In dem Interview des ZDF mit einer Sprecherin des russischen Außenministeriums zur Frage der Vergiftung des Regimekritikers Alexej Nawalny mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok lassen sich einige Beobachtungen darüber anstellen, wie der heutige Russische Staat die von ihm inszenierten Staatsverbrechen rechtfertigt. Dabei ist zunächst festzustellen, daß seine Rechtfertigungsversuche von vornherein als Gegenangriff vorgetragen werden, bei dem erstens die Opfer dieser Staatsverbrechen zu Komplicen einer Verschwörung von Staatsfeinden gegen Rußland und zweitens Rußland zum Opfer eines Angriffs aus dem ‚Westen‘ erklärt werden.
Diese Argumentationskette findet bei allen Staatsverbrechen Anwendung, die das Putin-Regime bisher verübt hat, während deren Beweise, soweit sie aus ‚dem Westen‘ kommen, schon allein aus diesem Grund als Geheimdienstkonstrukte zurückgewiesen werden. Diese Gangsterlogik findet nicht nur gegenüber ‚feindlichen Staaten‘, sondern auch gegen ‚feindliche Personen‘ ihre Anwendung, die, je gefährlicher sie dem Regime erscheinen, zu vom Ausland gesteuerten Staatsfeinden erklärt werden. Ausländische in Rußland zuvor als legal akzeptierte Organisationen müssen sich offiziell als ‚Systemgegner‘ eintragen lassen. Und wer als russischer Staatsbürger gar einen laut Verfassung garantierten mit legalen Mitteln vollzogenen regime change herbeizuführen versucht, braucht dies vom sicheren Ausland aus erst gar nicht zu versuchen. Er wird von diesem System aus staatlicher Propaganda und staatlicher Verfolgung unrettbar verschlungen. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum sich der Regimekritiker Nawalny nach dem staatlich organisierten Giftanschlag auf ihn freiwillig in die Hände des russischen Staates zurückbegeben hat. Denn Systemkritik von Emigranten gilt per se als sich selbst widerlegende self-fulfilling prophecy.
Diese Mechanismen des Opfer-Täter-Tauschs sind nicht wirklich neu: ein historisches Beispiel liefert der Stalin-Hitler-Pakt und die darin verabredete Aufteilung Osteuropas, bei der bis heute ungeklärt geblieben ist, ob an dieser Verabredung nicht von vornherein auch das künftige Opfer als Täter beteiligt war, der seinerseits einen Präventiv-Krieg vorbereitet hatte. Da die sowjetischen Akten weiterhin unter Verschluß bleiben, steht die ehemals sowjetische Seite weiterhin als die verfolgte Unschuld da. Als ein Indiz, aber keineswegs als Beweis für einen von beiden Seiten vorbereiteten Präventiv-Krieg könnte die Liquidierung von Teilen der polnischen Armee durch die GPU gelten, die vor den Schergen Hitlers in der Sowjetunion Schutz gesucht hatten (Katyn 1940). Zum Glück für Stalin wurden deren Leichen von den Deutschen gefunden, womit sich alle weiteren Beweise für die Beteiligung des sowjetischen Staates an diesem Staatsverbrechen erübrigen und dieses problemlos zu Nazi-Propaganda erklärt werden kann. Ein zusätzlicher Hinweis auf den ausgesprochen hinterhältigen Charakter, die Skrupellosigkeit und die Doppelzüngigkeit bestimmter russischer (bzw. sowjetischer) Politiker, die es darin allemal mit den National-Sozialisten aufnehmen können. Juristisch nachweisen lassen sich diese Verbrechen jedenfalls kaum.
Marx hat sich nur selten als reiner Historiker betätigt. Eine Ausnahme ist seine Beschäftigung mit der britisch-russischen Geheimdiplomatie, im Zusammenhang mit den britischen Handelsbeziehungen zu Rußland, die er anhand von den im British Museum vorhandenen Originalquellen untersucht hat…
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