EINspruch 

08.11.2016

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Ein Leser meiner EINsprüche fragte mich kürzlich, woran es liege, daß der EINspruch so schrecklich russophob sei. Eigentlich schrieb ich doch ganz interessante Texte. Meine Antwort war eine Aufstellung von Städtenamen und Jahreszahlen, mit denen jeder Europäer – zumindest noch meiner sozial inkompetenten Generation – jeweils ein russisches Staatsverbrechen verbindet. Diese Liste beginnt mit Katyn (1940) und endet vorläufig bei Aleppo (2016), Verbrechen, die der russische Staat, wenn man so will, im Windschatten der noch um einiges unfaßbareren Verbrechen des deutschen Staates auf seinem Weg zur Weltherrschaft auf seinem Verbrechenskonto angesammelt hat. Meine Gegenfrage war, ob Putin heute nicht gerade dabei sei, die Einzigartigkeit der Staatsverbrechen des Nationalsozialismus ein wenig zu relativieren?


Opfer der russischen Staatsverbrechen waren nicht nur die Völker, nationalen Minderheiten und Nationen innerhalb des sowjetischen Imperiums und seiner ‚Randgebiete‘ (wie z.B. Afghanistan), sondern auch die Russen selbst, die ähnlich wie die Deutschen (ein direkter Vergleich verbietet sich wegen der Einmaligkeit der deutschen Verbrechen) für die von ihrem Staat verübten Verbrechen von den Völkern, an denen sie verübt wurden (und nicht nur von ihnen), als Verbrechervolk gehaßt werden. Als deutscher Staatsangehöriger werde ich daher ‚die Russen‘ schon deshalb nicht hassen können (und wollen), weil das Verbrechenskonto des deutschen Staates mit Verbrechen angefüllt ist, die diejenigen des russischen Staates in ihrer Ungeheuerlichkeit qualitativ in den Schatten stellen. Ich kann also die Russen gar nicht hassen. Was ich hasse, das ist, daß der russische – genauso wie der deutsche Staat ‚die Deutschen‘ – ‚die Russen‘ zu Komplizen seiner Verbrechen macht oder gemacht hat und daß sich ‚die Deutschen‘ zu Komplizen der deutschen Staatsverbrechen machen ließen. Solange daher der pauschale Vorwurf der Russophobie wie das Damoklesschwert über ‚den Deutschen‘ schwebt (und künstlich in der Schwebe gehalten wird), werden ‚die Deutschen‘ ihre Komplizenschaft mit dem deutschen Staat nicht aufgeben und gezwungen bleiben, die ‚eigenen‘ Verbrechen zu relativieren oder gar zu ignorieren, woraus zur allgemeinen Freude aller Verbrecherstaaten ständig neuer Völkerhaß gespeist wird. Oder daß ‚die Deutschen‘ – und das ist das andere Extrem – ‚den Russen‘ vor lauter Liebe um den Hals zu fallen, was ihnen eine noch größere Verachtung unter den Völkern, einschließlich des russischen einbringen wird. Diese jedem vernunftbegabten Menschen politisch höchst verdächtig erscheinen müssende Selbstverachtung wird durch die radikale Infragestellung der Existenz des deutschen Staates als solchem, wie sie von den Bakunisten von Ums Ganze vertreten wird (‚Kein Tag für Deutschland! Staat. Nation. Kapital. Scheiße‘), schließlich zur höchsten Absurdität gesteigert. [1]


Am allerhassenswertesten an den russischen Staatsverbrechen wirkt auf mich aber die große Lüge, daß diese Verbrechen im Namen des Kommunismus und für die Verteidigung der Diktatur des Proletariats verübt wurden und daß der Klassenkampf zwischen dem revolutionären Proletariat und der Weltbourgeoisie, zwischen Revolution und Konterrevolution unter dem Vorwand, einen rein nationalen Verteidigungskampf gegen das faschistische Monster führen zu müssen, liquidiert wurde, was, anstatt diesen Verteidigungskampf in den weltrevolutionären Klassenkampf zu integrieren, notwendig neue Monster gebären mußte.


Soweit mein Einspruch gegen den von einem besorgten Leser gegen den EINspruch erhobenen Vorwurf der Russophobie.


Nun könnte der Beobachter dieser Auseinandersetzung den berechtigten Einwand machen, meine Verteidigung des einzig wahren Kommunismus, dessen Realisierung all diese Staatsverbrechen hätten verhindern können, gegenüber dem falschen diene einzig und allein dem Zweck, mich als Angehörigen des deutschen Staatsvolkes, und letzten Endes auch dieses Volk selbst, von dem Vorwurf der Russophobie und, um das Maß voll zu machen, von dem der Judenfeindschaft und dem an ‚den Juden‘ verübten deutschen Staatsverbrechen zu entlasten. Gegen einen solchen Vorwurf ist kein Kraut gewachsen. Auch nicht durch den Nachweis, daß Vorwürfe wie dieser (je stiller, desto wirkungsvoller) in Wirklichkeit zum Repertoire der antiwestlichen Propaganda Putin-Rußlands gehören, deren sich deutsche Linke wie die Rechte als verlängerter Arm Putins bedienen, um politisch an die Macht zu kommen. Ähnliches könnte auch für meine Kassandrarufe gelten, die davor warnen, daß Putins Propaganda lediglich darauf aus sei, daß ähnlich wie bei der Russifizierung von Teilen des georgischen und ukrainischen Staates die Anwendung dieser Salamitaktik früher oder später auch der Souveränität aller übrigen osteuropäischen Staaten und schließlich auch der des deutschen Staates drohen wird, sollten sich die Europäer nicht freiwillig den russischen Weltherrschaftsinteressen unterwerfen. Aber an all diesen Warnungen vor Rußlands neuem Imperialismus (Imperialismus in seiner ursprünglichen Bedeutung), mögen sie durch noch so schreiende Tatsachen bestätigt werden, hängt der ständige Argwohn der Völker Ost- und Südeuropas, daß dies nur Entlastungsversuche seien, die von ‚den Deutschen‘ zur Verteidigung gegen den Vorwurf ihrer Komplizenschaft mit den deutschen Staatsverbrechen verwendet werden, der wie Bleigewichte an ihnen hängt.


Dennoch sehe ich keinen Grund – oder erkenne zumindest keinen an ‒ mich für die im Interesse der deutschen Bourgeoisie verübten Verbrechen des deutschen Staates persönlich zu entschuldigen. Der einzige Vorwurf, den ich mir persönlich gefallen lasse, wäre der, nicht alles getan zu haben, um an der Aufhebung (nicht nur einer irgendwie gearteten rechts oder links gestrickten Negation) der kapitalistischen Produktionsweise zu arbeiten und mich so an der Befreiung der Menschheit von ihrer Vorgeschichte zu beteiligen (damit sie in Zukunft noch eine Geschichte hat). Dazu gehört, mich mit den Einwänden und Argumenten hauptsächlich derjenigen Kommunisten (oder Communisten) auseinanderzusetzen, die, wie ich meine, eine verengte Perspektive zu den Klassenkämpfen auf der Welt einnehmen und die sich dieser Aufgabe meinen dadurch entziehen zu können, indem sie die Last des Vorwurfs der mentalen Duldung der oder inneren Beteiligung an den deutschen Staatsverbrechen persönlich auf sich nehmen, um sich von der Last des Argwohns der europäischen Völker gegen ‚die Deutschen‘ zu befreien.


Machen wir uns nichts vor: der Zwei-plus-Vier-Vertrag, auf dem die staatliche Existenz des deutschen Staates völkerrechtlich gründet, ist kein Friedensvertrag, sondern das Ergebnis eines Deals zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, die sich durch diese Vereinbarung aus ihrer Verantwortung für Deutschland als bisherige Besatzungsmächte befreit haben und der so, wie er politisch auf wackligen Beinen steht, auch in einem ernstzunehmenden Konfliktfall zwischen den Vertragspartnern jederzeit widerrufen werden könnte, ohne im Unterschied zur Zeit vor 1990 unbedingt einen Weltkrieg auszulösen. Das heißt, daß dieser Vertrag jederzeit durch einen neuen Deal zwischen der alten westlichen und der sich neu formierenden östlichen Supermacht (bisher noch ohne China!) ersetzt werden kann – zumal die USA durch das Öffnen der Büchse der Pandora (Krieg gegen Saddam Hussein) die dadurch entstandene russisch-iranisch-chinesische Achse tagtäglich stärker gemacht hat. Dann würde nicht nur der wunderschöne Besinnungsaufsatz, an dem ‚die Deutschen‘ seit der ‚Wiedervereinigung‘ gestrickt haben, um sich den Namen der Gerechtesten unter den Gerechten (ohne Superlativ geht es bei ihnen nun mal nicht) zu verdienen, zu Makulatur werden – und das von der gesamtdeutschen Antifa mit staatlicher Unterstützung hochgepäppelte preußische Plebejertum erhöbe wieder seine Fratze als faschistische Bestie, um in einem Befreiungskrieg (zweiter Teil) die völkisch wieder umdefinierte Nation zu verteidigen. Les extrèmes se touchent. Beide Extreme würden sich, sollte der frisch gewählte US-amerikanische Immobilienhändler und Häuserkapitalist das Europäische Haus dem russischen Hausbesetzer in einem großen Deal zwischen den Supermächten überlassen, in dem großrussischen Roll back in gegenseitiger Haßliebe zwischen der Rechten und der Linken vereint wiederfinden. Das Verlotternlassen ganzer Stadtteile gehört ja bekanntlich zu den Beschleunigungsfaktoren der Immobilienspekulation in Betongeld, und Hausbesetzer sind für gewöhnlich die nicht nur geduldeten, sondern häufig gewünschten Vorboten der Gentrifizierung, während das Abfackeln der gentrifizierten Stadtteile wiederum, wie von athenischen Anarchisten ab und zu exemplarisch vorgeführt, wiederum als Vorwegnahme all dessen interpretiert werden könnte, was dem ‚Europäischen Haus‘ in Zukunft noch alles blüht.


Die Bildungsreise des ‚scheidenden US-Präsidenten‘ zu den Wurzeln der westlichen Demokratie ließe sich nach der Wahl des neuen dann wohl auch als Abschiedsreise von Europa interpretieren: sie enthält zugleich die über die Amtszeit des alten Präsidenten hinausweisende Botschaft, daß die Steuerzahler der EU, an ihrer Spitze die deutschen, sich von der Rückzahlung der Griechenland gestundeten Kredite endgültig mental verabschieden sollten, da das US-Kapital und der von ihm dominierte IMF kein neues Geld in das griechische Faß ohne Boden mehr versenken werden. Dieses klassische beggar-thy-neighbor-Lehrstück aus dem Bestand der Großen Weltwirtschaftskrise von vor 80 Jahren hatte sich in dem tête à tête zwischen Madame Lagarde und dem telegenen Salonkommunisten Varoufakis bereits angekündigt und bedeutet, daß die Deutschen für ihren Anspruch auf die moralische Hegemonie in Europa finanziell kräftig bluten sollen, indem sie auch noch für die häßlichsten Papierchen aus dem Athenischen Giftschrank geradestehen müssen, deren Nichteinlösbarkeit den absehbaren, dann aber nicht allein griechischen Staatsbankrott herbeiführen würde. Wohl nicht zufällig ist Berlin die nächste Station von Obamas Abschiedsreise, wo Frau Merkel eben dies verklickert und sie darauf verwiesen werden soll, wie eng die Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott (besser: der Rettung der alten oligarchischen Familien Athens, die wegen der neben ihnen Platz nehmen wollenden neuen linken Staats-Oligarchie ein wenig zusammenrücken müssen) mit der Verteidigung Europas vor dem zu erwartenden Zugriff ‚der Russen‘ in Wirklichkeit verknüpft ist….

NACHTRAG 07.12.2016


In den Tagesthemen vom 07.12. wird von einem Wendepunkt im sog. Syrischen Bürgerkrieg berichtet. Der Bericht selbst scheint einen Wendepunkt in der ‚westlichen‘ Berichterstattung zu diesem Thema darzustellen. Ein ARD-Reporter habe sich, so der Sprecher, zusammen mit »syrischen Regierungstruppen … in die umkämpfte Stadt Aleppo« gewagt. Das ist in der Tat ein Novum! Denn bisher haben es die ‚westlichen‘ Medien vermieden, sich für die Propaganda des Assad-Regimes einspannen zu lassen und auf der anti-‘westlichen‘ Propagandawelle des russischen Staatsfernsehens mitzusurfen. Eine Ausnahme waren bisher die den Standpunkt von Damaskus einnehmenden Ex-SED-Blätter Neues Deutschland und junge Welt. Nun scheinen auch die Tagesthemen in dieser Richtung eine Wende zu vollziehen, wenn dort im Tonfall von Russia Today (RT Deutsch) über Assads Krieg gegen das Syrische Volk berichtet wird: »Die syrische Armee ist fest entschlossen, Ost-Aleppo endgültig zu erobern.« Bravo! Das hört sich ja schon mal ganz gut an!


Daß Putin und Assad seit den letzten Wochen verstärkt die Zivilbevölkerung im Ostteil von Aleppo mit Faßbomben, Bunkerbrechern und Giftgas traktieren, daß sie gezielt und systematisch Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Bäckereien und Märkte dem Erdboden gleichmachen, von solchen Kriegsverbrechen läßt sich schlecht berichten, wenn man sich auf die Seite der Kriegsverbrecher begeben hat und als
embedded journalists meint hinter die Wahrheit dieses Krieges zu gelangen und dort über ihn anders berichten zu können, als Assads und Putins Medien tagtäglich darüber verlauten lassen. Dazu paßt z.B. die Selbstbeschränkung auf die banale Mitteilung, daß die Einwohner der »umkämpften Stadt … rauswollen aus der Hölle im Osten Aleppos«. Näheres dazu, etwa, wer in diesem ‚Bürgerkrieg‘ gegen wen und wofür kämpft, wird dem Zuschauer erspart. Kein Hinweis darauf, daß jeder, der nicht für das Regime ist, von vornherein zum ‚Terroristen‘ erklärt wird, egal, ob er ein Killer des IS ist oder ein Oppositioneller ist. Also Assad-Gegner zu sein ist gleich IS, wobei Letzterer solange in Ruhe gelassen wird, wie er Assad-Gegner als ‚Ungläubige‘ einschüchtert und umbringt.


Kein Wunder, daß auch die Tagesthemen diesem Propaganda-Konstrukt aufsitzen. Das hört sich dann so an (Tagesthemen:) »Seit Wochen versucht die syrische Armee die Opposition und Dschihadisten aus der Stadt zu bomben. … Dieses Mal«, so berichtet ein Armeeangehöriger, »sei die syrische Armee dank der Hilfe von Rußland, der libanesischen Hezbollah und Irans besser aufgestellt«. Dieser wörtlich: „Nach einigen erfolgreichen Militäroperationen mit unseren Verbündeten haben wir heute 65-70% unter unserer Kontrolle“. (Tagesthemen:) »Selbst oppositionelle Aktivisten gehen davon aus, daß Ost-Aleppo bald unter der Kontrolle der syrischen Armee ist. Das liegt auch an deren Feuerkraft am Boden und aus der Luft. Die treibt nicht nur die Zahl der Toten unter den gegnerischen Kämpfern in die Höhe, sondern auch [sic!] die der Zivilisten.«


Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Weil große Teile der Syrischen Armee zu den ‚Terroristen‘ übergelaufen sind, gilt in Syrien inzwischen folgende Arbeitsteilung: iranische Revolutionsgarden, libanesische Hisbollah, schiitische Kommandos aus dem Irak und Afghanistan, die Shabbiha aus Assads hauseigener Nachzucht von Kleinkriminellenkommandos als Halsabschneider, sie alle haben die ‚Drecksarbeit‘ am Boden übernommen, während aus der Luft von russischen und syrischen Kampfjets die Infrastruktur ganzer Stadtteile in Schutt und Asche gelegt und diese für die Zivilbevölkerung zur Hölle gemacht werden. Daß viele ihrer Bewohner, um nicht zwischen die Fronten zu geraten, in den westlichen Teil Aleppos fliehen wollen, ist einleuchtend, sagt aber wenig aus über ihre politische Stellungnahme zum Assad-Regime, die sie auch gegenüber westlichen Fernsehteams besser für sich behalten. (Da müssen dann die schon zum xten Mal verwendeten Aufnahmen des Syrischen Fernsehens mit ihren Assad laut schreiend lobpreisenden Großmüttern aushelfen…)


Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß von einzelnen auf der Seite der Syrischen Revolution kämpfenden Gruppen, die sich von Al Qaida und dem IS getrennt haben, aus revolutionärem Übereifer, oder auch weniger revolutionären Gründen, Angehörige der Zivilbevölkerung daran gehindert werden, Ost-Aleppo zu verlassen. So berichtet ein von dort geflüchteter 13-Jähriger (wohl eher zu seinem Selbstschutz als den Tatsachen entsprechend!):
„Die Dschihadisten wollten uns nicht gehen lassen, um sich mit uns zu schützen. Manche, die fliehen wollten, wurden getötet.“ Als seine Eltern mit ihm zu dem Platz gehen wollten, wo das Regime Busse für die Bewohner Ost-Aleppos bereitgestellt hat, „…haben sie uns gezwungen, wieder zurückzugehen“. Wenn die verantwortlichen Redakteure der Tagesthemen nicht nur die offiziellen Verlautbarungen des Assad-Regimes, sondern auch die ‚oppositionellen‘ Web Sites aufgesucht hätten, wäre ihnen vielleicht aufgefallen, daß die Bewohner, die Ost-Aleppo als erste haben verlassen wollen, unmittelbar Gefahr liefen, von Assads Scharfschützen erschossen zu werden. Nun wird berichtet, daß Freunde und Verwandte, die sich auf diesen Weg gemacht haben, spurlos verschwunden sind. Männer unter 40 Jahren sollen für die Syrische Armee als Kanonenfutter rekrutiert worden sein. Vielleicht lassen sich all solche Details nicht in einem einzigen Tagesthemen-Beitrag unterbringen. Deshalb muß man aber nicht gleich Assads und Putins Propagandaabteilungen auf den Leim gehen und sich auf das Niveau von Russia Today begeben…


Wohl als Ausgleich und u
m dem äußeren Anschein von Ausgewogenheit zu genügen, wird in demselben Beitrag der Tagesthemen über die Demonstration einiger weniger Aufrechter unter unseren Schriftstellern und Künstlern vor der Russischen Botschaft in Berlin berichtet, die dort (über ihr »altes Megaphon…«) die Beendigung des „Massenmords in Aleppo“ fordern. Eine fürwahr längst überfällige Premiere! Warum diese aber erst jetzt? Angesichts der gefühlten Niederlage der Syrischen Revolution nimmt sich die Besetzung des Mittelstreifens vor der russischen Botschaft nicht allein wegen der geringen Teilnehmerzahl der Demo eher wie deren Begräbnisfeier aus…


Aber man werde am Ball bleiben, versichern einzelne Teilnehmer dem Fernsehen. Da nimmt sich die vom Tagesthemen-Sprecher in den Raum gestellte Frage, wo angesichts des „Massenmords in Aleppo“ eigentlich die Friedensbewegung bleibe, reichlich rhetorisch und auch ziemlich unpassend aus. (Oder sollte den Tagessthemen entgangen sein, daß die politische Optik der Friedensbewegung der 80er Jahre nie über Mutlangen hinausgereicht hat, in der uns plausibel gemacht werden sollte, daß die alleinige Gefahr von der Stationierung der Pershings ausgehe, von der die Sowjetunion sich notfalls ‚moralisch gezwungen‘ sehen werde, die BRD vorsorglich in Schutt und Asche zu legen? Heute wissen wir, daß diese Pseudodialektik auch nicht hat verhindern können, daß das Gesellschaftssystem der Sowjetunion den Weg seines friedlichen Übergangs in den Untergang gegangen ist.)


Die Frage nach der Friedensbewegung wird auch an einen ‚Aktivisten‘ der Ärzte gegen den Atomkrieg weitergereicht. (Die in seiner Antwort sich selbst verschlingende Logik hätte auch einem professionellen Kreml-Sprecher alle Ehre gemacht):
„Wir tun uns sehr schwer, die alten Mächte, die wir noch als Blöcke erlebt haben, gleichermaßen [sic!] kritisch zu betrachten…“ Will sagen, daß, wenn ‚wir‘ uns nicht mental um einen Ausgleich zwischen der bisherigen alten und der sich formierenden neuen ‚östlichen‘ Supermacht bemühen, sich die eine Seite immer als ungerecht behandelt sehen wird. (Welche Seite das wäre, läßt sich unschwer erraten!)


Von einer ähnlichen Pseudodialektik
ist auch Angela Merkels Parteitagsrede befallen, in der die rhetorische Frage gestellt wird, warum die Anti-TTIP-Bewegung nicht auch mal gegen Assad demonstriert habe? [2] Die schlichte Antwort würde lauten: Weil die Anti-TTIP-Bewegung Verträge über Zollerleichterungen durchaus nicht ablehnt, sondern nur diesen Vertrag, der mit den USA abgeschlossen werden soll. Dagegen spräche überhaupt nichts gegen einen Freihandelsabkommen der EU mit Putins Eurasischer Wirtschaftsgemeinschaft. Merkels spontanes Eintreten für die Zivilbevölkerung von Aleppo hätte vor 5 Jahren, als die öffentlich geäußerten Meinungen in Deutschland noch weit weniger stark russifiziert waren, noch für Aufsehen gesorgt. Heute atmet ihre rhetorische Frage denselben Geist, wie den der vor der russischen Botschaft versammelten Friedensfreunde. Den Geist des ‚Friedens mit Assad‘.


Sie trennen die berechtigte Sorge um die in Ost-Aleppo eingeschlossene Zivilbevölkerung von der Revolution in Syrien gegen das Assad-Regime. So etwa der Schriftsteller Peter Schneider gegenüber den Tagesthemen: Man muß gar nicht für die eine oder andere Kriegspartei Partei ergreifen. Man muß für die Zivilbevölkerung Partei ergreifen. Neunzig Prozent der Opfer in diesem Syrien-Krieg – und zumal in Aleppo – sind zivile Leute so wie wir.« Sind denn die Kämpfer auf seiten des Widerstands gegen das Assad-Regime in ihrer überwiegenden Mehrheit keine »Leute so wie wir«? Schwirrt da in dem Kopf von Peter Schneider vielleicht noch ein Rest Guevaristischer Guerillaromantik herum? Auch kommt die Sorge um die »Leute so wie wir« reichlich spät, nachdem der Massenmörder Assad mit russischer und iranischer Hilfe (und chinesischer Unterstützung im Weltsicherheitsrat) etwa eine halbe Million unter russisch-syrischem Bombenhagel getöteter Syrer auf dem Gewissen hat!


Als einziger Lichtblick in dieser Sendung zeigt sich die Lagebeurteilung der Sprecherin der Stiftung für Wissenschaft und Politik, die zu bedenken gibt, daß es, nachdem Assad von außerhalb Milizen (Hezbollah, Revolutionsgarden usw.) rekrutiert hat, nahegelegen habe, daß auch die Aufständischen »Militärunterstützung … bekommen. Da aus dem Westen keine Unterstützung gekommen ist« (denken wir an die von Obama gegenüber Assad gezogene ‚Rote Linie‘! [3]), »haben sie dann darauf gesetzt, die Unterstützung aus den islamistischen Kreisen anzunehmen«. Wodurch die Aufständischen, so wäre zu ergänzen, dem Kalkül Putins und der ‚Anti‘-IS-Propaganda Assads ins offene Messer gelaufen sind.


Aber vergessen wir die Krokodilstränen der Alt-68er und ihren Nachruf auf die Syrische Revolution, ebenso die rhetorische, weil politisch unangebrachte Nachfrage bei der alten Friedensbewegung (bei der zwangsläufig ein fauler Frieden mit Assad und Putin herauskommen muß)! Noch ist die syrische Revolution nicht tot. Sie hat in Aleppo eine Schlacht verloren (alles andere käme einem Wunder gleich).


Im Internet ist das Video einer Studentenversammlung in einer iranischen Universität zu sehen, in der der Sprecher unter dem begeisterten Beifall der Studenten die Frage stellt, warum in Iran zur iranischen Beteiligung an den Verbrechen des Regimes in Syrien geschwiegen werde? [4] Atmosphärisch erinnert diese Szene an Obamas Rede in Kairo am 04. Juni 2009, als er unter den ägyptischen Studenten, und wie sich zeigen sollte, nicht nur unter diesen, den Ausbruch des sog. Arabischen Frühlings auslöste. Heute herrscht wieder arabischer Winter. Vielleicht ist das Video auch nur ein fake, worin die Furcht der Mullah-Autokratie zum Ausdruck kommt, für Tausende in Syrien gefallener Iraner in einem imperialistischen Krieg Rechenschaft geben zu müssen. [5] Wahrscheinlich aber auch nicht. Inzwischen werden aus den iranischen Gefängnissen Strafgefangene für den Krieg in Syrien rekrutiert, denen, wenn sie zurückkommen, ihre Rehabilitierung als Märtyrer versprochen wird. [6] Vielleicht setzt sich der Arabische Frühling im Iran als Iranischer Frühling fort, eben dort, wo einst der Aufstand gegen das Schah-Regime begann, aber dann von den Islamisten Khomeinis gekapert wurde?


Aus Sicht der Syrischen Revolution hat sich ihr Kampf gegen das Assad-Regime längst in einen antiimperialistischen Befreiungskrieg gegen Rußland, China, Iran, (und deren syrische und syrisch-kurdische Marionetten) verwandelt, die Syrien und den ganzen Mittleren Osten (wozu, nicht zu vergessen, auch der Jemen gehört) unter sich aufteilen wollen. Noch unterstützt die Türkei aus eher fadenscheinigen Gründen die Freie Syrische Armee (um sie als ihre Vorhut für die Wiederrichtung des Osmanischen Reiches zu mißbrauchen), noch exportieren die Saudis ihre kaum mehr zu bändigenden inneren Widersprüche zwischen weltlichem Öl-Kapitalismus und wahabitischem Gottesstaat durch ihre Unterstützung der Gotteskrieger in den islamischen Ländern, um diese Widersprüche nicht im eigenen Land ausfechten zu müssen. (Hierzu gehört auch der vom ‚Arabischen Frühling‘ ausgelöste Stellvertreterkrieg der Saudis mit Iran in Jemen.) Aber die Verweltlichung und Verwestlichung der Orientalischen Despotien schreitet (so, wie die kapitalistische Entwicklung selbst) im positiven wie negativen Sinn unaufhaltsam voran und wird sich (solange sie keinen Weltkrieg auslösen) früher oder später auch gegen diese selbst richten. So, wie auch der Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, bzw. zwischen schiitischer und wahabitischer revolutionären Demagogie, zur Ernüchterung der sich darin bereichert habenden Neuen Bourgeoisie führen wird, die den gewonnenen Reichtum gewinnbringend anlegen muß.


Die europäische und die japanische Bourgeoisie steht vor dem ungelösten Problem, wie sie sich gegenüber der sich auf der russisch-chinesischen Achse formierenden nach Welthegemonie strebenden Koalition positionieren soll. Die ‚Flüchtlingskrise‘ der letzten beiden Jahre hat für die Europäer bereits einen Vorgeschmack dessen geliefert, was von der gegen den alten imperialistischen ‚Westen‘ in Bewegung gesetzten sich gleichermaßen proletarisierenden wie faschisierenden Massenarmut der Dritten Welt in Zukunft zu erwarten ist, und nicht minder von dem von der Weltwirtschaftskrise erzeugten westlichen, politisch weißen, Plebejertum, das einem neuen weißen Faschismus zustrebt. Von der alten westlichen Bourgeoisie Europas geht nicht gerade der Eindruck aus, als habe sie vor, die ‚westliche‘ Demokratie sowohl gegen den weißen wie auch gegen den neuen multi-coloured Faschismus der ‚Dritten Welt‘ verteidigen zu wollen, hinter dem Rußland und China stehen. Diese neuen Achsenmächte scheinen jedenfalls zu allem bereit zu sein und entschlossen, beide Abarten des Faschismus gegen den ‚Westen‘ in Bewegung setzen. Da nimmt es nicht Wunder, wenn die durch die neue Administration vertretene US-Bourgeoisie ihren alten Wahlspruch wiederentdeckt hat: if you can‘t beat ‘em, join them. Auf Syrien scheint er jedenfalls schon mal zu passen.


Der Widerstand der Europäer gegen den Chauvinismus der weißen Arbeiterklasse, die Trump an die Regierung gebracht hat und dessen europäische Ableger von Putin weiterhin intensiv gepflegt werden, wird, mögen sich die Europäer (unter dem Beifall der westlichen Linken) auch noch so ostensiv und intensiv gegen ihn anstemmen, erfolglos bleiben, solange (was sich in Syrien bereits gezeigt hat) das Zwillingsverhältnis, das zwischen dem politisch weißen Chauvinismus und dem Faschismus der ‚Verdammten dieser Erde‘ nicht politisch geklärt worden ist. Von um so größerer strategischer Bedeutung ist daher der Verteidigungskampf der den Völkern der ‚Dritten Welt‘ von den alten Kolonialmächten ursprünglich aufoktroyierten ‚westlichen‘ Demokratie. Die 2011 in den arabischen Ländern vom ‚Westen‘ ausgerufene demokratische Kulturrevolution ist nicht nur an der ungelösten sozialen Frage, sondern vor allem an der so gut wie nicht stattgefundenen Säkularisierung der islamischen Gesellschaft gescheitert, gegen die sich die autokratischen Verfechter der Mullah-Herrschaft ständig zur Wehr setzten, indem sie der Konservierung des Islam die höhere Weihe das Kampfes gegen den westlichen Kolonialismus gegeben haben.


Für die Europäer stellt sich daher die Frage, ob sie in ihrer strategisch exponierten Position zwischen den sich neu formierenden bzw. neu orientierenden Supermächten mit beiden Formen des Faschismus den Kampf aufnehmen werden oder sich wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis die Ohren zustopfen, während die Rudermannschaft sehnsüchtige Blicke in Richtung auf die eine oder andere Seite des Faschismus wirft. Eben darin steckt die Existenzfrage der Europäer, die von Obama bei seinem Abschied von den von ihm als US-Präsident aufgesuchten historischen Stätten westlicher Demokratie (entsprechend einseitig) gestellt wurde, die aber trotz der in ihr als ausweglos erscheinenden Situation zugleich das Potential zur Lösung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt enthält. In welcher Richtung diese erfolgen wird, steht im Mittleren Osten nach wie vor zur Entscheidung an.

-euk

[1] parteimarx.org REAKTIONEN 2010 vom 27.11., 04.12., 05.12., 06.12., 10.12.2010 zum Ums-Ganze-Kongreß: SO, WIE ES IST, BLEIBT ES NICHT!
[Die vollständige Fassung der Fußnoten siehe PDF-Version dieses Textes.]
[2] Rede der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Essen am 06.12.2016.
[3] Vgl. parteimarx.org BLogbuch 1 25.05.2014 Revolution und Konterrevolution in Europa.
[4] Al Arabiya english 08.12.2016 (abgerufen): Video: Iranian student condemns his country‘s intervention in Syria.
[5] Al Arabiya english 11.12.2016 (abgerufen):
More than 1,000 combatants from Iran killed in Syria.
[6] Al Arabiya english 11.12.2016 (abgerufen): Iran frees criminals if they volunteer in Syria.

 

[gepostet am 13.12.2016]

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