EINspruch 

20.09.2016

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Dieser Tag ist kein symbolisches Datum, wie es der 16.07., der Tag des gescheiterten Putschs (auf Bestellung) in der Türkei oder der 15. Jahrestag von Nine/Eleven gewesen wären, die jeweils einen EINspruch verdient hätten. Heute ist, so fangen für gewöhnlich Kriminalromane oder -filme an, ‚ein ganz normaler Tag‘, der nur mir allein als ein solcher aufgefallen ist, und mich meine Zeitungslektüre unterbrechen und diesen EINspruch anmelden läßt – obwohl ein Stapel ungelesener Bücher abzuarbeiten wäre. Hic Rhodos


Die FAZ hat heute ein Interview mit Gerhard Schröder aus ihrer Sonntagszeitung vom 18.09. abgedruckt und meldet, daß Schröder morgen den Ludwig-Erhard-Preis bekommt. [1] Zweifellos als Anerkennung dafür, daß er der Agenda 2010 ‒ nicht zuletzt gegen die antikapitalistische Demagogie der gesamtdeutschen Linken, von der die SPD zerrissen zu werden drohte – zum Durchbruch verholfen hat. [2]


Diese Preisverleihung fällt in eine Zeit der nicht mehr enden wollenden Weltwirtschaftskrise, da die westdeutsche Bourgeoisie die von ihr erzielten Profite wegen der unterhalb der bisherigen Durchschnittsprofitrate zu erwartenden Profitrate lieber beim Glücksspiel an der Börse verzockt (bekanntlich ein Nullsummenspiel ohne Mehrwert und Produktivitätssteigerung), als ein höheres Wachstum des Kapitals anstreben zu wollen ‒ mag die EZB die Kapitalzinsen so weit senken, wie sie will. Gepriesen wird mit dem Ludwig-Erhard-Preis [3] jener Schröder, der als Bundeskanzler (in einer sich zuspitzenden ‚revolutionären Situation‘), da alle Wege zur Erhöhung des absoluten Mehrwerts versperrt schienen, durch den von ihm bewiesenen Realismus verhindert hat, daß die (west)deutsche Wirtschaft den Bach runterging: das bedeutete, den Wildwuchs bei den ‚Arbeitskosten‘ durch Verlagerung des ‚Arbeitgeberanteils‘ an der Arbeitslosenhilfe als Sozialkosten auf den Bundeshaushalt, m.a. W. auf die Steuerzahler umzulegen, deren Masse (das ist die von Oskar Lafontaine nicht verstandene Ironie der Agenda 2010!) wiederum die Lohnempfänger ausmachen, und damit dem Kapital zumindest die Erhöhung des relativen Mehrwerts zu garantieren. Mit der Einführung der Agenda 2010 am 1. Januar 2005 war der Arbeitslose zum Fürsorgeobjekt des Staates geworden, von dessen Sorge um sein Wohlergehen er in der Schönen Neuen Sozialstaats-Welt willkommen geheißen wurde. Im Godesberger Programm der SPD waren die westdeutschen Arbeiter bereits von der Arbeiterklasse zum ‚Sozialpartner‘ des Kapitals geschrumpft worden; mit Schröders Hartz-Reformen hat die deutsche Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt im ‚Grundwiderspruch‘ von Lohnarbeit und Kapital ausgespielt. Aus diesem Gegensatz fällt der Arbeitslose nach einem Jahr Arbeitslosigkeit offiziell heraus und wird zum Sozialfall degradiert; die Arbeitslöhne der sich noch in Arbeit befindenden Wählerklientel der SPD (und darin bestand der Trick) blieben entgegen Oskar Lafontaines sozialdemagogischen Unkenrufen zunächst (einschließlich der von ihnen zu zahlenden Sozialabgaben) unangetastet. Die Arbeiterklasse hatte sich in eine vom Staat alimentierte Schicht des (neuen) Plebejers einerseits und in eine (nach der Leninschen Definition) klassische Arbeiteraristokratie andererseits gespalten. [4] Die ‚Plebejer proben den Aufstand‘ – aber als revolutionäre Farce! [5] Schröders Coup (ohne Frage zur Entlastung »der Arbeitgeberseite«, die dadurch in die Lage versetzt werden sollte, »mehr Beschäftigung zu schaffen«), hat ihm die ewige Feindschaft der sich (in ‚proletarischer‘ Pose) an der untergegangenen DDR orientierenden ökonomistischen linken Kleingeister in Partei und Gewerkschaft eingetragen, die er frohen Herzens zur WASG (der Keimform der sich Richtung Westen ausbreitenden post-SED) ziehen lassen konnte – weil ihm dieser Coup zugleich die Chance eröffnete, vor der ‚neuen sozialen Bewegung‘ (freudig) das Handtuch werfen und noch während seiner Amtszeit als Bundeskanzler seinen Übergang zum Lobbyisten als Vorsitzender des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG in die Wege leiten zu können.


Marx hat Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts in Die Klassenkämpfe in Frankreich die französische Arbeiterklasse darauf aufmerksam gemacht, daß die proletarische Revolution nur in Ländern mit einer entwickelten industriellen Bourgeoisie Sinn macht und das auch nur dann, wenn die Proletarier ihre verengte Sichtweise auf den ‚Sozialismus in einem Land‘ überwinden. [6] Wenn diese Überlegungen immer noch Gültigkeit haben (wovon ich ausgehe), dann beruht die Stamokap-Theorie, mit der Schröder seine revolutionären Jugendsünden [7] einst theoretisch untermauert hat, auf eben jener einseitigen Orientierung, vor der Marx die revolutionäre französische Arbeiterklasse gewarnt hat und erweist sich als wortwörtliche Umsetzung der Stalinschen These vom ‚Sozialismus in einem Land‘. [8]


Auf dieser theoretischen Grundlage konnten die Interessen des Kapitals mit denjenigen der westdeutschen Arbeiterklasse problemlos vereinbart und (das ist die Ironie der Geschichte) die ökonomistische Kleingeisterei der SED-Anhängerschaft innerhalb der SPD kleingehalten werden. In den Köpfen der‚westdeutschen Arbeiterklasse‘ wurde Schröders ‚Sozialismus in einem Land‘ zur gemeinsamen Kampfansage von Lohnarbeit und Kapital an die ausländische Konkurrenz auf dem Weltmarkt unter Führung ‚der Amerikaner‘. Schröder hat mit seinem ‚Sozialismus in einem Land‘ der ‚westdeutschen Bourgeoisie‘ einen großen Dienst erwiesen, den sie mit der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises nachträglich zu würdigen weiß…


Alles das war Stamokap…! Ich krame in meiner Erinnerung und dann aus den verstaubten Tiefen meines Bücherschranks ein Bändchen aus jener Zeit hervor, als die Stamokap-Theorie Anfang der 70er Jahre Konjunktur hatte. [9] Es fällt mir nachträglich auf, daß die Formel vom ‚Sozialismus in einem Land‘ eine doppelte Bedeutung hatte, je nachdem, ob auf dem Sozialismus oder in einem Land die Betonung liegt (wobei das eine, der Sozialismus, das andere entweder ein- oder ausschloß). Die Stamokap-Anhänger waren der festen Überzeugung, daß sich die Sache mit dem einen Land durch den in beiden Teilen Deutschlands zu errichtenden (stärker oder schwächer ‚stalinistisch‘ ausgeprägten) Sozialismus ganz von selbst erledigen werde. [10] (Für die heutige marxistische Linke hat sich die Herstellung der staatlichen Einheit 1989 in einem Land vor dem Erreichen des Sozialismus als ‚historische Katastrophe‘ erwiesen, deren Auswirkungen sie durch Rückgriffe auf die verstaubte Programmatik der Juso-Linken zu minimieren sucht.) Ob aber der Sozialismus, der hatte kommen sollen, eher einer im Stil Schröders oder Honeckers geworden wäre, wurde angesichts des Staatsbankrotts der DDR und nachdem diesem die Einheit beider deutscher Staaten in einem Land zuvorgekommen war, weder vom ‚deutschen Volk‘, noch von der ‚deutschen Arbeiterklasse‘, sondern von den Vier Siegermächten entschieden. ‚Wir sind das Volk‘ war eher Begleitmusik als der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Durchgesetzt hat sich als Blaupause für den gesamtdeutschen Kapitalismus seitdem der ‚demokratische Sozialismus‘ Schröders und der Stamokap der Juso-Linken, gleichgültig, ob in der Regierung die christdemokratische Einheit oder der sozialdemokratische Sozialismus dominiert. In der Quersumme ergab sich daraus der christlich-sozialdemokratische Sozialismus in diesem einen Land.

In dem FAS-Interview gibt Schröder den elder statesman, der sich die Freiheit nimmt, gewisse schlichte Erkenntnisse auszusprechen, um die die um ihre Wählerstimmen besorgten Politiker und Parteigenossen lieber einen großen Bogen machen. Bei der Abgaskomödie, die gegenwärtig um den Stamokap-Betrieb VW aufgeführt wird, kann er sich zu Recht nicht des Eindrucks erwehren, »daß Strafzahlungen für Fehlverhalten, etwa bei Siemens oder aktuell bei Bosch und VW, eher das Ziel haben, die deutsche Industrie in einem internationalen Konkurrenzkampf zu schädigen«. [11] Gut gebrüllt Löwe! Das stimmt! ‒ aber leider nur zur Hälfte, da dieser »internationale Konkurrenzkampf« die originalgetreue Umsetzung der beggar-thy-neighborPolitik aus den 30er Jahren ist, bei der im Mahlstrom der Weltwirtschaftskrise jeder den neben ihm Wasser tretenden Weltmarktkonkurrenten zu seiner eigenen Rettung unter die Wasserlinie zu drücken versucht. Schröders Verteidigung der Interessenlage des deutschen Kapitals unterscheidet sich bestenfalls wegen der darin angestimmten nüchterneren Tonart von der antikapitalistischen Demagogie der ‚westlichen‘ Linken, die ihren für dumm verkauften Wählern und Anhängern einzureden versucht, es gäbe einen besseren (Rußland und China) und einen schlechteren Kapitalismus (‚der Westen‘), und deshalb säßen in der EU die guten Kapitalisten im Süden und die bösen im Norden, die allerbösesten (selbstverständlich!) in der Mitte Europas. Schröders Rettungsversuch für das deutsche Kapital scheint sich einer derart schlichten linken Demagogie zunächst nicht bedienen zu müssen. Dann aber zeigt sich, daß auch er mit seinen linken SPD-Genossen, den SPD-Wirtschaftsminister eingeschlossen, die These vom angeblich qualitativen Unterschied zwischen CETA und TTIP teilt, womit er sich Der Linken, den linken Grünen und der SPD-Linken annähert, die die Illusion verbreiten, daß Staaten, deren kapitalistische ‚Geschäftspartner‘ sich wechselseitig über die Senkung ihrer Zollschranken zu Lasten Dritter einigen wollen, sich in ‚kapitalistische‘ und ‚antikapitalistische‘ einteilen ließen. [12]


Wollte man die antikapitalistische Demagogie der gesamtdeutschen Linken wörtlich nehmen, lägen die ‚sozialistischen‘ Knebelverträge der Sowjetunion mit den damaligen Comecon-Staaten als Warnhinweis wesentlich näher. Aber auf diesen Vergleich verzichtet sie lieber. Zumal bei einer Ablehnung von TTIP (und der Einigung über ein zahnlos gewordenes CETA-Abkommen) der linke und rechte Antiamerikanismus sich wie immer in der Mitte (‚wo man Wahlen gewinnt‘) treffen werden. Soweit reicht Schröders Realismus dann doch nicht, daß er die fragwürdigen Berührungspunkte zwischen der Rechten und der Linken (siehe Gabriels Besuch im letzten Winter bei einer Pegida-Versammlung) vermeidet: »Mit Kanadiern verhandelt man auf Augenhöhe, mit den Vereinigten Staaten ist das nicht sichergestellt.« [13]


Was heißt »auf Augenhöhe«? Kanada und die EU sind nun mal, anders als (heute noch) die USA, keine ‚Weltmarktführer‘; ein Rangunterschied, auf den die USA großen Wert legen und gleichzeitig akzeptieren müssen, daß ‚die Europäer‘ die fehlende »Augenhöhe« durch die Übernahme der Argumente der TTIP-Gegner kompensieren werden, die sie als zusätzliche Verhandlungs-Chips mit in die Waagschale legen werden. Auch ganz egal, ob sie damit den rechten und linken Antiamerikanismus, den ‚America-First‘-Trumpismus oder die antikapitalistische Sozialdemagogie der ‚westlichen‘ Linken mit ihrem Wunsch-Kandidaten Bernie Sanders bedienen. Und schließlich auch, daß ‚die Europäer‘ dabei den Ausstieg der USA aus den TTIP-Verhandlungen provozieren werden, sollte die Obama-Administration, nicht ihre wichtigsten Trümpfe für das US-Kapital durchbekommen. Ein gefährliches Spiel! Ob dieser Trump am Ende nur eine Lusche war (Schröder spielt laut Interview Skat und nicht Schach), wird sich spätestens Ende des Jahres zeigen. Dann wäre nach einem Wahlsieg des Putin-Verehrers Trump und der Blockade der Freihandelsabkommen durch eine antiamerikanische Einheitsfront von Rechts bis Links das ‚westliche‘ Europa von seinen transatlantischen Verbindungen »auf Augenhöhe« abgeschnitten (Mother England wieder einmal ausgenommen, die nach dem Brexit zu ihrer special relationship zu den USA zurückkehren wird). In dem sich daraus ergebenden worst case scenario müßte sich die EU auf den Spuren Marco Polos wiederum auf die Seidenstraße begeben, wo sie nur ein einziges chinesisch-russisches Entgegenkommen zu erwarten hat: plattgewalzt zu werden.


Hieran zeigen sich sowohl die Grenzen des Schröderschen Realismus als auch der bereits in der Stamokap-Theorie versteckte Pferdefuß sozialdemokratischer Außen- und Wirtschaftspolitik, deren Hauptanliegen schon immer war, zwischen der westdeutschen Bourgeoisie und ‚dem Osten‘ unabhängig von der gerade bestehenden Weltlage erträgliche und einträgliche Wirtschaftsbeziehungen herzustellen. Das klappte auch sehr gut, solange der US-Hegemon allein den Weltmarkt beherrscht hat und der großrussische Sozialimperialismus sich zumindest in Europa mit dem Comecon zufriedengab. (Ein anderes Thema ist die imperialistische Konkurrenz der USA und der Sowjetunion in der damaligen sog. Dritten Welt.) Es entspricht auch voll und ganz dieser hegemonistischen Logik, daß aus dem Freund der Arbeiterklasse Gerhard Schröder nach seiner Abwahl als Bundeskanzler im Jahre 2005 der Vorsitzende des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG geworden ist, der in seiner Person eine ideale Verbindung zwischen (west)deutschem Stamokap und russischem Oligarchen-Kapitalismus eingegangen ist. Auch darin hat er der (gesamt)deutschen Bourgeoisie einen großen Dienst erwiesen.


Es haben sich schon häufig berühmte Deutsche in die Dienste der russischen Zaren begeben wie Stein, Arndt oder Clausewitz Anfang des 19. Jahrhunderts. Wenngleich zu jener Zeit eher gezwungenermaßen, weil unter der napoleonischen Besetzung Preußens Leuten wie Stein die Fortsetzung ihrer Tätigkeit im preußischen Staatsdienst von Napoleon untersagt worden war. (Ganz abgesehen davon herrschte unter dem Adel Europas so eine Art aristokratischer Internationalismus, bei dem es kaum eine Rolle spielte, aus welchem Land die Staatsdiener an den europäischen Höfen stammten.) Auf eine vergleichbare Zwangssituation kann sich Gerhard Schröder nicht berufen. Es sei denn, wir wollten, den politischen Standpunkt rechter und linker Putinisten einnehmend, behaupten, weil das ‚westliche‘ Europa unter US-amerikanischer Kuratel stehe, habe sich Schröder in die Dienste von ‚Zar Putin‘ begeben müssen. Seit der Annexion von Teilen Georgiens (2006) und der Krim (2014) und dem offenen militärischen Eintritt Rußlands in den sog. syrischen Bürgerkrieg (2015) hat die Fragwürdigkeit des Schröderschen Lobbyismus und der deutschen ‚Ostpolitik‘ insgesamt für das ‚westliche‘ Europa einen politisch und militärisch zunehmend selbstmörderischen Charakter angenommen.


Inzwischen ist es auch beim allerletzten Kommentator innerhalb der deutschen Presselandschaft angekommen, daß ‚der Flüchtlingsstrom‘, der sich seit letztem Herbst über das ‚westliche‘ Europa ‚ergießt‘, irgendetwas mit der von Assad und Putin unter Mithilfe des Iran und des Islamischen Staats in Syrien durchgeführten systematischen ethnischen Säuberung zu tun haben muß und daß die ‚Flutung‘ Europas mit ethnisch gesäuberten nahöstlichen Flüchtlingen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der schrittweisen militärischen Rückeroberung von Teilen des früheren großrussischen Imperiums stehen muß. Und daß dieses ‚Flüchtlingsdrama‘ wiederum (das wäre der nächste Erkenntnisschritt) auf das üble Spiel verweist, in das Putin mit China im Rücken und dem Iran an seiner Seite das ‚westliche‘ Europa (je primitiver desto wirkungsvoller) zunehmend verwickelt hat, deren Politiker von einer politischen und moralischen Niederlage zur nächsten taumeln. Noch ist es nur das SED-Blättchen junge Welt, in dem der Moskau-Korrespondent der FAZ übel dafür abgewatscht wird, daß er es gewagt hat, die lange Schleimspur, die der deutsche Wirtschaftsminister auf seinem Weg in den Kreml hinterlassen hat, zurückzuverfolgen. [13] Könnte dann nicht auch über kurz oder lang, wenn man eins und eins zusammenzählt, der (von Assad gegen die Arabische Revolution in Syrien inszenierte) ‚syrische Bürgerkrieg‘ die passende Blaupause für einen echten Bürgerkrieg im ‚westlichen‘ Europa abgeben? Wofür die Scharmützel zwischen rechten und linken Putinfreunden anläßlich der sog. Flüchtlingskrise einen ersten Vorgeschmack geliefert haben, nach dem Motto: Deutschland einig Bürgerkriegsland?


»Es geht nicht darum«, wie Schröder den FAS-Lesern jovial zusichert, »daß man keine Kritik äußern darf. Mir geht es darum, daß klar wird, daß wir ohne Rußland keinen internationalen Konflikt lösen können« (obwohl ‚wir‘ mit Rußland ständig von einem »internationalen Konflikt« in den nächsten getrieben werden) »und daß es ohne die Zusammenarbeit mit Rußland auch keine Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent geben wird«, (obwohl Putin durch ‚unsere‘ »Zusammenarbeit mit Rußland«, bisher ähnlich wie Hitler in den 30er Jahren, keineswegs dazu bewegt werden konnte, auch nur einen Millimeter der von ihm ‚zurück‘eroberten ‚heimatlichen Erde‘ an deren bisherige Besitzer, in diesem Fall Georgien und die Ukraine, zurückzugeben). Schröder hat die ‚westliche‘ Forderung nach vollständiger Einhaltung des Minsker Abkommens, dessen Erfüllung als Voraussetzung für die schrittweise Zurücknahme der westlichen Sanktionen gegen Rußland einen offenen Krieg an der russisch-ukrainischen Grenze hatte verhindern sollen und das eine schrittweise Truppenentflechtung auf beiden Seiten sowie die begrenzte Autonomie des Donbass innerhalb der Ukraine vorsah, längst aufgegeben und empfiehlt statt dessen die Anpassung ‚unserer‘ Politik an die Putinsche Salamitaktik, d.h. er will das Minsker Abkommen, das mehr sein wollte als eine reine Waffenstillstandsvereinbarung durch eben eine solche nach dem Prinzip tit for tat ersetzen: »Wenn es erste Fortschritte gibt, dann sollten die Sanktionen gelockert werden.« Diese Verhandlungen der ‚Europäer‘ »auf Augenhöhe« werden dadurch zu Beziehungen zwischen dem Aggressor und dem Opfer der Aggression, dessen Hilflosigkeit durch die rhetorische Frage Schröders zusätzlich verhöhnt wird: »Glaubt jemand ernsthaft, daß man im Donbass mit einer von Kiew abhängigen Polizei [sic!!!] für Sicherheit sorgen könnte?« Nein, das glaube ich auch nicht! Denn solange Putins lumpenproletarische Geheimdienst-Mafia dort unter dem Schutz der russischen Armee ihre freundlich-terroristische Herrschaft aufrechterhält, muß die Forderung nach Ausübung der ukrainischen Souveränität im Donbass ein Witz bleiben! Und Schröder setzt noch einen drauf: »Das geht nur mit einer Föderalisierung.« Einer Föderation des künstlichen Gebildes von Novo Rossija mit der russischen Föderation oder der Rückkehr des Donbass in die Ukraine als autonome Region innerhalb des ukrainischen Staates? Welche von diesen »Föderalisierung(en)« er dabei im Sinn hat, sagt Schröder nicht. Der nächste Satz enthält darauf aber einen kleinen Hinweis: »Sonst fühlen sich die Leute dort nicht sicher.« Wenn er mit »die Leute« Putins »Leute« gemeint hat, trifft das durchaus zu! Diese werden sich um so sicherer fühlen dürfen, je weiter Putin mit seiner Salami-Taktik bei den ‚Europäern‘ vorankommt. »In der Hinsicht gibt es in der Kiewer Regierung und beim dortigen Präsidenten Positionen, die man [?] so nicht akzeptieren kann.« Und welche wären das? Die auf der Einhaltung der staatlichen Souveränität der Ukraine beharrenden »Positionen« der ukrainischen Regierung und/oder die durchaus mehr als fragwürdigen »Positionen« der ukrainischer Rechten, die es, wie überall in Europa, auch in der Ukraine gibt und die dort gemeinsam mit der moskautreuen Linken als faschistischer bzw. kommunistischer Popanz für Putin und seine Propagandamaschine jeweils einen guten Job machen? Diese »Positionen« näher zu definieren, darauf läßt sich Schröder nicht ein. Es bleibt bei Andeutungen und dem Wink mit dem Zaunpfahl:. »Darüber könnte auch die Bundesregierung nachdenken.« Damit es ihr nicht eines Tages genauso ergehen wird wie heute der Ukraine und dem sich offenbar allzu weit nach ‚Westen‘ hinausgelehnt habenden‘ Oligarchen Poroschenko?


Bisher hat diese Bundesregierung trotz der Kotaus des deutschen Außenministers vor dem Potentaten in Moskau und den Schleimspuren des Wirtschaftsministers bis in Putins Datscha hinein sich in ihrem Kern immer noch als ‚beratungsresistent‘ erwiesen. Das würde sich mit einer rot-rot-grünen Koalition im nächsten Jahr schlagartig ändern. Die frühere SED strebt hinter ihrer smiley-freundlichen Gorbi-Maske zurück an die Macht – und dieses Mal in ganz Deutschland. Ihre Machtergreifung wäre der nächste Schritt in dem von Putin angepeilten europäischem Bürgerkrieg. Dafür wird in Berlin schon mal der rot-rot-grüne Ranzen geschnürt, während drüben am Horizont die Rechten mit den Nazis auf ihre Gelegenheit lauern, ihrerseits in diesen Bürgerkrieg einzusteigen. Der nächster Zug Putins in seinem eurasischen Mühlespiel! Er braucht nur noch die Wahlen in den USA abzuwarten, dann wird Trump als Präsident der USA der nächste Trumpf in Putins Blatt sein, den er gegen ‚die Europäer‘ ausspielen wird.


Mit einer rot-rot-grünen Regierung wäre der gesamtdeutschen Bourgeoisie und Putins Rußland erneut ein großer Dienst erwiesen. Darin würden Schröders Stamokap-Sozialismus mit der seit 1968 sich verkleinbürgerlichenden Kulturrevolution der Grünen und dem anti-‘westlichen‘ ‚Anti‘-Kapitalismus der Post-SED-Linken zu einer großen Synthese verschmelzen und die ideologische Grundlage für Putins eurasisches Europa bildeten, das von dem neuen Plebejertum von Rechts in Schach gehalten würde. Das rot-rot-grüne Deutschland als Alternative zum Atomtod, der den ‚Europäern‘ bei Widerstand gegen Putins politische und militärische Salamitaktik angedroht wird. Nur daß dieses Mal den in Ostpreußen (in der oblast‘ Kaliningrad) aufgestellten nach Westen ausgerichteten Mittelstreckenraketen keine Pershings gegenüberstehen werden! Die modernste und als solche revolutionärste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft wird sich vor dieser ‚glänzenden‘ Perspektive stehend (‚Lieber rot als tot!‘) überlegen müssen, ob sie Teil dieses auf den ersten Blick unlösbar erscheinenden Problems oder Teil der revolutionären Lösung sein wird!

-euk

[1] (Da der EINspruch eher der Textgattung des Essays angehört und weniger der des wissenschaftlichen Aufsatzes, wird in dieser Version des Texte auf Fußnoten weitestgehend verzichtet. Zusätzliche Erläuterungen befinden sich in den Fußnoten der pdf-Version dieses Textes.)
FAZ 19.09.2016 Altkanzler im Interview. Müssen Reformer Wahlen verlieren, Herr Schröder?
[2] Aus Schröders Regierungserklärung vom 14.03.2003 zitiert Oskar Lafontaine in seinem Buch Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2005, 60, die wichtigste, von seinen Spin-Doktoren am stärksten versponnene Passage und setzt, anstatt diesen Spin zu durchschauen oder gar zu entlarven, dem darin betriebenen Etikettenschwindel platteste soziale Demagogie entgegen. Beides verschmilzt in einem ‚rot-roten‘ Scheingegensatz zu einem einzigen großen Mißverständnis – in Wirklichkeit einem großen Betrug.
[3] Der Preis geht zu gleichen Teilen an Schröder und den FAZ-Herausgeber Holger Stelzner. Die Laudatio hält der deutsche Finanzminister.
[4] Siehe Karl Marx in einem Brief an die russische Zeitschrift „Otetschestwennyje Sapiski“ MEW 19 (107-112),111, worin er auf die Verwandlung der römischen Bauern in Plebejer anspielt, die sich aber nicht in Lohnarbeiter verwandelt haben, sondern in einen »faulenzender Mob, noch verächtlicher als die sog. „poor whites” der Südstaaten der Vereinigten Staaten«.
[5] Anders als in dem gleichnamigen Theaterstück von Günther Grass, der zwischen politischen und sozialen Revolutionen keinen Unterschied macht, hat Brecht in seinem berühmten Gedicht, in dem es heißt, daß die Partei der Arbeiterklasse zur Lösung der Probleme, die sie mit dieser hat, sich einfach ein anderes Volk suchen soll, zwar den Schwerpunkt im Widerspruch zwischen politischer und sozialer Revolution falsch gesetzt, dieser Widerspruch ist aber zumindest noch vorhanden. Anders als der römische Plebs könnten die heutigen Plebejer, wenn dieses Mißverhältnis gerade gerückt würde, unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen die richtige Bestimmung der Beziehung zwischen der sozialen und der politischen Revolution als notwendig zu lösender Widerspruch gehört, durchaus wieder Teil der proletarischen Revolution werden.
[6] Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850 MEW 7 (11-107), 19: »Wie die Arbeiter glaubten, neben der Bourgeoisie sich emanzipieren, so meinten sie, neben den übrigen Bourgeoisnationen innerhalb der nationalen Wände Frankreichs eine proletarische Revolution vollziehen zu können. …«
[7] Schröder im FAS-Interview: »Auch wenn ich zugeben muß: Ich selbst war als Juso in den 1960er Jahren noch mit der Planung der Revolution beschäftigt«.
[8] Die These vom ‚Sozialismus in einem Land‘ wurde erstmals 1924 von Stalin in die Debatte geworfen und Ende der 20er Jahre nach dem Sieg über seine Hauptgegner innerhalb der KPdSU(B) politisch in die Praxis umgesetzt. Sie besagt nach Isaak Deutscher: Stalin. Eine politische Biographie Bd. I, Berlin 1979, 306,320, »daß Rußland für sich allein in der Lage sei, eine durch und durch organisierte sozialistische Wirtschaft aufzubauen. …«
[9] Freimut Duve (Hg.): Der Thesenstreit um „Stamokap“. Die Dokumente zur Grundsatzdiskussion der Jungsozialisten, Hamburg 1973.
[10] So heißt in dem in Der Thesenstreit…, 71, abgedruckten „Hamburger Strategiepapier“, das mit »Der Weg zur Demokratie« überschrieben ist: »Da die sozialistische Demokratie in der BRD nur durch eine ständig größer werdende und aktivere Teilnahme aller Teile der arbeitenden Bevölkerung an der Planung, Leitung und Kontrolle der Gesellschaft auf allen Gebieten und auf allen Ebenen erreicht werden kann – d.h. durch das aktive Eintreten der Mehrheit der Bevölkerung für den Sozialismus – wird der Sozialismus für die BRD eine beispiellose Entfaltung der Demokratie und somit das Gegenteil eines totalitären Staates darstellen.«
[11] Siehe Fn. 1.
[12] Gegen den ‚freihändlerischen‘ Marx hat die gesamtdeutsche Linke alle Mühe, ihren anti-‘westlichen‘ Antikapitalismus aufrechtzuerhalten. Marx stellt in seinem Redemanuskript für den internationalen Kongreß im September 1847 in Brüssel über die Auswirkungen des Freihandels auf die Lage der Arbeiterklasse die dort versammelten Ökonomen vor die Wahl: »Entweder muß man die gesamte Ökonomie, wie sie gegenwärtig besteht, ablehnen, oder man muß zulassen, daß unter der Handelsfreiheit die ganze Schärfe der Gesetze der politischen Ökonomie gegen die arbeitende Klasse angewandt wird. Bedeutet das, daß wir gegen den Freihandel sind? Nein…«
[13] Siehe Fn. 1.
[14] junge Welt 24./25.09.2016 Der Schwarze Kanal. Aus den Unterlagen; FAZ 21.09.2016 Deutsch-russisches Defilee. Eine Passage aus den Leitartikel des Moskau-Korrespondenten der FAZ, Friedrich Schmidt, hat den ständigen Autor des Schwarzen Kanals, Arnold Schölzel derart in Rage gebracht, daß er diese über eine ganze Spaltenlänge in der jW zitiert und in seinem Kommentar den stärksten Tobak früherer SED-Propaganda auffährt, indem er Schmidt unterstellt, daß sein ironischer Hinweis auf das Defilee westlicher Putin-Freunde vor dem Kreml-Herrscher »wie frisch aus einem Dossier von BND, Verfassungsschutz oder einer anderen Nachfolgeorganisation des Reichssicherheitshauptamtes« daherkomme.
[15] Siehe Fn. 1; dies gilt auch für die nachfolgenden Zitate aus dem Schröder-Interview.

[gepostet 20.10.2016]


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