins mit dem IS nun auch in Deutschland eingeführt. [23]


Der Islamische Staat als Gegengift gegen die radikal-demokratische Arabische Revolution von 2011 wird nicht verhindern, daß der saudische ‚Zauberlehrling‘ von der von ihm geschaffenen salafistischen Kreatur früher oder später selbst aufgefressen werden wird. Die islamistische Flucht nach vorn gegen die unweigerlich weiter voranschreitende Verweltlichung der arabischen Gesellschaft und den wachsenden Einfluß des schiitischen Glaubens- und Erdölkonkurrenten findet als Gigantomachie zweier rückwärtsgewandter islamischer Revolutionen statt, die von den Geheimdiensten und den Armeen beider Seiten auf der Grundlage des sich in der Weltwirtschaftskrise in wachsendem Maße zusammenbrauenden Gangsterismus befeuert wird. Mit dem Islamischen Staat und dessen auf dem Gebiet des einstigen Arabischen Weltreichs  sich fortpflanzenden
islamofaschistischen Ablegern wird von den Saudis und den Golfstaaten ein Gegenfeuer gegen die drohende Übernahme des Irak und das durch Teheran, mit Rußland und China als Paten, am Leben erhaltene Assad-Regime entzündet, durch das die Arabische Revolution erstickt werden sollte. Der Islamische Staat hat sich mit äußerster Konsequenz von den Schwächen der Arabischen Revolution genährt und ist daran erstarkt. Er hat das Fehlen eines Konzepts für die soziale Revolution durch den demagogischen Rückgriff auf das arabische Frühmittelalter erfolgreich zu kompensieren gewußt. Seine rückwärtsgewandte Utopie ähnelt dem Germanenkult der Nazis bis aufs i-Tüpfelchen. Daher Islamofaschismus! Und daher kann die zivilisierte Menschheit (ein ziemlich unzulänglicher Begriff für die schon lange überfällige kapitalistische Produktionsweise) mit dem Islamofaschismus nicht in friedlicher Koexistenz zusammenleben, so wenig wie das seinerzeit mit dem deutschen Faschismus möglich gewesen ist. Punkt.

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[1] FAZ 17.11.2015 Liveblog: Der russische Geheimdienst FSB bestätigt die Explosion einer Bombe an Bord der russischen Urlaubsmaschine.
FAZ 18.11.2015 Putins Rache.
[2] Jürgen Roth: Verschlußakte S. Smolensk, MH17 und Putins Krieg in der Ukraine, München 2015.
[3] Seit Mitte September verstärkt Rußland sein Truppenaufkommen in Syrien.
NYT 15.09.2015 Russian Moves in Syria Widen Role in Mideast.
[4] Vgl. parteimarx.org BLogbuch 1 2015: „Charlie“, der Salafismus und wir Deutschen.
[5] Vgl. parteimarx.org BLogbuch 2 2010 Aus Anlaß des 9/11 – Rassenkrieg oder Klassenkampf.
[6] Die arabische Abkürzung Daesh bedeutet ins Englische übersetzt: Islamic State in Irak and Syria (ISIS), häufig auch Islamic State in Irak and in the Levante (ISIL) und auf Arabisch: ad-daula al-islamija fil-Iraq wa ash-Sham = der Staat des Islam im Irak und im Sham (als Ash-Sham wird ein Gebiet bezeichnet, das von der irakisch-syrischen Grenze bis zum Mittelmeer reicht). Was die Salafisten zu originären Faschisten macht, ist nicht allein der bei den Kolonialvölkern des Nahen Ostens und Nordafrikas anzutreffende Anti-Judaismus und sind nicht allein die seinerzeit engen politischen Kontakte des islamischen Klerus und der arabischen Handelsbourgeoisie zu Nazi-Deutschland als der Feind ihrer Feinde, Frankreich, England, USA. Hierbei wird der aus dem Konkurrenzverhältnis zwischen Arabern und Juden in der nahöstlichen Kolonialgesellschaft entspringende reaktionäre Anti-Judaismus einfach mit dem europäischen Antisemitismus gleichgesetzt. (Hamed Abdel-Samad: Der islamische Faschismus. Eine Analyse, München 2014). Die Gemeinsamkeiten des Salafismus mit dem deutschen Nationalsozialismus sind aber nicht nur historischer, sie sind vor allem ideologischer Natur. Beide Formen des Faschismus sind als Reaktion auf eine Revolution, der Oktoberrevolution und der Arabischen Revolution, d.h. als revolutionäre Konterrevolution aus ihnen jeweils hervorgegangen; beide betreiben die Konterrevolution mit revolutionären Mitteln und sozialen Versprechungen; dabei wird ihren Anhängern die Rückkehr zu früheren, längst untergegangenen Solidargemeinschaften als rückwärtsgewandte Utopie einer völkischen Gemeinschaft, der germanischen bzw. der frühislamischen, vorgegaukelt. Beiden revolutionären Konterrevolutionen ist schließlich gemeinsam, daß sie heute wie vor 80 Jahren als Antwort auf eine große Weltwirtschaftskrise entstanden sind und als deren Verursacher die Juden bzw. mit diesen zusammen auch alle Anders- und Ungläubigen verantwortlich machen und dies mit der Forderung verknüpfen, sie aus der Gesellschaft ausschließen und kollektiv zu eliminieren.
[7] FAZ 25.11.2015 Assad nach Den Haag. Das Abkommen von Dayton vor 20 Jahren – eine Blaupause für den Frieden in Syrien.
[8] Al Arabiya (English) 10.11. 2015 Syrian Army breaks ISIS siege of key airbase.
[9] Al Arabiya (English) 05.10.2015 NATO to Russia: Stop striking Syrian Opposition; Al Arabiya (English) 23.11.2015 SNC [Syrian National Coalition]: Russian airstrikes on ISIS doesn‘t go beyond 6% of its targets.
[10] Syrian National Coalition Newsletter 21.10.2015 FSA Commander: Russian Airstrikes failed to give Assad upper hand.

[11] BLogbuch 1 2012 Eine offene Antwort auf einen (ungenannt bleiben müssenden) (Zeit-) Genossen.
[12] Anfang November wurde bekannt, daß Widerstandsgruppen in Ghouta, einem Vorort von Damaskus, Angehörige der Alawiten, die gemeinhin als Sympathisanten und Nutznießer des Assad-Regimes gelten, in Käfige gesteckt und diese weit sichtbar auf öffentlichen Plätzen ausgestellt haben, um Assad und die russische Luftwaffe davon abzuhalten, die Bombardierung dieser Stadtteile fortzusetzen. Auf seiner Europareise rief der Präsident der Syrischen Nationalen Koalition die Widerstandsgruppen auf, derartige Verzweiflungstaten sofort einzustellen.
Syrian National Coalition Newsletter 07.11.2015: »The Syrian Coalition urges the Free Syrian Army and all rebel factions to respect international laws and abstain from illegal reactions despite how the Assad regime and all its allies commit of war crimes, genocide and crimes against humanity. … President Khoja also stresses the sanctity of Syrian human blood and respect of Syrians‘ dignity and their rights which have long been violated by the Assad regime with the support of his allies. He regrets the international community’s failure to put an end to these serious violations against the Syrian people.«
Siehe auch: FAZ 05.11.2015 Krieg der Käfige. Alawiten als menschliche Schutzschilde gebraucht.
[13] parteimarx.org BLogbuch 1 2011: Auswirkungen der Krise der kapitalistischen Produktionsweise auf die arabischen Länder und den Rest der Welt.
[14] FAZ 16.11.2015 Tausende, die Frankreich hassen. Sämtliche Terroristen, die in jüngster Zeit Anschläge geplant oder verübt haben, waren dem französischen Geheimdienst bekannt. Nach den Attentaten von Paris fordert die Opposition Erklärungen für die mangelhafte Überwachung radikalisierter Muslime im eigenen Land.
FAZ 17.11.2015 Gegen Terroristen und für Flüchtlinge; FAZ 16.11.2015 Worauf deutet der Waffenfund in Bayern?
Die türkische ‚Sicherheitsbehörden‘ haben, wie anläßlich des G 20 Gipfels in Antalya bekannt wurde, mehrfach vor dem 13. November auf einen der an dem Pariser Massaker beteiligen Islamisten, der sich in der Türkei aufhielt, hingewiesen, ohne eine Antwort aus Paris zu erhalten. Ebenso folgte auf den Zufallsfund von wahrscheinlich für Paris bestimmten Waffen bei einem bereits am 5. November auf der Autobahn in Bayern kontrollierten Waffenhändler aus Montenegro keinerlei Reaktion von seiten der französischen Behörden.
[15] FAZ 16.11.2015 Ehrgeiziger Plan. Die Anschläge von Paris haben zum positiven Ergebnis der Syrien-Konferenz beigetragen.
[16] FAZ 24.11.2015 An der türkischen Grenze; FAZ 24.11.2015 Bitte draußen bleiben!. Kurswechsel in Ankaras Flüchtlingspolitik?
[17] Vgl. EINspruch 15.10.2015.
[18] FAZ 06.11.2015 Regime verdient an Entführungen. Zehntausende Zivilisten in Syrien seit 2011 verschwunden.
BLogbuch 1 2014 Revolution und Konterrevolution in Europa.
[19] FAZ 01.10.2015 Assads blutige Herrschaft. Ein Syrer stemmt sich gegen das Vergessen. Siehe auch: www.n-tv.de/politik/Frankreich-ermittelt-gegen-Assad-article16039536.html
[20] Laut einer Reuters-Meldung vom 24.11.2015 durchsuchte eine Antiterror-Einheit in Arigat in den Pyrenäen das Anwesen des “weißen Emirs“, der als Sponsor früherer islamistischer Anschläge verdächtigt worden war und der Kontakt zu den Pariser Salafisten gehabt haben soll.
[21] Assads Dialektik gleicht einem Nullsummenspiel, bei dem keine der einander bekämpfenden Seiten, sondern derjenige gewinnt, der das Spiel veranstaltet. In dieser Dialektik gibt es auch keine Aufhebung der Gegensätze, weil diese bereits vor Spielbeginn erfolgt ist.
[22] FAZ 26.11.20
15: Von Splittern und Balken; FAZ 26.11.2015: Merkel: Wir stehen solidarisch an der Seite Frankreichs.
Aus den Debatten über den Bundeswehreinsatz gegen den Islamischen Staat in Syrien wird der Abgeordnete der Partei Die Linke Dietmar Bartsch mit den Aussprüchen zitiert:
»Terror bekämpft man nicht mit Krieg. Es gibt keine militärische Lösung für den Kampf gegen den Terror«, und »Jeder im Bombenhagel getötete Zivilist bringt gegebenenfalls zehn neue Selbstmordattentäter hervor.« Will Bartsch vor einer möglichen Enthauptung als Ungläubiger mit den Islamofaschisten über die Rettung seines Kopfes in Verhandlung treten? Oder im Stil Assads den erwarteten Angriff des IS auf andere lenken? Und wer wäre das dann? Als Radikalpazifist sollte er, wenn er konsequent wäre, dem IS dann auch gleich die andere Wange hinhalten! Dieselbe Argumentation wurde von Sarah Wagenknecht im Bundestag am Tag der Abstimmung vorgetragen, die sonst eher militanteren Ansichten zuneigt; ein geschickter Schachzug, an dem unverkennbar der Schattenfraktionsvorsitzende Gysi zu erkennen ist.
[23] In Interviews hat Assad mehrfach zu erkennen gegeben, daß sich ‚der Westen‘ nicht zu sicher fühlen sollte. In einem von Al Jazeera wiedergegebenen Interview (Al Jazeera
English vom 15.09.2015) mit einem russischen Presseorgan erklärt Assad: »If you are worried about them [refugees], stop supporting terrorists,“ he said.« Klarer kann man sich nicht ausdrücken, wenn jeder weiß, welcher Art „Terroristen“ damit gemeint sind. In einem Interview mit einer iranischen Zeitung (wiedergegeben von der Syrischen Presseagentur SANA vom 06.10.2015), wird Assad noch konkreter. Auf die Frage, welche Botschaften er an die Staaten richten würde, die den Terrorismus unterstützen, ist seine Antwort, daß der Terrorismus zu ihnen kommen werde. Früher sei das eine Drohung gewesen, heute sei es in den europäischen Ländern eine Realität: »It is known that a large number of terrorists have infiltrated those immigrants, and now they are in those European countries.« Man könne nun mal keinen Skorpion in die Tasche stecken. Sie (die Europäer) werden das eines Tages einsehen.

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08.10.2015 »

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Nun hat Rußlands Präsident Putin ‚den Westen‘ in der Zwickmühle: Was immer dieser auch tut, wie und wohin er sich bewegt, Obama wird auch den nächsten Stein im Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten und Europa verlieren – und Putin ist wieder am Zug…

Dieses Dilemma besteht spätestens seit dem Herbst 2013, [1] als die ‚westliche‘ Hegemonialmacht hatte einräumen müssen, daß die in Obamas Kairoer Rede den arabischen Völkern eröffneten demokratischen Perspektiven für den Nahen Osten leere Worthülsen geblieben sind. [2] Denn in jenen Septembertagen vor 2 Jahren mußte sich Obama entscheiden, ob der Einsatz von Massenvernichtungswaffen, schon deren vermutetes pures Vorhandensein von seinem Vorgänger als Vorwand für den Einmarsch in den Irak gereicht hatte (vermutlich befanden sie sich längst wieder in Rußland!), nun, da solche Waffen von Bashar al Assad (angeblich waren es Terroristen) gegen die syrische Zivilbevölkerung in einem Vorort von Damaskus eingesetzt worden waren, die USA unter Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta zu einem Gegenangriff hätten veranlassen müssen. [3] Stattdessen wurde die von Obama zuvor großspurig gezogene ‚red line‘ (bis hierhin und nicht weiter!) wieder weggewischt und die Position des demokratischen Weltschiedsrichters kleinlaut geräumt. Assad, der Völkermörder von Ghouta, einem Vorort von Damaskus als Ort des Verbrechens, mußte in den nun folgenden Genfer ‚Friedensverhandlungen‘ (‚Frieden‘ mit einem Kriegsverbrecher, der wie Milosevic auf die Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs gehört hätte!) nur ‚standhaft‘ bleiben, dann würden der Iran und Rußland und im Hintergrund China ihn schon gemeinsam (politisch und diplomatisch) raushauen.


Aber die friedlich erscheinende Szenerie eines eingefrorenen Konflikts zwischen den Weltmächten mit seinen routinemäßigen Wasserstandsmeldungen über neue ‚Opfer‘ im sog. ‚syrischen Bürgerkrieg‘, an deren reales Vorhandensein zu glauben sich die Weltöffentlichkeit (zumindest die ‚westliche‘) seitdem gewöhnt hatte (alles wird gut!), hat sich mit dem direkten
Einsatz russischer Streitkräfte in Syrien auf einmal schlagartig verändert und den Krieg Assads gegen die Bevölkerung in Syrien in einen Krieg Rußlands und seiner Verbündeten (Iran und China) gegen den ‚Westen‘ um Syrien , verwandelt. Rußlands Behauptung, seine jetzigen Angriffe seien hauptsächlich gegen den ‚Islamischen Staat in Syrien und dem Irak‘ (Daesh) gerichtet, erweist sich vom ersten Tag an als Propagandalüge. In Wahrheit haben die russischen Kampfjets die über das Land verstreuten Widerstandsgruppen gegen das Assad-Regime im Visier. [4] Der Chef der Syrischen Nationalen Koalition (SNC), Khoja, schreibt in einem Offenen Brief an die Arabische Liga, Rußland wolle ausgehend von seinen Militärbasen in Latakia, Hama und Tartus einen Bevölkerungsaustausch und letztlich die Zerstückelung des Landes vornehmen. Das Assad-Regime habe jegliche Legitimation verloren und werde auch durch die Hilfe eines fremden Aggressors nicht vor seinem Sturz durch das syrische Volk gerettet werden können. [5]


Die amerikanische Bourgeoisie beruft sich bekanntlich auf das bürgerliche Recht und die amerikanische Verfassung so auch deshalb, um die Zirkulationsbedingungen für das (amerikanische) Kapital auf dem Weltmarkt zu verbessern und dessen Zirkulationsgeschwindigkeit zu erhöhen. Dabei beschwört sie den demokratischen Internationalismus zwischen den demokratischen Staaten, dessen Wirksamkeit allerdings begrenzt ist, da sie nicht bereit ist, diesen auch in ihrem unmittelbaren Einflußbereich (Stichwort: Monroe-Doktrin) zu akzeptieren, wodurch man sich nur zusätzliche Konkurrenten auf dem Weltmarkt heranzüchtet. Hier liegt bürgerliche Moral im ständigen
Clinch mit der bürgerlichen Konkurrenz.


Außerdem unterstützt die amerikanische Bourgeoisie gemeinsam mit ihren europäischen Klassenbrüdern demokratische Revolutionen im Einflußbereich der dem ‚Westen‘ feindlich gesonnenen oligarchischen Bourgeoisien Rußlands und Chinas, die (so wie früher ‚die Deutschen‘, später ‚die Kommunisten‘), begleitet von anti-amerikanischer und anti-‘westlicher‘ Propaganda, heute ebenfalls Anspruch auf das Weltmarktmonopol erheben. Der ‚östliche‘ Anti-Kapitalismus und ‚Anti-Imperialismus‘, auf den die ‚westliche‘ Linke allzu gerne hereinfällt, steht im krassen Widerspruch zu dem von den ‚östlichen‘ Bourgeoisien gepflegten staatsterroristischen Regierungsstil, dessen Ablösung von den darunter leidenden Völkern gefordert wird. Daher sind allen oligarchischen Regimes, so auch demjenigen Putins und Assads, die ‚bunten‘ (demokratischen) Revolutionen in ihren Ländern ein Graus, die doch nur darauf hinauslaufen, für den ‚Westen‘ verbesserte Investitionsbedingungen in einem ihnen feindlichen Einflußbereich zu schaffen. Was in der Sache nicht ganz falsch ist, wobei sich aber die Frage stellt, ob denn der demokratisch verfaßte ‚westliche‘ Kapitalismus für die Masse der unmittelbaren Produzenten nicht schon unerträglich genug ist.


Die ‚bunten‘ Revolutionen gehen auf die demokratischen Revolutionen im sog. Hinterhof der ehemaligen Sowjetunion (einschließlich der DDR) in den 90er Jahren zurück. [6] Als deren demokratisch gewählte bürgerliche Regierungen noch damit beschäftigt waren, den Scherbenhaufen zusammenzukehren, den der Reale Sozialismus nach dem sog. ‚Zivilisationsbruch‘ (wohl eher einem Zivilisationszusammenbruch) dort hinterlassen hatte, waren in Rußland die Silowiki (d.h. die ‚der Zukunft zugewandten‘ Seilschaften aus Armee, Geheimdiensten und Partei) bereits längst wieder politisch am Drücker, um (durch manipulierte Wahlen) die Macht im Staat und das Kommando über die zusammengebrochene Sowjet-Wirtschaft zurückzuerobern. Das Putin-Regime will, wie die ‚Rückkehr‘ der von Armee und Geheimdiensten gesponserten Gangsterbanden auf die Krim und in den Donbass zeigt, damit der ‚westlichen‘ Welt signalisieren, daß Rußland auf dem Weg ist, seine altgewohnte welthegemoniale Stellung wieder einzunehmen.


Die im Frühling 2011 in den nordafrikanischen Staaten und dem Nahen Osten ausgebrochene
Arabische Revolution, [7] die im Widerstand gegen das Assad-Regime ihren Kulminationspunkt erreichte, war beides: bunt und antiwestlich, demokratisch und antiimperialistisch. Es war ihr aber, wie sich in Ägypten gezeigt hat, verwehrt, die nach dem Sturz ihres orientalischen Despoten begonnene demokratische Revolution durch eine soziale Revolution auf der Grundlage einer proletarischen Kulturrevolution fortzusetzen, woran vor allem die an ihr beteiligte anti-oligarchische Bourgeoisie von sich aus kein Interesse hatte. Zumal die industriellen Proletarier, soweit es sie überhaupt gibt, in diesen Ländern überwiegend Frauen sind. Wie notwendig daher eine proletarische Kulturrevolution ist, zeigten die Gruppenvergewaltigungen von Frauen, die es gewagt hatten, ohne Schleier und Kopftuch an den Anti-Mursi-Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz teilzunehmen, verübt von Typen aus dem Lumpenproletariat, die auch die Masse der Pro-Mursi-Demonstranten gestellt haben. Hier prallten islamistische und proletarische Kulturrevolution unvermittelt aufeinander, dessen fernes Echo noch bis in die deutschen Flüchtlingsunterkünfte zu vernehmen ist.


Das Zurückweichen vor der Revolution in Permanenz hatten sich die Islamisten in Ägypten, Tunesien und schließlich auch in Syrien (mit Unterstützung der Golfstaaten, Saudi-Arabiens und der Türkei) zunutze gemacht und versucht, die Arabische Revolution durch eine vom Lumpenproletariat getragene ‚soziale‘ Konterrevolution zu kapern und schließlich zu kippen. (Nur in Tunesien gelang es, die Islamisten einfach abzuwählen, während ihre Regierung in Ägypten von der politisch verjüngten Militärkaste, als ‚Hüterin‘ über die ägyptischen Staatsunternehmen, gestürzt wurden.) Den medienwirksamsten Hype der islamistischen Konterrevolution bildet das Wirken von Daesh mit seinen für face book produzierten für perverse Voyeure im Netz höchst unterhaltsamen Halsabscheiderspektakeln. Die unmittelbaren Vorläufer dieser unter dem Kommando ehemaliger Geheimdienstler Saddam Husseins operierenden religiös verkleideten politischen Gangster waren übrigens die ‚Geister‘ des Damaszener Lumpenproletariats (
shabbiha), die zu Beginn der Syrischen Revolution von Assads Geheimdiensten gezielt gegen Demonstrationen eingesetzt wurden, bevor seine Scharfschützen die Bewegung auf den Straßen ‚gefährdeter‘ Stadtteile beherrschten. [8]


In Syrien hatte seit Ende der 90er Jahre in der Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes durch den Sohn des im Juni 2000 gestorbenen Diktators Hafez al Assad ‚der Westen‘ versucht, das von einer großen
Dürre heimgesuchte Land unter Bashar al Assad schrittweise der EU anzunähern und seinem russischen Paten zu entfremden. Aber Syrien exportierte außer der Außenpolitik, das »beste Produkt, das Syrien exportiert hat«, [9] (und den ‚Standhaftigkeit‘spredigten an die ‚arabischen Brüder‘ dem zionistischen Projekt Israel gegenüber), sowie syrischen ‚Gastarbeitern‘ nach Ägypten und in die Golfstaaten, nur Produkte, von denen die EU wegen des bereits vorhandenen großen Angebots aus den anderen Mittelmeeranrainern bereits überquoll, [10] während das wenige Erdöl im Lande selbst verbraucht wurde (bzw. heute von Daesh über die Türkei wohin auch immer exportiert wird). Die große Hoffnung von Teilen der Intelligenzija und der akademischen Jugend, der in England ausgebildete Sohn des syrischen Diktators werde das Land schrittweise modernisieren und demokratisieren (eine vergebliche Hoffnung, von der mancher syrische (linke) Intellektuelle inzwischen geheilt wurde, andere Linke Hofnarren jedoch nicht), zerschlug sich spätestens mit dem Ausbruch der Arabischen Revolution im Frühjahr 2011, die, so Assad in Interviews mit westlichen Medien, in Syrien keinen Nährboden finden werde. Denn politische Reformen seien zwar wichtig, aber nicht so wichtig, als daß die Leute diesen nicht die Segnungen des Sozialstaats vorzögen. »That is what they want. I want to feel safe in my country. That is my goal.« [11] Daher könne er sich nicht vorstellen, warum jemand, um seine politische Meinung kundzutun, auf die Straße gehe. Dazu habe man doch ein Parlament. Und daher ist Assad der festen Meinung, was ihm nicht Wenige in seiner europäischen Linken Fangemeinde abzunehmen scheinen, daß jeder, der gegen das Regime demonstriert, nur ein ‚Terrorist‘ sein könne. [12] Diesen tollen Rollentausch hat nun auch Putin übernommen, um die Angriffe russischer Flugzeuge auf Positionen von Gruppen der Syrischen Revolution als Angriffe gegen Daesh darzustellen.


Und ist das angesichts der taktischen Erfolge der Halsabschneidertruppe von Daesh denn allzu falsch? Nach der Putinschen Logik und der darin verstrickten westlichen Linken jedenfalls nicht! Nach dem
Sturz der irakischen Bruder-Partei durch die USA im Juni 2003 war das syrische Baath-Regime zum letzten Leuchtturm des (Arabischen Sozialismus und des) einst mächtigen großrussischen Sozialimperialismus im Nahen Osten geworden. Wenn man Putins Spruch vom Zerfall des Stalinschen Imperiums als größter Tragödie des 20. Jahrhunderts [13] nach der Rückkehr von Teilen Georgiens und der Ukraine ins Großrussische Reich nun endgültig auch auf das Verhältnis des Putin-Regimes zum Nahen Osten übertragen kann (was wegen des russischen Marinestützpunkts an der syrischen Mittelmeerküste in Tartus inzwischen mehr als naheliegt), dann mußte Putin auch hier irgendwann einen Punkt setzen, um zu verhindern, daß weitere ‚bunte‘ Revolutionen, durch welche die einstige sozialistische Weltmacht auf die Größe des Zarenreiches in der Zeit Katharinas II. im 18. Jahrhundert geschrumpft worden war, nicht auch noch in Syrien zum Zuge kämen, selbst wenn Assad dabei über Leichen geht (inzwischen über 250.000) und mehrere Millionen innersyrischer und arabischer Binnenflüchtlinge produziert hat.


Da trifft es sich gut, wenn Putin voller innerer Anteilnahme beobachten darf, daß nicht wenige von ihnen mit tätiger Nachhilfe der türkischen Behörden und nachdem seit dem Kuhhandel des ‚Westens‘ und Rußlands mit der (künftigen) Atommacht Iran jede Hoffnung auf den Sturz Assads in weite Ferne gerückt zu sein scheint, seit dem Spätsommer 2015 plötzlich wie die Lemminge nach Mitteleuropa strömen, um in dessen reichsten Ländern Schutz zu suchen und diese in ein großes Flüchtlingslager zu verwandeln. Wie eigentlich jedem klardenkenden Europäer, der vor lauter
Refugees Welcome Gejauchze noch nicht den Verstand verloren hat, klar sein muß, sind mit der Aufhebung der Souveränität dieser Bananenrepublik Deutschland Konflikte vorprogrammiert, die diese Gesellschaft auf eine Weise tangieren werden, wovon ein professioneller KGB-Mann vom Schlage Putins bisher nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hat ausgehen können. [14] Auch diese innerdeutsche Zwickmühle, in der sich in der ‚Flüchtlingskrise‘ Rassisten und Antirassisten, Faschisten und Antifaschisten austoben dürfen, die aber beide einander gesucht und gefunden haben, weil sie jeweils Hilfe suchend nach Moskau starren, läßt sich diese je nach Belieben auf- und zu ziehen – und bei jedem Zug wird es Merkels Deutschland-Politik ein kleines Stück weiter in Richtung Abgrund „geschafft“ haben.


In seinem Buch über die Ursachen des Absturzes der polnischen Militärmaschine mit der Führungselite Polens an Bord, die in Katyn gemeinsam mit Putin der Ermordung tausender polnischer Offiziere durch die Stalinsche GPU gedenken wollte, kommt der Autor nach umfangreichen Recherchen und bohrenden Selbstzweifeln, ob er hier nicht vielleicht einer Verschwörungstheorie aufsitzen werde, (worin er vom deutschen Geheimdienst freundlichst unterstützt wurde), zu keinem endgültigen Schluß. Am interessanten ist aber die vom Autor bei seiner Recherche gemachte Erfahrung, daß die polnische Regierung alles vermieden hat, was der Beweisführung dienlich gewesen wäre, daß es sich hier um ein Attentat gehandelt habe. Warum? Ganz einfach: Rußland ist eine Atommacht und eine Nicht-Atommacht kann dieser auch bei der erdrückendsten Beweislage für einen staatlich verübten verbrecherischen Anschlag auf polnische Staatsbürger nun einmal nicht den Krieg erklären. [15] Ähnlich wird man sich das Schweigen der niederländischen Regierung nach dem Abschuß der MH17 über der Ostukraine erklären müssen, deren Fluggäste mehrheitlich holländischer Nationalität waren. Auch hier scheinen erdrückende Beweise vorzuliegen, daß es sich um einen Abschuß durch russische Lenkraketen, bedient von russischen Militärs, gehandelt haben wird. Was wäre daraus zu schließen? Europa steht, wie am syrischen Beispiel hinreichend klar wird, Politikern einer immer entschlossener agierenden aggressiven Möchtegern-Hegemonialmacht gegenüber, die sich wegen ihrer zunehmenden Unberechenbarkeit sogar von denjenigen der Sowjetunion aus der Zeit des Kalten Kriegs unterscheidet. Dieser gewesene KGB-Offizier entlarvt sich immer mehr als politischer Abenteurer so wie Hitler einer war. Putin minus Stalin gleich Hitler?


Es war immer schon, nicht zuletzt aus geographischen Gründen eine starke Übertreibung, wenn Deutschland am Hindukusch verteidigt werden sollte und wohl eher ein auf eine bestimmte Symbolwirkung berechnetes Ablenkungsmanöver gewesen. Wer aber eines endgültigen Beweises bedurfte, wie eng Putins Krieg in der Ukraine und mit dem in Syrien zusammenhängt, den wird die Zeitungsmeldung nicht mehr überrascht haben, daß, wie ein ein Militärberater Präsident Putins jetzt verlauten ließ,
»Russen mit Kampferfahrung aus der Ostukraine für das syrische Regime kämpfen könnten«. [16] Heute melden FAZ und WELT, daß Ziele in Syrien nun auch von Kriegsschiffen im Kaspischen Meer aus angegriffen werden. Was die Verteidigung Syriens gegen den von Assad und Daesh einvernehmlich mit verteilten Rollen betriebenen Völkermord betrifft, ist es also inzwischen keine Übertreibung mehr zu behaupten, daß in Syrien (in doppelter Bedeutung) die zukünftige politische Existenz Deutschlands auf dem Spiel steht.


Die Frage, ob für den Ernstfall auf den die Bahamas noch ein Plätzchen für über 80 Millionen Deutsche plus 1 Million syrischer Flüchtlinge frei wäre, läßt sich aber bereits jetzt eindeutig beantworten.


-euk

[1] BLogbuch 1 2014.
[2] Obama am 03.06.2009 in der Al Azhar Universität in Kairo. http://www.wz-newsline.de/home/politik/barack-obamas-kairo-rede-in-deutscher-ueberrsetzung-1.128921
[3] BLogbuch 1 2014.
[4] FAZ 01.10.:
Rußland fliegt Angriffe in Syrien.
[5]
Syrian Coalition‘s daily news vom 03.10.
[6] BLogbuch 1 2013.
[7] Siehe BLogbuch 1 2011 und 1 2012 zu Entstehung und Verlauf und dem Verhältnis der Linken zur arabischen Revolution.
[8] Zu der Rolle ehemaligen Geheimdienstoffiziere Saddam Husseins beim Aufbau von Daesh vgl. Christoph Reuter: Die Schwarze Macht. Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors, München 2015. In diesem höchst informativen auf eigener Anschauung basierenden Buch bringt d.A. es allerdings fertig, Rußlands Einflußnahme auf die syrischen Verhältnisse mit keinem Wort zu erwähnen, was mehr als erstaunlich ist. Zu den shabbiha als mafiose Einsatzgruppe für den Assad-Clan siehe
Carsten Wieland: Syria A Decade of Lost Chances. Repression and Revolution from Damascus Spring to Arab Spring, Seattle 2012, 35ff.
[9]
Carsten Wieland: Syrien nach dem Irakkrieg. Bastion gegen die Islamisten oder Staat vor dem Kollaps? Berlin 2004, 78.
[10]
Anja Zorob: Syrien im Spannungsfeld zwischen der Euro-Mediterranen Partnerschaft und der Großen Arabischen Freihandelszone, Göttingen 2005.
[11] Wallstreet Journal 31.01.2012
Interview With Syrian President Bashar al-Assad.
[12] FAZ 17.06.2013 In diesem Interview bezeichnet Assad die Jagd auf Terroristen als seine Hauptaufgabe. Diese hätten sich sogar unter die Demonstranten gemischt, um auf Polizisten zu schießen:
»Manchmal waren sie auf Plätzen unweit der Demonstration, und von dort schossen sie auf Demonstranten [!] und Polizisten, damit man annimmt, die eine Seite habe auf die andere das Feuer eröffnet.« Eine überaus interessante Konstellation, auf die für gewöhnlich nur gut ausgebildete Profis kommen. Wessen Profis, ist dann eigentlich gleichgültig.
[13] Vgl. zuletzt das Interview in CBS News vom 27.09. mit Putin: »I indeed said that I believe that the collapse of the USSR was a huge tragedy of the 20
th century.«
[14] Auf die Frage des Interviewers, ob auf Putin immer noch das Sprichwort zutreffe,
»Once a KGB man, always a KGB man«, antwortet dieser: Wenn mit der Frage gemeint sein sollte, daß alles »that we do, all this knowledge we acquire, all the experience we‘ll have for ever and we‘ll keep that«, und er diese irgendwann einsetzen werden, dann sei das zutreffend.
[15]
Jürgen Roth: Verschlußakte S… Smolensk, MH 17 und Putins Krieg in der Ukraine, Berlin 2015.
[16] SZ 07.10.

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Einige Überlegungen zur gemeinsamen Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff (Entwurf) »

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Anfang Juli 2015 trafen sich mehrere mit der parteiMarx korrespondierende Blogger in Weimar, um Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit zu erkunden. Als Diskussionsgrundlage war das unten wiedergegebene Papier eingereicht worden, das im Ergebnis der Debatte nun auf den Web Sites der Diskussionsteilnehmer gepostet worden ist.


Die gemeinsame Veröffentlichung dieses Papiers ist der erste Schritt zur weiteren konkreten Zusammenarbeit. Es wird auch überlegt, eine Mailing Liste einzurichten, über die Papers und Infos herumgeschickt werden können. Ein solches elektronisches Hilfsmittel macht allerdings nur dann Sinn, wenn der angestrebte Austausch auf ein konkretes Ziel hin erfolgen soll. Als Zielbestimmung wird, in Anlehnung an das 1846 von Marx, Engels u.a. in Brüssel gegründete Kommunistische Korrespondenz Komitee, die Einrichtung eines Kommunistischen Korrespondenz Blogs vorgeschlagen.


Der Kommunistische Korrespondenz Blog wendet sich an die unmittelbaren Produzenten des Weltproletariats, die in Deutschland zwar keine revolutionäre Klasse mehr bilden, die aber in näherer Zukunft vielleicht eine wichtige Rolle innerhalb des internationalen Proletariats spielen werden. Eine Avantgarde, wie im 19. Jahrhundert die französische und deutsche und im 20. Jahrhundert die russische Arbeiterklasse, ist jedoch auch außerhalb Deutschlands nirgendwo zu erblicken. Die nach dem ‚Zivilisationsbruch‘ Ende der 80er Jahre (d.h. dem Bruch der Völker Osteuropas mit dem großrussischen Sozialimperialismus) heute noch aktiven Reste ‚traditionalistischer‘ KPs sind schlichtweg zu Organen russisch-chinesischer anti-westlicher Außenpolitik degeneriert, mit denen die ‚eurokommunistische‘ Linke (Syriza, Podemos, Corbyn‘s Old Labour und die sozialdemokratische Fraktion Der Linken) zwar kollaborieren, aber nicht in jedem Fall (siehe Abspaltung der Drachme-Fraktion von Syriza) auch kooperieren wird.


Angesichts der seit 2007 herrschenden Weltwirtschaftskrise befindet sich die Weltbourgeoisie auf der Suche nach einem (nationalen oder realen) »Bourgeoissozialismus« (siehe Manifest der Kommunistischen Partei), der den Wunsch eines Teils der Bourgeoisie verkörpert, »den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern«. Dazu gehören, vor 160 Jahren nicht weniger als heute, »Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art«; hinzugekommen sind nun auch die Marxisten, die die bürgerliche Gesellschaft vor dem Mahlstrom dieser Krise retten wollen. (In der marxistischen Zeitschrift PROKLA (175,176) besetzt man reumütig wieder Begriffe wie Proletariat oder Klassenkampf mit einer positiven Konnotation).


Da das Projekt eines Kommunistischen Korrespondenz Blogs heute unmittelbar mit dem Marxismus konfrontiert ist, besteht seine Hauptaufgabe darin, den Klassenkampf des 21. Jahrhunderts gegen den Marxismus als dem modernsten Ausdruck des Bourgeoissozialismus auf seinen Begriff zu bringen, den politischen Begriff der Marxschen Partei.

1
Unsere künftige gemeinsame Arbeit sollte in Stil und Umfang der Kooperation der verblichenen Marx-Gesellschaft ähneln, sich von dieser aber grundsätzlich darin unterscheiden, daß sie den dort üblich gewesenen allseits gehüteten akademischen Konsens politisch durchbricht.

2
Sie sollte theoretischer Natur sein, ohne akademisch zu werden. Theoretisch in einem von vornherein politisch sich einmischenden Sinn, also in etwa das beinhalten, was der Marx-Gesellschaft grundsätzlich abging (abgehen mußte?).

3
Sie sollte dem Klassenkampf ein theoretisches Forum verschaffen, ohne in die Stereotypen der Pseudo-Klassenkämpfer zu verfallen und es ermöglichen, daß alle Beteiligten daraus ihre eigenen wenn möglich gemeinsamen politischen Schlußfolgerungen ziehen können, ohne dabei die üblichen und altbekannten Kampagnen-Mechanismen zu übernehmen oder diese sich aufdrängen zu lassen.

4
Ein theoretisches Forum des Klassenkampfes ist im Gegensatz zu akademischen Foren ein von vornherein politisches Forum, dessen politische essentials sich im Zuge der gemeinsamen Praxis und der weiteren Arbeit am Begriff des Klassenkampfes herauskristallisieren werden. Dieses Forum sollte an der Herausarbeitung seines Begriffs orientiert sein. und nicht an der wissenschaftlichen Profilierung von Personen. Und zwar auf Grundlage der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, der Analyse der Klassenkämpfe ihrer Zeit durch die Marxsche Partei und der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der Untersuchung der seitdem stattgefundenen Klassenkämpfe mit diesen Analysen.

5
Der akademische oder akademisch gewordene Marxismus hat sich bestenfalls als kaum mehr denn als Korrektiv zu den im Realen Sozialismus angeblich nicht richtig aufgefaßten und korrekt angewendeten Theorien des Marxismus (-Leninismus) verstanden. Sein Hauptfehler bestand darin, sich nicht selbst als den eigentlichen Fehler zu begreifen. Der heutige Marxismus ist eine Herrschaftswissenschaft, die sich nicht von anderen Herrschaftswissenschaften, seien es Philosophien, Religionen und Weltanschauungen, unterscheidet, die geschaffen wurden, um im Vorfeld der Klassenkämpfe Bourgeoisie und Proletariat politisch zu versöhnen und dieses in Sicherheit zu wiegen, solange wie jene nicht gezwungen ist, ihre eigne Sicherheit verteidigen und gewaltsam (wieder)herstellen zu müssen. Der Bruch mit dem Humanismus und der Aufklärung, die als Formen der Klassen-Philanthropie den Übergang zum Marxismus als neuer Herrschaftswissenschaft markieren, ist eine weitere Voraussetzung für die Arbeit am Begriff des Klassenkampfes, um diese Arbeit nicht selbst zur Hilfsarbeit für die neue Herrschaftswissenschaft degenerieren zu lassen.

6
Der heutige Marxismus ist bestrebt, die Klassenkämpfe der Vergangenheit im Lichte der von der marxistischen Herrschaftswissenschaft erleuchteten Interpretation dieser Ereignisse darzustellen und sie dadurch ihres revolutionären Inhalts zu berauben bzw. ihren konterrevolutionären Charakter zu verschleiern. Die Rekonstruktion der seit der Zeit von Marx und Engels stattgefundenen Klassenkämpfe erweist sich in Deutschland aber schon deshalb als besonders schwierig, weil hier für mehrere Jahrzehnte ein marxistischer und ein kapitalistischer Staat friedlich nebeneinander koexistiert haben und jede revolutionäre Bewegung von vornherein von bestimmten Formen und Denkweisen des Marxismus und den Auswirkungen seiner realsozialistischen Staats- und Gesellschaftsdoktrin auf den westlichen Marxismus durchtränkt war. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, der 2. Juni 1967 einerseits Ausgangspunkt einer neuen revolutionären Bewegung in Europa, er war aber von seiten der Stasi als Provokation zwecks Destabilisierung der ‚Frontstadt‘ West-Berlin zugleich mit dem Aufbau einer ‚revolutionär‘ getarnten ‚Untergrundbewegung‘ aus Kadern der SED verknüpft gewesen. Beide Momente in ihrer Wechselwirkung aufeinander und in ihrem historischen Kontext zu analysieren, wäre für einen heutigen Marxisten mit Sicherheit zu viel verlangt, weil dadurch der Charakter des Marxismus als moderner Herrschaftswissenschaft gesprengt werden müßte. Die Analyse des politischen Charakters der ‚Studentenbewegung‘ als revolutionäre Bewegung mit dem Ziel der Vollendung der niedergeschlagenen Revolution von 1848 und des Kampfes gegen den deutschen Faschismus als Testamentsvollstrecker und Vollender der Konterrevolution der preußischen Reaktion, ist im Sinne der von Marx und Engels analysierten Klassenkämpfe und nur dann möglich, wenn sie zugleich gegen den Marxismus als neuer Herrschaftswissenschaft und seine Interpretation dieser Ereignisse gerichtet ist.

7
Der heutige Marxismus leugnet die Eigenarten und Besonderheiten der revolutionären Bewegungen auf der Welt, mit denen er sich nur soweit solidarisch erklärt, wie diese den Weltherrschaftsbestrebungen des Neuen Zarentums und der anti-kapitalistischen Weltmächte nicht im Wege stehen. Ihre ‚Revolutionen‘ sollen den Neuen Bourgeoisien der Dritten Welt den Weg ebnen, um ihre eigenen Völker unterdrücken und sich der anti-kapitalistischen Front gegen ‚den Westen‘ anschließen zu können.

8
Die gegenwärtig stattfindende Weltwirtschaftskrise hat all diese Widersprüche und Konstellationen mächtig durcheinandergewirbelt. Die Arbeit am Klassenkampf und seinem Begriff ähnelt daher eher der Operation am offenen Herzen als einer Vorlesung über die Anatomie früherer Klassenkämpfe.

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01.07.2015 »

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Für den 19. Juni melden die Nachrichtenagenturen, daß der griechische Ministerpräsident Alexander Tsipras anläßlich seines Besuchs des Wirtschaftsforums in St. Petersburg [1] am Denkmal von Ioannis Kapodistrias einen Blumenstrauß niedergelegt und sich dabei mit in Rußland lebenden Griechen hat ablichten lassen. [2]

Wer war dieser Kapodistrias? Und welche Verdienste haben ihm die Ehre verschafft, in St. Petersburg ein Denkmal errichtet zu bekommen?

Ionnis Kapodistrias war während der Regierungszeit Alexander I. politischer Berater und zeitweise Außenminister des russischen Zaren. Er hatte, wie Friedrich Engels 1890 schrieb, [3] jenem »Jesuitenorden« der russischen Diplomatie angehört, der »ursprünglich und vorzugsweise aus Fremden, Korsen wie Pozzo di Borgo, Deutschen wie Nesselrode, Ostseedeutschen wie Lieven« rekrutiert wurde, die wie die Stifterin dieses Ordens, Katharina II, in Rußland auch Fremde waren. [4]

Was aber veranlaßt einen erklärtermaßen linken griechischen Politiker heute dazu, dieses griechischen Diplomaten in russischen Diensten öffentlichkeitswirksam zu gedenken? Wie wir die Regierung Tsipras inzwischen kennengelernt haben, vermutlich dies, daß diese politischen Berater des Zaren die ihnen verliehene Machtstellung und ihren Einfluß, wie Engels schreibt, auch dazu verwendet haben, sich an den Befreiungskämpfen gegen die fremden Unterdrücker ihrer Heimatländer zu beteiligen oder gar wie Kapodistrias sich an deren Spitze zu stellen. Diese Unterdrücker waren in Griechenland wie auch auf der übrigen Balkanhalbinsel die Osmanen, die gleichzeitig den Weltherrschaftsambitionen Alexanders I. im Wege standen. Denn wer den Bosporus beherrschte, kontrollierte auch den Weg des russischen Getreides nach Westeuropa und die Durchfahrt russischer Kriegsschiffe ins östliche Mittelmeer. Das war damals nicht anders als es dies heute immer noch ist.

Nach dem Ausbruch des Griechischen Aufstands (1822-1832) quittierte Kapodistrias seinen Dienst, um den Aufstand zu unterstützen und sich schließlich an dessen Spitze zu stellen, worüber Alexander I. nicht besonders traurig gewesen sein wird. 1827 wurde Kapodistrias Präsident in der auf dem Peloponnes gebildeten provisorischen Regierung und noch vor der Niederschlagung des Aufstandes durch die Osmanen von dem Anführer eines rivalisierenden griechischen Clans 1831 ermordet.

In Friedrich Engels‘ Aufsatz finden wir, nachdem die heutige russische Außenpolitik für jeden erkennbar in die alten Geleise einer Hegemonialmacht des frühen 19. Jahrhunderts zurückgekehrt ist, d.h. seit der Annexion der Krim 2014, viele Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit heutigen politischen Verhältnissen. So brauchte Rußland gegenüber den Balkanvölkern, die mit den Russen religions- oder stammesverwandt sind, damals nur »seinen Beruf zum Schutz der unterdrückten Kirche und des gefesselten Slawentums zu proklamieren«, und schon war »das Terrain für die Eroberung – unter dem Deckmantel der Befreiung – … hier vorbereitet.« [5] So ist auch der Rassenkrieg, der in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts von panslawistischen Serben im auseinanderbrechenden Jugoslawien mit russischer Unterstützung unter ähnlichen Auspizien losgetreten wurde, den meisten Europäern gleichfalls in schlechter Erinnerung geblieben.

Und daher paßt sehr vieles, was man über die auswärtige Politik des russischen Zarentums bei Engels nachlesen kann, bis aufs i-Tüpfelchen auf die heutige russische Geheimdiplomatie, deren Kontinuität, kurzzeitig unterbrochen durch die Oktoberrevolution, spätestens mit dem 18. Brumaire des Joseph Stalin im Jahre 1932, wiederhergestellt wurde. Nicht umsonst wird der im Krieg der Völker der Sowjetunion gegen den deutschen Faschismus errungenen und 1990 verlustig gegangenen hegemonialen Weltmachtstellung Rußlands von Putin so laut und vernehmlich als der größten »geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts« hinterhergeweint.

Für die russische Geheimdiplomatie bildet die europäische Bourgeoisie, vorneweg die deutsche, auch heute das geeignete Objekt ihrer Korruptions- und Manipulationsversuche, mit dem Ziel, die öffentliche Meinung in Europa für russophile Vernünfteleien empfänglicher zu machen. Dazu gehören auch Putins Versuche, sowohl linke wie rechte politische Parteien und Bewegungen gegen ihre Regierungen zu mobilisieren und gleichzeitig diese Regierungen zu ermuntern, im eigenen Hause Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Auch dieses Manipulationsmuster wird bereits von Engels beschrieben: »Die russische Diplomatie hat es fertiggebracht, beide große bürgerlichen Parteien Europas einzuseifen. Ihr und nur ihr erlaubt man, legitimistisch und revolutionär, konservativ und liberal, orthodox und aufgeklärt in einem Atemzug zu sein.« [6] Die Reihe der hier aufgezählten Gemeinsamkeiten zwischen der russischen Außenpolitik im frühen neunzehnten und einundzwanzigsten Jahrhundert ließe sich beliebig fortsetzen.

Vor diesem Hintergrund steht Tsipras‘ symbolträchtige Erinnerung an einen großen Griechen in den Diensten Moskaus durchaus nicht im Widerspruch zu der erklärt linken anti-kapitalistischen und anti-westlichen Politik der von Syriza und ihrem national-chauvinistischem Koalitionspartner Anel gebildeten griechischen Regierung. Schon bereitet sich deren spanischer Ableger Podemos auf den auch von der deutschen Linken mit heißem Herzen herbeigewünschten nächsten großen Wahlsieg vor, durch den ein weitere Dominostein des sog. ‚Neoliberalismus‘ in Europa zum Kippen gebracht werden würde. Durch das Doppelspiel des Putinschen neuen Zarentums soll die unter ihren inneren Widersprüchen ächzende EU langfristig von dem Großraum des stetig wachsenden eurasischen Imperiums angezogen werden, was den Wünschen der deutschen Bourgeoisie und ihrer Kanzlerin durchaus entgegenkommt. Dazu benötigt Putin, wie schon Alexander I., rechte und linke, rebellische und gewiefte Politiker und Manager der politischen Desinformation an seiner Seite, treue Diener seines neuen Zarentums, genau solche, wie bereits Kapodistrias einer war.

Daß sie dieser Rolle und ihren Anforderungen durchaus in der Lage ist gerecht zu werden, hat die griechische Regierung bei der Uraufführung ihres Narrenspiels vor den Gläubigern des bankrotten griechischen Staates bereits in Brüssel hinreichend bewiesen. Ob es ihr dabei aber auch weiterhin gelingen wird, die europäische Öffentlichkeit und die Masse der lohnabhängigen europäischen Steuerzahler zum Narren zu halten und Europa im Interesse russischer und griechischer Oligarchen und der Wallstreet auseinanderzudividieren, um die Europäer nach der Devise ‚beggar thy neighbor‘ um weitere Milliarden zu erleichtern, sodaß die ‚neoliberale‘ EU schließlich an die Wand fährt, das wird letztlich das griechische Volk als die Hauptleidtragenden der linken Possenreißereien seiner Regierung selbst zu entscheiden haben.

-euk

[1] FAZ 19.06.
[2] Foto WIKIPEDIA s.v. Kapodistrias.
[3] Friedrich Engels: Die auswärtige Politik des russischen Zarentums, MEW 22 (13-48), 14.
[4] Diese illustre Reihe wäre noch durch den ‚großen Reformer‘ Freiherr vom Stein zu ergänzen.
[5] Friedrich Engels, a.a.O., 17.
[6] Friedrich Engels, a.a.O., 23.

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BLogbuch 1 2015: »Charlie«, der Salafismus und wir Deutschen »

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Inhalt


I

Montägliche Nachtgedanken über die hinlänglich bekannte deutsche Eigenart, arglos gegen unsere Feinde und zutiefst mißtrauisch gegenüber unseren Verbündeten zu sein, auf die Kleinen zu treten und vor den Großen zu kuschen, usw. Dagegen hilft keine Bergpredigt, sondern eher der Aufruf zur Gründung einer deutschen Bergpartei. Die wäre allerdings sogar verglichen mit der partei Marx ein ziemlicher Anachronismus.

Aber wir Deutschen bringen es noch nicht mal zu ordentlichen Blasphemikern. Die Karikaturen unserer Gotteslästerer gleichen kritischen Sonntagspredigten. Unsere Revolten gegen die Religion sind Revolten gegen die anderen Religionen, deren Anhänger wir vor soviel christlicher Nächstenliebe am liebsten umbrächten; darin gleichen wir ein wenig den Salafisten, die auch nichts anderes tun – nur mit der uns (heute zum Glück) fehlenden letzten Konsequenz. Wenn der Salafismus irgendwo in Europa Staatsreligion werden wollte, hätte er dazu in Deutschland die größten Chancen, weil auch hier Religion ausschließlich als Staatsreligion erlaubt ist. Der Staat ist es, der Glaubensfreiheit gewährt. Für die Salafisten wäre das zwar der falsche Staat – aber ein paar Selbstmordattentate würden bestimmt Wunder wirken.

Und warum demonstriert eigentlich die (militante) Linke gegen die Montagsdemonstranten und nicht gemeinsam mit ihnen für Putins künftiges Weltreich? Haben sie in Putin nicht einen gemeinsamen Paten? Oder vielleicht gerade deshalb? Zwar ist für einen gestandenen radikalen Linken dieses schlichte ‚Putin-hilf‘-Gerufe der Gipfel an Naivität, aber nur, weil darin ein zutiefst einseitiger Begriff von deutsch-russischer Freundschaft steckt. Wahre Solidarität sollte immer den umgekehrten Weg gehen: mit dem Mutterland des ‚Antifaschismus‘ durch Dick und Dünn, egal wie weit und wohin. Aber nicht einfach nur ‚Putin hilf‘ rufen!

Die Hitler unserer Zeit das sind und bleiben immerdar die Deutschen. Dagegen kann Putin machen, was er will: den Völkermord in Syrien unterstützen, Nachbarländer überfallen oder zumindest erst mal bedrohen. Alles kein Problem. Unser Problem ist doch vielmehr, daß uns jedes Einfühlungsvermögen in die russische Befindlichkeit oder Seele fehlt. Eine Ausnahme sind jene Deutschen, die es im Import-Exportgeschäft ‚mit den Russen‘ zu etwas gebracht haben nach dem im Wodka ersäuften Motto: Was sind wir doch für tolle Schlitzohren, weil wir alle anderen besch… haben, aber nicht weitersagen!

Schließlich war es die Sowjetunion und niemand anderes, die uns die Absolution für Hitlers und unsere Verbrechen erteilt hat und nicht die Juden, auch nicht die Amis. Die mögen uns beide nicht, wir mögen sie… na ja. Nur der Snowden, das ist ein wirklich guter Ami, der hat es denen mal gezeigt, daß wir uns nicht alles von ihnen gefallen lassen müssen. Das Handy der Kanzlerin, so was gehört sich einfach nicht!

Also spräche überhaupt nichts dagegen, wenn die Montagsdemonstranten und die Linke eine gemeinsame Soli-Demo für Putin veranstalteten mit der Forderung, daß die von der NATO insgeheim aufgerüsteten ukrainischen Terroristen (auch passive Waffen sind Waffen!) ihre Angriffe an der russisch-ukrainischen Grenze (solange es die noch gibt!) gegen Rußland unverzüglich einstellen müssen. Putin liebt sie (wie schon Erich Mielke in der Volkskammer) doch beide: die Rechten genauso wie die linken Putinisten! Wieso sollten sie diese Liebe dann nicht auch gemeinsam und solidarisch zurückgeben?

Einen gibt es schon, der dazu bereit ist: Bodo Ramelow, der rosa-rot-grün gestrickte Ministerpräsident von Thüringen. Ein lebendes Symbol deutsch-russischer Freundschaft! (Von dieser war in seinen bisherigen Statements zwar nicht die Rede, sondern nur vom – irgendwie vom Himmel gefallenen – Unrechtsstaat DDR.) Aber, was er auch sagen wird und vielleicht besser nicht sagt, mit Ramelow hat Putin schon mal den Fuß in der Tür zur Rückeroberung der Herzen aller Deutschen, der ‚Putin-Hilf‘-Rufer, der Linken und all der andern Putin-Freunde! Die kleinen grünen Männchen von der Krim und aus der ‚Ost-Ukraine‘ werden rechtzeitig per Express nachgeschickt.

Übrigens, wenn man die Landesbezeichnung für das Wort Ukraine vom Russischen ins Deutsche übersetzen wollte, dann bedeutet u-kraina: das, das am Rand (kraj) Liegende. Die Vorsilbe u– wird auch als besitzanzeigendes Fürwort verwendet; u menja heißt z.B., daß etwas bei mir ist, also mir gehört. Dazu paßt das russische Sprichwort: moja chata s kraju, ja ne ničevo ne snaju. Wörtlich: Meine Hütte ist irgendwo am Rande der Welt (s kraju), ich weiß nichts (oder: Mein Name ist Hase…usw.). Ein deutliches Zeichen, wie eng die in ihrer Hintergründigkeit hier kaum wahrgenommene Putinsche Propaganda sich mental an den alltäglichen Sprachgebrauch anzupassen versteht. Wenn sich meine Hütte im Land Nirgendwo (s kraju) befindet, dann kann ich mich, wenn es einen dort hin verschlägt, nur noch auf die Unsrigen (naši) verlassen. In diesem Sinne sind Staatsgrenzen Schall und Rauch. Wenn nach der Putinschen Analyse die Staatlichkeit der Ukraine in einem politischen Nirwana anzusiedeln sein soll, so hat die auf dem Majdan in Kiew stattgefundene politische Revolution dieser Denkweise eine eindeutige politische Grenze und gleichzeitig ein Ende gesetzt. In dieser Grenzsetzung durch eine politische Revolution, deren wichtigste politische Zielsetzung in der Definition der bestehenden Grenzen der ukrainischen Nation besteht, ist gleichzeitig das Ende der Herrschaft Putins, seines Kriegs gegen die Wahrheit und die bestehenden Grenzen in Europa vorgezeichnet. Die Verteidiger Putins berufen sich auf die große deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg, die der Ansicht war, daß die Ukraine schon immer eine Fiktion gewesen sei (und wohl nicht zufällig heißt der Think Tank der Partei Die Linke Rosa-Luxemburg-Stiftung). In der Logik der Putinschen Propaganda folgt daraus, daß alles, was in den nach Westen sich ausdehnenden grenzenlosen Randgebieten politisch gegen die Interessen Rußlands gerichtet ist, a. faschistisch sein und b. so bekämpft werden muß, als befände sich dieser Feind in Rußland selbst. So hielten es schon die alten Zaren im 18. und 19. Jahrhundert z.B. mit Polen und Finnland, die von Alexander I. eingemeindet wurden, sodaß zu Lebzeiten von Marx und Engels Rußland an Preußen und Sachsen grenzte. Der Hilferuf der Dresdner Montagsdemonstranten wäre damals auf der andern Seite der Grenze gewiß auf offene Ohren gestoßen.


II

Der Staatsvertrag, den die Republik Österreich vor kurzem mit dem türkischen Staat geschlossen hat und der die österreichischen Moslems in der Ausübung ihres Glaubens unter staatliche Aufsicht stellt, wird in der größeren deutschen Brudernation von vielen Kommentatoren als obrigkeitsstaatlich und quasi dem System Metternich verpflichtet kritisiert. Nur zeigt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Tragen einer religiösen Bedeckung (= das Kopftuch) durch islamische Lehrerinnen nur noch unter bestimmten Voraussetzungen „zur Wahrung des Schulfriedens“ untersagt werden darf, daß, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen auf unsere österreichische Brudernation werfen sollte. Deutsche wie Österreicher sind bei der Behandlung dieser diffizilen Problematik leider nicht über die Schullektüre der Lessingschen Ringparabel hinausgekommen, worin bekanntlich die Vertreter der Drei Buchreligionen, da sie vom gleichen monotheistischen Vater abstammen, auch gemeinsam einen bevorzugten Platz gegenüber den restlichen religiösen Sekten für sich beanspruchen. Dabei gibt es weder den Islam noch das Christentum, sondern jede Menge islamische und christliche Sekten; auch hat sich das Judentum schon immer durch eine lebhafte interne Sektenbildung ausgezeichnet. Dieser Mythos entstand im Schatten des nach dem 30-jährigen Krieg in den katholischen (habsburgischen) Süden und den protestantischen (preußischen) Norden gespaltenen Altdeutschen Reiches, dessen Erbe im Norden die BRD + DDR (= Rheinbund + Preußen) und im Süden das auf seine habsburgischen Stammlande geschrumpfte Österreich angetreten haben. Preußen wäre als Staat schon beinahe 1807 und ist 1945 endgültig untergegangen und durch die DDR ersetzt worden. Napoleons Rheinbund würde heute bis zur deutsch-polnischen Grenze reichen und hätte, was Zar, Metternich und Sir Castlereagh trotz divergierender Interessen gemeinsam zu verhindern wußten, ein dauerhaftes Bündnis von Rheinbund-Deutschland und Polens gegen Rußland ermöglicht. Dafür fehlten Napoleon einerseits die Zeit (deshalb die überhastete Kampagne gegen Rußland), aber auf die Dauer auch die notwendigen Ressourcen, die Metternich sich weitaus besser einzuteilen wußte. (Metternich war klar, daß man nach den gewaltigen Schlachten zwischen den europäischen Großmächten den österreichischen Bauernsöhnen die nötige Zeit geben mußte, um wieder nachzuwachsen.) Napoleon war als Begründer einer neuen Dynastie gezwungen, die Herrschaft seiner weit verzweigten Verwandtschaft noch zu seinen Lebzeiten Europa überzustülpen. (Er war sogar mit einer Habsburgerin verheiratet.) Er mußte gegen seine Hauptrivalen England und Rußland die Kriege führen, die das glückliche Österreich sich durch taktische Verheiratungen für gewöhnlich erspart hatte und die Napoleons Projekt der Errichtung eines französischen Weltmarktes mit allen Mitteln (und Metternichs heimlicher Unterstützung) zu torpedieren wußten.

Das 1815 in 28 Klein- und Mittelstaaten und zwei Großmächte zersplitterte Deutschland ist 1848, anders von Marx und Engels erhofft und erwartet, nicht vom Krähen des gallischen Hahns geweckt worden, sondern dem monotonen Gleichklang seiner Kirchenglocken erlegen und wird eines Tages, wenn es so weiter träumt, von dem Ruf des Muezzins aus dem Schlaf gerissen werden. Aber anstelle von „Wir sind Charlie“ erschallt aus dem sächsischen Mittelstaat, der auf dem Wiener Kongreß 1815 von den Großmächten zu einem Drittel an Preußen verfüttert wurde: „Wir sind das Volk“. Offenbar immer noch dasselbe „Volk“, das der in preußischen und russischen Diensten stehende Kleinadlige Freiherr vom Stein gegen Napoleon mobilisieren wollte, um die Einheit des monströsen Altdeutschen Reiches wiederherzustellen, dessen Kaiserkrone Habsburg zu schwer war und an dem sich alle europäischen Mittel- und Großmächte über Generationen zuvor die Füße abgetreten hatten? So gesehen ist das Hingezogensein der Dresdner Restpreußen zu Putin nicht wirklich verwunderlich.


III

Wenn der Plan des Bush-Sohnes verwirklicht worden wäre, in Polen anti-ballistische Raketen zu stationieren, von denen nicht nur iranische, sondern auch russische strategische Raketen hätten abgefangen werden können und Rußland als potentieller Welthegemonialmacht die Flügel beschnitten worden wären, hätte das der Ukraine die Annexion der Krim und alles weitere erspart, während sich Rußland mit der Rolle einer atomaren Mittelmacht, wie sie heute etwa Frankreich und England innehaben, hätte abfinden müssen. Dagegen erlaubte es die von der Partei Die Linke bis hinein in die Schrödersche Sozialdemokratie gerührte Anti-Bush-Trommel Putin, im Gegenzug zu dem Aufstand der ukrainischen Bevölkerung auf dem Majdan gegen Putins Statthalter in Kiew nach demselben Schema, nach dem Assad die Arabische Revolution in Syrien abgewürgt hatte, die Krim zu annektieren, seine tschetschenischen Shabbiha in den Donbass zu schicken und weitere Teile der Ukraine Stück für Stück vom Mutterland loszureißen.

Wer nun geglaubt hatte, daß die Europäer ihre Lektion aus ihrem passiven Verhalten gegenüber den eindeutigen Verbrechen gegen die Menschheit des Assad-Regimes gelernt hatten, täuschte sich auch hier gründlich. War es ihnen denn nicht schon einmal gelungen, das Sozialistische Lager mit ökonomischen Mitteln zur Kapitulation zu zwingen? Warum sollte das im Fall der Ukraine gegen Putins Rußland nicht ein zweites Mal funktionieren? Aber da das Sozialistische Lager inzwischen zum hybriden anti-‘westlichen‘ Lager bestehend aus China, Rußland und einigen Staaten der ‚Dritten Welt‘ mutiert ist und sich in seiner Zusammensetzung ständig ändert, ist es als Feind des ‚Westens‘ schwer greifbar. Das griechische Pendant zur deutschen Partei Die Linke, Syriza, läßt sich geschickt vom ‚Westen‘ aushalten, betreibt aber gleichzeitig eine Politik der Spaltung Europas, die hervorragend in Putins Konzept einer aggressiven Vorwärts-Strategie paßt.

Hinzukommt, daß heute, wie vor 80 Jahren, jeder Kapitalist und jeder Staat in der Weltwirtschaftskrise sich selbst der Nächste ist und gleichzeitig die aktuellen und potentiellen Welthegemonialmächte diese Krise nutzen, um ihre Weltmarkt- und Weltmachtposition als zukünftige Number One zu festigen oder wie im Falle Chinas überhaupt erst zu begründen. Aus chinesischer Perspektive befindet sich Rußland – für die Europäer mag der entgegengesetzte Eindruck entstanden sein – in der Rolle des Juniorpartners Chinas. Schon im Krieg der westlichen Allianz gegen die afghanischen Taliban konnte China in seinem südasiatischen Hinterhof punkten, obwohl es in seinen Westprovinzen ebenfalls mit (uigurischen) Islamisten konfrontiert ist, gegen die mit brutaler Entschlossenheit ein ‚Volkskrieg‘ geführt wird. Aus dem selben Grund wird das Assad-Regime mit politischen, diplomatischen, militärischen Mitteln von China, Rußland und nun auch den USA künstlich am Leben erhalten und vor der Arabischen Revolution geschützt. Die USA müssen in Zukunft einen Zweifrontenkrieg gleichzeitig im Atlantik und im Pazifik, im Nahen wie im Fernen Osten vermeiden. Von der Seite, der es gelingt, die andere einzukreisen, kann diese leichter vernichtet werden. In dieser Konstellation scheint sich Europa in der Mausefalle zu befinden; es kann nur darauf setzen, daß Rußland und China wegen Europa in Streit geraten, der sino-sowjetische Konflikt zu neuem Leben erwacht und China eine russische Hegemonie über die eurasische Landmasse vom Atlantik zum Pazifik auf die Dauer nicht dulden wird.

Rußland ist zunehmend, wie bereits von Lenin befürchtet, von einer europäischen zu einer (halb-)asiatischen Weltmacht und das übrige Europa zu einem Anhängsel der USA und Chinas geworden. Hitler meinte den Krieg gegen seine Erzfeinde, die USA und das jüdische Kapital, nur gewinnen zu können, wenn er die Weiten der Ukraine und Belorußlands nach der Versklavung, Vertreibung und Vernichtung der dort lebenden Bevölkerung mit den überzähligen deutschen Bauernsöhnen hätte besiedeln und zur Kornkammer Europas machen können. Putin benötigt das industrielle know-how Europas, um den Rhein zur deutschen Wolga zu machen, so wie Hitler die Wolga zum Mississippi Eurasiens machen wollte.

Was auch immer geschehen wird, eines ist sicher: Europa wird (schon zum wievielten Mal?) nicht mehr das sein, was es bisher war.

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Reaktionen (2014) »

[gepostet und mit Fußnoten versehen 02 2015]

Die REAKTIONEN auf die Texte der partei Marx haben erfreulicherweise zugenommen, was ich als ein positives Zeichen werte, daß die Diskussion nicht völlig eingeschlafen ist. Einzelne Begriffe wurden mit zusätzlichen Erläuterungen versehen.
Ulrich Knaudt

 

Ulrich Knaudt an H.B. (16.01.2014)

Betreff: NF II

Lieber H., ich vermute, Du meintest unter dem Link ‚Lectures‘ den Vortrag von Christof Lieber: ‚Das Eigentum in der Theorie und Politik der Linken‘, im November in der Hellen Panke. [1] Allerdings fand ich darin keinen Bezug zur N[ationalen]F[rage]; dafür einige interessante Bemerkungen zur Bauernfrage. Obwohl er darüber nur kursorische Ausführungen macht, scheint er nicht mehr seine frühere Position zur 2. Revolution Stalins im Sinne Stalins zu vertreten, sondern er spricht nun eher vage von den Schwächen der Bolschewiki, den es nicht gelungen sei, die Eigentumsverhältnisse so aufzulösen, daß dabei ein einziges großes Eigentumsverhältnis übrig bleibt. Worin aber bestünde dieses: im Kommunismus der commune rurale oder der Lohnsklaverei oder beidem? Und welches wäre dann das größere von beiden?

Jedenfalls bis bald und viele Grüße

Ulrich

[1] Pankower Vorträge 187 Die Eigentumsfrage heute Christoph Lieber: Das Eigentum in Theorie und Politik der Linken. Hinweise und Anregungen aus der Marx‘schen ‚Kritik der politischen Ökonomie‘.

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Franz Witsch an Ulrich Knaudt e.a. (27.01.2014)


Liebe FreundeInnen des politischen Engagements, es gab in den letzten Tagen ein Vielzahl von Reaktionen auf die „Petition gegen Markus Lanz“, die mittlerweile über 200.000 Unterschriften zusammen bekommen hat. Ich möchte dem internen Blindverteiler (500 Unterschriften) drei Reaktionen zur Kenntnis geben. [Es folgen drei Links:]

(1) Georg Diez, Umstrittenes Lanz-Interview: Der Pesthauch des Konformismus, Spiegel Online vom

24.01.2014.

Link: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/das-undemokratische-zdf-markuslanz-und-sahra-

wagenknecht-a-945361.html

(2) Markus Ehrenberg, Matthias Meisner, Online-Petitionen um Markus Lanz: Alles nur Show, Tagesspiegel

vom 27.01.2014.

Link: http://www.tagesspiegel.de/medien/online-petitionen-um-markuslanz-alles-nur-show/

9390110.html
(3) Uwe Ebbinghaus, Aufruhr gegen Markus Lanz: Die neue Quotenkeule, Faz.net vom 24.01.2014.

Link: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/aufruhr-gegen-markus-lanz-dieneue-quotenkeule-

12768066.html

Die meisten Kommentare zur Petition weisen auch nicht mehr Niveau auf als die LANZ-Sendung. Mit dem Kommentar von Georg Diez, siehe Link (1), kann ich mich allerdings anfreunden.

Es ist sehr wichtig, dass Bürger sich endlich mal zu sozial-politischen Themen äußern, ihren Ärger nicht nur herunterschlucken. Damit haben einige Meinungsmacher ganz offensichtlich so ihre Probleme, Leute als da sind: Markus Ehrenberg, Matthias Meisner, Dieter Nur, siehe Link (2), oder Uwe Ebbinghaus von der FAZ, siehe Link (3).

Es gehört es sich ganz offensichtlich nicht, wenn Bürger sich öffentlich äußern, noch dazu kritisch gegen gut bezahlte Meinungsmacher, obwohl jene Bürger dafür noch nicht einmal bezahlt werden.

Herzliche Grüße

Franz Witsch

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Ulrich Knaudt an Franz Witsch (28.01.2014)


Lieber Franz Witsch, vielen Dank, für Deine Bemühungen, die Du Dir in dieser Angelegenheit machst. Was ich nicht verstehe, ist warum der Gebührenzahlerin aus Leipzig gerade diese Sendung aufgestoßen ist. Könnte es nicht sein, daß darin ausgerechnet eine Ikone (vermutlich) ihrer Partei (auf eine zweifellos sehr oberschülerhafte Tour und daher vergeblich) abgewatscht werden sollte? [1] Wären, einen Schritt weiter gedacht, dann solche Sendungen wegen ihres darin zutage tretenden ‚Antikommunismus‘ zu verbieten? Dieser Talkmaster war einfach unfähig, einer Politikerin dieses Schlages Paroli zu bieten, während die Gegenseite ([die] Jörges oder so ähnlich hieß) auch nur moralisch argumentierte. Talksendungen sind eigentlich für mich Zeitverschwendung. Ich habe auch hier nur ein Drittel geschafft.

Ein Freund des politischen Engagements


[1] Gemeint ist Sahra Wagenknecht.

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Franz Witsch an Ulrich Knaudt (29.01.2014)


Danke für Ihre Stellungnahme.

Die Talksendungen, nicht nur LANZ, sind in der Tat eine Zumutung.

Herzlichst

Franz Witsch


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Ulrich Knaudt an Franz Witsch (30.01.2014)

Betreff: Re: Reaktionen auf die Petition gegen Markus Lanz: meist niveaulos.


Sehr geehrter Herr Witsch, Sie sind leider auf den politischen Kern meiner Stellungnahme nicht eingegangen, der in einem Satz lautete: ob neben den bereits bestehenden eine weitere Tabuzone in der Bundesrepublik einrichtet werden soll, in der die Kritiker von linken Berufspolitikern öffentlich gemobbt werden und deren (zweifellos unprofessionelle) Kritik an einem einzelnen Exemplar dieser Berufsgruppe als gefühlte Majestätsbeleidigung an den Internet-Pranger gestellt und dem Populismus (welcher Couleur auch immer) zum Fraß überlassen wird?

Mit freundlichen Grüßen

Ernst-Ulrich Knaudt

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Ulrich Knaudt an H.B. (08.02.2014)

Betreff: Bauern III


Lieber H., zu der Bauernproblematik habe ich beim Durchstöbern meines Archivs außer dem gesuchten noch weitere Artikel zu dem Thema gefunden, die ich Dir in zwei Tranchen schicken werde. BAUERN III enthält als Anhang ein Exzerpt aus Harbach zum Gothaer Programm. Ich habe es ein wenig lesbarer gemacht, aber darüber hinausgehend nicht überarbeitet. [1]

Der Titel zu dem Buch, das ich Dir genannt habe: David R. MONTGOMERY: Dreck. Warum unsere Zivilisation den Boden unter den Füßen verliert, München 2010. Zu den Masch-Vorträgen bin ich noch nicht gekommen, da ich selbst an etwas Längerem sitze. …

Herzliche Grüße

Ulrich


[1] parteimarx.org REAKTIONEN 2014 ANHANG 1.


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Ulrich Knaudt an H.B. (02.04.2014)

Betreff: Fwd: Dokument.pdf


Lieber H.,

[…]

Es ist schon seltsam, daß ich auf den politischen Text (Busch) [1] bisher wenig Lust hatte, dafür das marxologische Zeug (Sgro) sehr interessant fand. [2]

Wahrscheinlich habe ich zuviel ND gelesen in der letzten Zeit, sodaß mich diese Schreibe ziemlich anödet. Aber ich werde ihn lesen. Sgros Fehler ist i.w., daß er sich mit den G[und]R[issen] zur Kritik der politischen Ökonomie] nicht explizit beschäftigt. Ich kann das im Augenblick auch nicht.

Aber mir ist zumindest an seinem Papier klar geworden, daß der Unterschied zwischen der Marxschen Herangehensweise (Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten) und der bürgerlichen der ist, daß darin ein Abstieg vom Abstrakten zum Konkreten stattfindet: Wir gehen aus von einem Land, seinen Bewohnern, ihrer Geographie, Ökonomie usw., wie es in den GR[undrissen zur Kritik der politischen Ökonomie] über die herkömmliche Herangehensweise (in etwa) heißt. Darauf geht Sgro aber nicht im einzelnen bezogen auf den Text ein und daher kann er den Unterschied auch nicht beim Schopfe packen. (Vielleicht will er das auch gar nicht!) Obwohl er richtig herausarbeitet, daß es diese Theorie-Anwendung[s]-Dialektik in diesem schematischen Sinn bei Marx nicht gibt, sondern dessen Kritik der ökonomischen Theorien nicht unmittelbar auf eine solche hinausläuft (die einzige ‚Anwendung‘ wäre seit Lohnarbeit und Kapital die Politik der Marxschen Partei in den Klassenkämpfen und deren Analysen usw., aber das würde ich eher als Orientierung bezeichnen), zitiert d.A. unkritisch Wygodski (Fn. 27) [3], für den sich aus der Marxschen Theorie »die Notwendigkeit zur Ausarbeitung einiger vermittelnder Kettenglieder« ergeben habe, »die es ermöglichen, die abstrakte Theorie auf die konkrete Wirklichkeit anzuwenden«. Daraus habe Fineschi seine ‚Kugellager-Theorie‘ abgeleitet. Die kenne ich zwar nicht (wohl aber Fineschi) [4], aber wie man das Ding auch dreht und wendet, heraus kommt genau die Herangehensweise, die K.[arl]M.[arx] in den GR als die übliche bürgerliche Methode seiner eigenen Herangehensweise gegenüberstellt, nur jetzt mit dem Marxismus als dem Abstrakten, von dem ausgehend der Marxist zum Konkreten absteigt. Also entweder Aufstieg (Marx) oder Abstieg vom Abstrakten zum Konkreten (Marxisten)!

Ich habe in den letzten Monaten einen Haufen Material zu Syrien, Rußland, China gesammelt, stelle aber fest, daß ich das im Grunde alles vergessen kann, wenn ich nicht vom Abstrakten ausgehe, von dem aufsteigend, ich zum Konkreten, daß dieses Abstraktum jeweils konkret ausdrückt, gelange. Also weiter im Text.

[…]

Herzliche Grüße Ulrich

[1] Ulrich Busch: Die ökonomische Theorie von Marx und die Irrtümer der DDR, in: Ökonomie und Gesellschaft Jahrbuch 24, Marburg 2012 (183-205).
[2] Giovanni Sgro: Vom Abstrakten zum konkreten historischen Milieu. Die An- und Verwendbarkeit der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise; in: Ökonomie und Gesellschaft Jahrbuch 24, Marburg 2012 (167-182).
[3] W. Wygodski: Die dialektische Einheit von Forschungs- und Darstellungsmethode im politikökonomischen Schaffen von Karl Marx und ihre schöpferische Anwendung durch W.I. Lenin, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung 1978 (57-72).
[4] parteimarx.org DEBATTE 3 ANHANG 3 Ulrich Knaudt: Offener Brief an Roberto Fineschi.

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Ulrich Knaudt an GdS (25.05.2014)


Hallo (ehemaliges) Buchladen-Kollektiv,

vielen Dank für GdS 11-12/2013 [I] 1-2/2014 [II], deren Zusendung ich als ein Anzeichen dessen interpretiere, daß Ihr die in meinem Brief vom 23.09. vorigen Jahres geäußerte geharnischte Kritik an ‚Eurer‘ Asylpolitik nicht ‚persönlich‘ nehmt. Die darin zum Thema Syrien geäußerte vernichtende Kritik an der ‚gesamtdeutschen Linken‘ findet Ihr jetzt auch auf meiner Web Site im BLogbuch 1 2014, womit Eure Frage: »Warum entwickeln sich Klassenkämpfe in einem Land wie Deutschland so schwer?« auch teilweise beantwortet wird. Es kommt halt immer drauf an, was man unter Klassenkampf in der konkreten Situation versteht.

Dazu hatte ich in BLogbuch 1 2013 das Verhältnis soziale politische Revolution bei Marx und Engels ausgehend von dem Satz im K[ommunistischen]M[anifest]: ‚Die Arbeiter haben kein Vaterland‘ einer vom Linken Mainstream abweichenden Interpretation unterzogen. Der Kern meiner Überlegungen ist, daß bei Marx zwischen den Klassenkämpfen in Frankreich und England, dem damaligen Beherrscher des Weltkapitalismus, und der Revolution gegen das Ancien Regime in den übrigen europäischen Nationen, in denen sich die kapitalistische Produktionsweise nur marginal (kaum industrielles, vorherrschend zinstragendes Kapital) durchsetzen konnte, ein prinzipieller Unterschied, aber auch eine Gemeinsamkeit besteht, die Marx und Engels seitdem nie aus den Augen verloren haben: »Die Entwicklung des industriellen Proletariats ist überhaupt bedingt durch die Entwicklung der industriellen Bourgeoisie. Unter ihrer Herrschaft gewinnt es erst die ausgedehnte nationale Existenz, die seine Revolution zu einer nationalen erheben kann, schafft es selbst erst die modernen Produktionsmittel, welche ebenso viele Mittel seiner Befreiung werden. Ihre Herrschaft reißt erst die materiellen Wurzeln der feudalen Gesellschaft aus und ebnet das Terrain, worauf allein eine proletarische Revolution möglich ist.« (MEW 7,18) [1]

Abgesehen davon, daß es die industrielle Bourgeoisie ist, unter deren Herrschaft das »industrielle Proletariat« erst seine nationale Existenz gewinnt (davor hat es entweder überhaupt nicht existent oder nur in einem lokal beschränkten Sinn), ist der Halbsatz: »schafft es selbst erst die modernen Produktionsmittel…« meiner Ansicht nach von ganz entscheidender Bedeutung. Denn darin ist jene in der ML-Bewegung (Die Linke konzentriert sich eher auf die Unterwanderung und Übernahme des bürgerlichen Gewerkschaftsapparats) gängige Dichotomie von ‚Draußen‘-‘Drinnen‘, wir hier draußen blicken nach dort drinnen, in die Betriebe, mit der sehnsüchtigen Erwartung, daß das da drinnen ein von Streik zu Streik immer revolutionärer voranschreitende Proletariat schließlich in einem Generalstreik die Bourgeoisie stürzt, aufgehoben, weil das »industrielle Proletariat«, welches das Kapital produziert, zugleich mit der Schaffung der »modernen Produktionsmittel« die »Mittel seiner Befreiung« erzeugt; es schafft eigenhändig und in persona die Voraussetzungen für die eigene Existenz als revolutionäre Klasse (an sich) in einer Art work in progress, worin es zugleich die Bedingungen dafür erzeugt, die kapitalistische Produktionsweise aufzuheben.

Wie aber paßt das mit dem folgenden Satz zusammen, in dem die Herrschaft der industriellen Bourgeoisie als Wegbereiter der proletarischen Revolution gekennzeichnet wird, d.h. daß »erst« durch das Herausreißen der »materiellen Wurzeln der feudalen Gesellschaft … das Terrain, worauf allein [!] eine proletarische Revolution möglich ist«, dieser der Weg von der industriellen Bourgeoisie geebnet wird? Zwischen dem Ancien Régime, der Herrschaft der industriellen Bourgeoisie und der proletarische Revolution bestehen bei Marx keine mechanistisch getrennten Stadien (erst muß das eine Stadium sich erfüllen, bevor das andere Stadium eintreten kann = Histomat), sondern diese Voraussetzung bereitet sich unter der Bedingung des ständigen Zersetzungsprozesses der Feudalgesellschaft vor. Die Warenbeziehungen untergraben Tag für Tag die ständische Idylle des fleißigen Handwerkers in seinem Familienbetrieb (die in ihrer modernen Form des ‚Existenzgründers‘ usw. fortexistiert), bis der Punkt erreicht ist, da die industrielle Bourgeoisie bei den schlesischen Webern an die Tür klopft, um sie vor selbige zu setzen und sie in Proletarier zu verwandeln, in denen wiederum die Feudalklasse die individuell werkelnden Handwerksfamilien plötzlich als Leidensgenossen entdeckt, obwohl sie zuvor deren Weg an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds gebahnt und sie auf die ‚andere‘, die himmlische ‚Welt, die möglich ist‘, vertröstet hat. Dieser Kampf zwischen industrieller Bourgeoisie und Feudalklasse, in dem sich diese mit dem Handwerksstand gegen die industrielle Bourgeoisie verbrüdert (siehe auch Lassalles Kooperativen mit Staatskredit), ist auch Klassenkampf. Allerdings führt er im besten Fall über eine politische Revolution zur Ersetzung der einen Klassenherrschaft durch die andere, während der Klassenkampf des Proletariats über die Klassenherrschaft des Proletariats zum Kommunismus führt. Die Februarrevolution [in Paris] 1848 ließ in Marxens Resümee schließlich »die Bourgeoisherrschaft rein hervortreten, indem sie die Krone abschlug, hinter der sich das Kapital versteckt hielt.« Nicht mehr und nicht weniger.

Aber mit diesem Resultat begnügt sich Marx nicht, sondern er untersucht den Entwicklungsprozeß, der auf seiten des Proletariats zu diesem Ergebnis geführt hat:

1. Die Bourgeoisie erlaubt dem Proletariat nur eine einzige Usurpation: den Kampf (vgl. den Maidan in Kiew).

2. Das Proletariat erkämpft darin das Terrain, auf dem seine revolutionäre Emanzipation stattfinde.

3. Auf diesem Terrain tritt die Bourgeoisherrschaft, die bisher von irgendwelchen feudalen Institutionen kaschiert wurde, rein hervor. (Dies ist exakt die Bestimmung des Proletariats in der Arabischen Revolution und auf dem Kiewer Maidan.)

4. Die Lohnarbeit ist die in der bürgerlichen Gesellschaft einzig vorhandene Organisation der Arbeit und die Forderung der Arbeiterführer nach einer ‚anderen‘ (ein Lieblingswort Der Linken) Organisation der Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine nebelhafte Vorstellung von einem sozialistischen Paradies.
5. Die Pariser Arbeiter glauben, sich
neben der Bourgeoisie und neben den übrigen Bourgeoisnationen, die zusammen den Weltmarkt bilden, emanzipieren zu können. (‚Eine andere Welt ist möglich‘.)

Diese Vorstellung von einer sich »neben der Bourgeoisie« emanzipierenden oppositionellen Bewegung dominiert heute die gesamte Linke (von der Arbeiterklasse ist nur noch in den seltensten Fällen die Rede). »Wie die Arbeiter glaubten, neben der Bourgeoisie sich emanzipieren, so meinten sie, neben den übrigen Bourgeoisnationen innerhalb der nationalen Wände Frankreichs eine proletarische Revolution vollziehen zu können. Aber die französischen Produktionsverhältnisse sind bedingt durch den auswärtigen Handel Frankreichs, durch seine Stellung auf dem Weltmarkt und die Gesetze desselben; wie sollte Frankreich sie brechen ohne einen europäischen Revolutionskrieg, der auf den Despoten des Weltmarkts, England, zurückschlüge? Eine Klasse, worin sich die revolutionären Interessen der Gesellschaft konzentrieren, sobald sie sich erhoben hat, findet unmittelbar in ihrer eigenen Lage den Inhalt und das Material ihrer revolutionären Tätigkeit: Feinde niederzuschlagen, durch das Bedürfnis des Kampfes gegebene Maßregeln zu ergreifen; die Konsequenzen ihrer Taten treiben sie weiter. Sie stellt keine theoretischen Untersuchungen über ihre eigenen Aufgaben an. Die französische Arbeiterklasse befand sich nicht auf diesem Standpunkte, sie war noch unfähig, ihre eigene Revolution durchzuführen.« (MEW 7,19) M.a.W. ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung (Lenin), keine »eigene Revolution« der Arbeiter.

Wenn Ihr also die Frage stellt, warum »sich Klassenkämpfe in einem Land wie Deutschland so schwer (entwickeln)?«, was eine berechtigte Frage ist, zumal darin eine Reflexionshaltung eingenommen wird, mit der von Euch die Bewegung, die darauf verzichtet, und auf die Ihr Euch bezieht, in Frage gestellt wird (wofür sich bei Euch einige zarte Ansätze finden lassen), dann wäre dazu die Beziehung zwischen der »Entwicklung des industriellen Proletariats« und dem Herausreißen der »materiellen Wurzeln der feudalen Gesellschaft« zur Schaffung des Terrains, »worauf allein [!] eine proletarische Revolution möglich ist« in Anlehnung an die Vorgehensweise der von Marx analysierten Klassen- und Produktionsverhältnisse als Voraussetzung und Bedingung der heutigen Klassenkämpfe konkret zu untersuchen. Siehe dazu mein neuestes BLogbuch, das ich nicht weiter kommentieren will. [2] Unter dem Strich ist dabei herausgekommen, daß die Klassenverhältnisse auf der Welt (was, wenn auch isoliert und ohne Zusammenhang mit dem, was sonst auf der Welt passiert, in dem Bericht über Streiks in Kampuchea zum Ausdruck kommt) dominiert werden von der Großen Wirtschaftskrise, einer Jahrhundertkrise, in der die kapitalistische Produktionsweise kräftig durchgerüttelt wird und bürgerliche Ideologen sich selbst fragen, wie die bürgerliche Gesellschaft diese Krise eigentlich noch aushalten und überstehen soll. Hier kommen dann die modernen Vertreter der oben genannten »feudalen Gesellschaft« ins Spiel, die den Kapitalismus auf vorkapitalistische Verhältnisse zurückdrehen wollen. Der große Trick besteht u.a. darin, daß sie das mit ‚antikapitalistischen‘ Parolen tun, die bei den Wähler- und Volksmassen in dieser verfahrenen Situation verfangen, weil sie darin einen Ausweg zu finden hoffen.

Der junge Arzt aus Kreta (FAZ vom 24.05.) steht vor der Wahl, Deutsch zu lernen, damit er in Deutschland einen Job findet oder sich Syriza oder der Morgenröte anzuschließen, um diese bürgerliche Gesellschaft abzuschaffen und durch einen linken oder rechten Faschismus auszutauschen, von dem er von der Not getrieben annimmt, daß dieser ihm sein persönliches Fortkommen sichert. Die politischen Folgen solcher Gedankenspiele sind bekannt. Dabei steht außer Frage, daß die erste Alternative, also Deutsch lernen, auf den Boden der Realität der kapitalistischen Produktionsweise zurückverweist, die zweite an dieser Realität verzweifeln läßt und auf eine rückwärtsgewandte Utopie hinausläuft, worunter ich letzten Endes auch den N[ational]S[ozialismus] einordnen würde. Davon lese ich bei Euch kein Sterbenswörtchen, d h. ausgehend vom Marxschen ‚Kapital‘ und der Politik der ‚Marxschen Partei‘ diese Verhältnisse politisch zu analysieren. Dieses Manko würde ich an folgendem konkret festmachen:

1. Steht Ihr so hoch erhoben und erhaben über dem politischen Alltagsgeschehen, daß Ihr es nicht nötig habt, Eure Kritik an der konkreten Widerlegung konkreter Ansichten exemplarisch zu demonstrieren und zu beweisen. Ihr zitiert Was tun?, [3] dann schaut Euch an, wie Lenin dort detailliert und konkret und immer wieder auf die Argumente jedes einzelnen seiner Gegner eingeht. In allen seinen Artikeln und Aufsätzen ist seine Kritik immer an einen konkreten Adressaten gerichtet. Solche kann ich bei Euch nur sporadisch finden. Die Kritik an Der Linken (I,3 Kasten) [4], die ich grundsätzlich unterschreibe (dort werden zumindest Gysi und Wagenknecht konkret genannt verbunden mit einem Zitat) ist eine rühmliche Ausnahme. Der Haupttext wimmelt aber eher von Gemeinplätzen, Befindlichkeitserklärungen, leeren Parolen.
2. Zur Frage, warum sich in D[eutschland] die Klassenkämpfe so schwer entwickeln, stellt sich die Gegenfrage, von welchem Begriff des Klassenkampfes Ihr überhaupt ausgeht. Auch da wäre wiederum an Lenin und
Was tun? zu erinnern, der gerade in diesem Text unter Klassenkampf nicht nur ein Teewasser-Problem versteht, sondern damit unbedingt die politischen Verhältnisse im zaristischen Rußland in Verbindung bringt. Wie sähe das heute in D[eutschland] und Europa aus? Nach meiner These gehört zum entscheidenden Inventar bürgerlicher Ideologie in der momentanen Weltwirtschaftskrise der Versuch des Zurückdrehens der kapitalistischen Verhältnisse auf vorkapitalistische. Oder weshalb kann die CDU in Hessen so prima mit den Grünen koalieren? Wahrscheinlich weil dort ähnlich wie bei Rotgrün in den 80er Jahren, an einer schwarz-grünen Koalition für 2017 herumexperimentiert wird. Die Bourgeoisie findet immer einen Dreh, um den Konsequenzen, die sich, wie jeder glaubt, aus dem Bankrott des Kapitalismus ergeben müßten, wie ein angeschlagener Boxer nach rückwärts auszuweichen und dann auf den faschistischen Vorwärtsgang umzuschalten. So würde ich auch den N[ational]S[ozialismus] historisch interpretieren. Aber das ist eine andere Diskussion. Lenin ist dem Marxschen Klassenkampf-Konzept gefolgt, während das Stalinsche dieses verengt und in die Integration der Arbeiterklasse in ein umfassendes Knastsystem und ein System freiwilliger Zwangsarbeit mündet. Das Marxsche geht von der revolutionären Selbstbestimmung der Klasse bei der Organisierung der Diktatur des Proletariats aus. Das Stalinsche stülpt der Klasse unterstützt von ihrer Arbeiterelite (Stachanow als Pendant zur heutigen westlichen Arbeiteraristokratie) die Diktatur des Proletariats über und organisiert den Schutz der Errungenschaften seiner neuen Bourgeoisie durch Parteibürokratie und Geheimpolizei.

3. Die optisch hervortretende Plazierung des Berichts über ökonomischen Klassenkämpfe in Kampuchea ist zu begrüßen (II,1 Kasten) [5]. Wenn ihr diesen Bericht auch [noch] rein optisch unter die Fragestellung der Klassenkämpfe in Deutschland gestellt hättet, dann hätte man zumindest andeuten können, wie Ihr das Verhältnis zwischen der deutschen und der kambodschanischen Arbeiterklasse interpretiert? So steht der Hauptartikel und der Kasten ohne innere Beziehung einfach nebeneinander. Da würde ein Blick auf das Marxsche Kapital weiterhelfen, wenn man versucht, die Frage zu beantworten, warum a. die Arbeiterinnen in Kampuchea trotz der Hungerlöhne verglichen mit den mageren Erträgen der Landwirtschaft in der Lage sind, ihre Familie vor dem Verhungern zu bewahren und b. warum sich die Spitzengruppen der deutschen Arbeiterfamilien ein Eigenheim, einen Zweitwagen und mehrere Urlaube im Süden leisten können? Sind die deutschen Kapitalisten so spendabel, daß sie auf ihre Profite verzichten oder ist die Produktivkraft der Arbeit so enorm, daß damit verglichen die Arbeitslöhne auch hier Peanuts bleiben!? Und wie hängt beides zusammen, wenn in beiden Fällen doch wohl Mehrwert produziert wird? Oder nicht? Ohne einen solchen Vergleich verfällt Eure Kritik an den kampucheanischen Verhältnissen in eben jene Tränendrüsen-Agitprop der Linken, mit deren Unterstützung das deutsche Kapital in Kampuchea von den Zuständen in den dortigen Sweatshops prima ablenken kann. (Ich behaupte nicht pauschal, daß Ihr auch so argumentiert, sehe aber auch nicht , wie Ihr diese Tendenz vermeiden wollt.)

4. Ihr erklärt die Arbeiteraristokratie zu einer Schicht innerhalb der Arbeiterklasse, die »sich höchstwahrscheinlich nahezu vollständig auf die Seite der Konterrevolution stellen wird.« (II.4c) [6] Ob dies der Fall sein wird, hängt im Grunde davon ab, wie die zu erwartende revolutionäre Situation bestimmt wird. Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß die Arbeiter sich nicht nur deshalb zurückhalten, weil sie einfach manipuliert sind. Auf der einen Seite zieht es das Kapital bei Massenproduktion in die Länder, in denen der niedrigste Lebensstandard herrscht, in denen aber die Gesellschaft noch einigermaßen konsistent ist (Landwirtschaft), während es in den ‚Metropolen‘ eher eine ‚werthaltige‘ Produktion betreibt, d.h. wo die gesamte Mehrwertmasse in wenigen Einzelprodukten (Flugzeug, Werkzeugmaschine, Rakete, Panzer) steckt.

Ich habe in dem neuesten BLogbuch dazu einige Überlegungen angestellt, die darauf hinauslaufen, daß die revolutionäre Situation in Europa in Zukunft durch die neue imperialistische Außenpolitik Rußlands dominiert werden wird und der von Marx und Engels analysierten Lage in Europa seit 1848 (siehe Krim-Krieg 1854) ziemlich ähnlich sieht. Wenn Europa von einer imperialistischen Invasion mit Rückendeckung Chinas bedroht wird, dann entspricht das etwa der Konstellation, die Friedrich Engels in Die auswärtige Politik des russischen Zarentums analysiert hat, worin er im übrigen völlig mit der Marxschen Analyse übereinstimmt. [7] Verkürzt formuliert: sollten etwa Rußland und China einen faschistischen Krieg gegen Europa führen, dann stellt sich der Klassenkampf und die Bestimmung des Hauptfeindes und seiner Verbündeten anders dar als bisher. Dann muß auch die Rolle der Arbeiteraristokratie neu bestimmt werden, wie übrigens auch [die] der Linken, die darin vorhersehbar als Quislings-Partei auftreten bzw. sich daran spalten wird. Ich will damit nur sagen, es gibt keine ewig richtige Bestimmung der Rolle der Arbeiteraristokratie. Diese hängt heute von der in Europa neu entstandenen Situation seit der Annexion der Krim und davon ab, ob sie sich mit dem größten Teil der Linken auf die Seite des neuen Faschismus schlägt oder sich gegen diesen positioniert. Die deutsche Arbeiterklasse wählt bürgerlich, das steht fest. Le Pen hat ihre Hochburg in den Industrierevieren im Norden, die früher komplett von der KPF dominiert wurden. Eine kommunistische Organisation, die zu diesen alles Bisherige umstürzenden Wendungen der Geschichte nichts zu sagen weiß, sollte sich besser in die Sozialdemokratie oder Die Linke auflösen oder es ganz sein lassen. Der Kasten auf Seite 1 (I.1) [8] über die Ukraine ist gemessen daran ein ziemlich unartikuliertes politisches Gestotter. Ja, gut, »…die Wahrheit ist hier sehr, sehr konkret«, dann macht Euch schnellstens an die Arbeit, sie zu analysieren!

Das heißt nicht, sonst würden wir nicht mehr miteinander reden, daß wir in bestimmten Positionen nicht punktuell übereinstimmen, wozu Eure Kritik am Antiamerikanismus des ‚imperialistischen Kleinbürgertums‘, der ob von rechts oder links kommend mit dem Antiamerikanismus der Nazis übereinstimmt, gehört. (Übrigens las ich in einer Rezension zu einem Buch über den jungen Hitler aus seiner Zeit unmittelbar nach 1918, daß dieser zunächst gar nicht primär Antisemit, sondern Antikapitalist war und in erster Linie die USA haßte. [9) In sofern stimme ich mit Eurer Kritik am Antiamerikanismus, ob von links oder rechts kommend, und Eurer Erwägung, daß die USA im Zweiten W[elt]K[rieg] als Alliierte gemeinsam mit der Sowjetunion gegen Hitler gekämpft haben (aus welchen Motiven auch immer), überein. Allerdings bleibt auch festzuhalten, daß sich darin unsere Ansichten ausgehend von den zwei extremen Gegenpositionen bei der Einschätzung der Entwicklung der SU von der Revolution zur Konterrevolution sozusagen in der Mitte treffen. Aber auch das könnte sich in bestimmten veränderten Situationen als zweitrangig erweisen.

[1] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 MEW 7 (11-107).
[2] parteimarx.org
BLogbuch 1 2014: Revolution und Konterrevolution in Europa.
[3] GdS 1-2/2014, 5.
[4] GdS 11-12/2013, 3:
Die Partei ‚Die Linke‘ nationalistische Vorreiter für die ‚Souveränität‘ des deutschen Imperialismus.
[5] GdS 1-2/2014, 1:
Mehrere Hunderttausend Textilarbeiter Innen in Kampuchea kämpfen militant für höhere Löhne.
[6] GdS 1-2/2014, 4:
Fakten zu den unterschiedlichen Schichten der Arbeiterklasse und der anderen arbeitenden Menschen.
[7]
Friedrich Engels: Die auswärtige Politik des russischen Zarentums MEW 22 (13-48).
[8] GdS 11-12/2013, 1:
Ukraine und der deutsche Imperialismus.
[9] FAZ 14.03.2014
Die Quellen seines Hasses. Bahnbrechende Erkenntnisse: Vorbeben einer neuen Hitler-Biographie. Rezension eines Beitrags des Historikers Brendan Simms: Against a ‚World of Enemies: The Impact of the First World War on the Development of Hitler‘s Ideology, in: International Affairs. Der Rezensent: »Der künftige Diktator vertrat zwar seit dem Sommer 1919 einen Antisemitismus, der in seiner Heftigkeit und in seiner rassistischen Radikalität seinem Judenhass der frühen vierziger Jahre in nichts nachstand. Hitlers Begründung für seinen Antisemitismus war aber zu dem Zeitpunkt, an dem er zum radikalen Antisemiten mutierte, beinahe ausschließlich antikapitalistisch motiviert. Simms’ Grundthese erscheint auf den ersten Blick provokativ: Zunächst habe sich Hitler zu einem Feind der angloamerikanischen Welt entwickelt, den er bald mit einem ausgeprägten Hass auf einen internationalen Kapitalismus verbunden habe. Erst dadurch sei im nächsten Schritt Hitlers antikapitalistischer Antisemitismus durchgebrochen. Hitlers späterer antisemitischer und antislawischer Antibolschewismus war nach Simms hingegen Mittel zum Zweck, um auf die angloamerikanische Herausforderung erfolgreich reagieren zu können. Es galt, ein deutsches Großreich entstehen zu lassen und so eine globale Parität zwischen der angloamerikanischen und der germanischen Welt herzustellen. Mit anderen Worten: Hitler sah die angelsächsische Welt als Feind, bevor er Juden als Feinde entdeckte, und er sah Juden als Feinde an, bevor er Slawen

und Bolschewisten als Feinde identifizierte.«


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Ulrich Knaudt an H.B. (26.05.2014)

Betreff: AW BL114


Lieber H., im Anhang der Grund, warum Du lang nichts mehr von mir gehört hast. [1] Ich hätte nicht gedacht, daß mich die Beschäftigung mit diesem Ding so lange in Atem halten wird.

Viel Spaß bei der Lektüre. Die F[uß]N[oten] 23-26 lege ich Dir besonders ans Herz. Ich denke, ich bin da im KAP[ITAL] auf etwas gestoßen, was uns in absehbarer Zeit weiter beschäftigen sollte.

Viele Grüße erst mal.

Ulrich

[1] parteimarx.org BLogbuch 1 2014: Revolution und Konterrevolution in Europa.

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Ulrich Knaudt an H.B. (02.06.2014)

Betreff: AW: BL2014


Danke,

lieber Ulrich

für Deine Mitteilung, für die übersandte Arbeit.

[…]

Werde den Text dann durcharbeiten.

Bin schon neugierig darauf,

sicherlich mit dem Brennpunkt Ukraine.

Mir fällt dazu einiges Wesentliches auf,

u.a. auf phänomenologischer Ebene der gegenseitige Ausschluss von Prinzipien, auf die man sich beruft als Vorwand, zwecks Umhangs eines demokratische Mäntelchens:

territoriale Integrität von Staaten (Völkerrecht, der Westen)

versus Selbstbestimmungsrecht (Rußland)

in Verbindung mit der

Frage nach der Etappe von Revolution bzw. Transformation

demokratische Revolution à la Ägypten etc.

Die Falle: den Westen gegen den Osten, den Osten gegen den Westen

rechtfertigen, verteidigen;

insofern veränderte, neue nationale, internationale Bündnis-Koalitionen […]

[…]

Bis dann,

herzlichen Gruß

H.
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H.B. an Ulrich Knaudt (14.06.2014)

Betreff: WG: EU-Politiker haben die Hosen (noch) gestrichen voll


Eine ‚ l i n k e ‘ Empfehlung zur „Neuorientierung“ / „-Justierung“ der europäischen

Politik…

Bin Deinen Blog noch nicht durch.

Bis bald,

H.

Anhang:
Von:Franz Witsch (13.06.2014)

Betreff: EU-Politiker haben die Hosen (noch) gestrichen voll


Liebe FreundeInnen des politischen Engagements,

es ist schon ein Kreuz: die Politiker der EU, allen voran Merkel und Steinmeier, haben die Hosen den USA gegenüber gestrichen voll. Sie wagen es kaum, eigene, vor allem wirtschaftliche Interessen der EU, ins spiel zu bringen, solche, die in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen auf eine noch engere politische Kooperation mit Russland setzen.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt die meisten Leser-Briefe den Texten der Online-Leitmedien zum Teil massiv widersprechen.

Nunmehr könnte sich eine Entspannung zwischen Leitmedien und ihren Lesern anbahnen, tut sich zumindest in den Online-Leitmedien doch etwas, das außenpolitisch in eine etwas andere Richtung zeigt. Dazu möchte ich den interessierten LeserInnen zwei Texte zur Kenntnis geben. Titel und Links lauten wie folgt:

(1) Eine neue Grand Strategy, german-foreign-policy vom 13.06.2014

Link: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58889

(2) Außenpolitik: Europa muss seine Beziehungen zu den USA neu justieren, Zeit Online vom 06.05.2014

Link: http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-06/europaeische-interessenpolitik

Die Texte sprechen für sich selbst. Ein Absatz aus Text (1) sei an dieser Stelle wiedergegeben. Unter der Überschrift „Die alte Schaukel“ heißt es:

Die Strategie, in einer Art Schaukelpolitik zwischen Ost und West die eigene Position beständig aufzuwerten, reicht in der deutschen Geschichte ebenso weit zurück wie die von Luenen zitierten

Befürchtungen angloamerikanischer Strategen, Einfluss auf dem europäischen Kontinent zu verlieren

(german-foreign-policy.com berichtete [3]). Sie ist darauf angewiesen, zu beiden jeweiligen

Machtzentren Washington und Moskau tragfähige Beziehungen zu unterhalten. Teile des deutschen

Außenpolitik-Establishments, darunter Personen aus dem politischen Umfeld der „Zeit“, haben immer

wieder gegen die aktuelle Ukraine-Politik der Berliner Regierung protestiert und eine Wahrung der

deutschen Sonderbeziehungen zu Moskau verlangt. So hat Theo Sommer, einstiger Planungschef im

Bundesverteidigungsministerium und heute „Editor at Large“ der „Zeit“, schon zu Beginn der Ukraine-Krise schwere Vorwürfe gegen die westliche Politik erhoben [4]; auch die Ex-Kanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder oder zum Beispiel der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder haben sich für die Beibehaltung der Zusammenarbeit mit Moskau stark gemacht. In der aktuell aufgeheizten Stimmung, in der die eindeutig transatlantisch orientierten Kräfte der Berliner Außenpolitik den Ton angeben, wagt sich nun „Zeit Online“ mit einem Beitrag hervor, der den zur traditionellen „Schaukelpolitik“ neigenden Spektren des Establishments eine Stimme verleiht. Der Artikel ist freilich – wohl auch eine Vorsichtsmaßnahme ausdrücklich als „Gastbeitrag“ markiert und von einem Mitarbeiter nicht eines deutschen, sondern eines britischen Think-Tanks verfasst worden, der in größerer Distanz zu den innerdeutschen Kämpfen steht.“

Herzliche Grüße

Franz Witsch

www.film-und-politik.de


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Ulrich Knaudt an H.B. (15.06.2014)

Betreff: REAKTIONEN


Lieber H., wenn Du BL[ogbuch]114 gelesen hast, [1] wirst Du finden, daß es mit dem sich Umhängen »eines demokratischen Mäntelchens« als »Vorwand« (wofür?) nicht ganz so einfach beschaffen ist. Niemand hätte vor 1939 das Selbstbestimmungsrecht Nazi-Deutschlands in Frage gestellt, bis dieses von ihm selbst (Polen) in Frage gestellt wurde. Ich war auch lange der Ansicht, daß man den ‚Westen‘ nicht gegen dessen Feinde im ‚Osten‘ (zwischen denen es, wie der Irak jetzt zeigt, eklatante Widersprüche gibt) ausspielen sollte. Inzwischen sind die Ereignisse über derartige Reserven hinweggerollt. Marx macht in den Klassenkämpfen in Frankreich die proletarische Revolution von dem Vorhandensein einer industriellen Bourgeoisie abhängig. [2] Das ist auch weiterhin der Maßstab für die Einschätzung der Entwicklung eines Landes. In Osteuropa soll diese Entwicklung auf ein Gleis Richtung 19. Jahrhundert geschoben werden usw.

Ich freue mich auf eine spannende Diskussion.

Viele Grüße

Ulrich

P.S. Durch ein technisches Versehen, sind mir meine sämtlichen E-Mails aus 2013 abhanden gekommen. Falls Du noch im Besitz meiner (und Deiner) E-Mails … aus dieser Zeit bist, würde ich Dich bitten, diese mir demnächst mal zurückzuschicken. […]

[1] parteimarx.org BLogbuch 1 2014 Revolution und Konterrevolution in Europa.
[2]
Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 MEW 7 (11-107); siehe oben: Ulrich Knaudt an GdS (25.05.2014).

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Ulrich Knaudt an H.B. (15.06.2014)

Betreff: REAKTIONEN


Lieber H., ich habe erst jetzt Deine Mail und den Link (Witsch) gefunden. [1] Schon die Annexion von Teilen Georgiens und nun die der Krim stellt einen eindeutigen Völkerrechtsbruch dar, dessen faschistische Qualität erst recht mit dem zunehmenden Abstand zu diesen Ereignissen eher zu- als abnimmt. Witsch und Konsorten (ich empfehle als konkretes Beispiel Scharf Links.de unter die Lupe zu nehmen) stellen für mich die Vertreter jener Kräfte dar, die ich als linke Quislinge bezeichnet habe. Es gibt keine Neutralität gegenüber Putin und Assad, genauso wenig wie es sie gegenüber Hitler und Mussolini hätte geben dürfen. Wer für eine solche Politik zum gegenwärtigen Zeitpunkt eintritt, steht für mich nicht mehr auf der Seite der Feinde des Faschismus alter und neuer Provenienz. Ich bin auch gegen Schaukelpolitik, aber mit der genau zu der von Witsch entgegengesetzten Tendenz.

Gruß Ulrich

[1] H.B. an Ulrich Knaudt (14.06.2014).

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H.B. an Ulrich Knaudt (23.06.2014)

Betreff: WG: Mein Artikel


Lieber Ulrich,

[…]

Bin Deine Texte einmal durch ‒.

muss noch ein zweites Mal durch, da, wie Du selbst sagst, einiger Diskussionsstoff drin ist.

S. u.:

Hat mit dem Thema zu tun.

Schau rein in den Artikel von Stefan B. ‒ ‚mein‘ 16-jähriger Bekannter!

Bis bald,

H.

Anhang:
An: H. B. (17.06.2014)

[…]

Was steckt hinter den Montagsdemonstrationen? Von Stefan B.

Der eigentliche Begriff der „Montagsdemonstration“ entstammt den Protesten der Bürger der DDR im Herbst 1989 als Bestandteil der friedlichen Revolution. Doch seit jüngsten Vorkommnissen wird jener Begriff als Euphemismus für den Brennpunkt bürgerlicher Verschwörungstheorie und apodiktischem Antiamerikanismus verwendet.

Bereits seit Anfang April 2014 tummeln sich bürgerlich naive „Friedensaktivisten“, Esoteriker , Putinanhänger, Chemtrailidioten und weitere skurrile Gestalten auf den Straßen Deutschlands und demonstrieren vermeintlich unter der Kappe des Friedens explizit gegen EU, Nato und das vorgebliche „amerikanische Finanzkapital“. Aber auch eine große Anzahl von pseudokommunistischen Antiimperialisten nutzt diesen Menschenauflauf um ihren heißgeliebten Wladimir Wladimirowitsch Putin als großen „Antifaschisten“ zu inszenieren. Als ob das nicht ohne hin schon genug Grund zum Kotzen wäre, wird das gegenwärtige Faktum noch von bürgerlichem Antiamerikanismus und dem allseits bekannten Feindbild Israel gesteigert.

Die Mobilisierung erfolgt größtenteils durch mehr oder weniger Prominente dieser Bewegung. Ein nennenswertes Gesicht ist der Journalist, Demonstrationsmoderator und leidenschaftlich antisemitische Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen, der durch seine ehemalige Radiosendung „KenFM“ beim RBB und der damit verbundenen Internetpräsenz große Bekanntheit erlangte. Jebsen wurde jedoch 2011 vom RBB entlassen nachdem eine Textnachricht von ihm, in der er den Holocaust indirekt leugnete , durch Henryk M. Broder veröffentlicht wurde. Doch bereits seit geraumer Zeit führt er einen YouTube-Channel mit dem selben Namen und bereitet seiner menschenfeindlichen Propaganda Gehör. Er publiziert auf jenem

Kanal ebenso Interviews mit bekannten Persönlichkeiten wie etwa dem Kabarettisten Serdar Somuncu und versucht hierbei stets die Aufmerksamkeit durch gezielte Fragen auf den vermeintlichen „Genozid in Gaza“ zu lenken um bekannte Vertreter seiner Interessen zu offenbaren. (Im hierbei genannten Beispiel wurde Jebsens Antizionismus jedoch durch Somuncu ordentlich Paroli geboten)

Bekannte Kampfbegriffe Jebsens sind: „Klimalüge“, „Diebe aus Jerusalem“, „Die NATO-Marionetten Deutschland GmbH“; „Deutscher Frühling“ oder etwa „Aufhebung des Besatzungsstatus“ Ein weiterer namhafter Initiator ist Jürgen Elsässer, der momentan als Chefredakteur des rechtspopulistischen

Monatsmagazins Compact tätig ist.

Elsässer wandte sich jenem Gedankengut jedoch erst gegen 2005 zu. Zuvor war er wie etwa Justus Wertmüller oder Jürgen Reents Mitglied des Kommunistischen Bundes in den 80ern und 90ern. Er gilt als einer der maßgeblich ursprünglichen Protagonisten der „antideutschen“ Bewegung in den 90ern und verfasste eine große Anzahl von Artikeln für die Zeitschrift „konkret“ bis er 2002 vom Herausgeber Hermann L. Gremliza aufgrund eines Zerwürfnisses über den nahenden Irakkrieg entlassen wurde. Im weiteren Werdegang wandte Elsässer sich dem Antiamerikanismus, brauner Esoterik, Homophobie und Verschwörungstheorien zu und gründete die „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“ , die durch ihre Nähe zu Holger Apfel bzw. zur NPD bereits einige Schlagzeilen bewirkte. Zudem vertritt Elsässer ethnopluralistische Positionen wie eine Schädlichkeit des „Vermischen[s]“ von Völkern. Im Sarrazin-Skandal stellte er sich auf die Seite des sogenannten „Sarrazin-Blocks“ und vertrat zweifellos antisemitische Positionen. „Den Multikulti-Strategen um Wulff sei gesagt: Die Identität Deutschlands wurzelt in der ‚deutschen Leitkultur‘. Diese wird geprägt durch die großen Strömungen des Christentums im Land. […] Jüdische und islamische Einflüsse gab und gibt es zwar. Sie als gleichberechtigt daneben stellen zu wollen, ist aber in der Sache unsinnig und in der Intention zerstörerisch für die deutsche Nationalkultur.“

Im Bereich der Montagsdemonstrationen handelt es sich um eine Vielzahl eher bürgerlich geprägten Menschen (mit einigen Ausnahmen), die die verschiedensten politischen Ideologien haben. Sie haben jedoch eines gemeinsam: Sie sind alle Anhänger bestimmter weniger aber für sie umso bedeutenderer Interessen und bestimmter Verschwörungstheorien.

Die Sozialwissenschaftlerin Jutta Ditfurth spricht deshalb von einer sogenannten „Minimalplattform“. Der größte Teil der Verschwörungstheorien handelt vom „Ukraine-Konflikt“. Nach dem Verständnis der Demonstrationsteilnehmer ist Putin nämlich nicht als Kriegstreiber, der mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit um sich wirft zu verstehen, sondern die Vorwürfe gegenüber ihm seien nur „antirussische Propaganda“ der USA und den Banken. Der Zusammenhang lässt sich jedoch nur schwer oder überhaupt nicht erfassen. Fakt ist: Russland greift zu militärischen Mitteln um in die Ukraine einzumarschieren. Die Demonstranten hingegen sehen das nicht als Konflikt zwischen der Ukraine und Russland sondern als Krieg der USA, der NATO und der Federal Reserve Bank gegen die Weltbevölkerung. Jutta Ditfurth erkannte hierbei, dass die ideologischen Übereinstimmungen sich hierbei genau in der Feindschaft zur Federal Reserve Bank zeigen und die breite Masse einen. Die Rede ist von der „Jüdischen Weltverschwörung“. Dieser Typus von Antisemit äußert seinen Antisemitismus nicht mehr durch die Leugnung der Shoa und der gleichen, sondern sie sagen „FED ist schuld“. Auf den entsprechenden Internetpräsenzen lassen sich darauf auch noch weitere antisemitische Merkmale erkennen. Die Rede ist

von antisemitischen Karikaturen oder auch Texten in denen beispielsweise eine offene Feindschaft gegenüber den Rothschilds propagiert wird.

Der Kontext ist sehr schnell entschlüsselbar, man muss jedoch die entsprechenden Worte kennen“ Jutta Ditfurth

Nun stellt sich die Frage wie Mensch überhaupt erst dazu kommt, Theorien, die faktisch nur als kompletter Irrsinn aufzufassen sind und von wohl mehr als fragwürdigen Personen kommen, zu glauben und sich ein explizites Feindbild zu schaffen. Jede Verschwörungstheorie basiert auf dem gleichen Prinzip: Der Initiator wählt ein gesellschaftliches Ereignis, dass die gesellschaftliche Stellung der breiten Masse zu bedrohen scheint und stellt die Frage „Cui bono?“ zu deutsch „Wem zum Vorteil?“ In den meisten Fällen, wie auch in der aktuellen Thematik, sind die Ursachen allen Übels Amerika und die Zionisten. Diese Wahl der vorgeblichen Täter entspringt nicht kompletter Willkür, da diese beiden Gruppen zumeist den „Tauschwert“ gegenüber dem eher bürgerlich belegten „Gebrauchswert“ personalisieren. Im weiteren Verlauf einer Verschwörungstheorie wird seitens der Initiatoren und Anhängern eine symbolische „Rechtfertigung“ der vermeintlichen Täter gefordert. Doch wie beweist man, etwas nicht getan zu haben in Themenkomplexen, in denen man gar nicht involviert war? Egal wie man in solch einem Szenario agiert – man kann die Vorwürfe in den Augen der Anhänger jener Theorien nur bekräftigen.

Durch diese Mechanik gelingt es die offensichtlichsten Irrationalitäten und konfusesten Behauptungen als glaubwürdig darzustellen. Folglich ist hiermit eine große Gefahr für die Allgemeinheit zu erkennen. Viele gesellschaftliche Ereignisse in der Geschichte, wie etwa der Antisemitismus nach dem ersten Weltkrieg sind auf derartige Theorien zurückzuführen.

Im hier genannten Beispiel ist die Rede von der sogenannten „Dolchstoßlegende“, die die Sozialdemokraten und Juden für die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg verantwortlich machen sollte. Auch der weitere Antisemitismus in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstammt zum Teil dem antisemitischen Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, indem durch gefälschte Dokumente das Treffen jüdischer Weltverschwörer zu belegen versucht wird.

In der Thematik des Nahostkonflikts stößt man selbst heute noch auf jenes Pamphlet. Außerdem leugnen viele derer, die sich mit Hamas und Hisbollah solidarisieren, den Holocaust mittels der bereits genannten Frage „Cui bono?“.

Hiermit wird versucht die Shoa als Inszenierung der Zionisten darzustellen damit diese überhaupt erst den Staat Israel gründen konnten.

Hierbei wird klar um welche Elendsgestalten es sich bei den Wortführern dieser Bewegung handelt und welch große Gefahren mit Verschwörungstheorien verbunden sind. Es stellt sich nun die Frage was die Initiatoren im weiteren Verlauf mit ihrer Fähigkeit die bürgerlichen Massen zu mobilisieren bewirken können und vor allem wie man sich ihnen, ihren Verschwörungstheorien und Verschwörungstheorien im Allgemeinen in den Weg stellen kann.
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Ulrich Knaudt an H.B. (24.06.2014)

Betreff: Re: WG: Mein Artikel


Lieber H.,
gefällt mir gut, der Text. Es gibt ein Foto in der j[ungen]W[elt] aus den 90er Jahren, auf dem Elsässer und der kürzlich verstorbene Redakteur [der Rubrik] des ‚Schwarzen Kanals‘ (Werner Pirker) einträchtig lächelnd nebeneinander sitzen. [1] Also existiert da seit eh und je eine Arbeitsteilung zwischen den linken und rechten Quislingen. Putin möchte die Nato, die EU zerschlagen und diese von den Vereinigten Staaten trennen und gleichzeitig seinen Einfluß auf Deutschland verstärken, bis daraus wieder so was wie die DDR wird. Denn nur dann hat Rußland eine Chance, wieder Welthegemonialmacht zu werden. Im Dezember 1941 endete Hitlers russischer Blitzkrieg vor Moskau (welch ein Wahnsinn und welche Selbstüberschätzung!) und der Plan, den USA einen autarken eurasischen Kontinent entgegenzusetzen und in der Ukraine nach der Vernichtung der Juden durch eine zweite Ostkolonisation deutsche Bauern anzusiedeln. Die Wolga als deutscher Mississippi. Putin hat den gleichen Plan, nur diesmal in entgegengesetzter Richtung. Sein eurasisches Projekt ist kein Phantasiegebilde, sondern ist mit der Annexion der Krim höchst real geworden. Schön, daß Dein junger Autor seine eigenen grauen Zellen benutzt. Ich dachte schon, die ganze Welt wär‘ verblödet und dem Leningrader Hütchenspieler auf den Leim gegangen. …

Viele Grüße

Ulrich

[1] junge Welt 25.-26.01.2014 National? Antinational? International! Werner Pirker blieb bis zum Tode konsequenter Kommunist. (Bildunterschrift: Damals noch gemeinsam bei Marx: Werner Pirker und Jürgen Elsässer (rechts) auf dem ersten jW-Mitarbeitenden-Wochenende in Marxhagen.)


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Ulrich Knaudt an H.B.
(10.07.2014)

Betreff: WIEDER AN BORD


Lieber H., […]

Ich habe lange an dem diesjährigen BLogbuch gearbeitet und so einiges aus den Augen verloren. Was unvermeidlich ist. Ich würde zu gerne was über den Begriff des Monopols bei Marx machen. Unterscheidet sich gravierend von dem Leninschen. Aber gleichzeitig finde ich es sinnvoll, die Marxschen Frankreich-Texte noch einmal durchzuarbeiten. Was Marx unter Klassenkampf versteht, unterscheidet sich ziemlich stark von seinen späteren Schülern in Rußland. Vor allem, was die Autonomie und Selbstbestimmung des Proletariats als Klasse gegenüber den anderen Klassen betrifft. Zu den Bauern hat er eine realistische Einschätzung (abhängige Kleinproduzenten), die darauf hinausläuft, daß diese unter bestimmten Voraussetzungen zu einem revolutionären Faktor werden können, es aber nicht wurden, weil sie Louis-Bonaparte hinterherhechelten. Ähnlich auch das Kleinbürgertum. Marx geht nie von der Illusion aus, dies[es] werde sich problemlos in eine Einheitsfront mit dem Proletariat begeben. Je stärker jenes auf seine Selbständigkeit pocht, desto geringer sind die Chancen, daß es sich mit dem Proletariat in einer revolutionären Situation gegen die Bourgeoisie zusammenschließt. Für die republikanischen Parteien (Bourgeoisrepublikaner) hat Marx nur Verachtung übrig, da sie sich der Ordnungspartei angeschlossen haben und von ihrer Revolution nur mehr lauter konstitutionelle Phrasen übrig geblieben sind…

All diese Volks- und Einheitsfront-Überlegungen, die heute so grassieren, sind ohne einen eindeutigen Bezug auf das Marxsche Proletariat blutleer und inhaltsleer. Nur, worin besteht dieses? Und wodurch ist es sich als Klasse verloren gegangen, bzw. hat es sich als Klasse verloren (gegeben)? Um das (vor allem im Zusammenhang mit den beiden Konterrevolutionen der 30er Jahre) zu klären, ist das Studium dieser Texte notwendige Voraussetzung. Und in diesem Zusammenhang ist der Begriff des Monopols bedeutsam. Vergessen wir nicht die ‚anti-monopolistische Demokratie‘, (die von Anfang an zum theoretischen Grundbestand der DKP gehört hat) deren Programmatik heute von der deutschen Bourgeoisie Punkt für Punkt abgearbeitet wird, um Stalins ’sozialistische Warenproduktion‘ doch noch Wirklichkeit werden zu lassen. Ob unter einer rosa-schwarzen oder einer rosa-rot-grünen Koalition, ist eigentlich egal…

Ich freue mich auf eine deftige Diskussion.

[…]

Viele Grüße

Ulrich

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Ulrich Knaudt an P.T. (21.07.2014)

Betreff: Re: BL114 DIE ZWEITE


[…] Übrigens, daß die Zahl der BLogbücher von Jahr zu Jahr immer weniger wird, hängt erstens damit zusammen, daß die Sachverhalte immer komplexer wurden und zweitens damit, daß sich der BLog-Charakter hin zu einem längeren Politaufsatz verschoben hat. Insgesamt vor allem aber damit, daß ich mich fast ganz allein auf weiter Flur wiederfinde und drei mal messen muß, bevor ich einmal abschneide, d.h. eine Entwicklung [, die] von der (als ’solidarisch‘ geforderten) Kritik zur ungeschützten offenen Konfrontation stattgefunden hat.

Viele Grüße …

Ulrich

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Ulrich Knaudt an H.B. (07.08.2014)

Betreff: DEJA VU


Lieber H., schön, daß Du Dich gemeldet hast bei all dem Stress. Ich hatte ja ursprünglich überlegt, daß wir uns anläßlich von D.[ieter]W.[olf]s Vortrag in Berlin hätten treffen können. […] [1] Hast Du was über den Vortrag gehört oder ihn gar gelesen? Das Thema ist bekannt, vermutlich noch mehr Richtung linker Habermas. Ich hab jedenfalls das Papier nicht lesen können. Ich arbeite wieder an KAP III und über das Monopol. Kompliziert wird es bei der Grundrente.

Herzliche Grüße

Ulrich

[1] Dieter Wolf: Zur Architektonik der drei Bände des ‚Kapitals‘. Veranstaltung in der ‚Hellen Panke‘ am 29.08.2014; siehe auch: dieterwolf.net
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Ulrich Knaudt an P.T. (27.08.2014)

Betreff: MUGABE


Ich schicke Dir zwei FAZ-Artikel, die ich zumindest für nachdenkenswert erachte, obwohl sie für Dich wahrscheinlich nix Neues darstellen.

1. Dem Autor über die Bedeutung der Regionen stimme ich zu, wenn auch nicht seinen Patent-Rezepten, nämlich darin, daß dieser Konflikt ziemlich zukunftsträchtig ist. [1]

2. Das Buch der beiden Spanier [2] enthält einige Stereotypen, weist aber laut Rezension auf entscheidende Probleme hin. Letzte Woche besuchte Mugabe China und wurde dort als ‚alter Freund‘ willkommen geheißen. China setzt die alte Dritte-Welt-Politik der SU, nur sehr viel ‚realistischer‘, fort. Dafür brauchen sie keine Revolutionen in der Dritten Welt und keine Befreiungsbewegungen. Im Gegenteil: In Syrien sind sie Teil der von Assad und dem Islamismus betriebenen Konterrevolution. Aber gerade deshalb so ‚erfolgreich‘.

[…] Ich studiere erneut KAP III. Dort finden sich auch interessante Rückblicke auf KAP II. …

Ulrich


[1] FAZ 15.08.2014 Chengang Yu: Chinas Planwirtschaft stößt an ihre Grenzen – Chinas Regionen liefern sich einen erbitterten Wettbewerb um das Wachstum. Denn nur an die Wirtschaftsleistung werden die von der Zentralregierung kontrollierten Kader gemessen. Die Erfolge sind mit schweren Nebenwirkungen erkauft: starke Exportabhängigkeit, Ungleichheit, Korruption, Umweltverschmutzung. Mit dem autoritären System sind diese Probleme nicht zu lösen.
[2] FAZ 18.08.2014 Der Panda ist hungrig – Zwei Spanier übertreiben Chinas „Beutezug“
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Ulrich Knaudt an H.B. (27.08.2014)

Betreff: HELLE PANKE


Lieber H., ich habe mich gefreut, wieder von Dir zu hören. Vielen Dank für den in der Tat sehr interessanten Text. [1] Wie soll ich ihn verstehen? Als ein Beispiel, wie man sich nicht mit dem „Schicksalsjahr 1939“ auseinandersetzen sollte, oder als eine Kritik an BLogbuch 1 2014? Oder beides? Dann wäre ich auf Deine Kritik gespannt!

Viele Grüße

Ulrich

[1] Karl-Heinz Gräfe: So werden Kriege gemacht. Schicksalsjahr 1939: Weg in den Zweiten Weltkrieg, Berlin 2014.

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Ulrich Knaudt an H.B. (01.09.2014)

Betreff: LOUIS BONAPARTE


Lieber H., ich schicke Dir Auszüge aus meinen Exzerpten zu K.[arl]M.[arx]:
Herr Vogt, aus denen deutlich wird, daß sich die Marxsche Position zu Rußland nicht wesentlich von der F.[riedrich]E.[ngels‘] unterschied. Sie sind von verschiedenen Seite an diese heran gegangen und haben sich auf ihrem gemeinsamen Standpunkt getroffen. [1]

Meine Exzerpte verschicke ich sonst eigentlich nicht. Aber Herr Vogt ist so überladen von zeitgenössischen Polemiken, historischen Rückgriffen und Satiren, daß die Wenigsten die Zeit haben, sich mit diesem Text ausführlich zu beschäftigen. (Abgesehen natürlich davon, daß der Inhalt den wenigsten Marxisten schmeckt). Mir kommt es hier ’nur‘ auf bestimmte Statements an, in denen K.M.s Haltung zu Rußland (und zu Deutschland als Nation) überaus klar wird.

Putin bewegt sich heute haargenau in der Tradition der Auswärtigen Politik des russischen Zarentums, was von den Kritikern seines Expansionismus in den meisten Fällen übersehen wird. Und damit gelten all die Aussagen von M.u.E. zu Rußland unmittelbar und konkret für die heutigen Verhältnisse (wobei die Marxisten dabei äußerst schlecht ausschauen).

Putins Politik ist aber schon deshalb nicht mit derjenigen der S[owjet]U[nion] zu vergleichen, weil J.[osef]S.[talin] die SU (auf welchem konterrevolutionären Weg auch immer) zur Welthegemonialmacht aufgebaut hat, was man von Putins Rußland heute nicht sagen kann. Ob die damalige Weltmacht revolutionär oder konterrevolutionär war, interessierte die internationale Bourgeoisie erst in zweiter Linie, Hauptsache, sie bekämpfte Hitler, anstatt sich mit ihm [Hitler] gegen ‚den Westen‘ zu verbünden (was ja zwischen 1939 bis 1941 durchaus der Fall war.) Putin kann heute nur deshalb wie eine Weltmacht gegen den ‚Westen‘ auftreten, weil er China in seinem Rücken weiß, was in Syrien hinreichend klar geworden ist. Diese Versicherung besteht aber nur solange, wie die Widersprüche beider in Asien nicht offen zutage treten. Daher muß sich Putin mit seiner zaristischen Expansionspolitik beeilen, wenn er Europa von Südosten (Syrien) her und aus dem Osten (Ukraine) in die Zange nehmen und dabei seine Geländegewinne vergrößern will… (Zumal die Regierungszeit Obamas sehr bald endet.)

Noch etwas zu diesem Punkt: Recht auf bzw. Freiheit zur Lostrennung. Dir … wird der Unterschied zwischen einem Recht, das jemand besitzt, wahrnimmt, oder nicht hat und der Freiheit, die ihm von jemand anderem gewährt oder verweigert wird, klar sein. Das eine ist ein bürgerlicher, das andere ein feudaler Topos. Der Grundherr, Souverän etc. gewährt Freiheiten, Recht dagegen hat man oder man hat es nicht. Um dieses gibt es (rein theoretisch) Streit ‚auf Augenhöhe‘.

Wie sein Text zur N[ationalen]F[rage] zeigt, schwankt auch J.S. an diesem Punkt. (DEBATTE 1)[2] Das Recht auf Lostrennung wird, [nicht] wie Stalin meint, … verliehen, sondern die Völkerrechtssubjekte haben es, haben es nicht, nehmen es wahr oder es wird ihnen verweigert. Dann erkämpfen sie es politisch, gewaltsam oder friedlich usw.

Das Recht auf Lostrennung können nur bereits (potentiell) vorhandene Nationen für sich reklamieren; es wird aber auch von einzelnen Nationalitäten gefordert, die es laut F.[riedrich]E.[ngels] aber in ihrer tausendjährigen Geschichte bisher nicht geschafft haben, sich als Nation zu konstituieren und zu etablieren. Die Krim ist nie eine Nation gewesen. Ohne russische Besetzung hätte sie vielleicht im 18. Jahrhundert eine werden können. Aber dazu hätten sich die Tataren in der Neuzeit aus ihrem Status als Satrapen der Türkei befreien müssen. Das geschah nicht. Die Krim wurde stattdessen von Katharina II. erobert, nach Rußland eingemeindet und damit ein russisches Gouvernement.

Außerdem haben in diesem Jahr nicht die Tataren, sondern die Russen auf der Krim sich mit Putins Hilfe von der Ukraine ‚losgetrennt‘, wozu sie völkerrechtlich nicht berechtigt waren, da sie [auf der Krim] keine Nation sind. Daß sie Russen sind die andern Völker der Krim haben ohnehin nicht für die Eingemeindung gestimmt gibt ihnen noch lange nicht das Recht, sich von der Ukraine loszutrennen. Oder die Grenzen der Nachkriegszeit müssen, wie unter Hitler in den 30er Jahren, neu gezogen werden. Siehe im letzten BLogbuch die Unterscheidung zwischen Recht auf Lostrennung und ‚Recht auf Separation‘. [3] Letzteres Recht ist eine Putinsche Fiktion und die seiner linken und rechten Freunde…

Soweit erst mal.

Unsere Diskussion hat mir große Freude gemacht. Vielleicht ergibt sich doch noch mal die Gelegenheit, dies ausführlicher und nicht nur mit dem Telefonhörer in der Hand zu tun.

Alles Gute und viele Grüße

Ulrich

[1] parteimarx.org REAKTIONEN 2014 ANHANG 2.
[2] parteimarx.org DEBATTE 1 Die unscharfe Relation Marx/‘Marxismus‘ – Reflexionen über Revolution und Konterrevolution in Deutschland.
[3] parteimarx.org BLogbuch 1 2014 Revolution und Konterrevolution in Europa.

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P.T. an Ulrich Knaudt (02.09.2014)


[…] Über die Afrikapolitik Chinas wird in den entsprechenden akademischen Kreisen viel diskutiert. Die alten Symbole der Solidarität zwischen Drittweltländern, die unter Mao bedient wurden, werden da jetzt wieder aufgewärmt. Mit den realen Verhältnissen hat das aber nicht mehr viel zu tun trotzdem ist es etwas, mit dem sich gerade Sinologen gerne beschäftigen, weil Sie in der Analyse von Propagandatexten mit ihren Sprachkenntnissen brillieren können. Was Chinas Rolle im Nahen Osten angeht, so denke ich nach wie vor, dass es dort direkt so gut wie gar nicht involviert ist. Sicherlich hat man in Zhongnanhai Assad die Daumen gedrückt und auf ein Scheitern des Volksaufstandes gehofft. Jetzt sieht sich aber China, wie alle anderen auch, mit dem IS konfrontiert, der die nicht unerheblichen chinesischen Investitionen im Irak bedroht. Vielleicht wird dies auf Dauer eine aktivere Nahostpolitik Chinas motivieren.

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Ulrich Knaudt an GdS (22.09.2014)


Hallo (ehemaliges) Buchladen-Kollektiv,

im letzten Absatz des Artikels Sieben Millionen… in GdS 3-5/2014 [1] heißt es [abschließend], daß als Vorbereitung zu der darin vorgenommenen Stellungnahme zur »aktuellen Krise [?] in der Ukraine« zunächst das »Hauptgewicht auf die Verbrechen des deutschen Imperialismus in der Ukraine insbesondere in der Zeit des Zweiten Weltkriegs« zu legen war und daß darin »die unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis der Entwicklung der letzten 25 Jahre und der hochaktuellen angespannten [?] Lage in der Ukraine« bestehen soll. Dem stimme ich, was die Methodik betrifft, grundsätzlich zu, wenngleich ich die konkrete Analyse in diesem Artikel für die Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine für äußerst einseitig halte. Dazu wollte ich mich aber erst äußern, wenn, wie angekündigt, der zweite Teil in der nächsten Ausgabe von GdS hätte erscheinen sollen. Dies ist, wie aus GdS 6-7/2014 hervorgeht, erst mal nicht der Fall gewesen. Daher nur wenige Bemerkungen zu GdS 3-5/14:

Die Analyse der Vorgeschichte der gegenwärtigen Lage in der Ukraine in GdS 3-5/2014 kommt mir so vor, als wäre GdS Teil der Propagandaabteilung der nicht mehr existierenden KPdSU(B), denn
1. läßt sich die Vorgeschichte der heutigen Ukraine nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht darstellen ohne Einbeziehung dessen, was die Historiker seit Öffnung der Archive in der ehemaligen S[owjet]U[nioin] seit Anfang der 90er Jahre an historischen Tatsachen zutage gefördert haben und was nach heutiger Erkenntnis die Entscheidung von Teilen der Bevölkerung, Kollaborateure der Nazis zu werden, zumindest verständlicher, wenn auch nicht verzeihlich machen würde. Wir Kommunisten sind nicht das Weltgericht, sondern bekanntlich machen die Menschen (also auch wir) ihre eigene Geschichte, wenn auch nicht aus freien Stücken…

2. sollte unsere ‚Erzählung‘ über den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine über diejenige der heutigen Historiker darin hinausgehen, daß sie sich von der Vorgehensweise der Marxschen Analyse der Klassenkämpfe leiten läßt. Dazu gehört bei der Untersuchung der Vorgeschichte des Einmarsches der Nazis in die ‚bloodlands‘ [2], auch Stalins Krieg gegen die unterdrückten Nationen der S[owjet]U[nion] im allgemeinen und gegen ‚die Bauern‘, hier der Ukraine, ‚als Klasse‘ im besonderen. Ich hoffe, daß in der nächsten Stellungnahme von GdS zur Analyse der Lage in der Ukraine nicht, wie von Frank Brendle in jW vom 06./07.09., der Anfang der 30er Jahre dort stattgefundene Holodomor zu einem »Mythos« erklärt wird. [3] In dem von Stalin und seinem ZK gewaltsam provozierten Hungertod von Hunderttausenden ukrainischer Bauern verschränken sich in nie gewesener Weise die ‚Nationale Frage‘ mit der ‚Bauernfrage‘, durch deren ‚Lösung‘ das Ende des Sozialismus früher oder später zwangsläufig hat eintreten müssen. (Gegen uns Kommunisten ist die Geschichte unerbittlich und gerecht darin, uns auch den geringsten Fehler nicht zu verzeihen.)

Der russische Ökonom und Trotzki-Anhänger Preobraženskij (siehe: DEBATTE 3 [Vortrag], 8f.) [4] war sich mit Stalin in der pauschalen Charakterisierung des kollektiven reaktionären Charakters der Bauern der SU einig und so auch darin, diese für die ursprüngliche Akkumulation im Sozialismus zum Aufbau der Schwerindustrie heranzuziehen und sie generell dafür zahlen zu lassen. Nicht nur wie üblich in bar oder in Naturalien (Getreideernte), sondern kollektiv mit ihrem Leben, seitdem den ukrainischen Bauern Ende der 20er Jahre durch das Aufspüren auch der allerletzten Getreidereserven von der Sowjetmacht die Existenzgrundlage systematisch entzogen worden war. Stalins Krieg gegen die ukrainischen ‚Bauern als Klasse‘ findet in Hitlers Krieg gegen ‚den slawischen Bauern als Rasse‘ seine spiegelbildliche Entsprechung; letzterer geht allerdings mit der Massenvernichtung der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung, dem Kommissarbefehl u.a.m. noch um einiges darüber hinaus. Das aber macht Stalins Krieg gegen die Bauern und nationalen Minderheiten um keinen Deut besser. Wenn ein nicht geringer Teil der ukrainischen Bevölkerung sich daher seit Anfang der 30er Jahre (spätestens aber seit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939) endgültig von zwei Seiten in die Zange genommen sah, war es häufig allein dem Zufall überlassen, für welche Seite sie sich entschied oder zu wessen Gunsten sie die Seiten wechselte. Daher halte ich die pauschale Verurteilung der Ukrainer, die sich zwischen Hitlers Rassenkrieg und Stalins Holodomor nicht für Stalin entscheiden konnten und wollten, für selbstgerecht, unhistorisch und Wasser auf die Mühlen der Propaganda Putins und der Putinschen Linken. Selbst die Nazis konnten sich ihrer ukrainischen Kollaborateure nicht sicher sein und ließen z.B. Bandera in Sachsenhausen eine Art KZ-Ehren-Haft angedeihen. (Diese ganze Verquickung von Hitlers Rassenkrieg und Stalins ‚Klassenkrieg‘ sehr gut zusammengefaßt in: Timothy Snyder, Bloodlands.).

3. Damit sind wir an dem entscheidenden Punkt der Vorgeschichte des Rassen- und des ‚Klassenkriegs‘ gegen die ukrainischen Bauern angelangt: der Verschränkung zweier Konterrevolutionen, d.h. der institutionellen Konterrevolution Stalins und der präventiven Konterrevolution Hitlers, die sich beide in den ‚bloodlands‘ miteinander im Clinch liegend dort gegen die ukrainische Bevölkerung ausgetobt haben. Nur vor diesem klassenanalytischen Hintergrund ist die Propaganda für die neo-zaristische Politik Putins (in den von der Regierung beherrschten russischen Medien) gegen die Ukraine zu verstehen, wovon ein Widerschein auf die politischen Verhältnisse und die Öffentliche Meinung in Deutschland fällt. Weil die neu-deutsche (sollte man besser sagen: post-68er?) Bourgeoisie unter allen Umständen vermeiden möchte, immer noch mit dem Hitlerschen Rassenkrieg in Verbindung gebracht zu werden, macht sie der Putinschen Aggression gegen die Ukraine ein Zugeständnis nach dem nächsten, nicht zuletzt weil in Rußland viel deutsches Kapital steckt, das nicht von heut‘ auf morgen abgezogen werden soll und kann: Metro, Tönnies (= Schalke = Gazprom), BASF (= Wintershall) und wie sie alle heißen. Merkel ist es mit Hilfe ihrer Bismarckschen Gleichgewichtspolitik gelungen, diese divergierenden Tendenzen bisher unter einen Hut zu bringen; sie wird sich aber mit der zu erwartenden zunehmenden Aggressivität des stark angeschlagenen Putin-Regimes schließlich für eine Seite stärker ins Zeug legen müssen, was zwangsläufig eine Spaltung der Bourgeoisie hervorrufen würde, wofür die Vertreter der Appeasementpolitik: Cordes (= Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft = Metro), linke SPD, linke CDU (Willy Wimmer in: jW vom 13./14.09.) [5], AfD, Die Linke u.v.a.m. bereits politisch die Trommel rühren. Damit entstünde aus Putin-Linker und Teilen der AfD (siehe die Linken Wechselwähler in Brandenburg) eine Bürgerkriegspartei mit der Perspektive, den bürgerlichen Staat zu übernehmen und hier eine Art Putinschen Bonapartismus zu installieren. (Dessen Vorboten wurden in BLogbuch 1 2014 anhand einiger Symptome analysiert). [6] Dieser Bonapartismus steht und fällt aber mit Rußlands Ausdehnung nach Westeuropa, die nicht ohne die Rückendeckung Chinas auskommen wird, was sich an beider gemeinsamen Syrien-Politik in der UNO gezeigt hat. Das nachzuvollziehen, erforderte eine eigene Untersuchung. (Dazu vielleicht mehr im nächsten BLogbuch) Soviel zur Ukraine einst und jetzt.

Sehr gut fand ich den Hinweis auf die engen Beziehungen des Putinismus zu den russischen Neonazis. [7] Wenn das der deutschen Linken zur Neubestimmung ihres Verhältnisses zu Putin immer noch nicht reicht, dann besagt das einiges über ihre Qualität als potentieller Bürgerkriegspartei. Leider steht dieser Hinweis auf die russischen Nazis in GdS ziemlich für sich alleine da, obwohl der großrussische Chauvinismus solcher Leute wie Schirinowski oder der russischen KP (Sjuganow) dem offenen Rassismus dieser Gruppen in nichts nachsteht und diesem politisch den Boden bereitet hat. Für alles zusammen bildet das eurasische Projekt des Putin-Beraters Dugin die völkische Basis, das sich ja keineswegs nur auf eine eurasische Wirtschaftsgemeinschaft beschränkt, sondern tief im politisch weißen Großrussentum verankert ist.

Ich bin daher gespannt auf den Teil 2 der Stellungnahme von GdS zur Analyse der Lage in der Ukraine.

Mit solidarischen Grüßen

Ulrich Knaudt

[1] Gegen die Strömung 3-5/2014 Teil I der Stellungnahme zur Analyse der Lage in der Ukraine. Deutscher Imperialismus, Hände weg von der Ukraine! Sieben Millionen von den Nazis ermordeten Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine klagen noch heute an.

[2] Siehe den gleichlautenden Titel des Buches von Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010.

[3] junge Welt 06.09.2014 [Beilage] Frank Brendle: Krieg der Erinnerung Nationalistische Geschichtsdeutungen in der Ukraine spalten das Land. »Ukrainische Nationalisten – weit über die rechtsextreme „Swoboda“-Partei hinaus – haben zwei große geschichtspolitische Themen: Die Rehabilitierung der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und und ihres Anführers Stepan Bandera und die Deutung des sogenannten Holodomor, der großen Hungersnot von 1932/33, als sowjetischen Genozid am ukrainischen Volk. [Überschrift: Mythos Holodomor] Seriöse Historiker gehen davon aus, daß die sowjetische Führung die Naturkatastrophe durch überhöhte Getreideabgaben und Abriegelung der Hungergebiete künstlich verschärft hat. Die Geschichtswissenschaftler schätzen die Opferzahlen auf drei bis vier Millionen Menschen. Obwohl der Hunger auch in anderen Teilen der Sowjetunion grassierte, legte das Parlament in Kiew 2006 gesetzlich fest, der Hunger sei ein absichtsvoller Völkermord an den Ukrainern gewesen.«
[4] parteimarx.org Das Wertgesetz und der Sozialismus im 20. Jahrhundert – Seine Auswirkungen auf die gesellschaftliche Praxis in der frühen UdSSR und deren Rückwirkung auf die heutigen Debatten.
[5] junge Welt 13.09.2014 [Beilage] Gespräch mit Willy Wimmer: „Es gibt ein Nato-Netzwerk in den deutschen Medien“ Über die geopolitischen Interessen der USA in Europa, über Helmut Kohl und den Angriff auf die parlamentarische Demokratie.
[6] parteimarx.org BLogbuch 1 2014: Revolution und Konterrevolution in Europa.
[7] Gegen die Strömung 3-5/2014 Putins Heuchelei entlarven – Ein Prüfstein.

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F.W. an mail@parteimarx.org (14.10.2014)

Betreff: the working class has its own foreign policy


hallo genosse,

ich bin vor kurzem auf deine website aufmerksam geworden und habe einige deiner beiträge mit großem

interesse gelesen.

vielleicht wird dich dieser text hier interessieren, der zumindest versucht, „den zusammenhang von

klassenkampf und internationaler politik“, von dem du in deinem text „kein schritt vorwärts ohne zwei

schritte zurück“ geschrieben hast, anzugehen:

http://weltcoup.wordpress.com/2014/10/11/anleitung-zum-kampf/

mit kommunistischen grüßen,

f.
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Ulrich Knaudt an F.W. (21.10.2014)


Lieber F. W.,

über Deine Zuschrift und Dein anhängendes Paper [1] habe ich mich sehr gefreut: erstens, weil solche Zuschriften selten vorkommen, zweitens aber, weil wir, wie aus Seite 6 Deines Textes ersichtlich, offenbar die gleichen Vorlieben für dieselben Marxschen Textstellen haben. Das betrifft neben den Schlußsätzen aus der Inauguraladresse [2] und Marxens Formulierung, daß »die working class its own foreign policy« [3] habe, die ‚Partei Marx‘, zu der es von Marx kaum explizite Aussagen gibt, da es ihm darauf ankam, die ‚Partei Marx‘ praktisch wahr werden zu lassen und er wenig Lust verspürte, wie ihm u.a. die preußische Geheimpolizei im Kölner Kommunistenprozeß unterstellte, weder von ihr noch von der internationalen Arbeiterklasse zum ‚Arbeiterdiktator‘ gekürt zu werden. [4] Heute käme es aber darauf an, unsere Parteinahme für den Kommunismus des Manifests [der kommunistischen Partei] aus der Sackgasse, in die er von den Nachfolgern Lenins gefahren wurde, herauszuholen und den engen Parteibegriff der Bolschewiki zu überwinden, ohne jedoch den revolutionären Charakter ihres ursprünglichen Versuchs, den Marxschen Kommunismus zu verwirklichen, preiszugeben. Dazu wurde das Projekt partei Marx gestartet. [5]

Auch ergeben sich viele Gemeinsamkeiten zu der politischen Tendenz Deines Papiers, so z.B., wenn Du auf Seite 5 resümierst: »Der Kommunismus ist modernistisch oder er ist nicht. Der politische Hauptfeind ist und bleibt deshalb der regressive Antikapitalismus, der sich als Nachhutkämpfer der vorbürgerlichen Klassengesellschaft geriert und eine Rückkehr zu gemeinschaftlichen Formen auf völkischer und religiöser Grundlage propagiert, was auf den selbstmörderischen Versuch hinausläuft, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.« Das ist eine klassenanalytische Definition des Faschismus, wie sie bei den heutigen Antifaschisten nicht vorzufinden ist, deren Anti-Faschismus lediglich auf Demokratieverlust hinausläuft. Die Frage aber, ob der Kapitalismus überhaupt einen Normalzustand kennt bzw. erreichen kann, läuft darauf hinaus, der Verrücktheit der ökonomischen Formen, die Marx in der Wertformanalyse und den Kapiteln über das zinstragende Kapital entlarvt, zum Normalzustand zu erklären und den Patienten als geheilt zu entlassen. Sind der Faschismus und der Ausnahmezustand nicht viel eher Ausdruck dieser verrückten Normalität, die letztlich nur im Klassenkampf überwunden werden kann? [6] Dazu wären die »own foreign policy« der »working class« und, nicht zu vergessen, deren politische Ökonomie, erforderlich. Sonst bleibt das Proletariat des Manifests ein höchst sinnloses Abstraktum.

Aus der Datierung der ins Archiv von anleitung-zum-kampf einzustellenden Texte schließe ich, daß es sich um ein noch junges ‚Unternehmen‘ handelt, das, so ist zu hoffen, erfolgreich fortgesetzt werden wird.

In der Oktoberrevolution (OR) ist zutage getreten, daß das internationale Proletariat bisher vor allem mit drei Hinterlassenschaften des Ancien Régime der Feudalgesellschaft zu tun hatte, von deren Beseitigung der Fortgang der OR abhing: der Nationalen Frage (NF), der Bauernfrage (BF) und der Judenfrage (JF). Hitler war es angesichts der Weltwirtschaftskrise vor 80 Jahren und in der vorrevolutionären Situation der 20er Jahre gelungen, aus diesen drei, in der Programmatik und Politik der KP so gut wie nicht vorkommenden, ungelösten Fragen eine demagogische Synthese zurecht zu zimmern, mit deren gewaltsamer Lösung das deutsche Volk aus dem Albtraum von Versailles zu seiner nationalen Zukunft erweckt werden sollte. Dem hatten die Kommunisten außer der sie selbst isolierenden Gegengewalt politisch nicht viel entgegenzusetzen.

Die Bolschewiki haben, was die BF betrifft, den Fehler gemacht, Marxens Position zu den französischen Bauern bruchlos auf Rußland zu übertragen. Dabei stammt diese Überlegung nicht einmal von Marx selbst, wie aus den von Dir zitierten Briefentwürfen an Vera Sassulitsch hervorgeht, sondern er betrachtete die russische Dorfgemeinde als Keimform des Kommunismus in Rußland, allerdings nur für den Fall, daß dort überhaupt eine Revolution stattfand. (Siehe dazu DEBATTE 4 und 5) Als dieser Fall dann auch eintrat, stützten sich die Bolschewiki fatalerweise auf die Marxschen Aussagen zu den französischen (die er in Der Bürgerkrieg in Frankreich selbst wiederum differenziert hat) und nicht zu den russischen Bauern. Die Folgen dieses Mißverständnisses waren katastrophal. [7]

Was die NF betrifft, so hat Lenin gegen Luxemburg und später gegen Stalin das ‚Recht auf Lostrennung‘ der unterdrückten Nationen des Russischen Imperiums mit aller Kraft verteidigt, mußte sich aber zum Schluß dem linken Sozialimperialismus Stalins und seiner Fraktion in der KPdSU geschlagen geben. Abgesehen davon war in den Endlosdebatten der Bolschewiki niemals der Gedanke aufgekommen, daß und wie die BF mit der NF zusammenhing, was z.B. im Krieg gegen die nationalistische ukrainische Rada deutlich wurde, in dem die Bolschewiki gezwungen waren, das Land der russischen Großgrundbesitzer gegen die ukrainischen reaktionären Kleinbürger der Kiewer Regierung zu verteidigen, anstatt gemeinsam mit der Dorfgemeinde und den Arbeitern gegen die von den Deutschen gekaufte ukrainische (Klein-)Bourgeoisie den Klassenkrieg zu führen. Dementsprechend verlief dann auch der Bürgerkrieg in der Ukraine mit den bis zum heutigen Tag zu verspürenden Nachwirkungen.

Auch was die JF betrifft, halte ich mich an Marx, der am Schluß von Zur Judenfrage schreibt: daß die Entfaltung von religiösen Gemeinschaften und Sekten in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern, wie den USA, letzten Endes nur dadurch überflüssig gemacht werden kann, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen das religiöse Sektierertum entsteht, aufgehoben werden und nicht, wie Bruno Bauer meinte, die Juden erst ihrem Judentum abschwören und Demokraten werden müssen, bevor sie in die bürgerliche Gesellschaft eintreten dürfen. [8] Das hielt Marx für eine reaktionäre Scheinlösung, was ihm bis heute viele Feinde unter Philo- wie Anti-Semiten geschaffen hat, denen das Verdikt vom jüdischen Selbsthaß leicht über die Lippen geht.

Was aber auch nicht sehr verwunderlich ist, denn die Pointe in der von Marx vorgeschlagene Aufhebung des religiösen (und ethnischen) Sektierertums betrifft heute auch den Staat Israel, wo die kapitalistische Produktionsweise tagtäglich dafür die Voraussetzungen schafft. Aber da es sich gleichzeitig um einen als koloniales Projekt gegründeten und per Selbstdefinition (eine Konstitution hat dieser genauso wenig wie Deutschland, sondern nur ein Grundgesetz) jüdischen Staat handelt, würde die Abschaffung des jüdischen Sektierertums durch die Aufhebung seiner kapitalistischen Voraussetzungen zugleich die Abschaffung dieses Staates bedeuten. Daraus ergibt sich das fatale Fehlurteil, siehe zuletzt die Buchvorstellung des neuen Buches von Stephan Grigat, [9] daß die Forderung nach einer internationalen Verurteilung der völkerrechtswidrigen Politik des Staates Israels mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Diesem Verdikt können die westlichen Kritiker am Vorgehen der israelischen Regierung, so Grigat, nur entgehen, wenn sie deren Handlungsweise in toto gutheißen. Den diesem Fehlschluß zugrunde liegenden Widerspruch benutzen wiederum die Islamisten und die antiamerikanische Linke dazu, um die Existenz des Staates Israel, bereits vor der Aufhebung der gesellschaftlichen Voraussetzungen seines Sektierertums zu liquidieren. Aber gerade weil die Islamisten dasselbe mit allen anderen religiösen und ethnischen Minderheiten im Nahen Osten vorhaben oder bereits betreiben, ist dieser Staat Israel heute notwendig, um den Islamismus zu beseitigen und nicht etwa (wie die internationale Linke meint), aufzuheben.

Die Liquidierung des Staates Israel zu verhindern, obwohl es sich um ein koloniales Projekt handelt und die Aufhebung seines nationalen und religiösen Sektierertums voranzutreiben, sind zwei Paar Schuhe. Aus der von Dir zitierten Britischen Herrschaft in Indien wird abgesehen von dem berühmten Nektar-Zitat deutlich, [10] daß Marx im Gegensatz zu seinen heutigen linken Gegnern die Zweischneidigkeit der westlichen Kolonialherrschaft betont, von der bis zu einem gewissen Grad der ganze urwüchsige Atavismus der indischen Gesellschaft verschwinden wird und von der ausgehend die revolutionären Klassen das reaktionäre Gebäude schließlich zum Einsturz bringen werden (die dünne bürgerliche Oberschicht hat es bis heute geschafft, diesen Zeitpunkt auf den St. Nimmerleinstag hinauszuzögern).

Ähnlich sind auch die sog. Farbigen Revolutionen in den arabischen Ländern und in den Staaten des ehemaligen ‚Sozialistischen Lagers‘ außerhalb der EU (und nun auch in Hongkong) eine Reaktion der kleinbürgerlichen Massen (die trotz ihrer westlichen Ausbildung keine Chance haben, einen Job zu bekommen – denn dazu müßte der Kapitalismus in diesen Ländern ein ‚Wachstumsmodell‘ für den Weltmarkt haben) auf den Rückzug der einstigen Weltmacht Sowjetunion aus der sog. Dritten Welt, wozu die wichtigsten Arabischen Länder gehörten. Denken wir nur daran, daß Ägypten und Syrien in den 60er Jahren eine arabisch-sozialistische Konföderation bilden wollten, daß die Baath-Partei (Sozialistische Partei der arabischen Erweckung) in Syrien und dem Irak gleichzeitig und zeitweise gemeinsam an der Regierung waren. Dies alles ist spätestens mit dem, was die Linke als ‚Epochenbruch‘ bezeichnet, d.h. mit dem Zusammenbruch der SU, den Bach runter gegangen… Und eben die Folgen dieses ‚Epochenbruchs‘ sind heute Inhalt des linken Revisionismus (nicht mehr als Revision der Marxistischen Theorie usw., sondern als Politik der Rückgängigmachung dieses unvermeidlichen und heilsamen ‚Epochenbruchs‘!)

Die Linke erweist sich damit als nicht weniger revisionistisch wie die Islamisten! Beide wollen „das Rad der Geschichte zurückdrehen“. Die einen bis ins 7. Jahrhundert, die andern in die Zeit der 60er, 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, da die SU als Zweiter Sieger über den Hitler-Faschismus Weltmacht Nummer Zwei geworden war. Daher sehen sie heute großzügig über die Menschheitsverbrechen des Assad-Regimes hinweg (BLogbuch 1-2014) [11] und daher sind sie wie schon Rosa Luxemburg der Ansicht, daß die Ukraine als Staat noch nie existiert hat. [12] Womit sie wortwörtlich Putins panslawistische Propaganda nachkäuen, worin er sich das Recht rausnimmt, was er von den alten Zaren gelernt hat, sich von der Ukraine ein Stück nach dem anderen abzubrechen, um sie am Ende ganz zu verspeisen… Ich lasse es einmal dabei bewenden, weil ich vielleicht auch dem nächsten BLogbuch vorgreife.

Ich denke, das Wichtigste wurde gesagt und hoffe auf eine weiterhin fruchtbare Diskussion, in der sich, was hier nur angerissen wurde, die obigen drei Fragen noch ausführlicher erläutern lassen.

Mit solidarischen Grüßen

Ulrich Knaudt

[1] http://weltcoup.wordpress.com/2014/10/11/anleitung-zum-kampf/ Anleitung zum Kampf – the working class has its own policy.
[2]
Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation MEW 16 (5-13),13: »Der schamlose Beifall, die Scheinsympathie oder idiotische Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen Europas dem Meuchelmord des heroischen Polen und der Erbeutung der Bergveste des Kaukasus durch Rußland zusahen; die ungeheueren und ohne Widerstand erlaubten Übergriffe dieser barbarischen Macht, deren Kopf zu St. Petersburg und deren Hand in jedem Kabinett von Europa, haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen. Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
[3] Siehe
Karl Marx an Friedrich Engels am 25.02.1865 MEW 31 (83-86), 86; bzw. parteimarx.org STREITPUNKT DEBATTE 1 Die unscharfe Relation Marx/’Marxismus’, Fn. 7.
[4] Siehe parteimarx.org
KRITIK 1 ANHANG 3.
[5] Siehe parteimarx.org
KRITIK 1 ANHANG 2.
[6] Siehe parteimarx.org
DAS KAPITAL DEBATTE 1.
[7]
Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation 3Berlin 1891, MEW 17 (319-362). Wer sich die Mühe macht, seine MARX-DvD unter dem Stichwort Bauern zu starten, wird erstaunliche Entdeckungen machen, u.a. die, daß es Louis Bonaparte zwar mit den simpelsten Tricks gelungen war, 1848 die Masse der Bauern als Wähler zu gewinnen, daß es ihm aber je länger er an der Macht bleib, um so weniger gelang, sie bei der Stange zu halten. Hier eines von vielen Beispielen auf S. 344,345 heißt es: »Die Kommune hatte vollständig recht, als sie den Bauern zurief: „Unser Sieg ist eure Hoffnung!“ Von allen Lügen, die in Versailles ausgeheckt und von den ruhmvollen europäischen Preßzuaven weiterposaunt wurden, war eine der ungeheuerlichsten die, daß die Krautjunker der Nationalversammlung die Vertreter der französischen Bauern seien.« Die Commune hätte dem Bauern die Blutsteuer abgenommen, eine wohlfeile Regierung geschaffen und seine Blutsauger (Notar, Anwalt, Gerichtsvollzieher u.a.) in von ihm gewählte und besoldete, ihm verantwortliche Beamte verwandelt, sie hätte ihn von den Flurschützen, Gendarmen, Präfekten befreit und die auf Verdummung aus seienden Pfaffen durch der Aufklärung verpflichtete Lehrer ersetzt. Da der Bauer jemand ist, der rechnet, hätte er es akzeptiert, wenn die Pfaffen, statt von den Steuereinnehmern vom Frömmigkeitsbetrieb der Gemeinden abhängig gewesen wären. »Dies waren die großen unmittelbaren Wohltaten, die die Herrschaft der Kommune und sie nur den französischen Bauern in Aussicht stellte. Es ist daher ganz überflüssig, hier näher einzugehn auf die verwickelteren wirklichen Lebensfragen, die die Kommune allein fähig und gleichzeitig gezwungen war, zugunsten des Bauern zu lösen die Hypothekenschuld, die wie ein Alp auf seiner Parzelle lastete, das ländliche Proletariat, das täglich auf ihr heranwuchs, und seine eigne Enteignung von dieser Parzelle, die mit stets wachsender Geschwindigkeit durch die Entwicklung der modernen Ackerbauwirtschaft und die Konkurrenz des kapitalistischen Bodenbaus sich durchsetzte.«
[8]
Karl Marx: Zur Judenfrage MEW 1 (347-377), 354: »Der [Wahl-]Zensus ist die letzte politische Form, das Privateigentum anzuerkennen. Dennoch ist mit der politischen Annulation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt.« usw.
[9] cafe.critique@gms.de 17.09.2014
Stephan Grigat: Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke & die iranische Bedrohung, Hamburg 2014: Konkret Texte, Band 64, 184 Seiten, 19,- Euro.

[10] Siehe [1] und Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien MEW 9 (220-226), 226: »Britische Industrie und bürgerlicher Handel schaffen diese materiellen Bedingungen einer neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische Revolutionen die Oberfläche der Erde geschaffen haben. Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«
[11] parteimarx.org
BLogbuch 1 2014: Revolution und Konterrevolution in Europa.
[12] Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution GW 4 (332-365), 351: »Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigefürht. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hat, die haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist die Ukraine, die eine fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von eine paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionär-romantischen Gedichten Schewtschenkos….« usw.
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F.W. an mail@parteimarx.org (24.10.2014)

Betreff: Aw: Fwd: Re: the working class has its own foreign policy


hallo ulrich knaudt,

nochmal vielen dank für deinen text! Angesichts … ist mein zeitfont gerade

sehr begrenzt. ich bitte deshalb wegen meiner antwort um ein bisschen geduld. bis nächste woche will ich

aber etwas schreiben.

beste grüße,

f.w.
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Ulrich Knaudt an F.W. (24.10.2014)

Betreff: Re: Fwd: Re: the working class has its own foreign policy.


Hallo F. W., die Revolutionen sind die Lokomotiven des Weltgeschichte, aber sie fahren ja nicht ständig unter Volldampf. Manchmal streiken sogar die Lokführer. Kein Stress!

Viele Grüße

Ulrich Knaudt

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Ulrich Knaudt an H.B. (31.10.2014)


Lieber H., Ende August bekam [ich] von Dir die Empfehlung zur Lektüre von „So werden Kriege gemacht“. [1] Ich hatte von demselben Autor zum selben Thema etwas im ND gelesen und habe mir, obwohl ich seine Ausführungen als äußerst unbefriedigend empfand, die gleichlautende

Broschüre besorgt.

Ich hoffe, es sind keine ernstzunehmende Hindernisse, die für die relativ lange Unterbrechung unserer Diskussion verantwortlich sind. Ich würde mich freuen, mal wieder von Dir zu hören. …

Viele Grüße

Ulrich

[1] Siehe Ulrich Knaudt an H.B. (27.08.2014) [1].


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F.W. an mail@parteimarx.org (02.11.2014)

Betreff: Aw: Fwd: Re: the working class has its own foreign policy


Hallo Ulrich Knaudt,

vielen Dank nochmal für deine Replik auf meinen Text! Ich habe jetzt endlich Zeit gefunden, eine kurze Antwort zu schreiben. Mit den meisten deiner Punkte bin ich einverstanden. Auch die Einschätzung, dass der Faschismus Ausdruck der „verrückten Normalität“ der ökonomischen Formen der kapitalistischen Produktionsweise ist, die nur durch den Klassenkampf aufgehoben werden können, teile ich. Auf Grundlage dieser allgemeinen Bestimmung, die Faschismus und bürgerliche Demokratie als Basis gemeinsam haben, wollte ich in dem Text aber auch die Besonderheit des Faschismus gegen seine ökonomistische abstrakte Gleichsetzung mit den Verhältnissen der bürgerlichen Demokratie betonen oder eher antippen, ohne sie zugegebenermaßen ausgeführt zu haben. Diese Besonderheit besteht meines Erachtens darin, dass der Faschismus Sohn-Rethels Darstellung in „Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus“ zufolge – nach der Zertrümmerung der Klassenkampforgane des Proletariats mit terroristischen Herrschaftsmitteln wieder voll die absolute Mehrwertproduktion in Gang setzt. Das ist etwas missverständlich ausgedrückt, denn nach Marx löst die relative Produktion des Mehrwerts nicht die absolute ab (als wären das zwei voneinander getrennte historische Stadien), sondern die reale Mehrwertproduktion wird mit der reellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital dominant über die absolute, was für Marx ein erheblicher Vergesellschaftungsfortschritt ist. Dieses Verhältnis wird unter der faschistischen Herrschaft wieder umgekehrt, was für den Klassenkampf hinsichtlich seiner ökonomischen und politischen Bedingungen schwer ins Gewicht fällt. Die ihrer Koalitionen entledigte, sozusagen nackt und zersplittert dastehende Arbeiterklasse konnte dann mithilfe des demagogischen antisemitischen Antikapitalismus weitgehend ins Korsett der Volksgemeinschaft eingeschnürt werden.

Auch mit deiner Erklärung der Notwendigkeit Israels bin ich einverstanden. Zweifel habe ich aber daran, dass Israel ein koloniales Projekt sein soll. Die zionistischen Siedler waren größtenteils selbst verarmte Proletarisierte aus Europa, die es meines Wissens nach niemals angestrebt haben, als Kompradorenbourgeosie über der arbeitenden arabischen Bevölkerung zu thronen. Das Ziel des Zionismus ist bekanntlich, eine eigenständige nationale jüdische Gesellschaft zu errichten, die selbst von Klassengegensätzen zerrissen sein muss, wie es ja heute in Israel auch der Fall ist. Außerdem gab es bis zum Krieg von 1948 keine illegalen Landokkupationen, sondern nur Landkäufe, und die jüdischen Händler und Unternehmer mussten mit den arabischen unter gleichen Marktbedingungen konkurrieren. Für mich sieht das nicht nach einem kolonialen Verhältnis zwischen einem „Bourgeoisievolk“ und einem „Bauernvolk“ aus, aber ich lasse mich da auch gerne eines Besseren belehren. Jedenfalls wird das alles nichts daran ändern, dass Israel im Nahen Osten als einzige wirklich moderne bürgerliche Gesellschaft und Träger der zivilisatorischen Mission des Kapitals eine objektiv progressive Rolle spielt.

Deine Kritik an Grigats „bedingungsloser Solidarität“ mit Israel (Kants a priori geltender kategorischerImperativ lässt grüßen!) kann ich auch nachvollziehen. Allerdings haben wir genauso wenig Grund, uns der „internationalen Verurteilung der völkerrechtswidrigen Politik des Staates Israels“ anzuschließen, denn diese zielt letzten Endes fast immer auf die Entwaffnung und Auslieferung Israels an seine Feinde. Damit wird Israel das ius ad bellum abgesprochen, was aber nach Marx gerade den Kern des Völkerrechts ausmacht: „Die Grundlage alles Völkerrechts aber ist überhaupt, daß jedes Mitglied der kriegführenden Partei von der Gegenpartei als ‚kriegführend‘ betrachtet und behandelt werden darf.“ (MEW 15, S. 412) [1] Diese Bestimmung widerspricht im Wesentlichen der heutigen linken Vorstellung vom Völkerrecht als internationalem Äquivalent zu den Rechtsverhältnissen in einem Nationalstaat. Hinter dem Recht in einem Staat steht immer ein staatlicher Souverän, der ihre allgemeine Durchsetzung kraft seines Gewaltmonopols garantiert und bei gewaltsamen Übergriffen zwischen den Privatpersonen befriedend einschreitet. Auf internationaler Stufe, auf der Ebene des Weltmarkts ist das aber nicht der Fall, da die Repulsion der miteinander konkurrierenden nationalen Gesamtkapitale die Herstellung eines „Weltsouveräns“ als fiktivem Garanten des Völkerrechts verhindert. Das Völkerrecht ist deshalb de facto immer nur das, was die bürgerlichen Staaten zulassen, und nicht, wie die linke „Rechtsillusion“ glaubt, ein ewig und universal geltendes (Natur-)Recht, das für die Staaten in der Art und Weise wie für Individuen gelten müsse. Das Ende vom Lied ist dann, dass gegen Israels „übergriffige“ Verteidigungskriege im Namen eines pazifistisch gemodelten Völkerrechts seine Entwaffnung gefordert wird, was in letzter Konsequenz auf seine Preisgabe zur Zerschlagung durch die Islamisten hinausläuft. Da ansonsten kein anderer Staat, sei er auch noch so menschenfeindlich und barbarisch, mit solchen Zumutungen traktiert wird, ist Israel wahrlich der Jude unter den Staaten und das Bündnis der Linken mit den Islamisten (sowie den Nazis) die Heilige Allianz unserer Zeit. Das ändert aber nichts daran, dass wir die Durchsetzung und Einhaltung des Völkerrechts einfordern müssen, ohne aber die bürgerliche Rechtsillusion zu bedienen, damit sich das Weltproletariat nicht in seine nationalen Abteilungen durch die nationalen Egoismen der Bourgeoisie spalten und gegeneinander ausspielen lässt. Das heißt natürlich auch, das ius in bello von Israel einzufordern und seine Nichteinhaltung zu kritisieren – aber nicht, wie die linken Antizionisten, auf Kosten von Israels Recht auf Selbstverteidigung und seiner Existenz.

Mit besten Grüßen aus Leipzig,

F.W.
[1] Karl Marx: Streit um die Affäre „Trent“ MEW 15 (409-413).

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Ulrich Knaudt an H.B. (03.11.2014)

Betreff: DER ROTE OKTOBER


Lieber H., ich schicke Dir einen Aufsatz aus dem ND zur O[KTOBER]R[EVOLUTION], der Dir wahrscheinlich in vielem bekannt vorkommen wird. [1] Mich jedenfalls erinnerte einiges [darin] an die pM (Ich kann mich ja täuschen). Die DEBATTEN in der Marx-Gesellschaft durch eine Milchglasscheibe betrachtet? Bin gespannt, ob Du einen ähnlichen Eindruck haben wirst.

Als Illustration meiner These von der Konvergenz des linken und rechten Putinismus in Deutschland empfehle ich die November-Nr. von COMPACT Magazin für Souveränität. Der Untertitel sagt alles. Die Verteidigung der (nationalen, staatlichen?) Souveränität richtet sich ausschließlich gegen die USA […] Ich habe bisher auch nur das Editorial von Elsässer gelesen. Ein interessanter Autor: einst bei konkret einer der schärfsten Anti-Deutschen, wurde aus dem Saulus ein Paulus. (Oder auch nicht?) In einem redaktionellen Nachruf auf den im Frühjahr verstorbenen Verfasser der allwöchentlichen Glosse in der jW Der Schwarze Kanal, Werner Pirker, findet sich ein Foto aus den 90er Jahren, wo sie friedlich vereint beieinander sitzen. [2] Ihre Gemeinsamkeit bestand wohl schon damals in dem, was bei Elsässer heute seine Existenz als Quisling Moskaus ausmacht.

Viele Grüße

Ulrich


[1] Neues Deutschland 01.11.2014 Der rote Oktober – Bei den Ausgebeuteten, Entrechteten und Gedemütigten löst die Idee des Sozialismus alles Mögliche aus, nur das nicht mehr – Hoffnung und Sehnsucht (Jörn Schütrumpf).
[2]
Ulrich Knaudt an H.B. (24.06.2014) [1].

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Ulrich Knaudt an F.W. (10.11.2014)

Betreff: DETROIT


Lieber F.W.,

vielen Dank auf Deine ausführliche Antwort auf meine Replik. Ich werde versuchen, auf [die] meiner Ansicht nach darin enthaltenen wichtigsten Punkte der Reihe nach einzugehen und am Schluß ein Resümee ziehen:

1. »…die Besonderheit des Faschismus«: Der Faschismus hat eine ökonomische und eine politische Seite. Die industrielle Bourgeoisie, die ihn gleichzeitig gefördert und das Opfer gebracht hat, sich für die Unterdrückung der proletarischen Revolution von ihm auch eine wenig unterdrücken zu lassen, hat unter dem staatsmonopolistischen Kapitalismus der Nazis hervorragend verdient und gleichzeitig darüber gejammert, selbst auch vom NS unterdrückt worden zu sein. Ihre Versuche, dieses Regime zum Teufel zu jagen, waren von A bis Z ebenso halbherzig, wie das mit ihrer freiwilligen Selbstunterdrückung verknüpfte Kalkül, das sie mit einem Auge immer auf die enormen Extraprofite, die in der Rüstungsindustrie zu machen waren, schielen ließ, zweigleisig war. Die Geschichte dieser Bourgeoisie ist die Geschichte ihrer nach1848 gemeinsam mit Bismarck entwickelten Vorliebe für den Bonapartismus, der sie später in Hitler den geeigneten Repräsentanten finden ließ, der das Werk der präventiven Konterrevolution gegen die drohende proletarische Revolution vollendet und dem ganzen dadurch einen revolutionären Kick gegeben hat, daß er die sich in der Weltwirtschaftskrise an Verrücktheit überschlagenden verrückten Formen des Wertgesetzes und des zinstragenden Kapitals der Alltagsphilosophie des durch Versailles enteigneten Durchschnittsspießers der Mittelklasse plausibel machen und gleichzeitig den in den proletarischen Massen grassierende Klassen- in den Rassenhaß umpolen konnte. Nicht weniger halbherzig kommen die Faschismus-Analysen der deutschen Linken einher, die um die Marxsche Analyse des Bonapartismus einen großen Bogen machend letzten Endes nur noch die demokratischen Bauchschmerzen der deutschen Bourgeoisie, soweit diese zu guter Letzt ein wenig dissident wurde, geteilt hat. Theoretisch geht diese Faschismusanalyse über Lenins Lob der Organisation der deutschen Briefzustellung als positives Beispiel für die hochgradige Vergesellschaftung des Kapitals durch den Staat nicht hinaus. Und da sie die vielen Gemeinsamkeiten zwischen dem kaiserlichen und dem NS-Stamokap nicht wegerklären kann, bleibt ihr nur übrig, die demokratischen Bauchschmerzen der Bourgeoisie in endlosen „Kannegießereien“ (eine wunderschöne Charakterisierung des deutschen Spießers durch K.[arl]M.[arx]!) einfühlsam nachzuvollziehen.

2. »…denn nach Marx löst…«: Ich weiß nicht, ob »die relative Produktion des Mehrwerts« und die Produktion des relativen Mehrwerts dasselbe bezeichnen sollen? Wobei ich mir unter Deiner Formulierung recht wenig vorstellen kann, ebensowenig unter der von Dir so bezeichneten »reale(n) Mehrwertproduktion«. Ich habe gerade begonnen, mich erneut durch KAP[ITAL] III durchzukämpfen und muß feststellen, daß ich den Band nur sehr oberflächlich gelesen und auch so verstanden habe. Besonders wichtig erscheinen mir die klassenanalytischen Nebenbemerkungen, die für mich die entscheidenden Bezugspunkte für das Verständnis der wissenschaftlichen Beweisführung enthalten, über die ein bürgerlicher Ökonom wahrscheinlich hinweglesen wird. Bei der Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts sind diese Bezugspunkte offensichtlich, sie finden sich aber auch in den anderen Kapiteln des KAP[ITAL]s.

3. »Zweifel habe ich, aber daran, daß Israel ein koloniales Projekt sein soll«. Wenn Du die näheren Umständen des Zustandekommens der Balfour-Erklärung in Betracht ziehst, ist daran eigentlich kein Zweifel möglich. Nach der Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den Ententemächten fiel das Territorium von Palästina an die britische Mandatsmacht, die ihren Auftrag der Verwaltung dieses Mandats dahingehend interpretierte, den Vertretern der europäischen Juden Palästina als „Heimstatt“ zur Verfügung stellen zu dürfen. Sie durften sich zwar dort ansiedeln, aber anders als die irakischen, jordanischen usw. Araber keinen Staat gründen, weil die britische Regierung für ihre Unterstützung im Krieg gegen die Mittelmächte diesen die Gründung eines arabischen Staates versprochen hatte. Das änderte sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als auf die palästinensischen Araber wegen ihrer Unterstützung Hitlers keine Rücksicht mehr genommen werden mußte, usw. Hat aber dieser Staat damit aufgehört, ein koloniales Projekt im Herzen der bis zum heutigen Tag eine Fiktion gebliebenen arabischen Nation zu sein? Was sich lediglich geändert hatte, war, daß die Besiedler dieses Stückchens Land zwischen Syrien, Jordanien und Ägypten nicht mehr dieselben waren, die nach 1917 mit sozialistischen Idealen im Hinterkopf ihre Existenz als Ghettobewohner durch ihre Entwicklung zu praktischen Menschen hinter sich lassen wollten, sondern daß es sich um die Überlebenden der Pogrome der Nazis handelte, denen sie sich nur durch ihre Flucht entziehen konnten und die daher mit dem Aufbau einer bürgerlichen Existenz im einem bürgerlichen Siedlerstaat und der Verteidigung dieses Staates gegen ihre arabischen Nachbarn vollauf beschäftigt waren und es bis heute sind. Dadurch läßt sich zwar feststellen, daß sich vielleicht die Bestimmung dieses Staates, nicht aber seine raison d‘être geändert hat. Außerdem waren seine Hauptunterstützer nun nicht mehr die Kolonialmächten des Jahres 1917, sondern die zu Hegemonialmächten aufgestiegenen Hauptsieger des Zweiten Weltkriegs. Die ersten Gratulanten zur Staatsgründung Israels waren die Sowjetunion und die USA.

4. »…für mich sieht das nicht nach einem kolonialen Verhältnis zwischen einem „Bourgeoisievolk“ und einem „Bauernvolk“ aus.« …obgleich es letzten Endes dieser Widerspruch sein wird, dem sich auch dieser Staat nicht wird entziehen können, was die Massendemonstrationen vom letzten Frühjahr (oder dem Herbst davor?) beweisen, deren rein ökonomische Forderungen gegen den Staatsbankrott, vor dem sich die herrschende Klasse und deren Wirtschaft auch in Israel befindet, zwangsläufig einen neuen Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft heraufbeschworen haben. [1] Es waren wahrscheinlich die Mittelklassen (das wäre näher zu untersuchen), die gegen den Regierungsstachel gelöckt haben, was die Bedeutung dieses Widerspruchs zusätzlich unterstreicht. (Siehe K.M.: Die Klassenkämpfe in Frankreich und seine Analysen des Kleinbürgertums.) [2] Allein schon aus diesem Grund kann ein heutiger Parteigänger der Marxschen Partei kein Interesse daran haben, daß dieses koloniale Projekt, auf dessen Basis der Staat Israel errichtet wurde, von der Arabischen Konterrevolution liquidiert wird und den schwankenden Interessen der USA und der EU ausgeliefert bleibt.

5. »daß Israel im Nahen Osten … eine progressiver Rolle spielt.« Darin sind wir einer Meinung. Allerdings wird sich an der Beherrschung der damit verbundenen Dialektik zeigen, ob die Parteigänger der s.o. die objektive Bedeutung dieser Rolle von der von diesem Staat konkret verfolgten Politik immer korrekt zu trennen in der Lage sein werden, da dieser Politik immer noch ein kolonialer (Golan, Westbanks), und perspektivisch ein sozialer Widerspruch (s.o.) [2] zugrunde liegt. Alle politischen Revolutionen im Nahen Osten, die nicht auf die Entstehung einer industriellen Bourgeoisie und eines dabei entstehenden Proletariats hinauslaufen, sind reaktionär und dienen der Konterrevolution, wie sich am Beispiel der Arabischen Revolution gezeigt hat, deren Spitze durch die Instrumentalisierung des Islamismus für das Überleben des Assadregimes gebrochen wurde. Die israelische Regierung hat vom Berg aus dem Kampf der Tiger im Tal zugeschaut. Dies kann nicht die Position der Parteigänger der Marxschen Partei sein. Über Deine Kritik an Grigats kategorischem Imperativ mußte ich im Stillen lächeln…

6. Deiner Kritik an den Vorstellungen der Linken über das Völkerrecht stimme ich voll zu, vor allem, was ihre Interpretation des ius ad bellum betrifft. (Dieses Recht hatte nur die Sowjetunion und hat heute das Putinregime. Alle anderen Völker und Nationen mögen ihre Waffen bei der Friedensbewegung abgeben, damit sie von ihr zu Pflugscharen geschmiedet werden…) Beim Nachschlagen der von Dir angegebenen MEW-Passage fiel mir auf, daß dort der reaktionäre Urquhart dem linksliberalen Cobden gegenübergestellt wird, den M.[arx]u.E.[ngels] ganz und gar nicht mögen, woraus klar wird, daß damals die Probleme, die sie mit ihren Linksliberalen hatten, immer schon tiefer gegangen sind als mit einem Rechten wie Urquhart. [3] Deshalb traue ich den Aussagen eines Sarrazin, trotz oder gerade wegen ihres klar sich abzeichnenden reaktionären Charakters eher über den Weg als dem linken Geschwafel von bspw. SPIEGEL oder STERN. Wenn Palmerston die Navigationsakte, wie vor kurzem noch Westerwelle die NATO, für überflüssig erklärt, dann hat das damals die Unterwerfung Europas unter die russische Hegemonie bedeutet, ähnlich wie sie heute von Rußland und China gegenüber dem Westen angedroht wird. Ein Anreiz, sich die Palmerston-Artikel genauer anzusehen.

7. At last but not least, stellt sich die Frage, wie wir mit der erstaunlichen Übereinstimmung, mit der wir quer zu allem stehen, was als Marxismus heute auf dem Markt ist, weiterhin verfahren sollen? […]

Dem will ich aber nicht vorgreifen, und verbleibe mit vielen Grüßen aus dem nordrhein-westfälischen Detroit an das revolutionäre Leipzig!

Ulrich Knaudt

[1] FAZ 08.08.2011 Netanjahu reagiert auf Proteste – 250.000 Demonstranten in Tel Aviv / Ruf nach Sozialreform. FAZ 15.08.2011 Sozialproteste in ganz Israel – Weniger Demonstranten in mehr Städten / Araber beteiligt .
Ein Jahr danach fanden erneut soziale Proteste in Israel statt, erreichten aber nicht mehr den vorherigen Umfang.
[2] Siehe Ulrich Knaudt an GdS (25.05.2014) Fn. [1].
[3] Karl Marx: Streit um die Affäre „Trent“ MEW 15 (409-413), 412,413: »Unterdes haben sich gewichtige Stimmen in diesem Sinn von zwei diametral entgegengesetzten Seiten ausgesprochen, auf der einen Seite die Herren Bright und Cobden, auf der anderen David Urquhart. Es sind dies prinzipielle und persönliche Feinde, die einen friedfertige Kosmopoliten, der andere der „letzte Engländer“; die einen stets bereit, alles internationale Recht dem internationalen Handel zu opfern, der andere keinen Augenblick schwankend: „fiat justitia, pereat mundus“ [es soll Gerechtigkeit geschehen, selbst wenn die Welt dabei untergeht], und unter „Justiz“ versteht er „englische“ Justiz. Die Stimmen von Bright und Cobden | sind wichtig, weil sie eine mächtige Fraktion der Mittelklassen-Interessen vertreten und im Ministerium durch Gladstone, Milner Gibson, mehr oder weniger auch durch Sir Cornewall Lewis, vertreten sind. Die Stimme Urquharts ist wichtig, weil internationales Recht sein Lebensstudium und jeder ihn als unbestechbaren Dolmetsch dieses internationalen Rechts anerkennt.«

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F.W. an mail@parteimarx.org (16. 11. 2014)

Betreff:Aw: DETROIT


Hallo Ulrich Knaudt,

vielen Dank für deine Antwort. Da ich im Moment und auch demnächst leider zu wenig Zeit haben werde, um mich ausführlicher und genauer mit den in unserer Korrespondenz aufgeworfenen Problemen zu beschäftigen, sind meine Antworten etwas grobschlächtig und kurz ausgefallen. Jetzt zu den Punkten:

ad 1: Zustimmung. Zu deiner Charakterisierung des NS-Faschismus als „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ habe ich noch eine Nachfrage. Die STAMOKAP-Ideologie des ML, die meines Erachtens im Grunde auf Hilferdings Theorie des „Finanzkapitals“ basiert, halte ich für falsch. Guenther Sandleben hat in seinem Buch „Nationalökonomie und Staat“ Hilferdings Auffassung von der „Verschmelzung“ des Bankkapitals mit dem industriellen Kapital (wobei das erste über das zweite übergreife), woraus dann das „Finanzkapital“ hervorgehe, kritisiert und gezeigt, wie diese Vorstellung bis in die Antiglobalisierungsbewegung hinein weiter spukt. Ihr zufolge übe das Bankkapital durch den Kredit Macht über das industrielle Kapital aus, da Geld gleich Macht sei, so der fetischistische Schluss. Dass diese Macht des Kredits aber nur eine „passive“ ist, da auf die Nachfrage nach Kredit angewiesen, zeigt z.B. schon die Tatsache, dass viele große Unternehmen zurzeit Geld horten, um nicht auf das der Banken angewiesen zu sein, womit deren angebliche Macht null und nichtig wird. Selbst wenn das industrielle Kapital auf Kredit angewiesen ist, bleibt die „aktive“ Macht über die Kapitalproduktion weiterhin seine Domäne. Die Vorstellung von der „Macht der Banken“ hat seine klassenmäßige Basis wahrscheinlich vor allem im kreditbedürftigen Kleinbürgertum, aus dem auch die antisemitische Vorstellung vom „Geldjudentum“ herauswächst.

Viel plausibler als diese STAMOKAP-Vorstellung, nach der das „Finanzkapital“ mithilfe seiner „Geldmacht“ über den Staat übergreife, sozusagen als „feindliche Übernahme“ (die dann im Bündnis mit dem Kleinbürgertum und im Namen der Demokratie regressiv zurückgeschlagen werden soll), finde ich das, was Heinz Langerhans unter staatsmonopolistischem Kapitalismus versteht, nämlich die vom Entwicklungsgrad der Produktivkräfte aufgenötigte Kontrolle derselben auf nationaler und nicht mehr privater Stufenleiter.

Hier ein Auszug aus seinem Text „Die nächste Weltkrise, der Zweite Weltkrieg und die Weltrevolution“ von 1934:

Die Weltkrisen haben Kapital und Staat, jene beiden Seiten des gesellschaftlichen Grundverhältnisses Lohnarbeiter-Kapitalisten zu einem einzigen Schutzpanzer eingeschmolzen, um deren Fortbestand zu sichern. Aus dem automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ ist das einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden. Der Staat ist heute mehr als der bloß »ideelle« Gesamtkapitalist, was in seinen vermehrten Funktionen zum Ausdruck kommt. […] Es gibt heute eine ganze Skala von Graden der Verschmelzung von Staat und Kapital. Die Unterschiede sind in Unterschieden der nationalen Geschichte begründet, nicht prinzipieller Natur. (1. Identität von Staat und Kapital, zentrale Planwirtschaft bei individueller Verantwortlichkeit des einzelnen Betriebsführers: Bolschewistischer Staatskapitalismus. 2. Schaffung besonderer autoritärer Organe der politischen Ökonomie, denen der einzelne selbständige Unternehmer eingeordnet wird: nationalsozialistische »Wirtschaftssteuerung«. 3. Korporative Autodisziplin der Kapitalisten unter Staatskontrolle: faschistische »Systematische Intervention«. 4. Auch die im ganzen andersartige amerikanische NRA weist verwandte Züge auf. – etc. etc.) An die Stelle privatwirtschaftlicher Rentabilität tritt nationalwirtschaftliche Rentabilität. Das Staatssubjekt Kapital organisiert den inneren Markt, reguliert – ein nationales »Generalkartell« – die Preise und verschärft damit zugleich die internationale Konkurrenz. Die internationale Handelspolitik ist die Lebensfrage der Staaten geworden (»Autarkie-Dämmerung«). Die neuen monopolistischen Formen haben also den zyklischen Lauf der Weltwirtschaft nicht nur nicht aufgehalten, sie entziehen auch den eigenen Wirkungsbereich nicht dem kapitalistischen »Naturgesetz«.“ Der Text ist hier zugänglich: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

War aber der Faschismus staatsmonopolistisch in dem Sinne, dass der Staat als alleiniger Eigentümer der Produktionsmittel auftrat (wie in der Sowjetunion), oder war der Staat nicht eher autoritärer Regulator einer immer noch auf dem privaten Klasseneigentum einer monopolistischen Bourgeoisie fußenden Kapitalproduktion?

Und was hältst du von Thalheimers und Trotzkis Faschismusanalysen, die ja dem Anspruch nach in ihren Arbeiten von der Bonapartismuskritik von Marx her ansetzen? (Ich kenne beide bisher nur aus zweiter Hand.)

ad 2: Völlige Zustimmung. Dass ich „reale Mehrwertproduktion“ statt „relative Mehrwertproduktion“ schrieb, war ein Flüchtigkeitsfehler. Der Ausdruck „relative Produktion des Mehrwerts“ ist aber in der Tat ein sachlicher Fehler und Unsinn, denn nicht die Produktion, sondern der produzierte Mehrwert unter den Bedingungen der reellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital wird von Marx als relativer gekennzeichnet.

Da merke ich mal wieder, dass ich im Kapital nicht wirklich zuhause bin. Bisher bin ich mit der Lektüre typischerweise nicht über die ersten drei Kapitel hinausgekommen, den Rest kenne ich nur in Auszügen.

ad 3: Über die Balfour-Deklaration konnte ich mich nicht wirklich weiter einlesen. Walter Hollstein schreibt in „Kein Frieden um Israel“, dass Großbritannien als kolonialistische Macht den Zionismus nach dem Ersten Weltkrieg benutzt hat, um ihn gegen den arabischen Nationalismus in Stellung zu bringen. Letztendlich wurden beide hingehalten, und die Zionisten haben es sich gefallen lassen, weil sich ihre Aussichten auf eine Staatsgründung mit der Balfour-Deklaration verbessert hatten. Wie Hollstein den Kolonialismus Israels (ökonomisch und politisch) charakterisiert, konnte ich noch nicht weiter nachlesen. Die Kritik der linken Israelhasser in dieser Hinsicht beschränkt sich ja meistens darauf, Israel in kulturkonservativer Manier vorzuwerfen, es sei zu westlich-abendländisch geprägt und respektiere nicht die autochthonen Traditionen der arabischen Bevölkerung.

ad 4, 5 und 6: Zustimmung.

Ad 7: […] Was ich bisher weniges von der Marx-Gesellschaft gehört habe, klang ziemlich schlecht (ist fast ausschließlich von Akademikern geprägt, dementsprechend akademische Verballhornung der Kritik der politischen Ökonomie und als nichtakademischer Außenseiter wird man scheiße behandelt). Der in dem kurzen programmatischen Text auf der Website der Marx-Gesellschaft genannte „Arbeitsschwerpunkt“ einer „kritischen Rekonstruktion der Marxschen Theorie“ mag so abstrakt gefasst richtig sein, auch wenn dadurch ansonsten noch alles offen gelassen wird. Die „Stellung und Bedeutung des Marxschen Theorieansatzes in der gegenwärtigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskussion“ untersuchen zu wollen, legt schon den Verdacht nahe, dass das eine akademische Angelegenheit werden soll. Denn wenn uns eine „Stellung und Bedeutung“ der Theorie von Marx interessieren sollte, dann ist es vor allem die zu den (vergangenen und anstehenden) Klassenkämpfen. Wenn dieser „Arbeitsschwerpunkt“ ausgespart wird, kommt aber eine „unpolitische“ Marx-Lektüre raus. Den Schwerpunkt auf die Marxsche Partei und ihre Politik heute zu setzen, finde ich deshalb richtig. […]

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F.W. an mail@parteimarx.org (18. 11. 2014)

Betreff: russische anarchisten gegen die linkspartei


zur kenntnisnahme: hier ein flugblatt von russischen anarchisten gegen ANDREJ HUNKO, einem
parlamentsabgeordneten der linkspartei und unterstützer von BOROT’BA. es scheint so, dass heute die erben bakunins, jedenfalls in russland und der ukraine, politisch der partei marx näher stehen als alle marxisten dieser welt.

link und text:

http://nihilist.li/2014/11/17/andrej-gun-ko-posobnik-imperialisticheskoj-politiki-kremlya-i-vrag-rabochegodvizheniya/#deutsch
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Ulrich Knaudt an F.W. (23.11.2014)

Betreff: STAMOKAP + NS


Lieber F. W.,

ich würde sagen, nachdem wir die hauptsächlichen Differenzen thematisch abgeglichen haben, müssen wir nicht ständig Grundsatzerklärungen austauschen; zumal ich aus meiner eigenen Erfahrung volles Verständnis für die von Dir angedeutete Situation habe, die solche zeitraubenden Diskussionen nicht zuläßt.
Zweifellos stehen die russischen Erben Bakunins politisch der
partei Marx näher als alle Marxisten dieser Welt! Wenn dieses schöne Bonmot ironisch gemeint sein soll (was ich aber nicht annehme, sondern eher selbstironisch?), sei auf Engels verwiesen, der meinte, es gebe zwischen ihm und Marx einerseits und den Anarchisten andererseits durchaus eine Gemeinsamkeit, nämlich die: daß der Staat (in letzter Instanz) abzuschaffen sei. Da es sich bei den Verfassern der Flugblatts außerdem um russische Anarchisten handelt, sei auf die über Kropotkin und Bakunin weiter zurückreichende Traditionslinie erinnert, die bis zu der engen Beziehung von Marx zu Černyševskij, dem spiritus rector der russischen Populisten und den späteren Narodniki reicht. Die Autoren des Flugblatts haben aber auch deshalb meinen Respekt, weil heute in Rußland Anarchist zu sein wahrscheinlich politisch nicht ganz ungefährlich für Leib und Leben ist. Ich hoffe, daß das Flugblatt eine weite Verbreitung finden wird. Etwas ausführlicher hätte ich mir darin die Sache mit dem Gewerkschaftshaus in Odessa gewünscht, da dieser angebliche Unfall/faschistische Massenmord in der jungen Welt ständig als Beweis dafür herangezogen wird, daß in der Ukraine angeblich ein Kampf zwischen (russischer) Vaterlandsverteidigung und westlichem Faschismus stattfindet. Deine Idee, mir dieses Flugblatt zu schicken, fand ich gut und ich würde mich freuen, wenn diese eine Fortsetzung findet.

Zu Deiner Frage nach der Marx-Gesellschaft. Grundsätzlich teile ich Deine kritische Einschätzung, daß es sich dabei um eine rein akademische Angelegenheit gehandelt hat, bei der sich Nicht-Vollakademiker faktisch ausgeschlossen fühlen mußten. Als ich auf diesen Verein (er war ja nun mal einer) stieß, war ich gerade damit beschäftigt, mein damals 25 Jahre zuvor abgebrochenes Studium zu Ende zu führen und nach dem Magister vielleicht noch zu promovieren. Schon deshalb waren meine Berührungsängste zu einem Akademikerverein wie diesem wahrscheinlich nicht ganz so groß. Was mir mißfiel, war, daß in den Kolloquien grundsätzlich Konsens herrschte, daß Politisches abends in der Kneipe debattiert werden sollte. Das ließ sich aber auf die Dauer nicht durchhalten, was ein Grund dafür war, daß sich der Verein in die alljährlich veranstaltete Herbstschule aufgelöst hat, wo den (in der Mehrzahl graubärtigen) Linken Parteigängern ein wenig Marx-Plus verklickert wird. [1] Thema in diesem Jahr war: Klassenkampf. Na ja…

Ich würde heute sagen, daß die Fortsetzung der in der Marx-Gesellschaft abgebrochenen Debatte letztlich (und deshalb wurde sie auch abgebrochen) auf die Frage hätte hinausgelaufen müssen, ob das Marxsche KAP[ITAL] nur auf den ‚westlichen‘ oder nicht auch auf den real-sozialistischen Kapitalismus (wie er heute noch in China herrscht) konkret ‚anzuwenden‘ war. (Stalin in den 50er Jahren: Wir brauchen die Werttheorie von Marx und Engels bei uns nicht mehr, weil hier bereits eine sozialistische Warenproduktion existiert. Operation geglückt – Patient tot!) In der o.g. Debatte wäre also die Frage zu stellen gewesen, (die die russischen Marxisten des 19. Jahrhunderts bezogen auf das zu 90% bäuerliche Rußland fälschlicher- (und vergeblicher)weise an Marx gestellt hatten und wovon dieser, siehe Zasulič-Briefe, abgeraten hatte), ob KAP I im Gegensatz zum 19. Jahrhundert auch auf das sozialistische Rußland ‚anwendbar‘ war. [2] In der in den 00er Jahren aufgetauchten Neuen Marx-Lektüre wurde der Reale Sozialismus aber nicht unter das ‚Kapital im allgemeinen‘ subsumiert, sondern dieser wurde dem ‚westlichen‘ Kapital als ‚nicht-kapitalistischer‘, ‚nicht-imperialistischer‘, nicht-‘westlicher‘ Entwicklungsweg kontradiktorisch gegenübergestellt. Eine politische Marx-Lektüre müßte aber nicht nur, worin ich Dir zustimme, auf die vergangenen und anstehenden Klassenkämpfe ausgerichtet sein, sondern darin müßten alle Formen des Kapitalismus unter ‚das Kapital im allgemeinen‘ subsumiert werden, wodurch wir unsere Scheu vor dem vermeintlichen ‚Verrat am Sozialismus‘ oder der ‚konterrevolutionären Gleichsetzung‘ von Faschismus und Sozialismus auf den Müllhaufen der Geschichte befördern könnten.

Dazu gehört auch die Untersuchung der Frage nach dem Stamokap in KAP I-III, worauf ich an dieser Stelle allein historisch eingehen will. Der faschistische Stamokap war ein Mischsystem; d.h. das Kapital hatte sich zwecks Erzielung von Maximal- und Extraprofiten dem faschistischen Staat untergeordnet. Aber im Zweifelsfall entschied der Staat (die NS-Partei) über das Wohl und Wehe des einzelnen Kapitalisten, des einzelnen Monopols, falls diese auf Grund von Konflikten zwischen Kapital und Staat meinten eine andere Position als das NS-Regime vertreten zu müssen. Der Staat war zwar nicht vollständiger Eigentümer aller Produktionsmittel wie der Sowjetstaat (der Hitler durchaus auch als Drohmittel gegen widerstrebende Kapitalgruppen dienen konnte), aber über einzelnen Kapitalisten schwebte, wenn diese nicht spurten, immer das Damoklesschwert der Enteignung, um die Rüstungsindustrie auf maximalen Ausstoß zu trimmen, wenn z.B. die Rohstoffzufuhr nicht gewährleistet war. (Siehe A. Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im NS.)

Bei Trotzkis Vergleich Hitlers mit Napoleon vermute ich, daß er den großen mit dem ‚kleinen‘ Napoleon verwechselt, während Marxens Charakterisierung der Herrschaft Bismarcks als bonapartistisch sich auf den ‚kleinen‘ Napoleon bezieht. Diese fand in Hitlers Bonapartismus ihre logische Fortsetzung und hatte zum Ziel, die in der WWKrise vor dem Abgrund stehenden deutschen Arbeiter und Bauern, für seine deutsche Revolution zu gewinnen und die erwartete soziale Revolution durch eine präventive Konterrevolution auszubremsen. Dies, wie bekannt, auf der Grundlage des Hitlerschen Rassismus und der radikalen Erweiterung und Zuspitzung der preußischen ‚Ostkolonisation‘. Daß sich die Sowjetunion zur selben Zeit ihrerseits auf dem Weg zu einer (institutionellen) Konterrevolution befand, spielt hier zunächst noch keine Rolle und ergibt noch nicht die Gleichung ‚Rot = Braun‘. (Diese wurde erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt erfüllt!)

Die linken Kommunisten wie Thalheimer und der von Dir genannte Langerhans hatten jedoch der Stalinschen (institutionellen) KR politisch kaum etwas entgegenzusetzen. Schon allein aus dem Grund, weil sie den Scheinwiderspruch zwischen den ‚Rechten‘ (Bucharin) und den ‚Linken‘ (Preobraženskij) nicht als einen solchen wahrgenommen, sondern die strategischen Fehler der Bolschewiki in der Bauernfrage und speziell Stalins in der Nationalen Frage bestenfalls nach ‚links‘ verstärken wollten, und dadurch Stalins ‚Zweiter Revolution‘ (1928 ff.) die Gefolgschaft zu versagen meinten, usw. usf.
[…]

Solidarische Grüße

Ulrich Knaudt

[1] Zu meinen persönlichen Eindrücken siehe: parteimarx.org REAKTIONEN 2010 Ulrich Knaudt an H.B. (29.10-31.10.2010) Bemerkungen zur Marx-Herbstschule in Berlin zum III. Band des „Kapital“.
[2] parteimarx.org Marx und Černyševskij – die revolutionäre Bewegung in Rußland und die commune rurale, 2 ff.


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Reaktionen (2013) »

Reaktionen 2013 [PDF]

Anhang: Dialektik. Einwände gegen Colletti und Stalin [PDF]


[gepostet und mit Fußnoten versehen 02 2015]

Durch ein technisches Versehen sind leider alle E Mails an mich für das Jahr 2013 im Orkus der Telekom verschwunden. Durch die freundliche Mithilfe eines Briefpartners konnte zumindest ein Teil der E Mails für die REAKTIONEN 2013 gerettet werden. Der Verlust hält sich in Grenzen, da die Reaktionen in diesem Jahr auch nicht wesentlich darüber hinausgegangen sind.
Ulrich Knaudt

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Ulrich Knaudt an H.B. (11.01.2013)

Betreff: EUROPA


Lieber H., es ist furchtbar nett, daß Du bei diesem Thema an mich gedacht hast, zumal ich mich gerade mit R. Rosdolskys übler Engels-Schelte in seinem Buch Zur nationalen Frage herumplage, [1] der mit weitaus größerer Intelligenz und besseren Argumenten als Herr Menasse darin die Marxsche Partei und alles, was Deutsch ist, im Namen des Panslawismus pauschal zur Minna macht.[2]

Das Thema ist brandaktuell, und daher muß es erneut und von Grund auf (wie ein juristisches Verfahren nach einem Fehlurteil) noch einmal aufgerollt werden.

Aber ich frage Dich ernsthaft, was Du an diesem wald-und-wiesen linksliberalen Paneuropäer so faszinierend findest, der meint, die Nationen werden schon dann verschwunden sein, wenn man nominell ihre Souveränität beseitigt. Der Europäische Rat, der an der Spitze seiner schwarzen Liste steht, kann nur einstimmige Beschlüsse fassen. Warum?

Das wird Dir als Jurist klar sein: weil er eine Ansammlung oder Versammlung von Chefs souveräner Staaten ist, die vereinbart haben, auf bestimmte nationale Vorrechte aus sie alle betreffenden (welt) politischen (also in letzter Instanz ökonomischen) Gründen zu verzichten und diese zu vergemeinschaften. Allein den Europäischen Rat abzuschaffen, das wäre so als würde vorgeschlagen, um den Kapitalismus zu beseitigen, nur das Geld abzuschaffen. Entschuldige, daß ich über soviel politische Naivität nur staunen kann oder laut lachen muß.

Aber die Sache hat auch eine ernstzunehmende Seite: wenn dieser antideutsche paneuropäische Trend an Boden gewänne, wäre das ein gefundenes Fressen für alle Nationalsozialisten Europas, nicht zuletzt in Deutschland, Stärke zu demonstrieren. Die liberale Linke (vertreten u.a. durch DIE ZEIT) liefert mit ihrer anti-deutschen Argumentationsmasche (wenn irgend ein Sch… in Europa passiert, waren es immer als erstes die Deutschen …) wie im Biedermann und die Brandstifter frei Haus an die Rechten schon mal die billigsten anti-deutschen Stichworte, sozusagen die Benzinkanister, mit denen die Rechten dann liebend gern in ihrem ‚deutschen Vaterland‘ den Brand löschen werden.

Mir sind in puncto Griechenland nur zwei Deutsche namens Otto bekannt: Otto von Bayern, der nach dem griechischen Aufstand 1830 dort von den europäischen Großmächten zum König ernannt wurde und Otto Rehhagel, der mit der griechischen Nationalmannschaft die Europameisterschaft gewann. Was sollen diese billigen Otto-Stereotypen? Als ob das was über die Deutschen sagt!

Die FAZ druckt jede Woche mindestens eine schlaue Expertise über die europäische Krise. Aber ich habe noch keine gefunden, die mir nur ansatzweise eingeleuchtet hätte. Die meisten drücken sich bereits um die Frage herum: warum es die EU (EWG) überhaupt hat geben müssen? War es Hitler, war es der Kalte Krieg, war es die europäische Einbindung Deutschlands, das sonst viel zu groß und viel zu mächtig für den Rest Europas hätte werden können, wenn die Alliierten nach 1945 einen Friedensvertrag (mit wem in Deutschland?) abgeschlossen hätten und Deutschland zu einem normalen bürgerlichen souveränen Staat geworden wäre? Wahrscheinlich liegt schon hier der Hund begraben, mal abgesehen von der Entwicklung von 1848 über 1871, 1914 und 1933 bis 1945. Bis auf wenige Lichtblicke eine einzige Geschichte der Konterrevolution! Das Deutschland, das Marx und Engels 1848 in der europäischen Revolution vor Augen hatten, war durch die Konterrevolution (Bourgeoisie + Absolutismus) in eine Nation verwandelt worden, die vorhersehbar in einen neuen Dreißigjährigen Krieg taumeln würde, den ihm Marx 1871 vorhergesagt hat, und der dann 1914-1945 stattgefunden hat…

Wenn wir über Deutschland reden wollen, dann nur so. Alles andere ist linksliberales pseudolinkes anti-deutsches Geschwätz aus einem paneuropäischen Wolkenkuckucksheim.

Ich verstehe ganz gut, daß Dir der übliche links-keynesianische Ökonomismus über die Weltwirtschaftskrise zum Hals heraushängt, und es Dich danach drängt, die politische Seite dieser Krise in Betracht zu ziehen. Aber das, was Herr Menasse von sich gibt, ist es nun wirklich nicht, was uns in dieser Situation weiterbringt.

Gruß Ulrich

P.S. Ich sitze immer noch an Colletti und Marx/Hegel. [3] Es wird noch etwas dauern. Übrigens: die griechischen Faschisten können mit 20% Wählerstimmen rechnen.

Wo sitzt denn nun der Feind? Nur in Deutschland?

Ein Gutes hat die EU: die alte Masche, wie sie früher die Völker aufeinander gehetzt haben, wird so wie bisher nicht mehr laufen. Da müßten sich die europäische Bourgeoisien schon etwas Schlaueres einfallen lassen. Vielleicht gehört das Geschreibsel von Herrn Menasse genau dazu…

Viele Grüße Ulrich

[1] Roman Rosdolsky: Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker, Berlin 1979.
[2] ZEIT ONLINE 29.09.2011
Robert Menasse: Zukunft der EU. Zwischenüberschriften: „Über die Feigheit der europäischen Politiker“, „Was sind eigentlich ‚nationale Interessen‘“, „Das Europäische Parlament – eine Sondermülldeponie“, „Der Europäische Rat gehört abgeschafft“. [abgerufen am 04.01.2013]
[3]
Lucio Colletti: Marxismus und Dialektik, Frankfurt M. Berlin. Wien 1977. Ders.: Hegel und der Marxismus, Frankfurt 1976.

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Ulrich Knaudt an H.B. (16.01.2013)

Betreff: DEUTSCHLAND UND EUROPA


Lieber H., es mag ja sein, daß dieser Menasse für Dich einen guten Anknüpfungspunkt darstellt, um mit ‚weniger aktiven‘ Menschen ins Gespräch zu kommen; das sollte doch bitte mich nicht daran hindern dürfen, diesen Herrn und sein Pan-Europa-Gesäusel mal etwas gegen den Strich zu brüsten, unabhängig davon, ob es sich dabei für Dich um ein „gutes Beispiel für eine Politik abgespalten von der Ökonomie“ handelt.

Die Diskussion darüber, was für Dich noch einen solchen Anknüpfungspunkt darstellt und für mich nicht mehr, haben wir ausführlich bestritten und zu einem unversöhnlichen Abschluß gebracht. Was uns nicht daran hindern darf, weiter zusammenzuarbeiten und für gewöhnlich lebhaft zu debattieren.

Dein Eindruck, ich wollte Dich mit diesem Geschwätz des Herrn Menasse über einen Kamm scheren, ist unzutreffend. Vielleicht können wir uns wenigstens darauf einigen.

Als Kontrastprogramm zu Menasses Ausführungen schicke ich Dir einen der vielen Aufsätze, die es zu diesem Thema in der FAZ der letzten Zeit gab, um im Zusammenhang damit lediglich folgendes festzustellen:

Der Artikel „Dilemma und Strategie“ [1] enthält zumindest einige historische Tatsachen, die bei Menasse überhaupt nicht vorkommen und die meine Frage in meiner Mail vom 11.01., „warum es die EU (EWG) überhaupt hat geben müssen?“, wenn auch nur sehr sporadisch, aber zumindest an relevanten historischen Tatsachen orientiert, zu beantworten scheint. Daraus entnehme ich (uns zur Erinnerung) den Hinweis auf den engen Zusammenhang von ‚Wiedervereinigung‘, Maastricht und Euro. Mehr auch nicht. Hier hätte die Diskussion zu beginnen, warum wir Deutschen uns im Gegensatz zu jeder anderen europäischen Nation diesen Luxus einer deutschen Nation nicht (mehr?) leisten bzw. niemals wieder leisten werden können? Vielleicht auch deshalb, weil wir Deutschen, wie es den Anschein hat, immer von der Skylla des Nationalsozialismus in die Charybdis des Sozialnationalismus fallen müssen? Der schlaue Odysseus ließ sich die Ohren mit Wachs verstopfen. So schlau ist inzwischen auch unsere Bourgeoisie. Damit ist aber das Problem, das wir mit ihr und der sog. Nationalen Frage haben, nicht verschwunden.

Der Artikel über das Wasser [2] enthält einige Gesichtspunkte, die zeigen, daß es völlig egal ist, wer damit sein Geld verdient, der Staat oder eine Privatfirma. Entscheidend ist, daß die Ware Arbeitskraft an jedem Arbeitstag frisch geduscht und gekämmt an ihrem Arbeitsplatz erscheint und daß (außerdem) [3] für das Kapital durch den Preis für die Bereitstellung dieser Ressource ihr Preis und damit der Wert der Arbeitskraft nicht ins Unbezahlbare steigt. Über die politischen Motive der Wasser-Mensch[en]rechtler schweige ich mich aus, weil Du meine Argumente kennst und ich mich nur wiederholen würde.

Der Artikel über Fracking [4] zeigt, daß die Schädigung des Menschen und der Natur als Ausbeutungsobjekte des internationalen Kapitals irgendwann den qualitativen Punkt überschreitet, an dem Kapital nicht mehr weiterhin tun und lassen kann, was es will. Das Dumme ist, daß die Gasgewinnung auf Privatgrundstücken vorgenommen wird (jeder Farmer hat seine Gasquelle unter seinem Fußoden), deren Verbot in letzter Konsequenz die Enteignung der Privateigentümer bedeuten würde. Hier stößt das Kapital an seine ’natürlichen‘ Grenzen.

Insgesamt finde ich in Deinem Brief einen gewissen schrillen gegen die p[artei]M[arx] gerichteten Tonfall, der meinen angeblichen politischen Anmaßungen gegenüber auch schon von anderer Seite Anwendung fand. Wenn es schrill wird, mache ich es wie Odysseus… Es wäre aber höchst bedauerlich, wenn dieser Ton zum Dauerton werden würde.

Wenn wir wieder zu einem normale Tonfall zurückgekehrt sind, sollten wir uns über die Zukunft der Marx-Gesellschaft unterhalten.

Gruß Ulrich

[1] FAZ 14.01.2013 Dilemma und Strategie. Die Erfahrung aus den zwei Weltkriegen lautet, daß gerade der Mangel an internationaler Integration zu Deutschlands Isolation führte. Daher wollen die meisten Deutschen, daß ihr Land in Europa aufgeht. Die Berliner Politik muß nun aber nationale Interessen und internationale Integration sowie Solidarität und Solidität wirklich austarieren.
[2] FAZ 15.01.2013
Unser Wasser. Das Verhältnis der Deutschen zum Wasser ist von vielen Irrationalitäten geprägt.
[3] In Klammern die sinngemäße Bedeutung dieser Textstelle, die nicht dekodiert werden konnte.
[4] FAZ 15.01.2013
Amerikas fatale Rettung. Die Vereinigten Staaten erleben einen neuen Goldrausch: Fracking lautet das Zauberwort, ein revolutionäres Verfahren der Energiegewinnung, bei der Erdöl und Erdgas aus untersten Gesteinsschichten herausgepreßt werden. Doch diese Technik birgt auch gewaltige Risiken. Deswegen formiert sich der Protest – über einen ungleichen Kampf zwischen Konzernen und Menschen.


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Ulrich Knaudt an H.B. (30.01.2013)

Betreff: KÜNDIGUNG


Lieber H., …
Die Herrschaften Akademiker verabschieden sich der Reihe nach und Herr B. stellt auf einmal fest, daß die M[arx]-G[esellschaft] in die Jahre gekommen sei.

Ein billiger Vorwand, um in der Herbstschule den Nachwuchs (meist schon ziemlich ergraut) der PDS zu schulen und die M-G zu liquidieren. [1]

Wie aus meinem Disput mit N. hervorgeht, war sie nicht für eine offene Auseinandersetzung über D[ieter].W[olf].s Revisionismus zu gewinnen gewesen. Das hält sie für ‚Gockelei‘, von der die Herren akademische Marxisten sich nur abgestoßen fühlen…

Viele Grüße

Ulrich

[1] Siehe marx-gesellschaft.de. Die Idee zur Marx-Herbstschule, marxherbstschule.net, die alljährlich in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft stattfindet, wurde von Initiatoren in der Marx-Gesellschaft entwickelt, um, wie es hieß, neben den Kolloquien den marxistischen Nachwuchs an Marx-Texte heranzuführen. Ursprünglich sollte das Kolloquium der Marx-Gesellschaft und die Marx-Herbstschule mit je einer Tagung pro Jahr parallel stattfinden. Auf dem Höhepunkt der Debatten in der Marx-Gesellschaft, die ihren Initiatoren zunehmend auf den Geist gingen, erklärte der Kreis um die Vereinsgründer, daß man in allernächster Zeit den Verein liquidieren und sich ausschließlich auf die Herbstschule konzentrieren werde. Damit war die bis dahin stattgefundene offene Debatte kassiert und dem Linken Zeitgeist Tribut gezollt.
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Ulrich Knaudt an H.B. (03.02.2013)

Betreff: EINWÄNDE


Lieber H:, wie versprochen hier meine Skizze zu Colletti, Stalin und Marx. [1]

Die Punkte 2 und 3 in K.[arl]M.[arx]s Zusammenfassung am Schluß beziehen sich eher auf die Politik als auf die Dialektik, deren Kritik insgesamt nur den Charakter eines Exkurses hat. Die Politik habe ich hier nicht berücksichtigt, ebensowenig Collettis Einlassungen zu Plato etc. Das ganze nur ein Ausschnitt aus meinen unfertigen Überlegungen zu diesem Thema. Auf jeden Fall wird der Kontrast deutlich. …

Viele Grüße Ulrich


[1]
parteimarx.org REAKTIONEN 2013 ANHANG


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Ulrich Knaudt an H.B. (08.03.2013)

Betreff: REAKTIONEN 2012


Lieber H., […]

In der FAZ war ein interessanter Artikel über die Hintergründe der Trinkwasserbewegung.

Als Du mir anrietest, bei denen zu unterschreiben, schwante mir schon so etwas in der StamoKap-Richtung. Hier geht es um den kleinen Gemeinde-StamoKap, von dem ich nicht behaupten würde, daß es sich von dem großen groß unterscheidet. [1] Oder ist „small = beautiful„?

Die ganze StamoKap-Geschichte (Lenin: die preußische Post als erster Schritt in den Sozialismus) müßte ganz von vorne aufgerollt werden…

Aber das für später.

Viele Grüße

Ulrich

[1] FAZ 28.02.2013 Lärmschutz wird für BER zur nächsten Baustelle. – Lärmschutz für mehr Nachtruhe / Suche nach neuem Flughafenchef bisher ergebnislos.


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Ulrich Knaudt an H.B. (11.03.2013)

Betreff: DIALEKTIK


Lieber H., […]
Du sagtest am Telefon, bis auf den Schluß sei nichts dabei, was sich über mein Papier [1] zu diskutieren lohnt. (Hab ich jedenfalls so verstanden) Die Stalin-Proudhon-Marx-Zitate habe ich auf Deinen speziellen Wunsch, zumindest, was das Verhältnis Proudhon-Marx-Dialektik betrifft, aufgenommen. Über meine Kritik an Collettis Konstrukt der zwei Arten von Widersprüchen hast Du auch nichts gesagt. […]

Obwohl das Kolloquium [2] eigentlich ein fake ist, weil es, wie es scheint, hauptsächlich dazu dient, den Verein ‚abzuwickeln‘ und mit unserer Teilnahme die Regreßkosten durch die Absage der Bestellung des Tagungslokals zu vermeiden und sich dann nach Berlin aufzumachen, sollten wir die Gelegenheit nutzen (alles andere wäre ohnehin sinnlos), um uns jenseits von RLS, Helle Panke etc. zu vernetzen.

Mein Respekt für soviel Zielstrebigkeit und organisatorischer Phantasie!

Können uns ‘ne Scheibe davon abschneiden!

[…] und bis bald zur letzten Tagung der Marx-Gesellschaft.

Gruß Ulrich

[1] parteimarx.org REAKTIONEN 2013 ANHANG

[2] Frühjahrs-Kolloqium der Marx-Gesellschaft in Oer-Erkenschwick (22.03.-24.03.2013)


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Ulrich Knaudt an H.B.(29.03.2013)

Betreff: EINHEIZFRONT


Lieber H., Anfang der Woche rief mich (über-über-überraschenderweise) unser gemeinsamer Freund D[ieter]. W[olf]. an. Er wiederholte das, was wir bereits bei unserer Unterhaltung am Ende der Tagung gemeinsam festgestellt haben: daß der Tagungsleiter uns alle über den Tisch gezogen hat, indem er auf jeden Fall vermeiden wollte, daß bei der Diskussion über das Erste Kapitel [in KAPITAL I] U.[lrich]
K.[naudt] und D.[ieter]W.[olf] unvermeidlich aneinander gerauscht wären. Daß wir so blöd waren, das nicht vorherzusehen und uns dadurch um eine spannende Diskussion gebracht haben, ärgerte D.W. auch noch einen Tag danach. Und deshalb rief er mich an, um mir das mitzuteilen. Der Höhepunkt der Unterhaltung bestand zweifellos in D.W.s Erklärung, daß Marx mit den „Metaphern“ im Ersten Kapital [in KAPITAL I] zeitweise die Pferde durchgegangen seien. Er [Marx] habe ja mal in seiner Jugend als Poet angefangen. (Nur, wer hat das nicht?) Es ist D.W. schlichtweg nicht beizubringen, daß die Antinomien, Paradoxien, Absurditäten dort eine systematische Bedeutung und Funktion für das gesamte KAP haben. Was ist z.B. der Tendenzielle Fall der Profitrate anderes als eine Paradoxie: die Erweiterung des fixen Kapitals führt zum Fall der Profitrate (in der Tendenz) und nicht wie erwartet zur Erhöhung des Profits. Man kann alle 3 Bände durchgehen und wird wahrscheinlich bei jedem Gesetz, das Marx über die Verwertung des Werts durch das Kapital aufgestellt hat, Ähnliches finden. Man kann das KAP I-III aber durchaus auch, ohne diese verrückten Formen zur berücksichtigen, lesen. Dann wird es schlicht zur einer linken Vulgärökonomie, wie der linke Keynesianismus eine ist. Kurzum, Marx sind mit der Einführung dieser verrückten Wertformen keinesweg[s] die Pferde durchgegangen, wie D.W. mir nahelegen wollte. […] Du tätest mir einen großen Gefallen, wenn Du bei einem Deiner nächsten Gespräche mit ihm sanft darauf hinweisen könntest, daß wir zwar nun durch die Schofeligkeit der M[arx]-G[esellschaft] einen gemeinsamen Gegner erhalten haben, was aber nicht bedeutet, daß die Widersprüche zwischen unseren verschiedenen Ansichten zum Marxschen KAP verschwunden sind. Ich hoffe, Du betrachtest das nicht als Zumutung. Bei passender Gelegenheit werde ich ihm das auch selber sagen. Heute würde ich ihn nur vor den Kopf stoßen, was ich vermeiden will. Außerdem hat sich niemand so intensiv und ständig mit seinen Theorien auseinandergesetzt wie wir beide.

[…]

Ich wünsche Dir geruhsame Feiertage und verbleibe in alter Verbundenheit

Ulrich

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Ulrich Knaudt an H.B. (04.04.2013)

Betreff: RESURRECTION


Lieber H.,

Die Auferstehung der commune rurale haben ‚wir‘ historisch verpaßt. [1] Die von K.M. beschriebene Einmaligkeit dieser Möglichkeit ist unwiederbringlich verloren. Ihre Potenzen werden aber Teil jeder (negativen) Blaupause bleiben, als welche das KAP[ITAL] für die weiteren sozialistischen Wiederholungsversuche benötigt wird. Die commune rurale ist, was sie nicht hätte werden müssen, zur negativen Blaupause für den gescheiterten Kommunismusversuch der S[owjet]U[nion] geworden. Darin besteht ihre aktuelle Verwendungsmöglichkeit! Von China gar nicht zu reden…

Ich habe Dich in Deiner Mail zum ersten Mal richtig wütend ‚erlebt‘, und das deute ich als ein positives Zeichen. […] Was uns beide, trotz politischer Unterschiede, von seinen [= D.[ieter]W.[olf]s] Auffassungen trennt, ist ‚die Ware als Subjekt‘. Weil er die Ware anders versteht, landet er für die Ersten Drei Kapitel [des KAPITAL] bei einer Bewußtseins-, Erkenntnis- oder was auch immer Theorie und befindet sich damit in enger Nachbarschaft zu C[hristoph]. L[ieber]. [2] Zuvor noch eine Verständnisfrage: wer sind die von Dir benannten „Klassenkampflogiker“?

Zu meinen Exzerpten zu C.L.s Bewußtseinstheorie: Beim Überlesen ist mir aufgefallen, daß wir auch diesem Autor gegenüber wegen seiner ungeheuren Belesenheit in pcto Marx nicht das Wasser reichen können.

Daher habe ich bei meiner Vorbereitung (offenbar gehörte ich, wie Du zutreffend festgestellt hast, zu den Wenigen, die sich vorbereitet hatten) das Umfeld seiner Zitate abgegrast und dort häufig die Dementis der Thesen gefunden, die er mit den von ihm gebrachten Zitaten beweisen will. (Hat aber nicht immer geklappt. […]).

Du erinnerst Dich an die Debatte über das fetischistische Bewußtsein des/der einzelnen Lohnarbeiter/s und den sich ihm gegenüber als tote Arbeit aufgehäuften Produktionsmitteln, die er als Produktionsmittel des Kapitals mißdeutet und damit seinem angeblichen Fetischismus erliegt. Diese These hatte ich in der Diskussion bestritten.

Hier wäre, um das zu vertiefen, zu unterscheiden zwischen dem Schein und dem Fetisch.

Der Fetisch ist etwas in den Gegenstand Hineinprojiziertes, als ob er den Gegenständen selbst anhaften würde, was diejenigen, die ihnen diesen Fetisch anheften, nicht nur ernsthaft annehmen, sondern auch praktisch mit diesem ihr Unwesen treiben. Eine gesellschaftlich wirksame (bewußte) Verkennung der Tatsachen, die gesellschaftlich praktische Verwendung findet.

Der Schein drängt sich dagegen demjenigen auf, der den Sachverhalt, der sich ihm darbietet, nicht anders denn einseitig und daher falsch zu deuten weiß, weil er subjektiv in seiner Situation als Einzelner nicht in der Lage ist, hinter die Dinge zu schauen. Er wird von dem sich ihm darbietenden Schein überwältigt.

Die Fähigkeit, hinter die Dinge zu schauen, erwirbt der einzelne Arbeiter im Klassenkampf, der ihn mit zunehmender Erfahrung zu einer ‚realistischeren‘ Sichtweise befähigt. Das ist noch kein Klassenbewußtsein, aber der mögliche Ausgangspunkt desselben. Dem Klassenbewußtsein würde die Einsicht in den elementaren Unterschied zugrunde liegen (Zitat S.15), daß der Kapitalist als privater Besitzer der Produktionsmittel nur sich selbst repräsentiert, während der Arbeiter als Privatmensch nichts ist und nur in den Besitz der Produktionsmittel gelangen kann, wenn er diese sich gesellschaftlich aneignet und anwendet. [3]

C.L.s Behandlung dieses Widerspruchs erliegt zwei Verwechslungen, wodurch dieser Schein bestätigt wird (übrigens halte ich die von D.W. aufgelisteten verschiedenen Fetischismusarten, zu denen er auch den Lohnarbeits-Fetischismus zählt, für vollkommen schematisch und daher vulgärökonomisch):

er [C.L.] setzt das Bewußtsein der Vulgärökonomen und der Praktiker des Kapitals generell mit dem Bewußtsein der Bürger gleich. Marx dagegen bleibt hier sehr konkret, beschränkt sich auf die Vulgärökonomie und die Praktiker des Kapitals und vermeidet derartige Ausflüge in die Bewußtseins-Soziologie.

er ignoriert den Unterschied, den Marx macht zwischen dem/den einzelnen Arbeiter/n, die als Einzelne nicht in der Lage sind, die Produktionsmittel zu vergesellschaften und der Klasse, die sich die Produktionsmittel ausschließlich gesellschaftlich aneignen wird.

er macht ohne Berücksichtigung dieses Widerspruchs das moderne Bewußtsein des modernen Individuums, das sich dieses auf der Grundlage der modernen Produktionsweisen des Kapitals angeeignet hat, zum Ausgangspunkt der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, aber unter den Voraussetzungen der kapitalistischen P[roduktions]W[eise].

daraus leitet er seine Kritik an der Frankfurter Schule als Sozialromantiker ab, obwohl diese immerhin, indem sie bei ihrer KAP-Lektüre den Fetischcharakter der Ware stark machte, gegen den Fetischismus der realsozialistischen Vergesellschaftung in Opposition ging und (gestützt auf die [Marxschen] Frühschriften) eine Verunsicherung ausgelöst hat, die letzten Endes die nicht vorhandenen sozialistischen Grundlagen dieser Vergesellschaftung (der Begriff der „Gesellschaft“ in der DDR-Literatur z.B. als Fetisch), theoretisch in Frage gestellt und dadurch die gesellschaftlichen Erschütterungen, von denen der Realsozialismus heimgesucht wurde, als unvermeidliche bestätigt hat. (Davon zehren die MEGA-Leute bis zum heutigen Tag!) [4]

Fazit: C.L. stellt der modernen kapitalistischen Vergesellschaftung, der sich das Kapital nicht entziehen kann, polemisch den Romantizismus der Frankfurter Schule gegenüber und suggeriert seinen Lesern, daß es nur eines anderen Bewußtseins bedürfe, um den Hebel von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Vergesellschaftung umzulegen.

Dieser Bewußtseinswandel soll politisch herbeigeführt werden. Die realen Lohnarbeiter werden ihm und Der Linken was husten!

Übrigens sind meine Exzerpte aus dem Kapitel zum Handelskapital interessant für die Debatte über ‚die Ware als Subjekt‘, weil die häufige Verselbständigung dieser Debatte dadurch ein wenig historisch relativiert und der scholastische Charakter derselben abgebaut wird. Erst wenn das industrielle Kapital ‚zu sich selbst gefunden‘ hat, verschwindet das Handelskapital in seiner bisherigen Bedeutung für die Herausbildung desselben […]

So viel zu den Exzerpten zu C.L.

[…]

Viele Grüße

Ulrich

[1] D.h. die in den Marxschen Briefentwürfen an Vera Zasulič vertretene These, daß die russische Dorfgemeinde zur gesellschaftlichen Basis des Kommunismus in Rußland fähig und in der Lage sei. Siehe dazu. parteimarx.org DEBATTE 3 und DEBATTE 4.
[2] Bezieht sich auf das von
Christoph Lieber für das Frühjahrs-Kolloquium der Marx-Gesellschaft eingereichte Diskussions-Papier: Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie – (noch) Schlüssel für die Ideologie- und Bewußtseinstheorie der Linken heute?

[3] Siehe u.a. in der von Christoph Lieber zitierten Marx-Engels-Gesamtausgabe [MEGA] II/3.6, 2144: »In der grossen Agricultur, wie in der grossen Industrie, sind diese Arbeit und | das Eigenthum an den Productionsbedingungen nicht erst zu trennen, sie sind faktisch getrennt, diese Trennung von Eigentum und Arbeit, die Sismondi beweint, nothwendiger Durchgang zur Verwandlung des Eigenthums an den Productionsbedingungen in gesellschaftliches Eigenthum. Als Einzelner konnte der einzelne Arbeiter nur wieder hergestellt werden in dem Eigenthum an den Productionsbedingungen durch Zertrennung der Productivkraft und der Entwicklung der Arbeit auf grosser Stufenleite. Das fremde Eigenthum des Capitalisten an dieser Arbeit nur aufzuheben, indem sich sein Eigenthum als das des Nicht-Einzelnen in seiner selbständigen Einzelheit, also des associierten, gesellschaftlichen Individuums umgestaltet.«
[4] Anspielung auf Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe [MEGA].

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Ulrich Knaudt an H.B. (10.06.2013)

Betreff: WARENFETISCH


Lieber H., ich habe gerade, wie wir einmal besprochen haben, meine Kritik an D[].W[Wolf].s Fetischcharakter-Papier (37 Seiten) über die Mailing Liste verschickt. [1] Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört, und ich hoffe, Du bist nicht in der Flutkatastrophe ‚untergegangen‘. Zu dem Geburtstags-Kolloquium in Berlin werde ich nicht fahren. [2] So viel geballter akademischer Marxismus ist für mich momentan nicht zu ertragen. In der kurzen Einleitung zu meinem Papier ist dazu alles Nötige gesagt. [3] Wie soll es weitergehen. Von meiner Seite stellen sich die Dinge so dar, daß sich nicht nur der akademische Marxismus von seinen Moserern und Meckerern getrennt hat, sondern auch ‚die partei Marx‘ vom akademischen Marxismus. […]

Viele Grüße und alles Gute

Ulrich

[1] parteimarx.org DAS KAPITAL Nachtrag zu einer nicht mehr stattgefundenen Diskussion über Dieter Wolfs Papier „Wie der Waren-, Geld- und Kapitalfetisch den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein bestimmt“.

[2] 14.06-15.06. Ein Blick in die Werkstatt von Karl Marx. Wissenschaftliches Kolloquium zum 60. Geburtstag von Prof. Rolf Hecker.

[3] parteimarx.org DAS KAPITAL Nachtrag zu einer nicht mehr stattgefundenen Diskussion über Dieter Wolfs Papier: Wie der Waren-, Geld und Kapitalfetisch den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein bestimmt.


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Ulrich Knaudt an MARX-FREUNDE (10.06.2013)

Betreff: DER FETISCHCHARAKTER DER WARE


Liebe Marx-Freunde, auf dem Abschiedskolloquium der Marx-Gesellschaft in diesem Frühjahr wurde verabredet, daß die an der Diskussion Beteiligten über die Mailing-Liste der Eingeladenen weiter in Kontakt bleiben werden. Das soll nun von meiner Seite durch das Versenden meiner Kritik an Dieter Wolfs Papier über den den Fetischcharakter der Ware geschehen.

Herzliche Grüße

Ulrich Knaudt

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Ulrich Knaudt an H.B. (12.06.2013)

Betreff: FETISCHCHARAKTER


Lieber H., ein für mich sehr wichtiges Gespräch, das wir da gestern geführt haben! Dadurch ist mir endgültig klargeworden, wo unsere Differenzen liegen. Ich hoffe, ich kann das deutlich machen. Wir lesen die Ersten Drei Kapitel [von KAPITAL I] mit unterschiedlicher Perspektive: Du liest sie paradigmatisch in Hinblick auf alle möglichen Diskurse, die da so im Raum stehen, soziologischer, philosophischer, psychologischer, etc. Art. Mir sind diese Diskurse relativ Schnurz. Mir reicht es, unterrichtet zu sein, daß es sie gibt und was in den Debatten darüber so abläuft. Ich lese die Drei Kapitel, wenn Du so willst, ‚hermeneutisch‘. Ich will eigentlich nur wissen, was drin steht und was bestimmte Zusammenhänge, Begriffe, Kategorien bedeuten könnten. Natürlich ist das keine rein hermeneutische Lesart, denn ich bin kein Theologe oder Philosoph und das KAP ist nicht die Bibel und keine Politeia. Mein Interesse ist eng verbunden mit der Politik der p[artei]M[arx]. Nun kannst Du zu Recht dem entgegensetzen, daß die pM gar keine Politik macht. Richtig. Aber das ist nicht allein meine Schuld, daß bis heute keine Politik in diesem Sinn gemacht wurde. Was ich an Politik, die gemacht wurde, über die Jahre kennengelernt habe, war in dieser Hinsicht im höchsten Grade kontraproduktiv. Also bleibt für mich nur dieses ‚Als ob‘ als Orientierungspunkt übrig, wofür ich mich bemühe, eine theoretische Basis zu erarbeiten. Und die finde ich u.a. (nicht nur dort, wie Du weißt) in den Ersten Drei Kapiteln [des KAP I]. D.[ieter]W.[olf]s Motive, die ihn dazu gebracht haben, sich nicht nur mit Hegel, sondern auch mit dem KAP zu beschäftigen, sind letztlich akademischer Natur. Allein schon deshalb herrscht zwischen uns die absolute Verständnislosigkeit, vor allem über sein Vorgehen, aus dem KAP ein ‚System zu bereiten‘. Mit oder gegen Luhmann, Habermas und wie sie alle heißen. Wäre er ein reiner Hegelianer, würde ich ihn schon deshalb nicht lesen, weil sein Stil fürchterlich ist. (Ein Grund für meine übertriebene Polemik: es ist allein schon der Frust über diesen Stil.) Aber er befaßt sich nun mal auch mit Marx, und zwar auf eine Weise, durch die ich mich provoziert fühle. Die andere Seite ist, und darin gebe ich Dir recht, daß er [D.W.] seine Kritiker zwingt, seine logischen Macken, Tautologien und Banalitäten von Grund auf zu kritisieren, die alle Bestandteil seines Systems sind, dem man erst mal auf den Grund gehen muß, um diese zu entlarven. Und viele dieser Macken teilt er mit dem akademischen Marxismus. Das wäre seine konstruktive Rolle im Negativen. Und die weiß ich durchaus zu würdigen. Allerdings nur in gewissen Grenzen, die durch Heinrich Harbachs Sozialismusverständnis gesetzt werden, das eng mit D.W.s Revisionismus in puncto KAP zusammenhängt. [1] Ich glaube, darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Das ist aber der entscheidende Punkt, der nachzuweisen ist und für eine Denkweise steht, die mit der destruktiven Seite der Parteigeschichte der letzten Jahrzehnte (s.o.) eng zusammenhängt. Auch deshalb ist der rigide punktgenaue Nachvollzug des Inhalts der Ersten Drei Kapitel für mich und wie ich denke auch politisch im Sinne der Politik der pM von besonderer Bedeutung. Das ist für mich die Hauptsache, alles andere, weil akademisch oder parteipolitisch im bürgerlichen Sinn, ziemlich nebensächlich.

Soweit erst mal.

Mit den besten Wünschen […]

und herzlichen Grüßen

Ulrich

[1]
Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Berlin 2011. Siehe auch: REAKTIONEN 08.02.2012.


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Ulrich Knaudt an H.B. (19.06.2013)

Betreff:DIE DREI KAPITEL


Lieber H., mir hat es nicht die Sprache verschlagen, sondern ich mußte mir das alles noch einmal mit zeitlichem Abstand zu Gemüte führen. Auf die Differenzen zwischen uns gehe ich nicht en détail ein, weil sie uns ohnehin weiter begleiten werden. Ich möchte nur nach der Charakterisierung unserer Differenzen was zu unseren politischen Gemeinsamkeiten sagen: eine, vielleicht die entscheidende, wie nach dem Debakel mit der M[arx]-G[esellschaft] sichtbar geworden ist, besteht darin, daß wir, D.[ieter]W.[olf] incl., nicht zum akademischen Marxismus gehören, da wir (wir beide zumindest) dessen akademische Mindestvoraussetzungen nicht erfüllen. D.W. würde gerne, aber dieser Status wird ihm verweigert. Aus welchen Gründen auch immer. Auf dieser minimalen Grundlage tauschen wir uns aus (direkt oder jeweils über Dritte), daß die Fetzen fliegen, was der Sache nur dienlich sein kann. Wie weit wir mit dieser politischen Gemeinsamkeit kommen werden, weiß ich nicht. Aber wir stimmen darin überein, diesen Diskurs fortzusetzen. Nicht mehr und nicht weniger. Damit dies passiert, dazu habe ich unsere Differenzen skizziert: ohne Differenzen keine Gemeinsamkeit. Diese Differenzen bestehen, wie nun noch klarer wird, in der unterschiedlichen Herangehensweise an die Ersten Drei Kapitel [von KAP I]. Ich begreife diese selbst nicht als Totalität, sondern als an der Totalität der kapitalistischen P[roduktions]W[eise] nagend, sie unterminierend und relativierend. Zwischen dem unterschwelligen Adabsurdumführen der Totalität der kapit.[alistischen] PW und der Weiterentwicklung der Politik der Marxschen Partei (deren Geschichte und Methodik zu studieren ist) besteht eine Differenz keine Identität. (Siehe: auf der einen Seite die Wissenschaft, deren Ansprüchen genüge getan werden muß und auf der anderen deren Fetischisierung durch den akademischen Marxismus!) Aus der Zuspitzung der theoretischen Infragestellung dieser Totalität mag sich oder wird sich vielleicht eine Angriffslinie gegen das Kapital ergeben, die sich von den heutigen Partnerschaften zwischen Kapital und Arbeit und dem Ringen um die Vorherrschaft über die Natur zwischen Kapital und Ökologisten unterscheidet. Letzten Endes stellt sich die Frage, nicht, wozu man die Ersten Drei Kapitel braucht, sondern wer sie wozu benutzen wird. (Siehe Stalin und die Herausgabe der GR[undrisse zur Kritik der politischen Ökonomie]. Nur, um K.M. zu musealisieren?) Aber all das ist Zukunftsmusik. Wir haben genug damit zu tun, unsere theoretischen Differenzen möglichst produktiv werden zu lassen, indem wir gemeinsam daran arbeiten. Vom akademischen Marxismus ist in dieser Hinsicht nichts zu erwarten. Er fährt sein eigenes Programm mit Marx und dem KAP in der der unsrigen entgegengesetzten Richtung der Einbahnstraße […]

Alles Gute […]

und herzliche Grüße

Ulrich
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H.B. an Ulrich Knaudt (24.06.2013)

Betreff: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/2154789

Wird Dich interessieren, wenn du es nicht schon weißt – DDR-Wirtschaftspolitik.

Gruß H.

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Ulrich Knaudt an H.B. (25.06.2013)

Betreff: Das DDR-Wirtschaftsimperium KoKo – Matthias Judt Der Bereich Kommerzielle

Koordination| Andruck ‒ Das Magazin für Politische Literatur | Deutschlandfunk.

Lieber H., in der Tat, einiges war mir durch Zeitungslektüre o.ä. bekannt. Aber es freut mich, daß Du an mich gedacht hast.

Wahrscheinlich ließe sich eine Wirtschaftsgeschichte der DDR nur schreiben als Moment des gewaltigen Ausbeutungssystems, das die ‚Sowjetmacht‘ seit den späten 20er Jahren (der sog. Zweiten Revolution) in wachsendem Maße darstellte. Ein gewordenes Ausbeutungssystem beginnend mit der Kollektivierung [der Landwirtschaft] Anfang der 30er Jahre und dem Holodomor (dem Verhungern-Lassen von Hunderttausenden von ukrainischen Bauern, ob sie sich kollektivieren lassen wollten oder nicht, der Liquidierung der Bauern als Klasse, wortwörtlich gemeint). Darauf ist die DDR nur das Sahnehäubchen. Sie befand sich zu dicht am Westen, als daß sich auch dort derartige Ungeheuerlichkeiten abgespielt hätten. Verglichen mit dem übrigen Realen Sozialismus befand sie sich sogar in einer relativ bevorzugten Position, Berlin wiederum im Verhältnis zur übrigen DDR. Vergessen wir nicht, daß sie das Sprungbrett hatte sein sollen, um in Fortsetzung der Strategie Alexanders I. die russische Welthegemonie in ganz Europa bei passender Gelegenheit zu errichten. Dazu sollte Koko schon mal die Fühler ausstrecken, abgesehen von den Luxusbedürfnissen der Nomenklatura, die in Wandlitz […] die Vorzüge des Westens genießen wollte. Man lebt ja nicht ewig. Seit der Zweiten Revolution gelten alle Aussagen, die M.[arx]u.E.[ngels] zum russischen Zarentum gemacht haben, voll und ganz für die SU und gehen teilweise noch weit darüber hinaus. Nicht umsonst verbietet Stalin 1934 den Abdruck von F.E.s Die Auswärtige Politik des russischen Zarentums. [1] In dem Buch eines amerikanischen Historikers aus den 80er Jahren über die Großmächte und den Wiener Kongreß finden sich all die alten Bekannten der russischen Diplomatie, die bereits von F.[riedrich]E.[ngels] benannt wurden, der Reihe nach aufgezählt: die Rekrutierung des diplomatischen Korps aus einem bunten Kreis europäischer Abenteurer, die Ausnutzung von Bauernaufständen und sonstigen Rebellionen, sobald sie sich gegen einen von Rußlands Gegnern richteten u.a.m. [2] Insofern erstaunt Rußlands Haltung zu dem ehemaligen CIA-Hacker überhaupt nicht. Wenn Dir Domenico Losurdo ein Begriff ist, würde ich Dir dessen Stalin-Biographie empfehlen. [3] Eine Rehabilitierung Stalins auf dem neusten Stand der historischen Forschung, hinter deren methodische Tricksereien man erst einmal kommen muß. Soweit erst mal. Zu meiner letzten Mail werde ich ja noch was von Dir hören.

Bis dahin

herzliche Grüße Ulrich

[1] Friedrich Engels: Die auswärtige Politik des russischen Zarentums MEW 22 (13-48).

[2] Enno E. Kraehe: Metternich‘s German Policy. Vol. I: The Contest with Napoleon, 1799-1814, Princeton N.J. 1963.

[3] Domenico Losurdo: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Köln 2013.

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Ulrich Knaudt an H.B. (29.06.2013)

Betreff: HAUPTSEITE THEORIE


Lieber H., […] Das mit Adorno fand ich spannend. Kannst Du mir das näher erklären mit der negativen Totalität?

[…]

Zu Paschukanis: habe ab und zu mal reingeschaut, kann mich aber momentan nicht mit ihm befassen. [1] Kann man sagen, daß der Differenz zwischen formeller und materieller Gleichheit als Prinzip im bürgerlichen Recht der Widerspruch zwischen G[ebrauchs]Wert und Wert zugrunde liegt? Unter diesem Gesichtspunkt wäre Paschukanis in der Tat auch für mich spannend, besonders hinsichtlich der Unlösbarkeit dieses Widerspruchs in der SU, speziell im Zusammenhang mit der 2. Revolution (also genau der Zeit, als Paschukanis seine Theorien ausgearbeitet hat) und Stalins Theorie von der sozialistischen Marktwirtschaft (»sozialistische Warenproduktion«). Man kann nicht alles gleichzeitig machen. Siehe auch das Zweite Kapitel [in KAPITAL I]im Zusammenhang mit meiner Kritik an der Behandlung desselben bei D[ieter].W[olf].: Verselbständigung der Ware usw. Hängt alles miteinander zusammen. Sich selbst ad absurdum führende Totalität des Kapitals und die verrückten Formen im Kapitel über das zinstragende Kapital in KAP III (aktuelle Illustration: die irischen Banker und ‚Doitschlend, Doitschlend ieber ollies‘). [2]

Schließlich schicke ich Dir eine Mail der Frankfurter Antideutschen vom Theorie Praxis Lokal weiter.[3]

Bemerkenswert, der letzte Satz ihrer Veranstaltungsankündigung: Die Unterentwicklung der revolutionären Theorie auf der ganzen Welt ist die erste Unterentwicklung, die jetzt überwunden werden muss.“ Vor einem Jahrzehnt habe ich bei denen einen Vortrag gehalten.[4] Alles dauert seine Zeit. Soweit erst mal,

Gruß

Ulrich

[1] Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt/M. 1969.

[2] FAZ 29.06.2013 Der irische Filz und die Banker. Kungelei und Vetternwirtschaft macht Irlands Bankenskandal erst möglich. »Die jetzt bekannt gewordenen Telefonate stammen aus dem Herbst 2008… Zu hören ist unter anderem, wie ein Banker der damals angeschlagenen Großbank [Anglo Irish Bank] sich darüber lustig macht, daß deutsche Anleger seinem Konzern Einlagen anvertrauen und die historisch belastete erste Strophe der Nationalhymne anstimmt: „Deutschland, Deutschland, über alles“ singt der Manager ins Telefon und bricht in lautes Gelächter aus. Wiederholt spricht er von den „Verdammten Deutschen“.«

[3] Das Theorie Praxis Lokal macht in einer Mail vom 29.06.2013 auf die Diskussionsveranstaltung einer Gruppe von der Zeitschrift KOSMOPROLET (Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft) zu dem Thema Krise des Kapitals und Konfusion der Linken aufmerksam, von deren Ansichten sich selbiges Lokal in der Zwischenzeit getrennt hat. Der oben zitierte Satz scheint aber vom Theorie Praxis Lokal zu stammen und nicht unbedingt von besagter Gruppe.

[4] theoripraxislokal.org.


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Ulrich Knaudt an H.B. (05.07.2013)

Betreff: SOUVERÄNITÄT


Lieber H., Deinen Vorschlag, über diese Sendung zu debattieren, finde ich sehr gut. [1] Ich habe sie mir gestern angeschaut. Dein Erstaunen über die Ausführungen Schmitt-Enboms erstaunen mich aber ziemlich. Als Grundlage für unsere Debatte empfehle ich folgende Lektüre:

Das K[ommunistische]M[anifest] (MEW 4,479): die Passage: Die Arbeiter haben keine Nation

Den Begriff „Feindstaatenklausel“ in Wikipedia

2 + 4 Vertrag ebd.

Art. 80a GG (12.07.2012)

Über die Feindstaatenklausel fighten rechte Maoisten mit der Linken. Es geht um die Frage der Kontinuität des Deutschen Reiches (s. Link: Compact). Diese Position vertrete ich nicht. Ich gehe von der Republik aus, für die M[arx].u.E[ngels]. 1848 vergeblich gekämpft haben und statt [und auf Kosten] derer die Bourgeoisie sich mit der Reaktion auf das Bismarckreich und Österreich geeinigt hat, was schließlich zu dem vorhersehbaren Datum 8. Mai 1945 führen mußte. Das heutige Deutschland ist ein halb-souveräner Staat, der nur durch einen Friedensvertrag (was 2+4 nicht ist, sondern eine Verzichtserklärung der Besatzungsmächte) seine volle Souveränität gewinnen wird. Grundlage wäre nicht die Kontinuität des Deutschen Reiches von Bismarck bis Hitler, sondern die Deutsche Republik von M.u.E. Soweit erst mal. […]

Gruß Ulrich

[1] ZDF 04.07.2013 Maybritt Illner: Lizenz zum Abhören.

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H.B. an Ulrich Knaudt (24.06.2013)

Betreff: SOUVERÄNITÄT


Ich sagte, erstaunt war ich darüber, dass so was im Radio bzw. im Fernsehen kam, nicht mehr, nicht weniger
Deine Hinweise ansonsten ? ? ?

H.
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Ulrich Knaudt an H.B. (06.07.2013)

Betreff: SOUVERÄNITÄT


Lieber H., da wir beide ja wohl, wie ich annehmen kann, nicht an einer Medienkritik interessiert sind, halte ich die Hinweise schon für sinnvoll.

Wenn sie Dir bekannt oder sogar vertraut sind, um so besser. Dann bleibt aber immer noch ein Rest von Erstaunen auf meiner Seite, daß es Dich erstaunt, so was in den Staatsmedien präsentiert zu bekommen. Mich erstaunt das nicht, wenn man sich den Linksruck, der hier spätestens seit Fukushima durch die politische Landschaft gegangen ist, vor Augen führt. Da sich diese in toto auf die SED-PDS-Linke zubewegt hat (Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt…), bedarf es keines Linksputsches o.ä. durch den Wachhund Moskaus mehr, um die politische Landschaft in Deutschland in dieser Richtung zu verändern. ‚Deutschland bewegt sich‘ sua sponte ohne offizielle Aufforderung aus ‚Pankow‘. Kurz, auch das hat mich nicht sehr gewundert. Es bleibt eine Menge zu diskutieren.

Gruß Ulrich

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Ulrich Knaudt an H.B. (18.08.2013)

Betreff: DIE SOGENANNTE NATIONALE FRAGE


Wie gesagt, ich habe den Aufsatz in p[artei]M[arx] nach Zitaten für das diesjährige BLogbuch durchforstet und festgestellt, daß das meiste, was ich jetzt darin zur N[ationalen]F[rage] sagen will, bereits dort formuliert ist. [1] Ich empfehle besonders die Marx-Zitate zu studieren, weil daran deutlich wird, daß die gern verbreitete Mär, es hätte zu F.[riedrich]E.[ngels] tiefgreifende Differenzen gegeben, einfach Schrott sind. Auf diesem Gebiet hat sich besonders Rosdolsky hervorgetan, der sich durch F.E.s Einschätzung, die Ruthenen seien 1848 eine konterrevolutionäre Nationalität gewesen und hätten als solche auch so gehandelt, sich persönlich beleidigt fühlt und nicht nur aus diesem Grund (er ist Anhänger Trotzkis) M.[arx]u.E.[ngels] mehr oder weniger deutlich zu Nationalchauvinisten erklärt. [2] Da ist er mit Bakunin in bester Gesellschaft.

Auch das ist alles noch reichlich unausgearbeitet.

Nun zu Manfred Sohn: [3]

1. fand ich, daß sein Wertbegriff sich nicht von dem der Klassiker [der Nationalökonomie] unterscheidet: »Die wertbildende Substanz, die in jeder Ware, die wir konsumieren, enthalten ist, ist also lebendige menschliche Arbeit.« Aber:

a. konsumieren wir keine Waren, sondern ihren G[ebrauchs]Wert. Als Waren erwerben wir diesen auf dem Markt und werden dort mit ihrem Wert konfrontiert (WGW und nicht GWG = Kaufmannskapital bzw. Kauf von Arbeitskraft).

b. Wenn die GWerte aber Waren sind, die einen Wert haben, dann ist dessen Wertsubstanz abstrakt menschliche und nicht »lebendige menschliche« Arbeit.

Ergo: mit dieser Wert-Theorie läßt sich auch nicht die W[elt]W[irtschafts]K[rise] erklären, von deren Vorhandensein d.A. zumindest ausgeht.

2. Die Kompensationsmöglichkeiten zur Überwindung der Krise erklärt er wie Rosa L.[uxemburg] dadurch, daß immer neue Gebiete auf dem Globus erschlossen werden, geht aber nicht wie Marx von dem tendenziellen Fall der Profitrate aus als einem der Mehrwertproduktion immanenten Gesetz usw., sodaß sich das Kapital ständig neue Kompensationsmöglichkeiten ausdenken muß. Das ist auch der Grund, warum sich die »Lohnarbeit« verflüchtigt. Sie war dem Kapital in den südlichen Ländern schlicht zu teuer. Sie läßt sich nur wieder einfangen, wenn es dem Kapital gelingt, den absoluten und nicht nur den relativen Mehrwert zu erhöhen. Bei der Erhöhung des relativen Mehrwerts = Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit, tritt der Tendenzielle Fall [der Profitrate] usw. wiederum ein. Dieser vitiose Zirkel muß vom Kapital ständig durchbrochen werden. Und er wird durchbrochen z.B. durch Senkung der Löhne in Südeuropa, durch staatliche Subventionen in Nordeuropa, die Kapital und Arbeit ‚zugute kommen‘. Ob die Linke das einen Skandal nennt, oder was auch immer, ändert daran nichts. Der andere Weg wäre ein Weltkrieg. Aber davon hatte Europa im letzten Jahrhundert schon zwei. Sind wohl nicht scharf drauf.

3. Womit ich grundsätzlich politisch nicht übereinstimme, ist, den Bankrott der DDR etc. als »unsere große Niederlage« zu bezeichnen.

a. war diese unvermeidbar,

b. wurde der Bankrott der DDR durch eine Revolution auf den Begriff gebracht und dadurch vollendet, was eine gesellschaftliche Revolution ist.

c. ist, das Gegenteil zu behaupten, reaktionär.

All die farbigen Revolutionen in den ehemaligen ’sozialistischen Ländern‘ unterscheiden sich nicht von den arabischen Revolutionen. Siehe Syrien! Dort stehen Revolution und Konterrevolution einander gegenüber. Etwas Drittes, wie die Linke sich in die Tasche lügt, gibt es nicht.

Mit dieser Linken s.o. habe ich ein Problem. Seit der post-sowjetischen Annexion von Teilen Georgiens (Ossetien, Abchasien) steht sie für mich auf der anderen Seite der Barrikade, was d.A. mit seinem Eingeständnis bestätigt. (Dazu näher das neue BLogbuch) [4]

4. Auf dieser Grundlage wird der Versuch linker Politik, »die Lohnabhängigen als auch diejenigen gegen den Kapitalismus zu organisieren, die von ihm ausgespuckt und verachtet werden«, selbst zu einer konterrevolutionären Veranstaltung.

Ich weiß nicht mehr, warum ich Dir diesen Aufsatz geschickt habe. Vermutlich wegen den unhaltbaren Aussagen zur Werttheorie und dem Zusammenhang von WT und Politik (Der Linken).

Außerdem war mein Anliegen eher der Aufsatz über Gesell gewesen, aber an den komme ich nicht mehr ran als Nicht-Abonnent. [5] Vielleicht befand sich der Aufsatz von Sohn in irgendeinem Zusammenhang mit unserer Telebim-Debatte. Egal.

Es gibt noch was zur W[ert]T[heorie] zu sagen, nämlich über den Zusammenhang von WT und Kommunismus und vielleicht kommen wir uns an diesem Punkt wieder näher: der akademische Marxismus ist nach meiner heutigen Einschätzung grundsätzlich nicht gewillt und in der Lage, diesen Zusammenhang zu akzeptieren. Seine sämtlichen Theorien sind darauf gerichtet, diesen ungeschehen und ungesehen zu machen. Meiner Meinung [nach] ist der Kommunismus zwar nicht unmittelbar Voraussetzung meinetwegen der WT, aber er läuft ‚unterschwellig‘ mit. Wäre er die Voraussetzung, wäre das unwissenschaftlich.

Aber als Leitmotiv, das unmittelbar nicht thematisiert wird (oder nur selten, siehe 1. Kapitel: »stellen wir uns eine Assoziation freier gesellschaftlicher Produzenten vor« usw.), [6] ist der G[ebrauchswert]Wert oder konkret nützliche Arbeit (knA) nur in ihrem Widerspruch zum Wert bzw. zur a[bstrakt]m[enschlichen]A[rbeit] zu verstehen. Der akademische Marxismus muß sich nun Analysen ausdenken, die die Normalität des Kommunismus verglichen mit diesen verrückten Formen umgeht, ignoriert, negiert. So geht auch D.[ieter]W.[olf] vor. Aber dazu ist mir aufgefallen, daß sein Hauptfehler darin besteht, daß er die ersten Drei Kapitel auf dem Niveau von Zur Kritik… [der politischen Ökonomie] interpretiert, [7] wo K.M. den Wert[begriff] noch nicht entwickelt hat, sondern allein vom T[ausch]Wert ausgeht. Damit steht D.W. mit seiner Analyse auf dem äußerst linken Flügel des akademischen Marxismus, weil er Marx mit Marx interpretiert (wenn auch eingeschränkt auf eine frühe Fassung und letztlich verglichen mit 1872 falsch) [8] und nicht mit Hilfe irgendeines postmodernen Pillepalle. Andererseits überschreitet er [D.W.] diese Linie auch nicht, u.a., weil er vom akademischen Marxismus als einer der Ihren anerkannt werden möchte. Ich denke, an diesem Punkt müßten wir uns auf theoretischem Gebiet näher kommen.

Viele herzliche Grüße und alles Gute

Ulrich

P.S. Bücher über China: Standardwerk der Politologen ist: J. Gernet: Die Chinesische Welt (1988).

Sehr kulturalistisch und nur zu empfehlen, wenn sich jemand richtig in das Thema reinknien will. Ich habe kürzlich gelesen: F. Sieren: Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert. Befindet sich auf SPIEGEL-Niveau, sozusagen vom BRD-Standpunkt aus geschrieben. Von dem Autor gibt es weitere Bücher. Ist auf jeden Fall einigermaßen informiert. Es gibt noch ein China-Buch von Domenico Losurdo. [9] Reiner DKP-Standpunkt. Für Einsteiger nicht zu empfehlen.

[1] parteimarx.org STREITPUNKTE STREITPUNKT 1 Warum Lenins letzter Kampf gegen den linken Sozialimperialismus nicht zu gewinnen war.
[2] Roman Rosdolsky: Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der „geschichtslosen Völker“, Berlin 1979.
[3] Neues Deutschland 06.08.2013 Manfred Sohn: Vor dem Epochenbruch. Warum die gegenwärtige Krise keine normale ist und was das für die Linke heißt.
[4] parteimarx.org BLogbuch 1 2013 Die sogenannte nationale Frage und der Kommunismus.
[5] Neues Deutschland 22.-23.06.2013 „Rostendes“ Geld als Ausweg? In der Krise feiern die Ideen von Silvio Gesell auch unter Linken fröhliche Urständ.
[6] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd. I. MEW 23, 92f.
[7] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie MEW 13 (7-160).

[8] Gemeint ist die 2. Auflage von [6], die gerade in den ersten drei Kapiteln einige gravierende Änderungen gegenüber der Erstauflage von 1867 enthält.
[9] Domenico Losurdo: Die Linke, Chiina und der Imperialismus, Essen 2000.

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Ulrich Knaudt an H.B. (19.08.2013)

Betreff: krisis


Lieber H., Zu der Einladung der krisis-Gruppe. [1] Ich wäre zwar fürchterlich gerne ins Weserbergland gefahren, weil ich an der Oberwesen meine frühe Kindheit verbracht habe und diese Gegend mal wieder genossen hätte. Aber ich weiß nicht, was ich mit den krisis-Leuten diskutieren soll. Das was sie vortragen wollen, erscheint auf ihrer home page als nächste Nummer ihrer Zeitschrift. Wozu dann noch den Originalton? Wenn Du hingefahren wärst, hätten wir uns mal wieder sehen können, aber das könnten wir auch ohne krisis tun, wenn wir es wollten und die Zeit hätten. Also erst mal nix krisis. Vom kürzlich verstorbenen R. Kurz kenne ich nur die Hausschweinisierung der Arbeiterklasse und das hat mir gereicht.

Ich schicke Dir was zur Frage Kleinbauern – Mittelbauern aus der FAZ und einen Aufsatz von Sohn aus dem ND. [2] Bemerkenswert seine Bestimmung des Werts: »…die wertbildende Substanz, die in jeder Ware, die wir konsumieren, enthalten ist, ist also lebendige menschliche Arbeit.« Das ist noch nicht mal ein versimpelter Adam Smith, ganz abgesehen davon, daß er von der Bildung der Substanz des Werts aus der abstrakt menschlichen Arbeit – etwas verkürzt dargestellt, noch nie was gehört zu haben scheint. Daran sehen wir, wie wichtig der ganze Streit um [die] Werttheorie für die Einschätzung der W[elt]W[irtschafts]K[rise] ist und für die Frage, wie mit ihr umzugehen ist. Wachstum wird bei Sohn im geographischen oder geopolitischen Sinne verstanden, nähert sich also der Geopolitik aus der Zeit vor dem 1. W[elt]K[rieg], usw. Ziemlich übler stuff. Ich wollte Dir noch einen Aufsatz über Silvio Gesell aus dem ND vom 22./23.06.2013 schicken: „Rostendes“ Geld als Ausweg. [3] Aber um da ran zu kommen, hat es erst mal nicht mit der Registrierung auf der ND-Seite geklappt […] Ansonsten solltest Du bei großem Interesse es mal selbst probieren. Der Kritik an Gesell würde ich zunächst zustimmen. Dann aber heißt es abschließend: »Letzter Krisengrund ist nicht [wie bei Gesell] der Zins, sondern die ungleiche Verteilung des Eigentums, aus der die Ungleichheit der Einkommen und des Vermögens resultiert.« Damit sind wir vom Regen kleinbürgerlicher Geld- und Zinsillusionen in die Traufe sozialer Gleichheitsillusionen à la Rousseau gekommen.

Soweit erst mal.

Viele Grüße

Ulrich


[1] krisis. Kritik der warengesellschaft ist laut Internetauftritt „ein Zusammenschluß von theoretisch

arbeitenden Einzelpersonen und Gruppen, die sich der Reformulierung einer radikalen Kapitalismuskritik jenseits des traditionellen Marxismus verschrieben haben“.

[2] Siehe Ulrich Knaudt an H.B. (18.08.2013) Fn. 3.

[3]Neues Deutschland 22.-23.06.2013 „Rostendes“ Geld als Ausweg? In der Krise feiern die Ideen von Silvio Gesell auch unter Linken fröhliche Urständ.

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Ulrich Knaudt an Gegen die Strömung (23.09.2013)


Hallo (ehemaliges) Buchladen-Kollektiv,

[…]
Ich hatte eigentlich vor, mein lang gehegtes Versprechen, mal etwas zu Eurer ‚Religion‘sbroschüre zu schreiben, endlich einzulösen. [1] Außerdem lagen mir die Ausgaben von GdS 9-10/12 bis GdS 7-8/13 vor, die ich parallel dazu der Reihe nach studiert habe. [2] Die Einhaltung dieser Reihenfolge war allerdings ein Fehler; denn hätte ich GdS 7-8/13 als erste genauer studiert, hätte sich die Frage, die es nun zu entscheiden gilt, von vornherein gestellt: nämlich welchen Sinn es nach der Lektüre dieser GdS-Ausgabe noch gemacht hätte, über die vorangehenden zu debattieren, in denen, wie ich meine, noch einiges Diskussionswürdige zu finden ist, bzw. war. Denn, wenn Ihr den in GdS 7-8/13 eingeschlagenen Kurs ungebrochen fortsetzt, wird es nichts mehr geben, worüber es sich noch zu diskutieren lohnt. Was ich wie gesagt höchst bedauerlich fände.

Auf den Punkt gebracht, stimme ich mit der von Euch ohne erkennbare Kritik Eurerseits wiedergegebenen Forderung von Asylsuchenden nach der »Anerkennung aller Asylbewerberinnen als politische Flüchtlinge« (Erklärung der Protestbewegung… vom 13.10.2012, GdS 7-8/13, 6) absolut nicht überein. Damit habt Ihr Euch politisch (auf der Seite der Barbarei!) an die vorderste Front des in der Weltwirtschaftskrise schon seit längerem (spätestens seit 9/11) zwischen Zivilisation und Barbarei stattfindenden Weltbürgerkrieges katapultiert, worin der von der Welt-Bourgeoisie auf andere Weise nicht lösbare Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital seinen Ausdruck findet. Offen zum Ausbruch gekommen ist dieser Weltbürgerkrieg bereits in Syrien, den Ihr in keiner der mir vorliegenden Ausgaben der Erwähnung wert findet – einen Satz ausgenommen, und der hat es dann auch gleich in sich, wenn es unter »Zur Problematik der Forderung ‚Asylrecht für alle‘…« (GdS 7-8/13, 7[Kasten]) heißt: »Reaktionäre aller Länder versuchten und versuchen immer noch mit Berufung auf Artikel 16 [GG] „Asyl“ zu bekommen, zumeist mit großem Erfolg – im Gegensatz zu den vom Imperialismus Verfolgten. Aktuell geht es z.B. um Offiziere des reaktionären syrischen Staats, die dem Assad-Regime den Rücken kehren, weil es am Untergehen ist, oder um reaktionäre und faschistische Kräfte aus Afghanistan oder aus dem Irak.«

Dazu ist folgendes festzustellen:

1. Nicht wenige jener »Offiziere des reaktionären syrischen Staats« haben diesem Staat auch deshalb den Rücken gekehrt, weil sie nicht mehr bereit sind, sich bei den in Syrien stattfindenden internationalen Verbrechen »des reaktionären syrischen Staats« an der Zivilbevölkerung zu dessen Werkzeug oder Komplizen machen zu lassen. Weder diese Verbrechen noch der Widerstand innerhalb der syrischen Armee und in der syrischen Bevölkerung sind für Euch, die obige flapsige Bemerkung ausgenommen, der Erwähnung wert. Wenn man diesen Satz genauer liest, dann sind offenbar alle Offiziere, die dem Regime den Rücken kehren, durch die Bank nicht besser oder schlechter als der »reaktionäre syrische Staat« selbst. Dadurch werden diese Verbrechen in gewisse Weiser relativiert, worin Ihr Euch von der übrigen gesamtdeutschen Linken nur dadurch unterscheidet, daß Ihr zu den über hunderttausend Toten und 2 Millionen Flüchtlingen grundsätzlich überhaupt nichts sagt, während die übrige Linke sich zumindest ‚offen und ehrlich‘ gemeinsam mit Putin zu ihrer Unterstützerposition für das baathistische (= ‚sozialistische‘) Syrien (= Assad-Regime) bekannt hat. Wir leben zwar nicht in Syrien, aber politisch sollte es auch hier zwischen Pro-Assad und Anti-Assad keinen Dritten Weg geben, so wenig wie einst zwischen Hitler und der Anti-Hitler-Koalition. (Dies gilt auch für die sog. Islamisten, die wohl in nicht geringem Maße und im Auftrag des mukhabarat die Aufstandsbewegung infiltriert haben.) Darüber geht Ihr (mit einer gehörigen Ignoranz) sogar noch noch einen Schritt hinaus, wenn Ihr Euch

2. anmaßt, über die Berechtigung von Asylgründen, eine politische Entscheidung verlangen zu müssen, die die Bourgeoisie nach dem bürgerlichen Recht (wozu das internationale Recht gehört) für gewöhnlich zu fällen hat. Diese politische Anmaßung halte ich für höchst fragwürdig. Meine nähere politische Begründung dafür könnt Ihr, müßt Ihr aber nicht, im BLogbuch 1-2013 nachlesen. [3] Ergänzend dazu nur ein Satz: das bürgerliche Recht hat in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die Teile der politisch verfolgten Zivilbevölkerung, die sich vor der Hitler-Barbarei unter dessen Schutz begeben konnten, vor unmittelbarer Verfolgung und Ausrottung bewahrt. Wenn Ihr heute in einer meiner Einschätzung nach vergleichbaren Situation der Zivilbevölkerung (vordringlich derjenigen auf dem asiatischen Kontinent und in Teilen des Mittleren Ostens) das »Asylrecht für alle« durch Euer politisches Asylrecht beschneiden wollt, dessen politische Kriterien überdies (aber darauf kommt es eigentlich gar nicht an) keinen klaren Trennungsstrich zur ‚linken‘ Barbarei à la Assad ziehen, macht Ihr Euch nicht anders als Die Linke objektiv zum Komplizen dieser Barbarei.

3. Und wenn in letzter Zeit ‚linke‘ Asylsuchende aus jenen Regionen ein politisches Asylrecht für sich gefordert haben, was bedeutet, daß sie das von der Zivilbevölkerung zu ihrem Schutz existierende internationale Recht nach ihren politischen Vorstellungen eingeschränkt sehen wollen, indem sie es ‚anti-imperialistisch‘ politisieren, mag das von ihrer verzweifelten Situation aus betrachtet verständlich erscheinen, muß aber nicht unbedingt von Leuten, die sich Kommunisten nennen, auch in diesem Sinne politisch nachvollzogen werden. (Den alten Trick, sich durch die Erzeugung von politischen Nachfluchtgründen in Gestalt von spektakulären Pseudo-Aktionen die Duldung in Deutschland zu erschleichen, einmal außen vor gelassen, die ich hier gar nicht von vornherein unterstellen würde.) Das bürgerliche Recht unterscheidet nicht zwischen reaktionären und ‚anti-imperialistischen‘ Asylsuchenden, sondern lediglich zwischen begründeten und unbegründeten Anträgen auf Asyl. (Wie es umgekehrt im Sozialismus [eine] ‚sozialistische Ware‘ geben kann, wovon Stalin ausgegangen ist. Eine Ware bleibt eine Ware, egal, ob sie kapitalistisch oder ‚sozialistisch‘ ist. Im ersten Stadium des Kommunismus sollte es aber überhaupt keine Waren mehr geben!) Ein Asylgrund liegt nach internationalem Recht dann vor, wenn in einem Staat wegen der Diskriminierung von bestimmten Teilen der Zivilbevölkerung für diese eine Bedrohung von Leib und Leben besteht. Nicht mehr und nicht weniger. Übrigens hat bereits Marx das (sehr viel liberaler praktizierte) Asylrecht Großbritanniens für sich in Anspruch genommen, ohne daß er sich darauf versteift hätte, dieses nur unter bestimmten politischen Bedingungen, also daß z.B. die britische Bourgeoisie die Diktatur des Proletariats anerkennt, in Anspruch nehmen zu wollen. Darin unterschied sich seine Lage übrigens nicht von derjenigen Bakunins, auch wenn dieser die Staatlichkeit eines jeden Staates, auch desjenigen, der ihm Asyl gewährte, politisch nicht anerkannte, was eigentlich nur als politische Marotte zu bezeichnen ist. Dem Kapital ist das Ansehen, Aussehen, die Herkunft, Religion etc. der Käufer seiner Waren egal. In diesem Sinne entspricht das Asylrecht der ‚Freiheit der Meere‘ und des Welthandels. Und diese ‚Freiheit‘ sollten Kommunisten, die das Manifest ernst nehmen, nicht über Bord werfen, nur weil sie vornehmlich dem Kapital nützt und von diesem weidlich ausgebeutet wird.

4. Eure Strömung habe ich zwar auch nie ganz frei von derartigen politischen Marotten gesehen, ihr aber wegen ihrer starken Betonung von Marx und des Kommunistischen Manifests immer noch eine gewisse Lernfähigkeit unterstellt. Die Hoffnung darauf ist mit GdS 7-8/13 leider fast auf Null gesunken und wird sich ganz in Luft auflösen, solltet Ihr nicht über diesen vorläufigen Endpunkt einer fatalen Entwicklung selbst anfangen nachzudenken, die in den von mir studierten Texten [in GdS] allerdings bereits angelegt ist. So viel vorerst dazu.

Die Entscheidung zwischen Revolution und Konterrevolution fällt heute mit der Unterscheidung zwischen (bürgerlicher) Zivilisation und (‚linker‘) Barbarei, wie sie momentan zwischen Beijing und Damaskus über Moskau und Teheran auf dem Vormarsch ist.

Ernst-Ulrich Knaudt

[1] Autorenkollektiv: Religion. Opium für das Volk, Offenbach 2006.

[2] Gegen die Strömung. Organ für den Aufbau der Revolutionären Kommunistischen Partei.

[3] parteimarx.org BLogbuch 1 2013: Eine offene Antwort an einen (ungenannt bleiben müssenden)

(Zeit-)Genossen.

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Ulrich Knaudt an H.B. (20.10.2013)

Betreff: MASCH


Lieber H., Du wirst wahrscheinlich auch von N. die Einladung zur MASCH-Konferenz [1] bekommen haben. Ich sagte schon am Telefon, daß ich nicht hinfahre, weil sie mir zu DKP-lastig ist. Diese Initiative war eigentlich nie was anderes als eine DKP-Veranstaltung. Bei der Durchsicht der Einladung fiel mir auf, erstens, daß der Mentor dieser Veranstaltung unser alter Bekannter H.H.[arbach] ist. Da stellt sich mir, zweitens, die Frage, warum D.[ieter]W.[olf] dort nicht als Referent auftaucht, der in H.H.s Buch doch als spiritus rector für seine seltsamen Thesen über den Realen Sozialismus geführt wird. Liegt das daran, daß D.W. nichts Neues auf der Pfanne hat (kann ich mir nicht vorstellen, da er bisher jede Gelegenheit genutzt hat, um eine weitere Variation seiner Interpretationen der W[ert]T[heorie] zum Besten zu geben) oder ob es noch andere Gründe dafür gibt.

Alles Gute

Ulrich

P.S. […] Am Schluß ist immer die DKP als Absahner dagewesen. Vgl. damit N.s dringenden Aufruf für die Herbstschule. Hätten sie alles auch anders haben können.

[1] Marxistisches Abendschule Hamburg. Tagung 15.-17.11.2013 Aufhebung des Kapitalismus – die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft.

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Ulrich Knaudt an P.T. (01.12.2013)


Lieber P.,

Es war sehr klug und richtig, nicht am Do zu der Veranstaltung zu kommen. [1] Es hätte sich nicht gelohnt. Dagegen war Syrien eine Woche zuvor sehr substantiell.

Nachdem ich zwei Veranstaltungen von den Anti-Deutschen erlebt habe, ergibt sich der, wenn auch nicht vollständige, Eindruck, daß auch diese Gruppierung mit den allgemein verbreiteten Substanzverlusten zu kämpfen hat, u.a. auch deshalb, weil sie nicht aus dem akademischen Getto herauskommt, bzw. auch gar nicht mehr rauskommen will.

Der Titel des Vortrags stützt sich auf den Titel des Buches von Paul Massing: Rehearsal for Destruction, als Bd. 4 der Studies in Prejudice, NY 1950. Das hätte dem dummen Menschen vielleicht vorher gesagt werden sollen. Da das offenbar allen im Saal außer mir bekannt zu sein schien, muß ich wohl der Dümmste im Auditorium gewesen sein. Ich hatte noch nicht mal den Namen d.A.s jemals gehört. Es war also eine reine Insider-Veranstaltung, die auch von der Menge der Zuhörer her bequem in irgendeinem Wohnzimmer hätte stattfinden können.

D.A. betrachtet seinen Vortrag als Beitrag zur ‚Vorurteilsforschung‘. Er zitiert Horkheimers Vorwort zu dem o.a. Band, worin er sich dagegen wendet, die Ableitung des Antisemitismus aus den ‚Mythen der Nationalstaaten‘ zu beziehen, getreu dem gleichlautenden Statement von Adorno, daß die Geschichte des deutschen Antisemitismus nicht in den Grenzen des Nationalstaates zu deuten sei. (Natürlich nicht! Aber jede auf dem Weltmarkt vertretene Bourgeoisie interpretiert diese Grenzen auf ihre Weise!) Eben dadurch eröffnet sich für den Referenten ein Dilemma, wenn er den anti-gelben deutschen Rassismus auf den Rassismus überhaupt, den Holocaust, beziehen will.

Sein Hauptanliegen bestand darin, den antichinesischen Rassismus, wie er auch in Deutschland vor dem 1. W[elt]K[krieg] aufgetreten sei, als Vorübung (rehearsal) für den Holocaust zu deuten. Aber außer einigen alldeutschen Winkelliteraten waren die Gewährsleute, die er als Beweis für die angeblich bedeutende Rolle dieser Strömung aufzubieten hatte, dürftig. So etwa das Buch eines Stephan von Kotze (»nomen est omen« – allgemeines Gelächter im Saal!) mit dem Titel Die Gelbe Gefahr. Um es kurz zu machen: der Referent konnte nicht umhin, die Hauptströmung des Anti-Sinismus nicht in Deutschland, sondern den USA festzumachen, wo 1882 das Chinese Exclusion Act alle chinesischen Arbeiter (»orientals«) von der Einwanderung ausschloß und das 10 Jahre später erneuert wurde. Ein solches Gesetz gab es zu selben Zeit in Deutschland nicht. In den entsprechenden Publikationen wurden die Gelben, Slawen und Juden ‚lediglich‘ als Menschen, die ‚jedes höheren Lebenszieles bar‘ seien, charakterisiert und die kommerzielle Gewandtheit der Chinesen als ‚gefährlich‘ hervorgehoben. Das war‘s auch schon.

Der Referent konnte auch nicht den Unterschied zwischen dem Antisemitismus im allgemeinen und dem Rassismus der 90er Jahre [d. 19. Jhts], auf die er sich i.w. bezog, erklären. Während für mich der Antisemitismus, grob gesagt, gegen den jüdischen Bankier, der dem nationalen Handwerker den gewünschten Kredit verweigert, bereits in der Zeit Proudhons auftaucht, war der von der ‚Gelben Gefahr‘ sich nährende Rassismus das Produkt des Ringens der (imperialistischen) Kolonialmächte am Vorabend des 1. W[elt]K[rieg]s in ihrem Kampf um die nationalen Vorposten in der ‚Dritten Welt‘, so auch in China und diente der Weckung des Interesses der deutschen (aber nicht nur deutschen!) Arbeiter an der Weltmachtpolitik ihrer Bourgeoisie in den Kolonien.

Nicht mal zu solch einer schlichten historischen Erklärung des Unterschieds zwischen Antisemitismus und Rassismus in ihren jeweiligen Entstehungszusammenhängen war dieser Vorurteilsforscher in der Lage. Für ihn zählt nur was die Leute denken, nicht was sie sind.

An diesem Idealismus zeigt sich für mich das ganze Dilemma der linken Sozialwissenschaft, die Frankfurter Schule eingeschlossen (trotz des unerreichbaren Tiefgangs und der Universalität der Reflexionen letzterer). Ganz abgesehen davon, daß eine weitere Form dieses kolonialen Rassismus in der keineswegs vorurteilslosen Welt jenes Vorurteilsforschers offenbar keinen Platz findet (denn sie ist ja nicht ‚typisch deutsch‘): der Zionismus. Vielleicht wird es ja eine Tages Parteigänger der Partei Marx in Israel geben, die den Anti-Arabismus als eben solch eine Form des Rassismus untersuchen werden, über den der Referent insgesamt nur unzureichend Auskunft geben konnte.

Aber das kann mir heute auch egal sein.

Schließlich bleibt für mich unerfindlich, warum diese Veranstaltungen noch unter dem Label ‚Rote Ruhr Uni‘ laufen. Aber vielleicht kann mir das irgendwann mal jemand historisch materialistisch erklären […]

Viele Grüße

Ulrich

[1] Rote Ruhr Uni 14.11.2013 Florian Hessel: (Another) Rehearsel for Destruction.

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BLogbuch 1 2014: Revolution und Konterrevolution in Europa »

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Inhalt

Mit Putins Annexion der Krim endet die postsowjetische Epoche der auswärtigen Politik Rußlands, die nach dem sog. Zivilisationsbruch, den der politische Bankrott der Sowjetunion in den Augen der deutschen Linken erzeugt hat, dadurch wieder in ein offensives Stadium versetzt wurde. Dagegen klammert sich die bürgerliche Presse mit aller Kraft an die ‚strategische Partnerschaft‘, die es mit diesem neuen Rußland auf einmal nicht mehr geben soll und versteht auch nicht so richtig, daß diese Linke in den politischen Kernfragen niemals aufgehört hat, die Linie der alten SED gegenüber ‚dem Westen‘ aufrechtzuerhalten, während sie sich gleichzeitig ihren potentiellen Wählern gegenüber als die etwas ‚linkere‘ SPD zu präsentieren versucht. In dieser Situation, da zu erwarten ist, daß Putin als Antwort auf Wirtschaftssanktionen ‚des Westens‘ den Europäern irgendwann den Gashahn zudreht, wird die ganze verfehlte Energiepolitik der Grünen und ihre Mitverantwortung für die nach der Katastrophe von Fukushima Hals über Kopf von der Bundesregierung eingeleitete ‚Energiewende‘ nicht nur sichtbar, sondern dann irgendwann auch körperlich spürbar. Die SPD, die im Wahlsommer 2013 eine rosarotgrüne Koalition angepeilt hatte, mit der sie außenpolitisch die Achse Paris-Berlin-Moskau aus der Zeit von Dabbeljuhu Bushs wahnsinnigem Irak-Krieg hätte fortsetzen können, und die nun von ihr in abgespeckter Form in der Groko gepflegt wird, mußte von der alten Schröder-Putin-Freundschaft flugs auf Kalten Kriegsmodus umstellen, ohne die rosarotgrünen Machtträume aber endgültig zu begraben.

Die Partei Die Linke hat von Anfang an die steile These vertreten, daß ‚der Westen‘ für Putins Annexion der Krim mitverantwortlich wäre, die ohne den ‚westlichen Druck‘ auf die Ukraine (das hieße auf den vom Volk gestürzten Oligarchen) überhaupt nicht hätte stattfinden müssen. Also hat in Wirklichkeit ‚der Westen‘ die Krim annektiert und Putin nur der Bitte ihrer Bevölkerung stattgegeben, sie in die Rußländische Föderation aufzunehmen. Denn hat nicht auch ‚der Westen‘ das gleiche mit dem Kosovo gemacht? Im übrigen stehe hinter der Politik ‚des Westens‘ im Kosovo, auf der Krim oder in der Ukraine immer noch die alte von den deutschen Faschisten gepflegte Feindschaft gegen die Sowjetunion, die einfach nur auf Rußland übertragen wird! Diese ewig junge Faschismusthese gewinnt vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die die ‚westliche‘ Welt seit der Lehman-Pleite erschüttert hat, an zusätzlicher Plausibilität und läßt die deutsche Bourgeoisie nach jedem rettenden Strohhalm greifen, und sei es nach dem des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap), der, wie es heißt, den staatsmonopolistischen Rohstoffproduzenten Rußland ebenso wie den sozialistischen Turbokapitalismus Chinas vor den Folgen dieser Krise angeblich bewahrt haben soll. ‚Beggar thy neighbor‘ im Welt-Format.

So gesehen ist der Vorschlag der Linken an die deutsche Bourgeoisie, dieses erfolgreiche Krisenbewältigungsprogramm nicht, wie von der Groko geplant, lediglich als Stamokap light zu imitieren, sondern das Original unter einer starken linken Regierung zielführend in Staat und Gesellschaft zu implementieren, von einer gewissen Plausibilität. Allerdings muß dabei auch einem jeden klar sein, daß die vollständige Realisierung dieses Vorschlags auf eine Faschisierung Europas von links von Lissabon bis Wladiwostok, vom Atlantik bis zum Pazifik mit China als Hinterland hinausliefe und in erster Linie gegen die USA und die Nato (einschließlich der TTIP) gerichtet ist, wobei immer deutlicher erkennbar wird, daß der Antiamerikanismus von links mit dem Antiamerikanismus von rechts zunehmend zu einem ‚antikapitalistischen‘ Konglomerat zusammengewachsen ist.

Sitzen die Faschisten im Kreml? Auf diese von einem Historiker gestellte Frage gibt es keine klare Antwort, jedenfalls nicht in den Kategorien der üblichen außenpolitischen Kommentare in der bürgerlichen Presse. Die einzige Möglichkeit, um bei diesen ost-westlichen, faschistisch-antifaschistischen Retourkutschen nicht unter die Räder zu geraten, wird in einer Untersuchung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede der westlichen und östlichen Millionärsclubs, ihren Stärken und Schwächen zu bestehen haben: Die Stärken der einen bestehen in dem tagtäglich auf sie ausgeübten Zwang, sich unentwegt der Konkurrenz auszusetzen, weil sich nur so ‚Wachstum erzeugen‘ läßt, die Schwächen der anderen in der ständigen Furcht um den Bestand ihrer politischen Herrschaft, die durch die Absetzbewegung der Bevölkerung von ihren korrupten Politikern und durch die Forderung nach deren Absetzung in den östlichen Millionärsclubs die nicht endende Furcht vor einer secessio plebis erzeugt; secessio plebis heißt: das Volk kommt zunächst friedlich auf den zentralen Plätzen ihrer Stadt zusammen, sei es der Tien an men, der Tahrirplatz oder der Maidan, und verläßt diesen Platz nicht eher, bis seine politischen Forderungen erfüllt sind. Das nennt man eine politische Revolution in ihrer ursprünglichen Bedeutung, die die Linke, weil sie den Unterschied zwischen der politischen und der sozialen Revolution nicht begreift, diese durch die Besetzung der Wall Street oder der EZB immer wieder erfolglos zu imitieren versucht.

Politische Revolutionen machen aber nur in den von einem autokratischen Millionärsclub beherrschten Ländern Sinn, wie sich in Syrien an der brutalen Niederschlagung der Arabischen Revolution und dem gegen sie verübten systematischen Völkermord durch das Assad-Regime auf dramatische Weise zeigt. Diesen zu verhindern, appelliert die ‚westliche‘ Welt an die UNO und die ‚westlichen Politiker‘, etwas dagegen zu unternehmen. Die Wahrheit ist, daß die Regierung der USA, die dazu in der Lage wäre, keinesfalls einen Weltkrieg aus humanitären Gründen riskieren wird, der bei der ‚humanitären Intervention‘ der Nato gegen Milosevics Völkermord an den nicht-serbischen Minderheiten und Nationen Jugoslawiens noch ausgeschlossen werden konnte. Die USA und ‚der Westen‘ werden sich überdies darüber im Klaren sein, daß die Aufhebung der Unvermeidlichkeit eines Weltkrieges theoretisch nur durch die proletarische Weltrevolution beseitig werden kann. Daher ist taktische Zurückhaltung auch ein Gebot nicht nur der diplomatischen Klugheit, sondern auch des ureigenen Klasseninteresses. ‚Wir Europäer‘ haben dagegen noch nicht einmal begriffen, daß die Tragödie, die sich vor unseren Augen in Syrien ereignet, nichts anderes ist als Vorspiel zu der Farce, die in allernächster Zeit der linke Faschismus und die faschistische Linke mit verteilten Rollen in Europa zur Aufführung bringen werden, um Putins Einfluß in Europa zu mehren. Wenn die politischen Verhältnisse sich weiter in diesem Tempo faschisieren, dann sollte die politische Revolution vom Tien an men bis zum Maidan in ganz Europa eine entsprechende Fortsetzung finden: No pasaran!

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BLogbuch 1 2013: Die sogenannte Nationale Frage und der Kommunismus »

Inhalt

Dieses BLogbuch stellt an sich selbst nicht den Anspruch einer systematischen Auseinandersetzung mit der sogenannten Nationalen Frage. Es enthält zunächst nur den Versuch einer illusionslosen Abrechnung mit dem in der ‚antiimperialistischen‘ Linken grassierenden linken Sozialimperialismus. Darunter ist grob gesagt der selektive Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verstehen, was bedeutet, daß dieses Recht von ihr nur solchen Nationen zugestanden wird, mit denen die Linke gerade im Kampf gegen das ‚westliche‘ Kapital politisch verbandelt ist. Der selektive Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist häufig mit der Empfehlung an andere Staaten verbunden, die sich den politischen Anmaßungen einiger Großmächte widersetzen, sich doch, bitte schön, der gemeinsamen Front gegen den ‚Westen‘, der sich die ‚antiimperialistische‘ Linke angeschlossen hat, zu unterwerfen. Zu diesen Staaten sollte, wenn es nach der Politik der ‚antiimperialistischen‘ Linken geht, am besten auch Deutschland gehören. Vor allem aber sind das all jene Staaten Osteuropas, in denen (ohne Zweifel) bürgerliche Massenbewegungen gegen ihre eigenen Oligarchien, die eng mit dem Putin-Regime zusammenhängen, rebellieren und verlangen, daß in ihren Ländern demokratisch gewählte Regierungen anstelle von oligarchischen Seilschaften die Macht übernehmen. Da diese ‚farbigen‘ Massenbewegungen sich auf bestimmte Forderungen beschränken wie die Beendigung von Wahlmanipulationen oder die Einhaltung rechtsstaatlicher Garantien für den einzelnen ‚Staatsbürger‘ und darin vom kapitalistischen ‚Westen‘ gegen seine ‚östlichen‘ Konkurrenten unterstützt werden, finden diese bei der gesamten deutschen Linke nicht nur keine Unterstützung, teilweise läßt sich aus deren Verlautbarungen herauslesen, daß sie mit den (halb)asiatischen Gewaltapparaten klammheimlich sympathisiert oder sich sogar offen hinter diese stellt. Jüngstes Beispiel ist Syrien.


Das BLogbuch 1 2013, das fast zu einem Jahrbuch angewachsen ist, soll nicht die politischen Ereignisse von drei Vierteln des Jahres 2013 abdecken (was ein ziemlich vergebliches Unterfangen wäre und eigentlich von in kürzeren Abständen erscheinenden kürzeren Blogbüchern hätte übernommen werden müssen). Sein Hauptthema ist die europäische Revolution vor und nach 1848, wie sie von Marx und Engels ausgehend vom Manifest der kommunistischen Partei verstanden wurde und worin die sogenannte Nationale Frage (eine Formulierung die nicht von ihnen stammt, sondern erst bei den Austromarxisten und den Bolschewiki Verwendung fand) von zentraler Bedeutung war. Marx unterscheidet 1849 noch nicht zwischen Nationen und Nationalitäten, obwohl auch er von dem von Engels gezogenen klaren Trennungsstrich zwischen den historischen und den geschichtslosen Nationen ausgeht. Die historischen Nationen kämpfen gegen die Hinterlassenschaften des Metternich-Systems, von dem sie in möglichst viele kleine Nationalitäten zerlegt worden waren. Die geschichtslosen Nationen (die späteren Nationalitäten Napoleons III. und der russischen Zaren) haben sich dagegen häufig von den konterrevolutionären Großmächten gegen die historischen Nationen, zu denen auch Deutschland gehört, vor ihren Karren spannen lassen.


Die Engelssche Unterscheidung zwischen historischen Nationen und geschichtslosen Natiönchen ist unter vielen linken Autoren stark umstritten, weil sie darin die Vorwegnahme einer klammheimlichen Billigung der östlichen Raubkriege Hitler-Deutschlands gegen die Völker Osteuropas gesehen haben wollen. Dieser nicht nur unhistorische, sondern äußerst denunziatorische Verdacht, der auch von einem der Gründungsväter der Neuen Marx-Lektüre gegen Marx und Engels vorgetragen wird, läßt sich bereits bei einer nur groben Analyse der Strategie der kommunistischen Partei im gleichnamigen Manifest nicht aufrechterhalten.


Obwohl in diesem BLogbuch nicht direkt auf die Debatten über den Euro und Europa eingegangen werden wird, lassen sich aus der europäischen Revolution, als welche Marx und Engels die Revolution von 1848/49 verstanden und in der Neuen Rheinischen Zeitung den Kampf um die deutsche Republik nach französischem Vorbild mit dem Klassenkampf des Proletariats verbunden haben, gewisse Schlüsse auf die heutigen Verhältnisse in Europa ziehen. Dabei muß von vornherein klar sein, daß sich sowohl das Proletariat als auch die Weltmachtrolle Europas (in welche Richtung, sei zunächst dahingestellt) inzwischen verändert haben.


Ausarbeitungen, die sich auf der Fallhöhe des Marxschen Kapital mit der heutigen europäischen Revolution befassen, sind jenseits des üblichen Wusts an keynesianischen und vulgärökonomischen Analysen der Weltwirtschaftskrise und der Krise des Euro nicht auszumachen. Symptomatisch vielleicht, daß in diesen Analysen ‚die Politik‘ und ‚die Ökonomie‘ von einander fein säuberlich getrennt gehalten werden (im Krisen-Neusprech Der Linken wird „die Politik“ inzwischen als Synonym für die Regierung oder den Staat verwendet). Bei Marx und Engels können wir jedenfalls studieren, wie die damalige (Welt-)Wirtschaftskrise mit den Revolutionen in Europa zusammenhängt, und die sogenannte Nationale Frage nur in diesem Zusammenhang aufzufassen und zu studieren ist.


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Reaktionen (2012) »

Der Charakter der an dieser Stelle wiedergegebenen Feedbacks hat sich stark verändert. Im Mittelpunkt stehen seit längerem Überlegungen zum Marxschen Kapital, die mit Interessierten ausgetauscht wurden.

Es gibt auch vereinzelte Politische Statements, die einen zumeist beiläufigen Charakter tragen. Systematische Überlegungen politischer Natur haben sich ins BLogbuch verlagert.

[In eckigen Klammern: Korrekturen sinnentstellender Fehler und der Hinweis auf Kürzungen im Originaltext.]

REAKTIONEN 2012 [PDF]
ANHANG 1: Werner Imhof: Nachtrag [PDF]
ANHANG 2: Ulrich Knaudt: Sozialismus versus Marxismus [PDF]
ANHANG 3: Ulrich Knaudt: An Alle! [PDF]


Ulrich Knaudt an H.B. (04.02.2012)
Betreff: WANDERDÜNE

Lieber H.,

[…] Deine Frage zu D.[ieter] W.[olf]: Ich habe […] vorgeschlagen, auf dem übernächsten Kolloquium meine Kritik an D.W. vorzutragen. Dann kann ich auch ein wenig weiter in Richtung Arbeit, Wertgesetz bei den Klassikern ausholen.

Ein wenig tue ich das auch jetzt schon, indem ich im März auf Tschernyschewskis Kommentar zur Übersetzung von J.S. Mills Principles ins Russische eingehen werden. Eine Werttheorie, die den Wert nach dem (gesellschaftlichen) Nutzen bestimmt.[1]

Da steckt viel drin, was ich auch bei D.W. gefunden habe.

Schick mir ruhig den Harbach.[2] Mal sehen, ob ich ihn noch schaffe zu lesen.

Gruß Ulrich

[1] DEBATTE 5 Marx und Černyševskij – die revolutionäre Bewegung in Rußland und die commune rurale.
[2] Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Berlin 2011.


H.H. an Ulrich Knaudt (05.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Hallo Ernst Ulrich Knaudt,

[…] deine Einwände in Richtung Koryphäen haben uns so gut gefallen, dass wir uns gerne mit dir zu einem Plausch zusammen setzen würden. Außerdem hast Du deine Seite ‚parteiMarx‘ eingestellt, was bestimmt Konsequenzen in der politischen Sichtweise für dich hat, worüber wir ebenfalls gerne mehr erfahren würden. Deine Stellungnahmen zur Oktoberrevolution fand ich hauptseitig sehr gut, konnte aber nie ausmachen, inwieweit die leninistische Methode noch aktuell für dich ist. 

Wir heißt hier W. I. und meine Wenigkeit.

beste Grüße

H. H.


Ulrich Knaudt an H.H. (02.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Hallo Ihr, bin, obwohl unter Termindruck stehend, zu einem Plausch nicht abgeneigt […]

Die Seite pM habe ich nicht eingestellt, sondern das BLogbuch zurückgestellt, weil das Konzept überholt ist. An den REAKTIONEN könnt Ihr erkennen, daß an derselben weiter gearbeitet wird.

[…]

Wie lange sich doch solche Begriffe wie die "Hauptseite" gehalten haben…

Meine Kritik an Lenin erstreckt sich ‚hauptseitig‘ auf die Bauernfrage. (DEBATTE 4). Nicht von dieser betroffen war bisher die ‚Nationale Frage‘. Wenn man aber beides im Zusammenhang sieht, könnte sich auch das ändern ‒ allerdings dann auch nicht zugunsten von Rosa Luxemburg, Lenins Hauptgegnerin in puncto ‚Nationale Frage‘.

[…]

Viele Grüße

Ulrich Knaudt


H.H. an Ulrich Knaudt (06.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Danke für die schnelle Antwort Ulrich Knaudt!

Wunderbar dass Du Interesse hast, mit uns zu plauschen. […] Zur Zeit beschäftigen wir uns mit dem Harbach Buch […]

Lustig, dass mir der Begriff ‚Hauptseite‘ gar nicht mehr als politisch belastet in Erinnerung ist, schon so verdammt lang her das Ganze….

Gruß H.


Ulrich Knaudt an H.H. (06.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Hallo H.H.,

[…] Ich habe das Buch bis jetzt nur überflogen, aber dabei an dem Ansatz, soweit er mir verständlich war, einiges Grundsätzliches auszusetzen. Darüber könnten wir reden. Zu mehr reicht es bei mir, da ich mitten in der Vorbereitung zu meinem Referat stecke, erst mal nicht. […]

Ulrich Knaudt


H.H. an Ulrich Knaudt (07.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

[…] Beim buch sprichst Du uns aus der Seele. Weder stimmt die Kapitalismusanalyse (insbesondere beim Geld) noch der Zugang zum Sozialismus. Diesem nachzuweisen, dass er kein richtiger Kapitalismus war und keinerlei Versuch zu wagen, die praktischen Huerden zum richtigen oder sagen wir richtigeren Sozialismus zu analysieren, ist schon ein toller Marxismus. Auch die Anforderung an die (konkrete) Arbeit, als allgemeine von vornherein gesetzt zu sein bleibt total abstrakt, als liessen sich hier keine Bedingungen nennen, die diese Setzung notwendig voraussetzen. Hier fehlt jeder praktische Zugang (es liesse sich auch von Vorstellung sprechen) auf eine Gesellschaftlichkeit, die eine ‚Abschaffung‘ des Geldes erlauben koennte.

So weit mal meine Kurzzusammenfassung

Gruss H.


Ulrich Knaudt an H.H. (08.02.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Deine Einschätzung teile ich in groben Zügen. Enthält erst mal das Wesentliche, dem ich mich anschließe. Zwei Dinge auf historischem und auf theoretischem Gebiet kämen hinzu. 

Historisch: Soweit ich mit der Lektüre gekommen bin, stellt sich unmittelbar die Frage, 1. ob der Reale Sozialismus überhaupt anders als kapitalistisch reformierbar gewesen ist, 2. ob sich, wenn er nicht anders reformierbar war, an diesen dann anders denn (sozial)’demokratisch‘ anknüpfen läßt. Ich vermute, daß nur das geht! Harbach scheint aber zu unterstellen, es ginge auch anders. Sozialistisch? Kommunistisch?

Theoretisch: Harbach macht Dieter Wolf zu seinem Cheftheoretiker und knüpft direkt an dessen KAPITAL-Analyse an. Nun gibt es einige schwerwiegende Einwände gegen diese. Meine findet Ihr auf der Home Page der Marx-Gesellschaft – und die sind bisher noch recht harmlos.[1] Wenn Harbach sich in dem Maße, wie es den Anschein hat, theoretisch auf Wolf stützt, ist sein Konzept entgegen seinem Anspruch von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Fazit: Harbachs Buch zu kritisieren, ist ein Politikum ersten Ranges. Schön, wenn es gelänge, diese Kritik im Chor oder Wechselgesang rüberzubringen.

Zu Lenin: Ich halte Lenin bei aller Kritik für unverzichtbar. Da haben wir wohl eine Differenz. So wie ich Gietingers Einschätzung nicht teile (Kronstadt) und auch nicht die von Celiga (obwohl die als zeitbedingt bis zu einem gewissen Grad verzeihlich ist).[2] Lenin war einer der letzten großen Marx-Getreuen, wenn auch verbunden mit einer Menge von Mißverständnissen. Davon habe ich einige versucht aufzuklären, worüber Ihr Euch auf meiner Home Page informiert zu haben scheint.

Also genug für einen Plausch…

Ulrich Knaudt

[1] Dieser Text in Zukunft auf dieser Web Site unter ‚Das Kapital‘: Zwischen zwei Einäugigen kann nur der Blinde König werden.
[2] Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt, Berlin 2011; Anté Ciliga: Im Land der verwirrenden Lüge, Berlin 2010 (1938; 1953).


Ulrich Knaudt an H.B. (23.03.2012)
Betreff: VERSPROCHEN

Lieber H., wie versprochen schicke ich Dir die Vorbemerkung und die Schlußfolgerungen zu meinem Vortrag. Ich habe sie stilistisch geglättet, wo es nötig war, ansonsten so belassen.[1]

In einem FAZ-Artikel wurde D.W. namentlich erwähnt. Wenn ich ihn finde, schicke ich ihn Dir. Jetzt kennen wir gemeinsam noch einen Promi.

Viele Grüße

U. [1] DEBATTE 5 Marx und Černyševskij…


H.H. an Ulrich Knaudt (28.03.2012)
Betreff: Anfrage ‚Kaffe trinken‘: Einstellung der partei Marx Webseite

Lieber Ulrich,

noch mal herzlichen Dank für den total ’netten‘ und vor allem sehr vielversprechenden Plausch gestern Nachmittag! […]


Ulrich Knaudt an H.B. (30.03.2012)
Betreff: DEBATTE 5

Lieber H., die DEBATTE 5 ist gepostet und Du kannst sie als pdf runterladen.

[…]

Noch eine Überlegung zu Harbach. D.W.[olf] hat irgendwann zu einem meiner Vorträge gemeint, es wäre sehr gut, daß sich mal jemand der Geschichte der Arbeiterbewegung (oder so ähnlich) angenommen habe… Nachdem ich eine systematische Lektüre seines [Harbachs] Buches begonnen habe, ist mir der Gedanke gekommen, daß es sich dabei um die direkte Umsetzung des Systems W.[olf] in Richtung Wissenschaftlicher Sozialismus handeln könnte, mit der der Knaudtschen Befassung mit diesem Thema, die der Theorie D.W.s letztlich zuwiderläuft, auch von dieser Seite her das Wasser abgegraben werden soll, anstatt sich offen damit auseinanderzusetzen. (Naiv betrachtet wären meine Papiere dann die Anregung dafür gewesen, sich selber, d.h. vertreten durch Harbach, der Sache anzunehmen.) Das würde bedeuten, daß er in seinem damaligen Statement stark untertrieben hat und dem Wissenschaftlichen Sozialismus im Sinne des ‚Systems W.‘ eine sehr viel größere Bedeutung bemißt als er darin zum Ausdruck brachte.

[…]

Gruß U.


H.B. an Ulrich Knaudt (30.03.2012)
Betreff: DEBATTE 5

[…]

Gegenüber Dieter [Wolf] hab ich immer und immer wieder betont, für wie wertvoll ich Deine Geschichtsforschungen halte – ‚commune rurale‘ quasi zum Prinzip, zum Forschungsprinzip generell zu erheben wäre … – und wir eigentlich dazu kommen müssten, unsere Kräfte und Fähigkeiten zu bündeln. Es sind die Widersprüche zwischen uns, die uns daran hindern. Wir müssen sie in Griff kriegen, unter uns lösen. Es muss verdammt noch mal möglich sein.

Versteh nicht ganz den Abs., was Du mit der "Knaudtschen Befassung … der Th. D.W.’s letztlich zuwiderläuft" und den folgenden Sätzen meinst. Erklär’s mit bitte noch mal.

[…]

Bis bald wieder,

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (04.04.2012)
Betreff: NOCH MAL HARBACH

Lieber H., ich habe das dritte Mal damit begonnen, das Buch zu lesen, diesmal systematischer […]. Dadurch ist mir einiges klarer geworden. Fakt ist, daß ich das Thema der Transformation ebenso wie Harbach [1] zur Diskussion stelle, und zwar in Verbindung mit den Sassulitsch-Briefen [2] und der Dorfgemeinde, wofür ich keinerlei Urheberrechtsanspruch stelle (was lächerlich wäre). Es ging in meinem Fall jedoch nie ausschließlich um die commune rurale! Das zu meinem Hinweis auf D.W.[olf]s Gegenstrategie, die, wie ich meine, darin besteht, mit dem Harbach ein Pendant zu meinen Überlegungen zum Thema Transformation zu fördern, die ich jedoch nicht als, wie Du es nennst, D.W.s Auffassungen zur Werttheorie ergänzende "Geschichtsforschungen" bezeichnen würde.

Wenn Harbach dieses Thema seinerseits aufgreift, so ist das für die Debatte in unserer ’scientific community‘ durchaus als positiv zu bewerten. Soweit d’accord. Er scheint aber in seinem Buch das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen, wenn er in erster Linie davon ausgeht, woran denn der Realsozialismus im Endeffekt den Bach runter gegangen sein könnte. Obwohl es sich dabei durchaus um eine legitime Frage handelt, ist es jedoch meiner Ansicht nach falsch, diese ausschließlich werttheoretisch zu behandeln, ohne von vornherein die Frage nach der Formation dieser Gesellschaft aufzuwerfen. Und das heißt, diese nicht nur nach ihrem Manko ("Dysfunktionalität" usw.), sondern nach ihrem ‚Plus‘ hin zu analysieren: zum entscheidenden ‚Plus‘ dieses Sozialismus gehört aber nun mal seine Staatssklaverei![3] Und ohne die Gesellschaftsformation zu analysieren, spielt sich die Transformation, die Harbach zu seinem Thema macht, im historisch luftleeren Raum ab. (Lenin: wir haben den zaristischen Staatsapparat nur leicht mit Sowjetöl gesalbt übernommen…! Was heißt das?)

Mit anderen Worten: Transformation ohne Revolution = Reaktion! Dieses Konzept vertraten z.B. die rechten Sozialrevolutionäre, wodurch sie zwangsläufig zur Konterrevolution, d.h. auf die Seite der Weißen gegen die Roten (im Bürgerkrieg) übergehen mußten. Der Transformation in den 20er Jahren ging zwar die Oktober-Revolution voraus. Aber als die Transformation aus bestimmten Gründen, wovon ich einige (siehe DEBATTE 3) genannt habe, gescheitert war, entstand aus deren Scheitern die Stalinsche Konterrevolution (von C. Lieber naiverweise "zweite Revolution" genannt).[4] Diese Konterrevolution wurde (so absurd es klingt), durch den Sieg der Völker der SU und der slawischen Völker Osteuropas über den deutsch-germanischen NS für eine gewisse Zeitspanne vor sich selbst gerettet. Ein Wunder, daß sie sich danach noch so lange auf den Beinen gehalten hat! (Berlin 1953, Polen, Ungarn 1956, CSSR 1968)

Also, hier wäre primär die Analyse der stalinschen und post-stalinschen Staatssklaverei angesagt, bei der es sich in erster Linie um eine Untersuchung der Gesellschaftsformation und auf dieser Grundlage um das richtige oder falsche Verständnis der politischen Ökonomie von derselben zu handeln hätte. Harbachs Vorgehensweise läuft dagegen auf die politische Ökonomie einer reformierten Staatssklaverei hinaus, weil ihn in erster Linie die immanenten Ursachen für deren „Dysfunktionalität“ interessieren und nicht die historischen Gründe für die Entstehung einer gegenüber dem Kapitalismus historisch rückschrittlichen Gesellschaft. Gorbatschow ist damit politisch gescheitert. Harbach wird es nicht besser ergehen.

Seine politische Ökonomie erinnert doch sehr an die vergeblichen Versuche jener Sowjetökonomen, die das System der sozialistischen Staatssklaverei, ähnlich wie die bürgerlichen Ökonomen die kapitalistische Produktionsweise, versucht haben "marxistisch-leninistisch" gesundzubeten.

Wie das mit dem System der Wolfschen Werttheorie zusammenhängt, kann ich erst endgültig sagen, wenn ich den Harbach ganz zu Ende studiert habe. Das Wolfsche System bietet auf jeden Fall beste Voraussetzungen für eine reformierte und theoretisch verbesserte politische Ökonomie der sozialistischen Staatssklaverei, wie sie heute noch in China vorherrscht. Die westlichen Ökonomen haben dazu in der Vergangenheit, wie sich historisch beobachten läßt, jeweils ein entsprechendes theoretisches Pendant hervorgebracht: in den 30er Jahren den Keynesianismus, heute wird wahrscheinlich (beginnend mit der ‚Abwrackprämie‘) eine modernisierte Form des ‚Staatsmonopolistischen Kapitalismus‘ diese Rolle spielen. Letzterer ist in seinen bisherigen Ausprägungen leider ein wenig in Vergessenheit geraten. Das sollten wir schleunigst ändern.

Gruß U.

[1] Siehe REAKTIONEN 04.02.2012.
[2] Karl Marx: [Entwürfe einer Antwort auf den V.I. Sassulitsch] MEW 19 (384-406).
[3] Harbach: Wirtschaft ohne Macht…, 13: »Im Realsozialismus ist es bis zu seinem Zerfall nicht gelungen, die Wert- und Warenformen in das ökonomische System funktionsfähig einzugliedern. Um in einem neuen Transformationsprozeß die Funktionen dieser sachlich-gegenständlichen Gesellschaftsformen sachlich richtiger einordnen zu können, müßten die Deformationen und Dysfunktionen, die sich im realsozialistischen Reproduktionsprozeß aus der unzulänglichen und unbeholfenen Einbeziehung der Wert- und Warenformen ergaben, herausgeschält werden.«
[4] DEBATTE 3 NACHTRAG, 3 Fn. 7.


Ulrich Knaudt an H.H. (22.04.2012)
Betreff: WIE WEITER?

Lieber H.,

[…] Wenn ich von Euren Texten ausgehe […] habe ich den Eindruck, daß diese bei mir offene Türen einrennen, ich aber nicht weiß, zu welchem Projekt ich sie in Beziehung setzen soll? […] Wir haben viele schöne Baupläne, nur mit dem Grundstückskauf und der Finanzierung des Bauprojekts hapert es noch…

Ohne Verbindung zu einem entsprechenden Bauprojekt bleiben Eure Texte eigenartig abstrakt, nicht etwa, was den Inhalt betrifft oder weil ich dagegen inhaltliche Einwände hätte (selbstverständlich gibt es diesen oder jenen), sondern weil ich überhaupt nicht weiß, wo ich diese politisch hinstecken soll! Dies ist eine Kritik vor aller Kritik, aber nicht eine Kritik a priori.

Da ich auf der anderen Seite nicht zum Nihilismus neige, mache ich in dieser verfahrenen Situation den Versuch, ein vielleicht geeignetes Projekt vorzuschlagen.

Ich bin bei meiner Lektüre von Harbach zu folgender Überlegung gekommen. Die Tatsache, daß er sich überhaupt, wenn auch ausschließlich werttheoretisch, mit der politischen Ökonomie des Realen Sozialismus befaßt, werte ich inzwischen […] als Positivum. Die Kritiken der früheren westdeutschen Werttheoretiker haben an der Grenze zum Realen Sozialismus einfach kritisch halt gemacht und hätten Harbachs Kritik gewiß als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines ‚Bruderstaats‘ o.ä. und als ‚Antikommunismus‘ zurückgewiesen oder ignoriert. Ob das an dem akademischen Charakter der westdeutschen Werttheorie gelegen hat, ist dagegen zweitrangig.

Als Pendant zu Harbachs gelungenem, oder wahrscheinlich nicht gelungenem Nachweis, daß und warum dieser Sozialismus nicht hat funktionieren können, halte ich unsererseits eine Kritik an der allein auf Westdeutschland bezogenen und bis zur Wiedervereinigung gültigen Stamokap-Theorie für notwendig und erforderlich, gegen die der (auch werttheoretische) Nachweis zu führen wäre, daß und warum ihre Verwirklichung nicht nur nicht zum Sozialismus, sondern zu einer bestimmten Form der bürgerlichen Gesellschaft führen wird, in der zwar einzelne Ausformungen des Kapitalismus eingeschränkt oder sogar beseitigt werden, der Kapitalismus selbst aber etwa, wie das Beispiel Chinas zeigt, weiterexistieren wird. Analog zu Harbach mit dem Realen Sozialismus sind wir mit dem Stamokap politisch aufgewachsen und sehen bestimmte Dinge darin wahrscheinlich mit unseren besonderen, westdeutschen Augen.

Wenn wir von unserem ge- und erlebten westdeutschen Standpunkt aus als Pendant zur Kritik am Realen Sozialismus der DDR einen Gleichstand durch einen solchen verspäteten Beitrag des westdeutschen Kommunismus an der Stamokap-Theorie beizusteuern versuchten, erhielte unsere mögliche Kritik an Harbach eine andere Wendung oder Färbung oder wie man das auch immer bezeichnen mag. Das wäre wichtig, damit diese nicht mit dem Argument, es handele sich bei der unsrigen um eine bürgerliche Kritik am Realen Sozialismus, abgebügelt werden kann. Je eindeutiger und radikaler unsere Kritik am Stamokap ausfällt, desto klarer wird sich diese Kritik an Harbachs vergeblichem Versuch, den Realen Sozialismus nachträglich als reformierbar darzustellen, herauskristallisieren.

Und die politische Pointe wäre, daß sich die westdeutsche Bourgeoisie seit Schröder in einem Maße dem Stamokap zugewandt hat, je virulenter sich die Folgen der Weltwirtschaftskrise bemerkbar gemacht haben, so daß von heute aus betrachtet die Wiedervereinigung zu einer Vereinigung des Realen Sozialismus mit dem Stamokap zu werden droht.

Was hältst Du davon?

[…]

Viele Grüße

Ulrich


H.B. an Ulrich Knaudt (22.07.2012)
Betreff: http://www.zeit.de/2012/24/Laudatio-Goetz-Aly/komplettansicht?print=true

Schau mal rein, wirklich lesenswert, lieber Ulrich – hat auch was mit Horst Müller’s "Sozialkapitalismus" zu tun.


Ulrich Knaudt an H.H.(07.05.2012)
Betreff: BEMERKUNGEN

Lieber H., dieser Text [1] sollte schon längst fertig sein… Das ganze zog sich aber leider hin, so daß wir darüber wohl nicht werden diskutieren können. Egal, es gibt ja noch andere Punkte, die sicher spannend sein werden.

Ulrich

[1] REAKTIONEN 2012 ANHANG 2.


W.I. an Ulrich Knaudt (07.05.2012)
Betreff: BEMERKUNGEN

Hallo Ulrich,

ich bitte Dich, meine kurze Kritik an D[ieter]W[olf]s Wertbegriff noch einmal gründlich zu lesen.[1] Deine Bemerkungen sind voll von Mißverständnissen, die großenteils auf schlampige Lektüre zurückzuführen sind. Z. B. schreibe ich, daß DWs Feststellung (…) "nicht mehr als eine Tautologie" ist. Du läßt das "nicht" weg und wunderst Dich, daß ich das "mehr als eine Tautologie" nicht näher begründe… Oder: Ich bezeichne als Mangel des ak.[ademischen] M.[arxismus], daß er die Kategorien der b[ür]g[]er]l[ichen] Ökonomie nur in der Form des Objekts betrachtet, nicht auch subjektiv, als gesellschaftliche Praxis (übrigens eine Anleihe bei den Feuerbach-Thesen) – und meine mit der Form des Objekts natürlich die ök[onomischen] Kategorien. Du machst daraus den ak. Marxismus selbst, als könne er "in der Form des Objekts" irgendetwas betrachten – das ist doch Nonsens. Auf solch schludrigem Interpretationsniveau läßt sich nicht sinnvoll diskutieren.

Gruß W.

[1] REAKTIONEN 2012 ANHANG 1.


Ulrich Knaudt an W.I. (07.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Hallo W., ich entschuldige mich für meinen Lesefehler und stelle gleichzeitig fest, daß ich mir selbst die Sache durch das fehlende "nicht" zusätzlich schwer gemacht habe, die sich mit demselben viel einfacher dargestellt hätte. Denn am Inhalt meiner Kritik an D.W., nämlich daß er den Unterschied zwischen der allgemeinen und der abstrakten Eigenschaft der menschlichen Arbeit einfach unter den Tisch fallen läßt, ändert das fehlende "nicht" nichts. Ebenso wenig an meiner Kritik daran, daß Du der Unterschlagung dieser Differenz durch D.W. keine besondere Bedeutung beizumessen scheinst, die jedenfalls über die lapidare Erklärung hinausginge, daß es sich bei der allgemeinen Eigenschaft usw. um "nicht mehr als um eine Tautologie" handle. Daß ich darin anderer Meinung bin, wird in der zweiten Hälfte desselben Absatzes erklärt.

Deine Erwiderung auf meine Kritik am akademischen Marxismus unterliegt nun Deinerseits einem Mißverständnis: Denn gerade weil dieser, wie es in Deinem Papier heißt, die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie unter der Form des Objekts betrachtet, kann er im Prinzip unter seinen bürgerlichen Voraussetzungen keine gesellschaftliche Praxis entwickeln, die die Grenzen der bürgerlichen Ökonomie überschreitet, da das "Ändern der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung … nur als r e v o l u t i o n ä r e Praxis gefaßt und rationell verstanden werden" kann (3. Feuerbachthese).[1] Wenn das unter "subjektiv" verstanden wird, wären wir uns einig. Erschwert wird unser Einverständnis allerdings durch das von Dir verwendete "Ebene"n-Schema, hinter dem sich häufig nur schlichtester Empirismus verbirgt.

Du siehst, Mißverständnisse lassen sich abgleichen, Differenzen nicht. Über die müssen wir uns, was zur Natur der Sache gehört, streiten. Auf sinnvolle Weise, solange wir der Überzeugung sind, in die gleiche Richtung zu marschieren.

[…]

Ulrich

[1] Karl Marx: [Thesen über Feuerbach] MEW 3 (5-7).


H.H. an Ulrich Knaudt (08.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Wird – wenn Du glaubst, Ulrich – nicht mehr in der gleichen Richtung zu marschieren, eine nichtsinnvolle Streitführung möglich bzw. sinnvoll? Deine Zeilen suggerieren hier ein eindeutiges Ja! Ich weiß allerdings nicht so richtig was das soll, allerdings merkt man schon, wie schnell allein dein Vorbehalt "gleiche Richtung" sich im Nebel deiner revollutionaristischen Vorstellungen in die bekannte feindliche Richtung wandeln kann. Aus einem Begriff, gebraucht in einem kurzen Problemaufriss, machst Du gleich ein Schema und verknüpfst damit die wildesten Mutmaßungen. Dein Vorwurf der "schlichtesten Empirie" bewegt sich in ziemlicher Ahnungslosigkeit von der Existenz seines Gegenparts, der schlichten Unkenntnis der Empirie.

Den Streit zu führen um die einzig wahre revolutionäre Vorstellung ideologisiert von vornherein den Streit um richtig und falsch durch eine völlig falsche moralische Zuspitzung. Aus meiner Sicht basieren diese Vorstellungen letztlich auf idealistischen Erkenntnisvorstellungen. Für die Erkenntnis des richtigen ist der Weg über das Falsche, über den Irrtum wohl eher der Normalweg. Die moralische Abwertung des Falschen führt zu einem (ich sag mal) göttlichen Erkenntnisweg, der uns schnöden Menschen aber leider keine wirklich realistische Praxis ist.

In Bezug auf Wolf habe ich den Eindruck, dass Du ihm nicht seinen Irrtum nachweisen (und erklären) willst, sondern dein Anliegen ist mehr, ihn als falschen Revolutionär zu diskreditieren…

Für dieses Anliegen stehe ich prinzipiell nicht zur Verfügung, weil ich dafür als Basis ein ganz schnödes bürgerliches Konkurrenzdenken ausmache – übrigens kein unwichtiges Denken und Verhalten der grandios gescheiterten ‚kommunistischen‘ Bewegung und von allen anderen Inhalten abgesehen für sich schon ganz unrevolutionär…

besten Gruß

H.


W.I. an Ulrich Knaudt (08.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Am 07.05.2012 schrieb Ulrich Knaudt:

Hallo W., ich entschuldige mich für meinen Lesefehler und stelle gleichzeitig fest, daß ich mir selbst die Sache durch das fehlende "nicht" zusätzlich schwer gemacht habe, die sich mit demselben viel einfacher dargestellt hätte. Denn am Inhalt meiner Kritik an D.W., nämlich daß er den Unterschied zwischen der allgemeinen und der abstrakten Eigenschaft der menschlichen Arbeit einfach unter den Tisch fallen läßt, ändert das fehlende "nicht" nichts. Ebenso wenig an meiner Kritik daran, daß Du der Unterschlagung dieser Differenz durch D.W. keine besondere Bedeutung beizumessen scheinst, die jedenfalls über die lapidare Erklärung hinausginge, daß es sich bei der allgemeinen Eigenschaft usw. um "nicht mehr als um eine Tautologie" handle. Daß ich darin anderer Meinung bin, wird in der zweiten Hälfte desselben Absatzes erklärt.

Hallo Ulrich, DWs Gleichsetzung von abstrakter Arbeit mit der "allgemeinen Eigenschaft" menschlicher Arbeit ist doch gerade Gegenstand meiner Kritik. Nochmal der Reihe nach. 1. Daß jede konkrete Arbeit die allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit besitzt, ist eine Tautologie. Ich kann ihr zuschauen und ihr ansehen, daß sie Äußerung menschlicher (und nicht tierischer oder maschineller) Arbeitskraft ist. 2. DW meint jedoch gar keine sinnlich faßbare Eigenschaft – eine Eigenschaft aber, die nicht in Erscheinung tritt, sondern nur in seinem Kopf "faßbar" ist, ist ein Hirngespinst, das außerhalb seines Kopfes keine "Existenz" besitzt und nicht die geringste Macht hat über die äußere Darstellung(sweise) verbrauchter Arbeitszeit. 3. Die abstrakte Arbeit dagegen "existiert" überhaupt nur in der Wertform der Waren, also in der Darstellung ihres Austauschverhältnisses mit anderen Waren, heutzutage also in der Geldform, dem Preis, und in der entsprechenden Geldsumme, gegen die sich die Waren tauschen. D.h. sie existiert nicht auf der "Ebene" der Arbeit selbst, im Produktionsprozeß, wo DW sie verortet. Nur in der Geldform und im Geld selbst (und das Geld ist nur das entwickelte "Dasein" des Werts, die entwickelte Darstellungsform gesellschaftlicher Arbeit als allgemeiner und gleicher) wird von allen Unterschieden und Besonderheiten der Arbeiten abstrahiert und die Abstraktion zugleich quantifiziert. 4. Mit der Aufhebung der W[aren]P[roduktion] entfällt auch die gesellschaftliche Manier, konkrete Arbeit als abstrakte darzustellen. Bei DW hört sie auf, herrschende Form zu sein, bleibt aber als allgemeine Eigenschaft erhalten. Was das praktisch bedeutet, kann man wahrscheinlich an Harbachs Konzept nachvollziehen.

Deine Erwiderung auf meine Kritik am akademischen Marxismus unterliegt nun Deinerseits einem Mißverständnis: Denn gerade weil dieser, wie es in Deinem Papier heißt, die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie unter der Form des Objekts betrachtet, kann er im Prinzip unter seinen bürgerlichen Voraussetzungen keine gesellschaftliche Praxis entwickeln, die die Grenzen der bürgerlichen Ökonomie überschreitet, da das "Ändern der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung … nur als r e v o l u t i o n ä r e Praxis gefaßt und rationell verstanden werden" kann (3. Feuerbachthese). Wenn das unter "subjektiv" verstanden wird, wären wir uns einig. Erschwert wird unser Einverständnis allerdings durch das von Dir verwendete "Ebene"n-Schema, hinter dem sich häufig nur schlichtester Empirismus verbirgt.

Ok, hier habe ich oberflächlich gelesen. Soweit d’accords.

Du siehst, Mißverständnisse lassen sich abgleichen, Differenzen nicht. Über die müssen wir uns, was zur Natur der Sache gehört, streiten. Auf sinnvolle Weise, solange wir der Überzeugung sind, in die gleiche Richtung zu marschieren.

Über die Richtung hat Hubert gerade das Passende geschrieben. Ich will es etwas konkretisieren: Der "wissenschaftliche Sozialismus", verstanden als theoretische Anleitung des kämpfenden und malochenden Proletariats, ist für mich keine Richtung (mehr), in die ich auch nur einen einzigen Schritt machen würde. Die revolutionäre Praxis, die die kapitalistische Produktionsweise aufheben würde/könnte, bedarf keiner Wissenschaft, keiner separaten Theorie und organisierten Intelligenz, sondern nur der klaren und einfachen Vorstellung selbstbewußter und verantwortungsvoller nützlicher Arbeit für andere als anerkanntes Grundprinzip der gesellschaftlichen Produktion.

[…] W.


Ulrich Knaudt an H.H. (08.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Lieber H., selbstverständlich werfe ich nicht gleich das Handtuch, weil wir uns über die Richtung, in der sich unser Streit bewegt, bzw. nicht bewegen sollte, nicht im Klaren sind. Es wäre in der Tat Idealismus anzunehmen, daß diese Klarheit a priori feststeht. Ansonsten bist Du nicht der Erste, der mir deshalb Idealismus vorwirft. Nachzulesen auf meiner Web Site unter REAKTIONEN.[1] Hier gibt es wirklich elementare Mißverständnisse, über die wir uns nicht mit einem Mal verständigen werden. Was wir machen, ist eine […] Diskussion zu vertiefen, um was daraus zu lernen. Und dabei sollten wir bleiben. Das bedeutet aber nicht, daß diese in einem politisch luftleeren Raum stattfindet. 

[…] Ulrich

[1] Siehe KRITIK 1 Zur Kritik am Projekt partei Marx, 48 (Exkurs).


Ulrich Knaudt an H.B. (08.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIEN

Lieber H., ich wollte Dir kurz berichten, daß unsere kleine ‚Konferenz‘ (wie es scheint) für alle Beteiligten zufriedenstellend abgelaufen ist, jedenfalls friedfertiger als die Mails, die ich Dir gleich weiterschicken werde, vermuten lassen. Wir wollen uns das nächste Mal über "Wissenschaftlicher Sozialismus oder…" näher unterhalten.[1] Mein StamoKap-Vorschlag [2] ist auf keine Gegenliebe getroffen. Man sollte auch nicht zu viele Baustellen eröffnen, für die dann die Kapazität nicht reicht. Ich werde ihn auf jeden Fall nicht aus den Augen verlieren. Wir haben auf jeden Fall einige Traumata und Mißverständnisse abbauen können.

Ich hoffe, Du kommst […]mit Deiner Arbeit voran und verbleibe mit herzlichen Grüßen

U.

[1] Siehe ANHANG 2.
[2] Siehe Ulrich Knaudt an H.H. (22.04.2012).


H.H. an Ulrich Knaudt (10.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Da die Klarheit der Kritik an Wolf, wie sie in deinem Zitat Ulrich, zum Ausdruck kam, aus meiner Sicht nicht aufrechtzuerhalten ist, muss ich doch eine Nachfrage bzw. Klarstellung loswerden:

selbstverständlich werfe ich nicht gleich das Handtuch, weil wir uns über die Richtung, in der sich unser Streit bewegt, bzw. nicht bewegen sollte, nicht im Klaren sind. Es wäre in der Tat Idealismus anzunehmen, daß diese Klarheit a priori feststeht. Ansonsten bist Du nicht der Erste, der mir deshalb Idealismus vorwirft.

Mein Idealismusvorwurf hat mit deinen Ausführungen hier nicht viel gemein. Mir ging es allein um deinen – aus meiner Sicht – seltsamen Umgang mit Richtig und Falsch, weil Du ein weiteres Kriterium einführst ("revolutionär") und damit eine erkenntnistheoretisch völlig falsche Verunglimpfung des Falschen verknüpfst, obwohl dieses Falsche nur zu oft die Voraussetzung des Richtigen im Erkenntnisprozess ist. Im übrigen vermisse ich an deinem Gebrauch des Begriffs "revolutionär" das Gespür für ‚unsere‘ spezifisch historische Situation, die v. a. geprägt ist von dem gesellschaftlichen Desaster, das ‚unsere‘ vermeintlich kommunistische und auch nur vermeintlich revolutionäre Bewegung hier angerichtet hat.

In das Wolf Zitat schiebst Du in der eckigen Klammer einen Halbsatz ein, der die Wolfsche Aussage mehr verfälscht als erhellt, weil Du übersiehst, dass seine weitergehende Erklärung auf der Seite zuvor steht, die deinen eingeschobenen Satz als völlige Fehlinterpretation dastehen lässt:

Vgl. D.W.: Qualität und Quantität des Werts…, 111: Der Wert, der den verschiedenen einzelnen Arbeitsprodukten den Charakter von Waren verleiht, [und nicht etwa umgekehrt: daß ihr Warencharakter den Arbeitsprodukten Wert verleiht] ist diese abstrakte Gegenständlichkeit, die durch das gesellschaftliche Aufeinanderbezogensein der Arbeitsprodukte als Arbeitsprodukte schlechthin eine gesellschaftlich bestimmte Gegenständlichkeit ist, [NB diese Tautologie!] die nur metaphorisch [!] mit »Gallerte«, »Kristall« usf. umschrieben werden kann.[1]

Bei Wolf heißt es unmittelbar vor der von dir zitierten Textstelle

Die so charakterisierte abstrakt allgemeine Eigenschaft wird nicht, was eine irrational mystische Vorstellung ist, durch irgendeine Arbeit geschaffen; sie wird als unsinnliche allgemeine Eigenschaft der Produkte einer jeden konkret nützlichen Arbeit, erst in und durch den Austausch von aus Arbeitsprodukten bestehenden Gegenständen zur gesellschaftlichen Gegenständlichkeit, zu Wert (S. 110).[2]

Liest man hier "Wert" als das vorauszusetzende, spezifische gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten, kann ich da nichts falsches erkennen, worüber eine Polemik lohnte. Im Gegenteil: Wolf setzt sich hier mit seinen Ausführungen zur "Arbeit" z. B. sehr deutlich von den haar[s]träubenden Interpretationen der Krisis bzw. Exit Leuten ab, die die abstrakte Arbeit wirklich mystifizieren und zum Schlüssel einer Art Geheimwissenschaft machen.

Allerdings würde ich aufgrund deiner Interpretation hier nun genauer wissen wollen, was Du meinst, wenn Du ihm vorwirfst

daß D.W. unter Ausschaltung des Fetisch-Kapitels (es existiert für ihn einfach nicht!) von den Arbeitsprodukten (deren Warencharakter für ihn ebenfalls nicht existiert) sehr schnell, d.h. ganz im Sinne einer ‚monetären Werttheorie‘, beim Geld ankommt.[3]

Insbesondere sein Nichtinteresse am Warencharakter der Arbeitsprodukte finde ich erklärungsbedürftig. Wie meinst oder begründest Du das?

besten Gruß
H.

[1] ANHANG 2, 5.
[2] ANHANG 2, Fn. 6.
[3] ANHANG 2, 4.


H.B. an Ulrich Knaudt (10.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIEN

Danke,

lieber Ulrich, für die Information.

Freut mich, dass […] mit einer Verständigung es also voran ging.

Paar Kurzbemerkungen:

1.) s. u., Dein Mail: gerade unter D e i n e r p o l i t i s c h e n Diktion sollte wir an Deinem Vorhaben, Analyse des BRD-Imperialismus/StamoKap, festhalten – würde sich sicherlich deutlich abheben von Heiners Ost-Kapitalismus-Analyse insofern – […] – insbesondere das wesentlich Gemeinsame beider dargestellt sein müsste.

Ich halt’s für eminent wichtig – schon g e s c h i c h t s bedingt, an den geschichtlichen Weichenstellungen, muss man da, D u da unbedingt weiter dranbleiben (bisschen was kann ich ja auch dazu beizutragen; unsere begonnenen Diskussionen müssen wir weiterführen bzw. schon auch mal den Konsens in grundlegenden Positionen z. B. u.a. zweiter Weltkrieg festhalten, um darauf weiter zu arbeiten).

2.) zum Mail von W.[I.] an Dich 7.5.: richtig: "dass er die Kategorien der b[ür]g[er]l.[ichen] Ökonomie nur in der Form des Objekts betrachtet, nicht auch subjektiv, als ges.[ellschaftliche] Praxis" – ja, aber die Form des Objekts, "Ware", bestimmt doch das Subjekt, die Subjektivität des Subjekts – Marx: Randglossen Wagner[1]: bei mir ist das Subjekt die "W a r e"! – Insofern ist es eben nicht falsch, die b ü r g e r l i c h e Ökonomie "unter der Form des Objekts" zu betrachten – kann sie denn als solche anders überhaupt betrachtet werden? Sie erfasst eben nicht den "wirklichen Gegensatz" (vgl. Kritik d. H.[egelschen] St[aats]R.[echts], [MEW 1 (203-333)] S. 293) der Subjekte, der Subjekteinheiten in ihre[m] Widerspruch an sich und durch sich selber; […].

3. zum Mail Ulrich an W.[I.], 7.5.: "wenn das unter ’subjektiv‘ verstanden wird" – ein Problem auch zwischen uns, nicht anders versteh’s auch ich, ‚immer schon‘, darunter – "wären" auch "wir uns einig", zumindest insoweit.

4.) zu Mail von H.[H.] v. 8.5.: ich denke, wir müssen generell vorsichtig sein wie H. richtig sagt mit den "revolutionistischen Vorstellungen … feindliche Richtung… wildesten Mutmaßungen… göttlicher Erkenntnis …". Wir reproduzieren damit, wie ich schon zig mal feststellte, schlicht "bürgerliches Konkurrenz-Denken", Klassenfeind-Haltungen unter uns selber – ver-rückt!

5.) zum Mail von W.[I.] an Ulrich, 8.5., 10,27:

…der Reihe nach.

Zu "1. Dass jede konkrete Arbeit…, ist eine Tautologie… zuschauen … ansehen.." Nein, es ist eine A b s t r a k t i o n als Gemeinsames von den verschiedensten "konkreten", allerdings eine von Sinnlich-Wahrnehmbarem, als einem Gemeinsamen von unterschiedlich Vielem; Marx geht in der Kritik im St[aats]R.[echt] auf die Hegelsche sog. "empirische Allgemeinheit" ein und wie dieser damit umgeht, so dass sich eben die Analogien zwischen dessen "abs. Geist" und Wert / Kapitallogik ergeben; nicht unwesentlich dabei auch der Hinweis auf die Abgrenzung von "tierischer oder maschineller" Arbeit – wichtig bei "Wesens"-Bestimmungen (vgl. Abgrenzungs-Thema v. "genetivus objectivus versus gen. subjectivus, in Zusammenhang mit Marx‘ zig-facher Kritik am berühmt-berüchtigten "Quid pro quo" – s. meine Kritik an Dieters Marx-Interpretation zum Thema "Gattung" […]); warum aber trotzdem der "Tautologie"-Vorwurf nicht unberechtigt – ich sitz da drüber.

Zu "2. D.W. meint…."; wenn "Existenz", "Hirngespinst" nirgends außer i m Kopf, dann ist’s die Folge von V e r h a l t e n der Subjekte a u f g r u n d von Warentausch und hat somit, verhaltensbedingt, gerade d a d u r c h, v e r h ä l t n i s begründend, "Macht", Macht ü b e r sie, und insofern und insoweit eben auch bestimmten, spezifischen Bezug auf "verbrauchte Arbeitszeit" – implizit der Differenz zwischen Produktion von Produkt (Wert/Preis des Produkts) und Produktion der Arbeitskraft (T[ausch]W[ert]/Preis/Lohn d. Arbeitskraft).

Zu "3. Die abstrakte Arbeit existiert ….." – richtig.

Zu "4. Mit der Aufhebung….." – richtig. "Bei D.W. hört sie auf, herrschende Form …"; richtig, insofern er unterscheidet zwischen der "gewöhnlichen" und der "außergewöhnlichen" (W.: "herrschenden"), s. D.W.[olf] in "Der dialektische Wi[derspruch] i.[m] K.[apital]" – sitz drüber.

Letzter Absatz von Dir zu "wissenschaftlicher Soz.", "bedarf keiner Wissenschaft mehr" – da wär ich mir nicht so sicher, vgl. Marx, EB 1, [Pariser] Manuskripte, wo er mal sagt, dass dann einmal Gesellschafts-/Geistes-Wissenschaft in der "Wissenschaft" von der "Natur" aufgeht, vom Menschen als einem Wesen derselben.

Zu: "Am 8.5.2012 schrieb H. H."

"… in Bezug auf Wolf habe ich den Eindruck … seinen Irrtum (!) nicht nachweist (erklärst).."; diese Kritik an Dir teile ich s o nicht, aber zu Recht weist H. darauf hin – bewusst machen wir unsere "Irrtümer" ja wohl nie – sonst wärn‘s ja keine – dass es doch gerade darauf ankommt; ich sitz drüber, versuch’s zumindest "zu erklären", "nachzuweisen", differenziert entsprechend Dieters akribischer Differenzierungen – ist verdammt mühsam.

Lass / lasst mich so wenn auch begrenzt weiter an Eurer Disk. teilhaben.

Bis bald also wieder, herzliche Grüße, […]

H.

PS: Das besondere, auszeichnende an Dieter ist, was sein[e] theoretische Stärke, Konsequenz ausmacht, ist, dass er die Marxschen Widerspruchsbestimmungen des "frühen" insbesondere im St[aats]R.[echt] und insbesondere auf den S. 292 ff. an den Kategorien der politischen Ökonomie in einer Genauigkeit (und mit entsprechenden Kritiken an bekannten Marx-Interpreten (u. a. Helmut R.[eichelt], Göhler, Colletti) abarbeitet, wie’s wohl sonst nirgends so zu finden ist, und ich denke, dass – bei aller Wertschätzung seiner Arbeiten – gerade hierin der Hund, sein "Irrtum" begraben liegt (wenn ich mich nicht selber irre, was ich nicht glaube, weil ich ihn, denk ich, verstehe, ihn mir "erklären" kann) – entsprechend möchte ich Dieter gerecht werden (und wenn ich denn da wirklich nicht richtig liege, dann wird ich mir jedenfalls selber klarer geworden sein). ‚Schaun ma moi" sagt der Beckenbauer – […]

H. [1] Karl Marx: [Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“] MEW 19 (355-383).


W.I. an H.H. und Ulrich Knaudt (10.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Hallo H., hallo Ulrich,

ich kann Euch beiden nicht folgen. Noch einmal beide Wolf-Zitate:

Vgl. D.W.: Qualität und Quantität des Werts…, 111: Der Wert, der den verschiedenen einzelnen Arbeitsprodukten den Charakter von Waren verleiht, [und nicht etwa umgekehrt: daß ihr Warencharakter den Arbeitsprodukten Wert verleiht] ist diese abstrakte Gegenständlichkeit, die durch das gesellschaftliche Aufeinanderbezogensein der Arbeitsprodukte als Arbeitsprodukte schlechthin eine gesellschaftlich bestimmte Gegenständlichkeit ist, [NB diese Tautologie!] die nur metaphorisch [!] mit »Gallerte«, »Kristall« usf. umschrieben werden kann. Die so charakterisierte abstrakt allgemeine Eigenschaft wird nicht, was eine irrational mystische Vorstellung ist, durch irgendeine Arbeit geschaffen; sie wird als unsinnliche allgemeine Eigenschaft der Produkte einer jeden konkret nützlichen Arbeit, erst in und durch den Austausch von aus Arbeitsprodukten bestehenden Gegenständen zur gesellschaftlichen Gegenständlichkeit, zu Wert (S. 110).[1]

Eine abstrakt allgemeine Eigenschaft, die nirgendwo in Erscheinung tritt, ist ein Schmarren, ein reines Gedankenkonstrukt. Dieses Hirngespinst soll sich durch den Austausch und nicht durch irgendeine Arbeit in eine abstrakte Gegenständlichkeit verwandeln, die ebenfalls nicht in Erscheinung tritt – ein noch größerer Schmarren, ein begriffliches Unding. Es wird nicht sinnvoller dadurch, daß ich den "Wert" als das vorauszusetzende, spezifisch gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten lese. Denn woher weiß ich (bei D.W. oder mit ihm) von diesem Verhältnis? Worin besteht es? Wieso kann man es voraussetzen, wenn es erst im Austausch entsteht? Wieso kann ein Verhältnis zwischen Menschen eine abstrakte Gegenständlichkeit sein, das nirgendwo sinnlich faßbar ist? Fragen über Fragen. D.W. selbst ist es, der mit irrational mystischen Begrifflichkeiten hantiert, weil er – nicht von der wirklichen Erscheinungsform ausgeht, der Wertform der Ware. Und deren entwickelte Gestalt, mit der wir es heute zu tun haben, ist die Geldform, der Preis.

Zu sagen, daß der Warencharakter der Produkte ihnen Wert verleiht, ist nicht viel besser als die umgekehrte Formulierung von DW. Denn woran mache ich den Warencharakter fest? An der Form, in der das Produkt als Ware erscheint. Und das ist ihr Preis. Es ist aber offensichtlich Unsinn, sagen zu wollen, daß der Preis der Produkte ihnen Wert verleiht. Was aber soll gesagt werden? Woher soll der Wert denn nun kommen, und was soll er sein?

Auch Du, Ulrich, gehst nicht von der Erscheinungsform aus und verwechselst deshalb öfter die Ebene der objektiven Erscheinung (und des darin Erscheinenden) mit der der subjektiven Reflexion oder Interpretation dieser Erscheinung. Du stimmst zu, wenn ich sage, der Wert ist … bloße Darstellung verbrauchter Arbeitszeit im Medium der Geldware bzw. ihrer Stellvertreter. Und dann raufst Du Dir die Haare, wenn ich sage, daß nur der Preis, also eben die Darstellung verbrauchter A[rbeits]z[eit] im Medium der Geldware, die konkreten Arbeiten als gleiche quantifiziert, nicht aber D.W.s Hirngespinst, der Begriff der abstrakt allgemeinen Eigenschaft usw. in seinem Kopf. Doch sagst Du, genau das tut er. Nein, er tut es nicht, weil er es nicht kann. Er kann eine Begrifflichkeit konstruieren, die diese Abstraktionsleistung scheinbar simuliert, aber kann sie sich nicht einmal vorstellen! Mach mal die Probe aufs Exempel und stelle Dir verschiedene konkrete Arbeiten in actu vor. Es ist kein Kunststück zu sagen, sie sind alle darin gleich, daß sie menschliche Arbeiten sind. Aber es wäre ein Wunder, wenn Dir damit gelänge, die verschieden konkreten, verschieden komplizierten und verschieden intensiven Arbeiten als eine bestimmte Quantität absolut gleicher Qualität vorzustellen, sie auch nur logisch zu bestimmen. Es geht nicht, in den Preisen aber passiert genau das als Darstellung. D.W. versucht, sich einen Begriff zu machen über die Gesellschaft außerhalb seines Kopfes. Aber er entwickelt den Begriff nicht aus den Erscheinungen, die die Menschen im gesellschaftlichen Verkehr produzieren, indem sie ihren Produkten Preise anhängen und sie gegen Geld tauschen. Er entwickelt den Begriff aus seinem Kopf bzw. aus Gedanken über "die Arbeit", allgemeine Eigenschaften usw., und dieser Begriff bleibt daher inkonsistent, kann weder Wertsubstanz erklären, verwandelte Form verbrauchter Gesamtarbeit, noch Wertgrößen, notwendige Anteile daran (notwendig auch nur in W[aren]P[roduzierenden]-Gesellschaft, nicht überhaupt). Und er kann den Fetischcharakter der Ware nicht begreifen. Denn worin besteht der? Eben in ihrem Wert. Verbrauchte Arbeitszeit wird dargestellt, als wäre sie in bestimmten Portionen vorhandene Substanz, versteckt in den Produkten. Daher die ganze Metaphorik bei Marx. Und für D.W. existiert der Wert tatsächlich, in den Waren. Er betreibt Metaphysik und erklärt die Metaphorik aus der Abstraktheit der Realie Wert, nicht aus seinem Fetischcharakter. Und Du? Du sagst, der Fetisch sei eine reale Fiktion. Ja, aber worin besteht denn nun der Fetisch? Was an ihm ist Fiktion? Und was Realität? Da mußt Du schon etwas präziser werden und Dich entscheiden.

Gruß W.

[1] ANHANG 2, 5.


H.H. an W.I. Kopie an U.K (12.05.2012)
Betreff: TAUTOLOGIE

Na, da bin ich ja mal auf die Endfassung deines Papiers gespannt, W.

Hier scheinen ja doch einige Neuheiten zu kommen, das macht in der Tat neugierig, insbesondere die Aussicht auf eine fundierte Marxkritik.

Unabhängig davon würde mich trotzdem die Antwort Ulrichs auf meine Fragen interessieren.

beste Grüße

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (13.05.2012)
Betreff: BORUSSIA

Lieber H., hier im Pott hat vieles einen preußischen Namen, seit sich die Hohenzollern hier im Westen im 18. Jahrhundert eingeheiratet haben. Ham wohl schon die Kohle und den Stahl gerochen. Ein Teil meiner Vorfahren kommt hierher. Ein Urgroßvater war Teilhaber einer großen Stahlfirma in Essen, die dann an Mannesmann verkauft wurde. In Essen gibt es noch eine Schultz-Knaudt-Straße. Wir unterhielten uns mal anläßlich der Weltmeisterschaft über Stolz. Dieser bewegt mich im Angedenken an meine Vorfahren nicht. Ich kann sie auch nicht verachten. Sie sind mir eigentlich nur fremd und egal. Wir haben uns sozusagen auseinandergelebt. Von dem Verkauf der Stahlfirma genehmigte sich mein Großvater um die Jahrhundertwende eine Weltreise, als er als Amtsgerichtsrat in Schlesien sich eine Auszeit nahm. […]

Ich war auch für Dortmund, aber nicht in erster Linie wegen des gemeinsamen Pott-Gefühls, sondern, weil ich ein spannendes Spiel sehen wollte. Aber die Borussen machten dem eine Strich durch die Rechnung. Sie haben die Bayern so verprügelt, daß ich am Schluß hoffte, die würden noch zwei Tore schießen, damit es noch ein wenig spannend wird. Aber sie waren zu ausgelaugt, diese großen Millionäre. Jetzt werden die kleinen auch große werden. Daher haben die Bayern verdient Dresche bekommen. Das ist Klassenkampf heute, die kleinen Millionäre gegen die großen.

Morgen geh ich wählen, auf jeden Fall nicht SPD und schon gar nicht Links-Grün. Die Bürgerlichen haben zumindest noch nen eignen Beruf (meistens RA, Geschäftsleute o.ä.). Für viele Linke ist das Politikersein ihr Beruf. Aber im Grunde wähle ich die andern, weil sie weniger vernagelt sind. Ein magerer Grund. Denk ich an Wissmann oder Koch oder wie sie alle heißen, die vom Kapital aufgesaugt wurden, als sie ihren Politikerjob aufgegeben haben. Dennoch ist es richtig zu wählen, sonst kommen wegen zu geringer Wahlbeteiligung noch größere Idioten ans Ruder, die nicht mal mehr wissen, wie man den Kapitalismus richtig am K… hält, sondern son verblasenes Zeug wie es der Tsipras vorschlägt, betreiben wollen, eben StamoKap. Fatal, aber wahr.

Ich habe mir ein Gläschen genehmigt, will aber noch was zu Deiner Mail sagen, ohne darauf jetzt konkret zu antworten. Ich arbeite an einer Antwort An Alle.[1] Darin will ich zu den Problemen, die wir mit D.W. und untereinander haben, konkret Stellung nehmen. Ich denke, wir sollten die gemeinsame Diskussion in einer Mailingliste fortsetzen, weil sich die Widersprüche, die wir miteinander haben, so schneller auffächern, das heißt aber nicht, abgleichen lassen.

Soweit erst mal. Viele Grüße aus BO-RUS-SIA-Land.

U.

[1] Siehe ANHANG 3.


Ulrich Knaudt an H.H. (16.05.2009)
Betreff: IMAGINÄRE WERTE

Lieber H., als Anhang mein Kommentar [1] zu unseren Mails vom 07.-10.05., den ich an W.I. und H.B. weiterleite.

Viele Grüße Ulrich

[1] Siehe ANHANG 3


H.B. an Ulrich Knaudt (22.07.2012)
Betreff: Laudatio: In Hitlers Gesellschaft | Kultur | ZEIT ONLINE

Schau mal rein, wirklich lesenswert, lieber Ulrich, hat was mit Horst Müller’s “Sozialkapitalismus” zu tun.

http://www.zeit.de/2012/24/Laudatio-Goetz-Aly/komplettansicht?print=true


Ulrich Knaudt an GdS (25.07.2012)

Hallo Buchladenkollektiv,

leider komme ich erst jetzt dazu … zu antworten. Einer der Gründe für diese Verzögerung findet sich auf der Home Page der partei Marx unter BLogbuch 1 2012.

Es ist am sinnvollsten, gleich auf den Kern der Sache zu kommen: die Leninsche Imperialismus-Theorie in der von Euch ausführlich und in zwei Anläufen analysierten und zitierten Schrift Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus.[1] Ausgehend von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und der Strategie der Marxschen Partei würde ich jener in unserer heutigen Situation gelesen die Überschrift geben wollen: ‚Der Imperialismus und die Spaltung des Kapitalismus‘, weil sich die Leninsche Unterscheidung zwischen dem »…nichtmonopolistischen Kapitalismus« und dem monopolistischen Kapitalismus nach meinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten läßt, da der Weltmarkt zu einer Totalität zusammengewachsen ist, von der bereits Marx ausging, ohne daß der Weltmarkt zu seiner Zeit derart umfassend wie heute entwickelt und organisiert war. Diese Totalität hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht durchgesetzt (weil u.a. die Kolonien noch eng mit ihren ‚Mutterländern‘ {England, Frankreich, Portugal, Niederlande usw.} politisch verknüpft waren); heute jedoch, d.h. nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition über Hitler-Deutschland und der Schaffung eines ‚westlichen‘ Weltmarkts, innerhalb der westlichen Hemisphäre und nach dem Niedergang der Vorherrschaft der SU als Hegemonialmacht über die östliche Hemisphäre (die das post-‘stalinistische‘ heutige Rußland, wenn auch vorerst vergeblich, mit allen Mitteln wieder herzustellen versucht), [heute] muß von einem in dieser Totalität bisher noch nie dagewesenen Weltmarkt ausgegangen werden, der durch die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ausgebrochene Weltwirtschaftskrise einerseits noch stärker zusammengeschweißt wird, aber gleichzeitig vor seinem Auseinanderfallen in neue hegemoniale Weltmärkte steht (US- + EU-Kapital vs. BRICS-Kapital). Damit ist die Einheit in der Totalität des Kapitalismus, von der das Marxsche KAP[ITAL] ausgeht, konkret Wirklichkeit geworden, eine Einheit, die notwendig das Moment ihrer Spaltung in sich trägt. Diese wird in zwei Richtungen erfolgen: entweder in Richtung Spaltung der Kapitalisten oder Spaltung des Kapitalismus oder beides.

Die Spaltung der Kapitalisten würde, wenn die Weltwirtschaftskrise sich weiter zuspitzt, zu neuen (Teil-) ‚Weltmärkten‘ führen, ähnlich denjenigen der beiden Weltmächte der Anti-Hitler-Koalition nach 1945;[2] die Spaltung des Kapitalismus zur Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft in die Weltbourgeoisie und das Weltproletariat. Nach Letzterem sieht es momentan nicht aus, da das Weltproletariat als Klasse bei der Spaltung des Kapitalismus politisch noch nicht präsent ist, oder wenn sich in dieser Richtung etwas regt, dann nur im Schlepptau des imperialistischen Kleinbürgertums (attac, OWM, Rio-Gipfel etc.), das im Interesse einer Fraktion der Kapitalisten gegen die Hegemonie des ‚Westens‘ und für einen separaten ‚sozialistischen Weltmarkt‘ kämpft, der von mehr oder weniger faschistischen ‚linken‘ Polizeistaaten organisiert wird.

Die Spaltung des Kapitalismus wird in der Marxschen Analyse der Ware in KAP I wissenschaftlich untersucht. Allerdings wäre es zu wünschen, daß Ihr bei der Lektüre dieses elementar wichtigen Textes nicht dem »falschen Schein« der Wolfschen Interpretation des KAP erliegt.[3] Im Gegensatz zu Dieter Wolf gehe ich nicht einfach nur von einer, wie Ihr schreibt, »Verschleierung der Realität« und dem durch den Kapitalismus erzeugten »falschen Schein«, sondern von der Verkehrung der Verhältnisse aus, ohne deren Voraussetzung die Bestimmung des Werts der Ware in KAP I nicht möglich ist. Das unterscheidet die Marxsche Bestimmung des Werts von denjenigen der Klassiker und ihrer vulgärökonomischen Nachfolger und stellt eine wissenschaftliche Revolution dar von der gleichen Bedeutung wie derjenigen Keplers, Newtons oder Darwins. Eine wissenschaftliche Revolution, die nicht wenige moderne Ökonomen zähneknirschend anerkennen müssen. Nur auf Grund dieser Verkehrung wird der von Euch festgestellte »falsche Schein« (Die mörderische Realität... S. 2/3) zur unbestrittenen gesellschaftlichen Realität, der zugleich nach seiner gesellschaftlichen Auflösung verlangt, da es sich bei diesem »falsche(n) Schein« nicht etwa nur um eine ausgehend vom Individuum sich philosophisch stellende erkenntnistheoretische Frage handelt. Wenn Ihr Euch also auf den »Warenfetischismus« beruft, so sollte klar sein, daß dieser auf den Verkehrungen der Verhältnisse der einfachen Warenzirkulation und -produktion (einer bewußt von Marx aufgestellten hypothetischen Annahme, da die einfache Warenproduktion für sich genommen nicht existiert) beruht, die als »Verschleierung der Realität« wirken, aber eben nur als Ausdruck der Verkehrung der Verhältnisse in dieser gesellschaftlichen Realität. (Genaueres findet Ihr dazu auf parteimarx.org unter REAKTIONEN Ulrich Knaudt an H.B.: 13.01.2010, 18.06.2010, 12.07.2010, 25.07.2010, 28.07.2010, 13.08.2010, 18.08.2010. Unterstrichen = wer nicht alles lesen will, sollte zumindest diesen Brief lesen.)[4]

Die Spaltung der Totalität des Weltmarktes ist also in der Spaltung des »Konkretums der Ware« (MEW 19,362) in Gebrauchswert und Tauschwert bereits in ihrem Kern angelegt. Dagegen mag die Vorstellung von der Spaltung der kapitalistischen Produktionsweise in einen monopolistischen und einen »nichtmonopolitistischen Kapitalismus« heute vielleicht noch für irgendwelche kleinbürgerliche Kapitalismus-Kritiker wie attac, OWS usw. dazu herhalten, auf ihren ‚anti-kapitalistischen‘ ‚Sonderwegen‘ die Tatsache zu ignorieren (und die Theorie zu bekämpfen), daß die Spaltung dieser Totalität auf der einen Seite in der Spaltung des »Konkretums der Ware« in Gebrauchswert und Wert und auf der anderen Seiten in diejenige der bürgerlichen Gesellschaft in die antagonistischen Klassen, Bourgeoisie und Proletariat hinausläuft, einen Antagonismus, auf den Lenin im Gegensatz zu den heutigen Rettern des »nichtmonopolistischen Kapitalismus« vor dem monopolistischen nicht verzichtet hat und worin nach wie vor sein großes Verdienst liegt.

Die von Euch festgestellte »mörderische Realität des Imperialismus« erweist sich folglich als höchst kompliziert.Das betrifft nicht nur den Klassenantagonismus, sondern auch die Konkurrenzsituation, in der sich die einzelnen Kapitalisten befinden, deren Absolutheit in letzter Instanz nur durch den Krieg zwischen ihren Nationen und Fraktionen aufgehoben werden kann. Es sollte aber der absolute Charakter der Konkurrenz im Kapitalismus nicht mit demjenigen des Krieges als einer, wie von der Kriegspartei für gewöhnlich behauptet, im gegebenen Moment einzig möglichen Lösungsmöglichkeit dieses Widerspruchs verwechselt werden. Der ‚Kalte Krieg‘ hat gezeigt, daß solche Konkurrenzsituationen bis zu einem gewissen Grad und zeitweilig von den Beherrschern der (Teil-)Weltmärkte geregelt und entschärft werden können, sobald beide Seiten Problemen gegenüberstehen, die die Existenz der Kapitalistenklasse als solche betreffen. Das ist jeweils eine Definitionsfrage, wie an der EU leicht zu erkennen ist und keineswegs der Beweis für die Rettung der Menschheit durch den Kautskyschen Super-Imperialismus. Wenn Kautsky recht gehabt hätte, wären die Kernwaffen, von denen die Auslöschung der menschlichen Zivilisation einschließlich der Klasse der Bourgeoisie droht, längst vernichtet worden. Der Pazifismus beschränkt sich auf einen Appell an den Bourgeois, die Bedrohungssituation in Hinblick auf seine individuelle physische Existenz und die seiner Familie zu bedenken. Er soll davon ablenken, daß die Bedrohung der gesamten Menschheit von der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten ausgeht und solange bestehen bleiben wird, wie das Kapital selbst.

Der Imperialismus als »sterbender Kapitalismus« ist also nicht gestorben, sondern hat den Sozialismus von 1917 überlebt, während das, was Lenin über den »sterbenden Kapitalismus« gesagt hat, inzwischen auch über den gestorbenen Sozialismus gesagt werden muß. Der Sozialismus war ein sterbender Sozialismus, weil von ihm das Kapital, das wie die Hydra viele Köpfe hat, nicht ins Herz getroffen wurde und ihr statt dessen ein neuer (realsozialistischer) Kopf wachsen konnte. Der von Lenin für die alte Sozialdemokratie entwickelte Begriff des Sozialimperialismus gilt daher immer noch, nun aber auch für jeden Staat gewordenen ‚Sozialismus‘, der die Antwort der neuen Bourgeoisie auf den »sterbenden Kapitalismus« darstellt. Dieser scheinen sich zur Entschärfung ihrer Konkurrenzsituation ‚westliche‘ ‚Entspannungspolitiker‘, an vorderster Front die deutschen, bis zu einem gewissen Grad und nur zu ihrem eigenen Vorteil, anpassen zu wollen. (Die deutsche Außenpolitik als Vermittlerin zwischen China, Rußland, Iran auf der einen und den USA, Israel und Saudi-Arabien auf der anderen Seite in Assads Syrien.)

Der zu Zeiten Lenins in der Sozialdemokratie sich verbreitende Sozialimperialismus sollte die soziale Revolution verhindern. Dieser hat die Extraprofite des Kapitals zur Grundlage, woraus, wie Marx und Engels bereits festgestellt haben, in den Metropolen eine gewisse Arbeiteraristokratie gespeist wird. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Für Lenin war die Arbeiteraristokratie eine Minderheit, die wegen ihres Pakts mit der Bourgeoisie vom revolutionären Weg des Proletariats abwich. Inzwischen stellt diese Minderheit die Mehrheit innerhalb der deutschen Arbeiterklasse dar, die bürgerliche Parteien wählt, während aus der ehemals bürgerlichen Arbeiterpartei eine Intelligenz- und Angestelltenpartei geworden ist, die als Teil des riesigen Wasserkopfes der bürgerlichen Gesellschaft von deren produktiven Teilen – Lohnarbeitern und Kapitalisten – ausgehalten wird. Daher fragt es sich, wenn wir davon ausgehen, daß das Kapital in infinitum akkumulieren muß, ob sich diese Extraprofite nicht mit derselben Zwangsläufigkeit aus der Akkumulation des Kapitals ergeben müssen, wie der Wert aus der Spaltung der Ware in Tauschwert und Gebrauchswert? Wenn dem so wäre, dann erklärte sich daraus auch die Entstehung der Arbeiteraristokratie als einer regulären Entwicklung des Kapitalismus, und nicht nur innerhalb der imperialistischen Metropolen. Die einzige Grenze, von der diese Entwicklung aufgehalten wird, ist dann die ökonomische Krise bzw. (alle 80 Jahre) eine Weltwirtschaftskrise, deren Ursache wiederum in der begrenzten Aufnahmefähigkeit der ‚Märkte‘, also im Widerspruch zwischen der Konsumtion der unmittelbaren Produzenten und dem Zwang des Kapitals zur Akkumulation besteht. (Hier wären dann auch die Ursachen für die Nord-Süd-Konflikt in der EU zu suchen.) Daraus folgt auf theoretischem Gebiet der Scheingegensatz zwischen Luxemburgismus und Keynesianismus auf der einen, Sozialimperialismus und Faschismus auf der anderen Seite, als die ‚friedliche‘ und die militante Form der Lösung der Krisen des Kapitals.

Hier stehen in einer perversen Verkehrung die Leninschen ‚Massen‘ den Klassen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Wenn Ihr schon auf so beckmesserische Weise zeitbedingte Ausdrücke wie ‚parasitär‘ oder ‚Neger‘ bei Lenin aus dem Programm nehmen wollt (was meiner Ansicht nach total überflüssig ist, weil es historisch erklärbar und nur eine überflüssige Konzession an den linken Ethnizismus und die Bakunisten darstellt), müßte diese Sorgfalt gegenüber der political correctness auch und weit eher für Lenins ‚Massen‘-Begriff gelten, in dem die Klassen verschwimmen, nicht nur die Klasse der Lohnarbeiter, sondern vor allem auch die der russischen Bauern (dazu siehe DEBATTE 3 und 4). Nicht zuletzt dadurch ist es den Faschisten leicht gemacht worden, daran mit ihrem ‚Massen‘-Begriff anzuknüpfen.

Ob die Arbeiteraristokratie in der momentanen Krise auf ihre ursprüngliche Existenzweise als Proletariat zurückgeworfen, auch zur Klasse des Proletariats zurückkehren wird, steht in den Sternen. Sie würde dadurch zur modernsten Klasse der bürgerlichen Gesellschaft werden, wovon sie von allen bürgerlichen (Arbeiter-)Parteien, einschließlich denen des imperialistischen Kleinbürgertums mit allen Mitteln abgehalten wird. Wie aber die notwendig radikale Kritik an der Arbeiteraristokratie mit dem Wachrufen des sozialen Verstands bei einzelnen Vertretern dieser Klasse als Bedingung für die ihre künftige Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion im Kommunismus verbunden werden kann, dafür liefert Eure doch reichlich antiquierte Lenin-Rezeption wenig Anhaltspunkte. Hinzu kommt, daß ohne die Einsicht, daß das Proletariat eine von vornherein internationale revolutionäre Klasse ist, wovon sie ohne Lösung der nationalen Fragen ständig abgehalten wird, zu einer solchen niemals werden wird.

Lenin war ein großer Parteigänger der Marxschen Partei und hat für das internationale Proletariat Großes, aber sich selbst auch einige Fehler geleistet, die wir in seiner Situation wahrscheinlich in noch größerem Umfang begangen hätten. Er hatte nicht mehr die Zeit, diese zu analysieren und danach zu korrigieren. Das sollten wir unbedingt nachholen.

Noch eine kurze Anmerkung zu Eurem Gauck-Flugblatt,[5] und zwar zu den Fußnoten 1 und 3: ich kann in den von Gauck getroffenen historischen Urteilen (aus dem Schwarzbuch)[6] nichts mit den historischen Tatsachen nicht Übereinstimmendes entdecken. Der Skandal seiner Ausführungen besteht nicht in diesen historischen Urteilen selbst (mit denen ich grundsätzlich, wenn auch nicht in jeder Formulierung übereinstimme); der Skandal besteht in der Tatsache, daß die revolutionäre Linke nicht in der Lage ist, sich von ihren eigenen sozialimperialistischen Denkgewohnheiten zu trennen, um der bürgerlichen Kritik am ‚Stalinismus‘ eine proletarische entgegenzusetzen.

Mit vielen Grüßen

Ulrich Knaudt.

[1] Siehe die GdS-Broschüre Die mörderische Realität des Imperialismus und die Notwendigkeit des Kommunismus (März 2012), 8 ff.
[2] Exemplarisch dargestellt in J. Stalin: Die ökonomischen Probleme des Sozialismus.
[3] dieterwolf.net
[4] Siehe auch ANHANG 2B.
[5] Gds 3/12 Gauck als Symbol (März 2012).
[6] In: S. Courtois, Nicolas Werth e.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus (885-894): Joachim Gauck: Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, München 1998.


Ulrich Knaudt an H.B. (26.07.2012)
Betreff: Laudatio: In Hitlers Gesellschaft | Kultur | ZEIT ONLINE

http://www.zeit.de/2012/24/Laudatio-Goetz-Aly/komplettansicht?print=true

Lieber H., hab mich gefreut, von da draußen mal wieder eine vertraute Stimme zu hören. Ansonsten herrscht Funkstille. Liegen wohl alle in der Toscana oder auf Sylt oder in Heringsdorf auf der Bleiche. Schön, daß Du an mich gedacht hast. In der Tat ein lesenswerter Text, der mich echt zur Weißglut gebracht hat. Eine intelligente Analyse, die den Aly auf den Punkt bringt, sich aber gleichzeitig mit dessen demagogischen Thesen identifiziert. In meinen Mails vom 10. und 12.07.10 an Dich habe ich bereits das Passende dazu gesagt: foreign policy der working class usw.

Laut Aly und Jessen sollen auch alle wackeren Kämpfer gegen den Faschismus von diesem persönlich profitiert haben, einschließlich der Arbeiterklasse. Wir leben, wie es danach den Anschein hat, nach wie vor in einem, nur diesmal post-, faschistischen Zeitalter, und alle bisherigen Theorien über den NS erweisen sich als billige Ablenkungsmanöver, "die allesamt dazu da waren, die deutschen Verbrechen aus ihrer persönlichen Zurechenbarkeit zu lösen und einem überindividuellen System zuzuschieben, das ganz unabhängig vom individuellen Verhalten Schuld produzierte." Ob Kapitalismus-, Totalitarismus-, Singularitätstheorie oder der Historikerstreit. "Tatenlose Reue ist alles, was bleibt." (7) Wie sähe dann im Gegensatz dazu die tätige Reue aus? Vielleicht der nationale Selbstmord?

Laudator wie Laudatus outen sich jeweils als Vertreter der alten Elite, die es, so muß hinzugefügt werden, wie alle anderen versäumt hat, Hitler nicht zu dem werden zu lassen, was aus ihm und dem NS dann wurde und die sich nun darüber beklagt, daß der Pöbel von den Segnungen des NS profitiert hat. Alle anderen dagegen nicht? Im Namen der alten Elite vertreten sie die Furcht dieser Kaste vor der Ochlokratie, der Herrschaft des Pöbels, wie sie schon bei Platon und Aristoteles heraufbeschworen wird, wobei letzten Endes alles, was nicht ihrer Elite zugehört, den nach Posten und persönlicher Bereicherung gierenden Pöbel ausmacht, genannt Otto Normalverbraucher oder der "deutsche Michel"oder der sog. "kleine Mann"…

Unter dem Strich also eine weitere der üblichen Kollektivschuld-Thesen, nachdem wir uns bereits diejenigen der AntiFas und AntiDeutschen haben anhören müssen, und somit ebenso unwissenschaftlich wie diese.

Was darin systematisch ausgeklammert wird, ist neben der foreign policy der working class der Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution, d.h. zwischen präventiver und institutioneller Konterrevolution, zwischen NS und Stalinscher KP. Statt dessen bleibt nur dumpfes moralisches Gesäusel übrig: "Tatsächlich war die Furcht der Nachkriegspolitiker vor dem kleinen Mann, der unter Hitler seinen satanischen Appetit gezeigt hatte, so groß, daß sie ihn augenblicks weiter fütterten und alles unterließen, was ihn irgendwie, und sei es moralisch, reizen und belasten könnte." (5) Das wird sich nach dem Wahlsieg einer Rosa-Rot-Grünen Regierung nachholen lassen…

Es gibt in Wirklichkeit nur eine Kontinuität, die sich von 1933 bis 2012 durch die deutsche Geschichte durchzieht, deren Wurzeln in den Jahren 1848 und 1871 liegen: der bleibende Versuch der herrschenden Eliten (= herrschenden Klasse), die Arbeiterklasse mit Hilfe aller möglicher Formen der Klassenzusammenarbeit, der ‚Solidarität‘ von oben usw. zu ködern und dabei von der schlichten Wahrheit abzulenken, die darin besteht, daß, wie der Berliner sagt, der A… immer hinten ist. Aber nicht darüber zerbrechen sich die Herren Jessen und Aly den Kopf (was ein ernstzunehmender Beitrag zum Thema: Kapital-Sozialismus wäre), sondern darüber, daß, wie jeder weiß, nicht wenige der kleinen Männer genauso korrupt sind wie die großen. Natürlich sind sie das! Aber wieso dann, wie Aly seit Jahr und Tag predigt, ausschließlich Otto Normalverbraucher? Ändert das irgendwas an dem System, aus dem heraus diese Korruption täglich, stündlich entsteht und bewußt erzeugt wird? Dies geschieht doch wohl kaum durch den angeblich immensen Einfluß von Otto Normalverbraucher auf die Wirtschaft und das politische Geschäft der herrschenden Klasse, sondern gesteuert von der einen oder anderen gerade herrschenden Elite! Allerbilligste Bourgeois-Geschichtsschreibung ist das, die dort von einer der Eliten der herrschenden Klasse ausgepreist wird!

Im Anhang findest du zwei Buchbesprechungen, die darauf hinweisen, daß es auch noch wissenschaftliche Bourgeois-Geschichtsschreibung gibt.[1]

Herzliche Grüße

U.

P.S. Vgl. die sich mit dem gleichen Thema befassenden Passagen in BLogbuch 3 2010. Eine Materialistische Geschichte des deutschen NS ist noch nicht geschrieben. Materialistisch im Gegensatz zu: moralisch! Moralische Geschichtsschreibung ist Ideologie!

Das nächste Mal mehr zu Harbach und zum letzten BLogbuch und wie beides miteinander und dem Krim-Krieg zusammenhängt.

[1] FAZ 23.07.2012 Räuber Robert und seine blutigen Laien. Die krakenartige Ausdehnung der Deutschen Arbeitsfront im Zweiten Weltkrieg. Rezension: Rüdiger Hachtmann: Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933-1945, Göttingen 2012. FAZ 23.07.2012 Mobilisierte Kameradinnen. Millionen Frauen waren in das Dritte Reich verstrickt, was nach 1945 wenig Beachtung fand. Rezension: Nicole Kramer: Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011.


H.B. an Ulrich Knaudt (04.08.2012)

Lieber Ulrich,

wollte […] mich u.a. für Deine Antwort auf Götz Aly zu bedanken […]

Bis dann, alles Gute

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (08.08.2012)

[…] Was sagst Du eigentlich zu den ‚Korrekturen‘ von D.[ieter] W.[olf] an K[arl]M.[arx]?[1] Wenn ich das nicht bereits vor mehr als einem Jahr anläßlich seines Berliner Vortrags hätte feststellen müssen, hätte mich das heute vielleicht noch gewundert.[2] So aber nicht. […]

Viele Grüße U.

[1] Dieter Wolf: Fehlinterpretationen Vorschub leistende Mängel in Marx‘ Darstellung des „Kapitals“ und wie Marx sie hätte vermeiden können. www.dieterwolf.net
[2] Siehe ANHANG 2B (25.07.2010; 28.07.2010).


Ulrich Knaudt an H.B. (31.08.2012)
Betreff: BAKUNISMUS

Lieber H., das Zauberwort heißt "Gallerten".[1]

(59) "Wie die Gebrauchswerte Rock und Leinwand Verbindungen zweckbestimmter, produktiver Tätigkeiten mit Tuch und Garn sind, die Werte Rock und Leinwand dagegen bloße gleichartige Arbeitsgallerten, so gelten auch die in den Werten enthaltenen Arbeiten nicht durch ihr produktives Verhalten zu Tuch und Garn, sondern nur als Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft."

(65) "Sagen wir: als Werte sind die Waren bloße Gallerten menschlicher Arbeit, so reduziert (sic!) unsre Analyse dieselben auf Wertabstraktion, gibt ihnen keine von ihrer Naturalform verschiedne Wertform. Anders im Wertverhältnis einer Ware zur andern. Ihr Wertcharakter tritt hier hervor durch ihre eigne Beziehung zu der andern Ware…

(65) Um den Leinwandwert als Gallerte menschlicher Arbeit auszudrücken, muß er als eine ‚Gegenständlichkeit‘ ausgedrückt werden, welche von der Leinwand selbst dinglich verschieden und ihr zugleich mit andrer Ware gemeinsam ist."

Ausgehend vom Gegensatz G[ebrauchs]wert – Wert gelten die Werte als gleichartige Arbeitsgallerten. Aber erst in der Wertgleichung drücken sich die Arbeitsgallerten als Wertgegenständlichkeit aus. Dieser Unterschied war mir auch nicht unbedingt klar.

Nun zu Bakunin: Die Beschreibung der Schwierigkeiten Bakunins mit der Arbeitsgallerte entnehme ich dem Anhang von Fritz Brupbacher: Marx und Bakunin, München 1913, einem Zeitzeugen der Spaltung der Internationale durch die Bakunisten und selbst ein (liberaler) Bakunist. Er zitiert auf S. 194 im Anhang aus einem Brief Ljubavins an Marx, der beim Ausschluß Bakunins aus der Internationale eine wichtige Rolle spielte, weil selbiger Brief zwischen dem Übersetzer des KAP, Bakunin, und dem Vermittler Ljubavin und dem Verleger, der Bakunin 300 Rubel vorgeschossen hatte, Bakunins betrügerische Absichten hatte beweisen sollen. In seinem Bericht an Marx heißt es zu Ljubavins Vorhaltungen Bakunin gegenüber, wo die Übersetzung bleibe, seitens Bakunins wörtlich: "’Wie können Sie sich nur einbilden, daß ich nach Übernahme der Übersetzung und Entgegennahme der Abschlagszahlung von 300 Rubel nun auf einmal von der Arbeit zurücktreten werde‘." (Nicht in seiner Macht liegende Verhältnisse hätten ihn lediglich davon abgehalten.) "Er fügt auch bei, die übernommene Arbeit erweise sich viel schwieriger, als er sich vorstellt. Er spricht dann von den verschiedenen Schwierigkeiten bei der Übersetzung. Ich führe nur eine an, denn ich glaube, Bakunin hat einfach gelogen. Er zitiert folgenden Satz Ihres Buches: ‚Der Wert ist die Arbeitsgallerte‘, und sagt: ‚Hier hat Marx einfach einen Scherz gemacht; er hat mir das selbst eingestanden‘. Er spricht dann die Hoffnung aus, gegen Ende April 1870 würde die Übersetzung fertig sein…"

Wenn ich auch Bakunins Verhalten in der Internationale nur als üble Intrige bezeichnen kann, so hat er hier mein vollstes Verständnis, wenn er offenbar an der ‚Arbeitsgallerte‘ gescheitert ist. Wie wir beide wissen, handelt es sich keineswegs um einen Scherz, sondern um die Behandlung eines der schwierigsten Probleme der Werttheorie, an der ’selbst‘ ein Dieter Wolf immer wieder scheitern wird…

Ich muß an meinen Schreibtisch zurück und grüße Dich herzlich

U.

[1] Die Seitenzahlen am Zeilenanfang in runden Klammern beziehen sich auf Karl Marx: Das Kapital I MEW 23.


H.B an Ulrich Knaudt (08.09.2012)
Betreff: BAKUNISMUS

Ich bin mit Dir,

lieber Ulrich,

am Nachdenken über den von Dir aufgezeigten "Unterschied"

von dem Du sagst, dass er Dir "auch nicht unbedingt klar war" (s.u.).

"Arbeitsgallerte" ? / "Abstrakte Arbeit" –

deren "Behandlung eines der schwierigsten Probleme der Werttheorie …

immer wieder scheitern .." ! Wer nicht ?

Wir müssen dran bleiben.

Deshalb frage ich Dich

1. kannst Du den "Unterschied" noch etwas genauer bestimmen, Dich

zu ihm noch etwas genauer positionieren ?

2. was möchtest Du mit ihm ausdrücken ?

3. welch eine Bedeutung in Bezug auf

a) theoretische (Dieter W.[olf], Helmut R.[eichelt]/Backhaus, Nadja R.[akowitz] u.a.)

b) politische

c) praktische Konsequenz

misst Du diesem bei?

Vielleicht sind diese Fragen nicht einfach zu beantworten,

aber wenn wir uns dadurch den richtigen Fragestellungen nähern,

hätten wir uns schon zumindest halbwegs den richtigen Antworten

genähert – oderrrr ?

Bis bald wieder.

Herzlichen Gruß


Ulrich Knaudt an (09.09.2012)
Betreff: BAKUNISMUS

Lieber H:, ich hätte zwar Lust, um Deine Fragen jetzt und sofort zu beantworten, diesem Unterschied weiter nachzuspüren. Da er sich aber als momentanes Nebenprodukt meiner Untersuchungen zu Tschernyschevski, Marx und Bakunin ergeben hat, muß ich ihre Beantwortung verschieben. Aber sie bleiben im Raum.

Nach wie vor bin ich damit beschäftigt, den politischen mit dem wissenschaftlichen Marx in Übereinstimmung zu bringen oder besser: den Zusammenhang zwischen beiden wiederherzustellen. Daher bleiben Deine Fragen akut, aber ohne Rekonstruktion des politischen Marx nicht lösbar (ein grundlegender Fehler der revolutionären Linken nach 1967, ausgehend allein vom wissenschaftlichen Marx die deutschen Verhältnisse analysieren zu wollen! )

Bei meinen Untersuchungen bin ich auf die nationale Frage in ihrer ursprünglichen, vor-leninschen Fassung gestoßen und würde, was ich bisher zu letzterer in ihrer Leninschen Version geschrieben habe, so nicht mehr aufrechterhalten wollen. Einfach deshalb nicht, weil Lenin dabei keinen Unterschied zwischen dem demokratischen und dem proletarischen Internationalismus gemacht hat. Dieser Unterschied ist in der Auseinandersetzung von Marx und Engels mit dem Bakunismus aber von entscheidender Bedeutung. Und daher muß die Debatte über die NF dort ihren Ausgang nehmen. Daß sie auch heute noch akut ist, ergibt sich täglich bei der Zeitungslektüre über Euro, EZB, BVerfG usw. […]

Viele Grüße

U.


Ulrich Knaudt an H.B. (06.10.2012)

Lieber H.,

[…] Für das Frühjahr habe ich mir vorgenommen, was zu H.H.[arbach] + D.W.[]olf zu machen. Gleichzeitig arbeite ich zu Bakunin und Nationale Frage für pM, eine Endabrechnung mit dem heutigen Bakunismus, wie er im Zusammenhang mit Griechenland und Syrien zum Ausdruck kommt, mit ‚Herr Vogt‘ als Blaupause. Unruhige Zeiten auf der einen, aber wenig Ermunterndes auf der anderen Seite. Die Minenarbeiter in Südafrika das kommende Proletariat? Oder nur eine Intrige von Bergwerkskapitalisten, der Börse und rechten und ‚linken‘ Gewerkschaften? Der subjektive Faktor, der das auf den Punkt brächte = 0. Linkes Geschwätz. Kein Kommunismus weit und breit.

Soviel erst mal. Meld‘ Dich!

Herzliche Grüße

U.


Ulrich Knaudt an H.B. (20.10.2012)

Lieber H.,

[…] Ich habe für mich immer daran herumgerätselt, was Du mit Deiner Kritik an D.[ieter]W.[olf]s ‚abstrakter Arbeit‘ eigentlich gemeint hast. Und wir hatten ja schon telefonisch geklärt, daß damit nicht die Stelle in den GR[rundrissen] [1] gemeint sein kann, wo von der ‚Arbeit sans phrase‘ die Rede ist.[2] Also geht es letztlich um die Wert-Substanz. Auch hier waren wir so weit, daß dieser Substanz-Begriff nicht mit dem in der abendländischen Metaphysik verwendeten Substanz 1:1 übereinstimmt, sondern daß es sich allerhöchstens um ein Zitat, oder wie ich meine, um eine Karikatur, Umstülpung ins Lächerliche und was sich sonst noch so anbieten würde, handelt. Eine solche Überlegung widerspricht natürlich dem ganzen Wolfschen Duktus, der eine schlechte (weil ungewollte) Karikatur Hegelscher Denkfiguren ist. Wenn seiner Ansicht nach alle Arbeit seit Adams und Evas Parad[ies]exit immer schon abstrakt war, weil man sie, ohne eine Abstraktion vorzunehmen, nicht denken kann (und folglich, ohne die Arbeit als Abstraktum gedacht zu haben, sie gar nicht existierte – es sei denn, sie wird von Marx im Ersten Kapitel erdacht!!!), wird im übrigen der Unterschied zwischen der konkret nützlichen und der abstrakt menschlichen Arbeit eingeebnet, also auch der Unterschied zwischen der Arbeit in vor-kapitalistischen Gesellschaften (siehe GR: ‚Vorkapitalistisches‘)[3] und der Waren produzierenden Arbeit. Voilà Stalins These: daß es nicht nur kapitalistische Waren im Kapitalismus, sondern auch ’nicht-kapitalistische Waren‘ (im Stalinschen Sozialismus) geben kann. […] Eben das vertreten im Kern Wolf und Harbach. Und deshalb ist das, was sie vertreten, politisch höchst brisant.

Wenn Du also D.W.s ‚abstrakte Arbeit‘ kritisieren willst, reicht eine solche Herleitung der Genealogie der Ware, um den Wolfschen Revisionismus zu demaskieren (oder, wie er es nennt: um K.M. ‚besser verständlich machen‘), nicht aus.[4] – […] Dazu muß vor allem seine Hauptthese vom Aufstieg vom ‚Abstrakten zum Konkreten‘ zerschlagen werden (klingt sektiererisch – macht nichts: wer Marx offen angreift und behauptet, ihn angeblich zu schützen, findet bei der parteiMarx kein Pardon!) Wie wir doch aus der Wagner-Kritik [5] wissen und des Langen und Breiten diskutiert und uns geeinigt haben, geht K.[arl]M.[arx] in der W[ert]F[orm]A[nalyse], wie er selbst sagt, genau umgekehrt vor: ausgehend vom „Konkretum der Ware“ gelangt er zur Wertform, d.h. zu einem vollkommenen Abstraktum und zwar u.a. durch Reduktion der konkret nützlichen auf abstrakt menschliche Arbeit. AmA ist aber ein Paradox, weil menschliche Arbeit eigentlich immer konkret ist, aber als amA zugleich der Kern der Wertsubstanz. Ohne diesen Abstieg vom Konkretum der Ware zum Wert als Abstraktum (all die Zwischenschritte und Varianten, die Marx im Ersten Kapitel bei der Analyse der Wertform entwickelt, beiseite gelassen), wirst Du dem Wolfschen Revisionismus nicht Paroli bieten können und schon gar nicht den Weiterungen gegenüber, die Harbach zwecks Rehabilitation des Realen Sozialismus daraus ableitet…

Hier also wartet auf uns noch ne Menge Arbeit und wie ich mir wünsche und hoffe, Zusammenarbeit.

[…]

U.

P.S. Im Anhang schicke ich Dir den lustigen FAZ-Artikel über das Geld.[6] Man macht sich ernsthaft Gedanken, ob man es überhaupt noch braucht. Vielleicht landen sie noch alle bei Silvio Gesell, als monetärer Ausdruck des herrschenden Ökofaschismus.

[1] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Moskau 1939 [=GR]; MEW 42, Berlin 1983.
[2] GR, 25; MEW 42, 39.
[3] GR, 375-415; MEW 42, 383-421: Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen.
[4] Siehe U.K. an H.B. (08.08.2012) [1].
[5] Siehe H.B. an U.K. (10.05.2012) [1]
[6] FAZ 11.10.2012: Barzahlung. Was kostet das Geld?


Ulrich Knaudt an GdS (14.11.2012)

Hallo Buchladenkollektiv,

leider komme ich erst jetzt dazu, auf die Zusendung der Mai- und Juli/August-Ausgaben von GdS zu reagieren. Die in letzterer angekündigte Broschüre Religion, Opium des Volkes würde ich Euch bitten mir zu schicken, weil mir bei der Lektüre der Juli/August-Nummer erneut die Art und Weise negativ aufgestoßen ist, in der darin das Verhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsbevölkerung und den hier lebenden Minderheiten behandelt wird (vgl. mein Brief vom 28.10.11.). Da ich annehme, daß in der Broschüre darauf systematischer als in dem GdS-Artikel aus Juli/August eingegangen wird, werde ich meine Kritik vorläufig zurückstellen.

Grundsätzliche Einwände treffen aber auch GdS 6/12.[1] Obwohl ich den darin angestellten Versuch einer Kritik am linken Reformismus von attac teile, habe ich den Eindruck, daß der Sack geschlagen wird, aber der Esel gemeint ist. Das beginnt mit dem Begriff der »antikapitalistischen Perspektive«, die dem attac-Reformismus als Gegenposition gegenüberstellt wird, der aber in Wirklichkeit aus derselben fragwürdigen Begriffswelt stammt, die damit kritisiert werden soll. Neben linken gibt es bekanntlich auch reaktionäre „Antikapitalisten“, zu denen u.a. die Nazis zu rechnen wären, deren „Antikapitalismus“ sich lediglich völkisch verengt auf das „jüdische“ Kapital beschränkt.

Über das dem attac-Reformismus von GdS entgegengehaltene »Gegenteil von einer antikapapitalistischen Perspektive« ließe sich daher bestenfalls sagen, daß diese »Perspektive« eine schlichte Leerformel darstellt, worin neben attac, die Partei Die Linke, aber auch Islamisten und Nationalsozialisten bequem nebeneinander Platz fänden. Entsprechend erscheinen in diesem Artikel die von Lenin, Stalin und Rosa Luxemburg u.a. entlehnten theoretischen Versatzstücke, die um die »Zerschlagung des bürgerlichen Staats« kreisen, nicht weniger leerformelhaft, da sich das Verhältnis des bürgerlichen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft zu den ausgebeuteten und unterdrückten Klassen nach meinem Dafürhalten um einiges komplizierter darstellt als in dieser Formel zum Ausdruck kommt. Der geringe Grad an Reflexion in der Einschätzung dieses Verhältnisses hat viele ‚Marxisten‘ vor die Frage gestellt, ob überhaupt noch von einer Klassengesellschaft gesprochen werden kann oder ob dieses Verhältnis nicht besser durch den Unterschied zwischen Arm und Reich, (der durch den fürsorglichen Sozialstaat ausgeglichen werden soll) zu ersetzen wäre. Das ist natürlich Unsinn. Diesem weit verbreiteten (klein)bürgerlichen Klassen-Skeptizismus wird in dem Artikel einfach unvermittelt und völlig abstrakt die Losung von der »Zerschlagung des bürgerlichen Staates« entgegengehalten, eine Formel, die Lenin mit einer gewissen Berechtigung gegenüber dem Reformismus seiner Zeit verwendet hat.

Um diese Formel mit Inhalt zu füllen in einer Zeit, da die Marxsche Kritik an der bürgerlichen politischen Ökonomie von der heutigen Weltwirtschaftskrise konkreter denn je und in allen Einzelheiten bestätigt wird, müßte zumindest auf die Differenz zwischen der Marxschen und der Leninschen Verarbeitung der Erfahrung der Pariser Kommune eingegangen werden, bei der uns Rosa Luxemburgs Lenin-Kritik und ihre Fehleinschätzung des von Lenin für erforderlich gehaltenen revolutionären Terrorismus nicht wirklich weiterhilft. Es ist schon bemerkenswert, welch großer Wert von GdS in diesem Zusammenhang auf die zur Säulenheiligen der Partei Die Linke erhobene deutsche Revolutionärin gelegt wird, deren Einschätzungen der Bauernfrage oder der sog. nationalen Frage in Rußland kein günstiger Ausgangspunkt wäre, um über die Differenzen zwischen Lenin und Marx in der theoretischen Verarbeitung der Pariser Kommune zu diskutieren.

Dieses ungeklärte Verhältnis hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Art und Weise, wie in GdS über den Minenstreik in Südafrika berichtet wird. Erst in den letzten Zeilen kommt der Artikel auf die politischen Verhältnisse in Südafrika zu sprechen, allerdings in der klassischen Manier der deutschen Linken, die sich in ihrer Kritik an den bürgerlichen Gewerkschaften und linken Parteien einfach auf die Feststellung beschränkt, diese würden die Interessen der Arbeiterklasse nicht ‚radikal genug‘ vertreten. Als ob die Bourgeoisie nicht dazugelernt hätte und es versteht, nicht nur auf seiten des Reformismus, sondern auch des ‚linken‘ Radikalismus mitzumischen und dabei ihre Interessen durchzusetzen. Die mangelnde Einsicht von GdS in diese Seite der ökonomischen Kämpfe in S-Afrika würde ich als ‚linken‘ Ökonomismus bezeichnen, weil darin das üble Spiel des linken Flügels des ANC und der COSATU unterbelichtet bleibt und vermieden wird, diesen als Politik der Neuen Bourgeoisie der sog. ‚Dritten Welt‘ (heute: ‚Schwellenländer‘) zu entlarven, die sich bei genauerer Betrachtung als weitaus gefährlicher und reaktionärer herausstellen könnte als diejenige der ‚alten‘ Bourgeoise (die gelernt hat, vierhändig Klavier zu spielen). Dieser ‚linke‘ Ökonomismus, der davon absieht politisch beim Namen zu nennen, daß Demagogen vom Typ Mugabe für den Klassenkampf weitaus schädlicher und gefährlicher sind als alle rechten Beschwichtigungspolitiker zusammen, wird nicht nur der politischen Situation in S-Afrika nicht gerecht; er ist auch äußerst kontraproduktiv, um jene Demagogen aufs Korn zu nehmen, die die Arbeiter durch radikal klingende Parolen aufputschen, und sich hinter ihrem Rücken nicht nur von den Gewerkschaftsgroschen, sondern den Tantiemen der Bergbaumultis die Taschen füllen. Das wird einem deutschen Linken aber wohl niemals einleuchten.

Über diesen Schatten scheint auch GdS nicht springen zu können (oder zu wollen) trotz vereinzelt auftretenden vernünftigen politischen Einsichten, worin sie sich vom linken Mainstream unterscheidet (siehe z.B. Seite 2: »Das hat die Geschichte des Niedergangs der ehemals sozialistischen Staaten gezeigt« oder ihre berechtige Kritik an den 99% und an der ‚Arbeiteraristokratie‘). Solche ‚Schwalben, die noch keinen Sommer machen‘, ändern aber leider nichts an der gesamten politischen Ausrichtung, die einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen wäre. Allerdings habe ich große Zweifel, ob mir dabei überhaupt jemand zuhören würde. Dies beträfe vor allem die strategische Unterscheidung zwischen dem rechten und dem linken Faschismus, und der taktischen Bestimmung des einen und/oder des anderen als ‚Hauptfeind‘ des Proletariats. Die Bekämpfung des ‚linken‘ Faschismus vom Boden des rechten (Pro NRW usw.) ist nicht weniger reaktionär als die Bekämpfung des rechten Faschismus vom Boden des ‚linken‘ (wohin GdS mit ihrem toleranten Verhältnis zum Islamismus s.o. tendiert).

Durch die Weltwirtschaftskrise wird eine Klärung dieses Verhältnisses erzwungen. Dann wird GdS sich entscheiden müssen, ob sie Teil der Lösung oder des Problems sein wird. Austragungsort für diese Entscheidung ist heute der Nahe Osten und dort gegenwärtig Syrien, wo China, Rußland, Iran und das Assad-Regime mit dem Westen und Saudi-Arabien um die Oberherrschaft ringen. (vgl. BLogbuch 1 2012) Die Lösung der Weltwirtschaftskrise zugunsten der einen oder anderen Bourgeoisie, wird entweder auf dem Wege Roosevelts und Churchills oder Hitlers und Stalins erfolgen. Die Rooseveltsche Lösung bedeutet, wie an der Euro-Krise sichtbar wird, die Verstaatlichung der Linken durch die Aufnahme von linker Programmatik in die Politik des Kapitals. Nach ihrer Verstaatlichung wird sich die Linke noch weniger in der Lage erweisen, die elementaren Gemeinsamkeiten in der ‚Hitlerschen und Stalinschen‘ Lösung richtig einzuschätzen, um ausgehend davon ihre Taktik im Kampf gegen die vierhändig spielende Bourgeoise konkret zu bestimmen und beide Varianten mit der jeweils geeigneten Taktik zu bekämpfen. (vgl. in der FAZ vom 13.11.: Ein Syriza-Abgeordneter drohte den Befürwortern der Regierungspolitik das gleiche Schicksal wie dem amerikanischen Botschafter in Libyen an, während die ‚Goldene Morgenröte‘ nach ihrer Machtergreifung die verräterischen Abgeordneten vor ein Tribunal stellen will.[2])

Dazu gehört auch die von der alten und Neuen Bourgeoisie momentan durchgeführte Kampagne gegen den ‚Rechtsextremismus‘, worin Die Linke mit allen Mitteln versucht, die Gemeinsamkeiten zwischen dem Stasi-Staat und dem NS-Staat zu verwischen, um sich selbst dabei als die vernünftigere Stasi-Partei zu profilieren. Um die Demagogie und Gefährlichkeit dieses Spiels beider Seiten zu durchschauen, davon ist der ‚linke‘ Ökonomismus von GdS, einschließlich ihrer ‚linken‘ Kritik an attac meilenwert entfernt. Ob die GdS-Autoren bereit sind, diese Diskussion fortzusetzen, werde ich daran erkennen, ob mir weiterhin Ausgaben von GdS zugeschickt werden oder nicht. Letzteres wäre, zumindest von meiner Seite aus betrachtet, höchst bedauerlich, aber gegebenenfalls zu verschmerzen.

Mit solidarischen Grüßen

Ulrich Knaudt

[1] Gegen die Strömung: Revolutionäre Positionen contra staatstragenden Attac-Reformismus (Mai 2012).
[2] FAZ 13.11.2011 Auszahlung weiterer Milliarden an Griechenland rückt näher. »Ein Syriza-Abgeordneter stellte den Unterstützern der Reformpolitik die Anklage vor einem „Sondertribunal“ in Aussicht und deutete an, ihnen drohe das Schicksal des (von einem islamistischen Mob ermordeten) ehemaligen amerikanischen Botschafters in Libyen. Ähnlich hatte vor kurzem schon die rechtsextreme „Goldene Morgenröte“ gedroht, im Falle einer Machtergreifung werde man ein Tribunal zur Anklage „verräterischer“ einheimischer Politiker einrichten. Syriza ist in Umfragen seit Wochen stärkste, die „Morgenröte“ drittstärkste politische Kraft des Landes.«


Ulrich Knaudt an P.T. (17.11.2012)
Betreff: SYRIEN-VERANSTALTUNG[1]

Der Vortrag war gemessen daran, was auf diesem Gebiet sonst so geboten wird, sehr gut. Dem Flyer entnehme ich, daß Erik Mohns am Zentrum für Nahoststudien in Dänemark tätig ist. Das Wichtigste in seinem Lebenslauf, daß er zwei Jahre lang Dozent an der Uni von Damaskus war. Realistische Einschätzung der Lage in Syrien ohne vordergründige Ideologie. Ich vermute mal, sein eigentliches Thema ist Aufstandsbekämpfung, und die studiert er anhand dieser Auseinandersetzung, eine Art Studium einer Operation am offenen Herzen. Positiv fiel mir auf: er hält nichts von Todenhöfer und auch nichts davon, einen Zusammenhang zwischen der syrischen Revolution und der Occupy-Bewegung herzustellen. Da hält er sich raus. Auch den vom asta verwendete Begriff ‚Arabischer Winter‘ hält er für nicht zutreffend. Nach jedem Frühling komme nun mal der Winter. Das sei normal.

Referat:

1. Ablauf der arabischen Revolution

2. Strukturelle (ich würde sagen gesellschaftliche) Ursachen des syrischen Aufstands

3. Konfliktpunkte zwischen den verschiedenen Fraktionen

4. Entwicklungsszenarien

5. Warum wurde das Regime noch nicht gestürzt?

zu 1. An der arabischen Revolution in Nordafrika haben alle Schichten der Bevölkerung teilgenommen. Facebook-Revolution ist oberflächlich. Was alle verbindet: Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Respekt. Gemeinsam wird eine Reform des Staatswesens gefordert und die Erringung eines zivilen status für jeden einzelnen (Staatsbürgerschaft). Die typischen Zuschreibungen von seiten der Konterrevolution: Agenten des Westens, Djihadisten. Aber die Djihadisten seien pleite (na ja…).

zu 2. Hauptursache für die Revolution in Syrien: gescheiterte Transformation, ökonomischer Niedergang seit Jahren. Subventions- und Ausgabenkürzungen, Landflucht, Konflikt Stadt-Land, wo korrupte Gouverneure herrschen. Hauptleidtragende: ländliche Bevölkerung, Mittelschichten. Daher Zentren des Aufstands in mittleren Städten und den Vororten von Damaskus etc. Wichtig: Versuche, wie in Kairo den zentralen Platz der großen Städte zu besetzen, werden unter Maschinengewehrfeuer auseinandergejagt. Daher bleiben die Demonstrationen regional begrenzt, dort werden sie von Scharfschützen zusammengeschossen, dagegen formiert sich der bewaffnete Widerstand. Ziel ist der Sturz des Regimes. Die Militarisierung der Bewegung wird durch Deserteure vorangetrieben. Der Referent sieht folgende Eskalationsstufen:

– Bis August 2011: Eine Kombination von Konzessionen (Wahlen, Verfassung usw.) und Repression (Scharfschützen).

– Bis Januar 2012: Dominanz der Sicherheitsapparate und Schlägertrupps.

– Bis November 2012: Rein militärische Lösung.

Die militärische Lösung zeichnet sich aus durch

a. Politik der verbrannten Erde und Propaganda gegen ‚Ausländer‘, ‚Terroristen‘, ‚Djihadisten‘.

b. Der Einsatz der Armee erzeugt: Tote, Verletzte, Vertriebene. Die Armee ist eher ein Netzwerk von bewaffneten Milizen, mit dem Präsidenten als Bandenchef.

c. Politik der verbrannten Erde durch Angriffe vornehmlich auf Kleinstädte, die s.o. vom Widerstand erobert wurden. Das Militär verhält sich wie eine Besatzungsarmee. Hauptziel ist die Entvölkerung ganzer Gebiete.

Die Todesrate sei inzwischen höher als im Irak-Krieg.

zu 3. Die Kräfte gegen das Regime setzen sich zusammen aus

– der ‚zivilgesellschaftlichen‘ Bewegung: der Straße, die sich in Netzwerken organisiert.

– der politischen Opposition, die aus unbewaffneten politischen Dissidenten besteht (siehe BL[ogbuch] 1-2012: das, was das N[eue]D[eutschland] unter syrischer Opposition versteht), spielt keine besondere Rolle.

– dem bewaffneten Widerstand

Zwischen diesen Kräften nennt der Referent folgende Konfliktpunkte:

– Verhandlungsbereitschaft mit dem Regime ja oder nein?

– Militarisierung des Aufstands ja oder nein?

– Befürwortung der Sanktionen?

– Ausländische Intervention?

Der bewaffnete Widerstand besteht aus:

– Der freien Syrischen Armee = Dachverband der lokalen bewaffneten Gruppen an der Peripherie; sie ist der professionellen Armee zahlenmäßig unterlegen, erhält keine systematische Bewaffnung, sondern die Gruppen versorgen sich individuell aus verschiedenen Quellen. Der Westen, speziell die USA, halten sich noch zurück, weil sie verhindern wollen (siehe Afghanistan), daß die Stinger-Raketen den Islamisten in die Hände fallen.

– einer Guerillabewegung auf dem flachen Land

– einer Untergrundarmee, die ganze Stadtteile besetzt hat und dort das Überleben der Zivilbevölkerung organisiert.

Was den Islamismus angeht, ist der Referent skeptisch. Es fände zwar eine gezielte Rekrutierung von Sunniten statt, es handle sich in Syrien aber um keine sunnitisierte Revolte.

Zu 4. Der Referent unterscheidet zwischen verschiedenen Szenarien der Weiterentwicklung der Auseinandersetzung:

– Die Gewinnung von alawitischen Führungskräften für einen Putsch (decaptivation)

– Die somalische Lösung (das Auseinanderbrechen des syrischen Staates)

– Die jemenitische Lösung (scheinbare Machtteilung, die in Wirklichkeit alles beim Alten läßt)

– Regionale Vorherrschaft durch das Regime (kurdische Gebiete haben sich bereits separiert)

zu 5. Insgesamt bescheinigt er diesem Regime eine hohe Lernfähigkeit, die es bisher bewiesen habe, was z.B. an der Verhinderung der Besetzung von symbolisch wichtigen Räumen sichtbar wurde. Es weiß, daß es nicht so einfach gestürzt werden kann. Eine ausländische Intervention ist äußerst kostspielig; wenn, dann müßten dabei vor allem die 10 bis 15 Flughäfen ausgeschaltet werden. Das Hauptproblem mit den Djihadisten bestehe darin, daß Selbstmordanschläge hoch effektiv im Vergleich zu konventionellen Angriffen sind und daß diese daraus ihre Prestige ableiten und auf Dauer an Einfluß gewinnen könnten.

Soweit der Vortrag.

Er enthält eine realistische Einschätzung, was ihm mangelt, ist die Weltpolitik, die man sich dazu denken muß.

Die auswärtigen Mächte, die Einfluß nehmen, bleiben außen vor. Das wäre vielleicht auch ein anderes Thema, das in diesen akademischen Kreisen deplaziert wäre. Ich denke natürlich als erstes an die Rolle Chinas in der ganzen Angelegenheit, von Rußland, Iran, Israel einmal abgesehen. Preisfrage: Will (und soll) Hamas durch Raketen in Gaza, Assad in Syrien aus der Patsche helfen? usw. usf.

Soweit erst mal dieser Vortrag. Ein winziger Lichtblick in dem üblichen Grau in Grau.

[…]

U.

[1] AstA derRuhr-Uni Bochum: Arabischer Winter (15.11.2012).


H.B. an Ulrich Knaudt (22.11.2012)

Danke,

lieber Ulrich, für Deine Zeilen […]

Wir hatten ja auch schon mal einen gewissen Bruch zwischen uns – von Deiner, nicht von meiner Seite aus, da ich Deine Arbeit, wie Du wissen müsstest, Dich, außerordentlich schätze, für wichtig halte. In gewisser Hinsicht geht es mir mit D.[ieter] W.[olf]’s Arbeiten ebenso, angefangen schon, insbesondere mit seiner Arbeit zu "Hegel und Marx, Zur Bewegungsstruktur des abs. Geistes und des Kapitals" v. 1979 …

"Das Konkurrenzverhalten … des Kleinbürgers" sitzt tiefer als wirdenken – wer frei davon sich wähnt, ‚der werfe den ersten Stein!‘ – ist also eigentlich gar nichts Kapitalismustypisches und ich denke weit zurückreichender als die sog. Wert-/Waren-Logik selber, insofern Existenzbehauptung bzw. Anerkennung auf Kosten anderer nicht nur erst seit Menschengedenken, sondern schon im Tierreich (vielleicht auch schon im Pflanzennebeneinander oder womöglich der Entwicklung zellularen Lebens überhaupt eigen?) Gang und Gäbe ist. Im Kapitalismus, angesichts dessen allseitiger Produktivkräfteentwicklung, erreicht Konkurrenz wohl ihren"Kulminationspunkt" (ein Marx-Gedanke).

Wir erleben uns im/als Mittelpunkt der Welt. Wie für das Tier die Welt schlicht "Umwelt", so ebenso noch immer für das Tier Mensch. Insofern, fällt mir gerade auch auf, sind die Marxschen Ph[ilosophisch-]Ök[konomischen]M[anuskripte] wissenschaftlicher und zugleich m e n s c h l i c h e r Durchbruch (Abgrenzung von Tier, Kritik der Entfremdungsbedingungen vom Boden der m e n s c h l i c h e n (Gattungs-) Potentialität aus).

[…]

Ungeachtet dessen gehen mir unsere Besprechungspunkte weiter durch den Kopf, ohnehin wohl täglich die, die mit den "zwei Arten von Widersprüchen" zu tun haben. Einige Zitate muss ich Dir noch nachreichen (stehen in Zusammenhang mit Dieter [Wolf] und Heiner [Harbach], über die ich demnächst wieder sitzen werde).

Ich rühr mich wieder,[…] bis bald,

[…].

Mit herzlichen Gruß

H.


Ulrich Knaudt an H.B. (25.11.2012)
Betreff: BELLUM OMNIUM

Lieber H., Thomas Hobbes verlegt in der Tat den bellum omnium contra omnes in eine vorzivilisatorische, tierische Epoche der Menschheitsentwicklung. So weit will ich nicht gehen. Daher einigen wir uns auf den "Kulminationspunkt". Die Gattungsgeschichte läßt sich, wie wir wissen, erst mit Kenntnis der "Anatomie des Menschen" wissenschaftlich erklären. Diese Marxsche Dialektik, deren Ahnung auch Tschernyschewski besitzt (Die Zuspätgekommenen machen sich nach der Zerschlagung der von ihren Vorläufern übrig gelassenen Knochen über das Köstlichste, das Knochenmark her – sie belohnt das Leben und bestraft es (siehe Gorbi) nicht etwa), fehlt mir in Deiner Herleitung der Konkurrenz. Ist aber nicht so wichtig.

Zu D.[ieter]W.[olf]: ich bin mit ihm persönlich trotz unserer theoretischen Kriegs- (polemos) Zustands immer gut klargekommen, und es gibt durchaus gewisse Sympathien. Mit wem ich überhaupt nicht klar komme, ist sein Schildknappe –

[…] Ich lese grade ein nicht ganz dummes Buch über China, obwohl sehr populär geschrieben. Dort geht es auch um die Vergiftung der Luft und der Gewässer und dabei läßt sich beobachten, daß die Vergiftung des Leitungswassers erst in dem Augenblick zum ‚Umwelt‘-Problem wird, da die middle class in Beijing merkt, daß auch sie von den Folgen des Raubbaus an der Natur mittelbar betroffen ist. Erst in dem Moment wird dieser zu einer ‚Umweltfrage‘. Daß die Ausbeutung des Menschen und der Natur ausschließlich Folge der Kapitalverwertung ist und diese als der dem zugrunde liegende Widerspruch unmittelbar wirksam ist, darauf kommt die middle class weder in China noch in Deutschland. Oder besser, darauf will sie erst gar nicht kommen (sonst dächte sie nicht mehr wie die middle class!).

[…] Denn wie sich nicht verleugnen läßt, ist das Kyoto-Protokoll, über das in den nächsten Tagen neu verhandelt werden soll, eigentlich und in Wahrheit fester Bestandteil der Rettungsversuche des Kapitals vor den Folgen der Weltwirtschaftskrise, eine moderne Variante des NEW DEAL der 30iger Jahre…

In der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘ gibt es Passagen, worin sich Marx und Engels zum revolutionäre[n] Terrorismus bekennen. Das ist der revolutionäre Terrorismus der Jakobiner. Im Kampf der beiden Extreme revolutionäre Demokratie vs. Feudalmächte kann nur die eine über die [andere] Seite dominieren. Der beidem zugrunde liegende Widerspruch ist die Klassengesellschaft in dieser oder jener Form. Wenn also der zugrunde liegende W[ider]S[spruch] nicht gelöst werden kann (von sich aus kann er das nicht), dann ist auch nur ein Wechsel in der jeweiligen Form der Klassengesellschaft möglich. Im Unterschied dazu enthält der Klassenkampf des Proletariats mit der Bourgeoisie zwar auch dieses terroristische Moment (Lenin), aber zugleich das Moment der Aufhebung der Zwangsläufigkeit in der wechselseitigen Vernichtung der Extreme, d.h. im Kommunismus. Jetzt ist mir auch klar geworden, warum in den Debatten über das ‚Staatsrecht‘ diese Passage so wichtig gewesen zu sein scheint: weil die ML-Bewegung in dem Antagonismus der Extreme stecken geblieben ist, was auch in dem Text von Colletti zum Ausdruck kommt. Ohne Aufhebung des Widerspruchs und mit dem Steckenbleiben im Antagonismus der Extreme wird dieser schließlich so abstrakt, daß man sich, wenn man ihn nicht wie Stalin statt ihn aufzuheben, terroristisch löst, sich nach Ersatzlösungen umschauen muß. Und siehe da, eine davon ist die Ökologie, eine andere die Frauenfrage usw. usf. …

Übrigens Dein Ratzinger ist ein Hegelianer. In seinem dritten Jesus-Buch stellt er laut FAZ die These auf, daß Gott (der Weltgeist) sich nicht nur in den Dingen materialisiert hat (Spinoza), sondern die eigene Vermenschlichung in Gestalt des Christus braucht, um seine Distanz zu den Menschen zu reduzieren und sich durch den Akt der Opferung seines Sohnes (Jungfrauengeburt; bei Zeus war immerhin noch die Entjungferung im Spiel) selbst zu verwirklichen und zu sich selbst zu finden. Ist nun Ratzinger ein Hegelianer oder war Hegel ein Ratzinger?

Viele Grüße

[…]

U.


Ulrich Knaudt an H.B. (27.11.2012)
Betreff: DIE SOG. URSPRÜNGLICHE AKKUMULATION

Lieber H., […]

– Sobald ich mit den Arbeiten für meine home page fertig bin, werde ich mir meine Exzerpte zu Colletti noch einmal vorknöpfen und mir dazu abschließend was überlegen. Der ganze ML ist niemals über die ‚Hauptseite‘ von was auch immer und die ‚Ebenen‘, von oder zu denen sich der linke [Dis]Kurs hinauf- und hinabschleppt, hinausgekommen. Wie bescheuert und armselig zugleich.

– Wenn ich mich für die D.[ieter]W.[olf]-Kritik (als Paper ohne Vortrag) entscheide, bedeutet das, daß ich den Vortrag über Marx und Narodniki nicht halten werde. […]

– Vordringlich wäre dann in pM Rosdolsky zur N[]ationalenF.[rage].[1] Da er ein Säulenheiliger der Neuen Marx-Lektüre ist, gäbe es eine ordentliche Staubwolke.

Unsere Debatte hat mich wieder ordentlich aufs Fahrrad gebracht.

Viele Grüße U.

[1] Roman Rosdolsky: Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und die geschichtslosen Völker, Berlin 1979.


Ulrich Knaudt an P.T. (02.12.2012)

[…] Ich lese gerade von F. Sieren: Angst vor China. Er schreibt einen schlechten SPIEGEL-Stil, verwendet aber Quellen, die interessant sind. Vor allem ist mir anhand meiner eigenen intensiven Zeitungslektüre deutlich geworden, wie eng China inzwischen mit der Weltwirtschaftskrise verquickt ist und daß die deutsche Außenpolitik dem voll rechnung trägt. […]

Rein ökonomisch betrachtet scheinen beide Weltmächte (der Süd-Ost-Block und der Westen), gerade was China betrifft, ökonomisch wie siamesische Zwillinge miteinander verwachsen zu sein, woraus sie sich eines Tages nur gewaltsam befreien können, um nicht gemeinsam unterzugehen…

Viele Grüße

U.


H.B. an Ulrich Knaudt (25.12.2012)
Betreff: Nachtrag

Ulrich,

schau doch noch mal bei Coletti rein [1] S. 8 bis 12, z.B.

„Die Dinge, die Gegenstände, die Sachverhalte sind immer positiv, d.h. existent und real.“

Und mir kommt’s insbesondere auch auf den Unterschied zwischen „Gegensatz“ und „Gegenverhältnis“ an, sprich i. S. v. „menschliches“/“nicht“ bzw. „unmenschliches Wesen“, „Pol“/“Nichtpol“, siehe S. 293,[2]
entspricht Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Herrschaft des Menschen über den Menschen/Nicht-Ausb., -Herrschaft = gleich „wirklicher Gegensatz“ S. 292, beruhend auf unvereinbaren, unvermittelbaren „Gegensätzen“ gleich unvereinbarer, unvermittelbarer „Gegenverhältnisse“ ! (Weg des Kommunismus = gleich „menschliches“ = gleich kommunitäres, kommunistisches („Gegen“-) „Verhältnis“ gegenüber schlechthin (!) allen anderen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen, der Widerspruch, der Gegensatz überhaupt(!))

Auf die Schnelle Gute Nacht

[1] Lucio Colletti: Marxismus und Dialektik, Frankfurt M. Berlin. Wien 1977.
[2] Karl Marx: Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1 (203-333).


Ulrich Knaudt an (27.12.2012)
Betreff: NACHTRAG

Lieber H.,

[…]

Wenn ich meine Exzerpte zum Staatsrecht und zu Colletti noch einmal durchgearbeitet habe, werde ich das, was ich […] nur andeutungsweise rübergebracht habe, auf den Punkt bringen.

By the way, seitdem ich die Marxsche Kritik am Staatsrecht noch einmal durchgearbeitet habe, ist mir einiges zur Hegelschen Dialektik und besonders zu seinen Kategorien klarer geworden.

Aber dazu dann im Zusammenhang.

[…]

U.

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