EINspruch 

22.03.2016

Wer aus aktuellem Anlaß die Zeitungsartikel und Briefe liest, die Marx und Engels in der ersten Hälfte der 50er Jahre zur sog. Orientkrise geschrieben haben, wird einige frappierende Ähnlichkeiten zu unserer heutigen ‚Orientkrise‘ (die längst nicht mehr so heißt), aber auch gewisse Unterschiede entdecken, die sich eineinhalb Jahrhunderte später, nachdem eine proletarische Revolution, deren Konterrevolution und zwei Weltkriege über Europa hinweg gewalzt sind, ergeben haben. Auch zu jener Zeit muß es für die beiden revolutionären Intellektuellen eine Horrorvision gewesen sein sich vorzustellen, was passieren würde, wenn es dem russischen Zarentum gelungen wäre, das Osmanische Reich zur Kapitulation zu zwingen, sich an der Meerenge des Bosporus festzusetzen und von dort ausgehend das Schwarze Meer, das östliche Mittelmeer und (vorbereitet durch die systematische Ausbreitung des Panslawismus und der russischen Orthodoxie) den Balkan zu beherrschen. Marx und Engels waren keine Pazifisten. Rußland war und blieb auch weiterhin, wie sich 1848 gezeigt hatte, der Hauptstützpunkt der europäischen Reaktion. Wenn die weitere Expansion des Russischen Weltreiches von den westlichen Großmächten England und Frankreich im sogenannten Krimkrieg (1854-56) hätte ernsthaft verhindert werden sollen, dann hätte die russische Hegemonialmacht an Armen und Beinen amputiert und ihre Zugänge zur Ostsee und zum Schwarzen Meer blockiert werden müssen. Dazu hätten sie letzten Endes, woran Napoleon 1812 gescheitert war, den Zaren zur Kapitulation zwingen müssen, auch, um ihn daran zu hindern, den englischen China-Handel via Schwarzes Meer und Türkei (Trabzon) zu blockieren. (Den Suezkanal gab es noch nicht.) Dadurch wäre Rußland, und das war für Marx und Engels daran die zentrale Überlegung, als Hauptstützpunkt der europäischen Reaktion ausgefallen und die proletarische Revolution enorm beschleunigt worden. Allerdings auch die ‚Befreiung‘ des ‚kranken Mannes am Bosporus‘ von der Last seines altersschwach gewordenen Imperiums (das vom Persischen Golf bis nach Tunesien reichte). Marx und Engels waren auch keine antiimperialistischen Romantiker. Sie unterstützten alle Bestrebungen der Völker und Nationen, die sich eine eigene Kultur und möglichst auch eine eigene herrschende Klasse zulegen und verteidigen konnten, in der Erwartung, daß dabei im Laufe der Zeit auch das Proletariat entstehen werde, das den Kampf gegen die Bourgeoisie, aber auch gegen fremde Eroberer aufnimmt. So unterschieden sie z.B. zwischen jenen Balkanvölkern, denen, wie den Serben, dies im Widerstand gegen die türkische Besatzungsmacht, bereits ansatzweise gelungen war und jenen, die im Zustand von Hirten und Straßenräubern verharrten. Diese christlichen Völker befanden sich generell in dem Widerstreit, daß, je stärker der Druck der islamischen Besatzungsmacht zunahm, sich der Einfluß des Panslawismus vergrößerte, mit dem alleinigen Ziel Moskaus, den ‚Kranken Mann am Bosporus‘ mitsamt Islam vom Balkan zu verjagen und ihn dort zu beerben.

Als der halbherzige Versuch Englands und Frankreichs, das Vordringen Moskaus Richtung Balkan-Halbinsel und Konstantinopel (mit der künftigen Bezeichnung Zaregrad) am Bosporus zu stoppen, schließlich in dem ergebnislosen blutigen Gemetzel auf der Krim fehlgeschlagen und der alte Zustand des Status quo ante durch einen faulen Frieden (den Frieden von Paris 1856) und damit der Hauptstützpunkt der Reaktion in Europa wiederhergestellt worden waren, verlegte sich das Zarentum nun verstärkt darauf, innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung, da sich die revolutionären Klassenkämpfe nicht mehr gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die feudale Reaktion, sondern gegen die Bourgeoisie selbst richteten, das linke Jakobinertum, vor dessen Ansteckungsgefahr es seine eigene Intelligenzija mit allen Mitteln (Zensur, Polizei, Sibirien) unbedingt meinte schützen ‘zu müssen, durch ‚aktive Maßnahmen‘ zu fördern und zu stärken. Gegen diesen zaristischen Jakobinismus richtete sich wiederum, was Marx einmal als foreign policy der working class einem liberalen Freund der Arbeiterklasse gegenüber bezeichnet hatte, der die Arbeiter ihren ‚Klassenkampf‘, die Bourgeoisie aber deren Außenpolitik hatte machen lassen wollen. Die Reaktion war, so läßt sich daraus entnehmen, durch die europäischen Revolution von 1848 zwar angeschlagen, aber nicht zu Boden gegangen; und wer ihr den entscheidenden Schlag versetzen konnte, war nicht mehr die europäische Bourgeoisie, sondern das Proletariat. Daher richteten sich in dieser veränderten Situation die ‚aktiven Maßnahmen‘ des Zarentums gegen die explosive Verbindung der foreign policy der working class mit der proletarischen Revolution, die durch die Stärkung jener Kräfte an ihrer weitere Entfaltung gehindert werden sollte, die wie Bakunin oder Carl Vogt von der ‚reinen proletarischen‘, also jakobinischen, Revolution tagträumten. Der zaristische Jakobinismus sollte aber nicht nur Einfluß auf die revolutionäre Bewegung nehmen, sondern zugleich damit die bürgerliche Öffentlichkeit erschreckt werden, für die der Zar als Retter vor den revolutionären Umtrieben der Kommunisten erschienen wäre.

150 Jahre später befindet sich Europa gegenüber Putins Neuem Zarentum in einer vergleichbaren und wenig besseren Lage…

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