BLogbuch 

BLogbuch 1 2015: »Charlie«, der Salafismus und wir Deutschen

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Inhalt


I

Montägliche Nachtgedanken über die hinlänglich bekannte deutsche Eigenart, arglos gegen unsere Feinde und zutiefst mißtrauisch gegenüber unseren Verbündeten zu sein, auf die Kleinen zu treten und vor den Großen zu kuschen, usw. Dagegen hilft keine Bergpredigt, sondern eher der Aufruf zur Gründung einer deutschen Bergpartei. Die wäre allerdings sogar verglichen mit der partei Marx ein ziemlicher Anachronismus.

Aber wir Deutschen bringen es noch nicht mal zu ordentlichen Blasphemikern. Die Karikaturen unserer Gotteslästerer gleichen kritischen Sonntagspredigten. Unsere Revolten gegen die Religion sind Revolten gegen die anderen Religionen, deren Anhänger wir vor soviel christlicher Nächstenliebe am liebsten umbrächten; darin gleichen wir ein wenig den Salafisten, die auch nichts anderes tun – nur mit der uns (heute zum Glück) fehlenden letzten Konsequenz. Wenn der Salafismus irgendwo in Europa Staatsreligion werden wollte, hätte er dazu in Deutschland die größten Chancen, weil auch hier Religion ausschließlich als Staatsreligion erlaubt ist. Der Staat ist es, der Glaubensfreiheit gewährt. Für die Salafisten wäre das zwar der falsche Staat – aber ein paar Selbstmordattentate würden bestimmt Wunder wirken.

Und warum demonstriert eigentlich die (militante) Linke gegen die Montagsdemonstranten und nicht gemeinsam mit ihnen für Putins künftiges Weltreich? Haben sie in Putin nicht einen gemeinsamen Paten? Oder vielleicht gerade deshalb? Zwar ist für einen gestandenen radikalen Linken dieses schlichte ‚Putin-hilf‘-Gerufe der Gipfel an Naivität, aber nur, weil darin ein zutiefst einseitiger Begriff von deutsch-russischer Freundschaft steckt. Wahre Solidarität sollte immer den umgekehrten Weg gehen: mit dem Mutterland des ‚Antifaschismus‘ durch Dick und Dünn, egal wie weit und wohin. Aber nicht einfach nur ‚Putin hilf‘ rufen!

Die Hitler unserer Zeit das sind und bleiben immerdar die Deutschen. Dagegen kann Putin machen, was er will: den Völkermord in Syrien unterstützen, Nachbarländer überfallen oder zumindest erst mal bedrohen. Alles kein Problem. Unser Problem ist doch vielmehr, daß uns jedes Einfühlungsvermögen in die russische Befindlichkeit oder Seele fehlt. Eine Ausnahme sind jene Deutschen, die es im Import-Exportgeschäft ‚mit den Russen‘ zu etwas gebracht haben nach dem im Wodka ersäuften Motto: Was sind wir doch für tolle Schlitzohren, weil wir alle anderen besch… haben, aber nicht weitersagen!

Schließlich war es die Sowjetunion und niemand anderes, die uns die Absolution für Hitlers und unsere Verbrechen erteilt hat und nicht die Juden, auch nicht die Amis. Die mögen uns beide nicht, wir mögen sie… na ja. Nur der Snowden, das ist ein wirklich guter Ami, der hat es denen mal gezeigt, daß wir uns nicht alles von ihnen gefallen lassen müssen. Das Handy der Kanzlerin, so was gehört sich einfach nicht!

Also spräche überhaupt nichts dagegen, wenn die Montagsdemonstranten und die Linke eine gemeinsame Soli-Demo für Putin veranstalteten mit der Forderung, daß die von der NATO insgeheim aufgerüsteten ukrainischen Terroristen (auch passive Waffen sind Waffen!) ihre Angriffe an der russisch-ukrainischen Grenze (solange es die noch gibt!) gegen Rußland unverzüglich einstellen müssen. Putin liebt sie (wie schon Erich Mielke in der Volkskammer) doch beide: die Rechten genauso wie die linken Putinisten! Wieso sollten sie diese Liebe dann nicht auch gemeinsam und solidarisch zurückgeben?

Einen gibt es schon, der dazu bereit ist: Bodo Ramelow, der rosa-rot-grün gestrickte Ministerpräsident von Thüringen. Ein lebendes Symbol deutsch-russischer Freundschaft! (Von dieser war in seinen bisherigen Statements zwar nicht die Rede, sondern nur vom – irgendwie vom Himmel gefallenen – Unrechtsstaat DDR.) Aber, was er auch sagen wird und vielleicht besser nicht sagt, mit Ramelow hat Putin schon mal den Fuß in der Tür zur Rückeroberung der Herzen aller Deutschen, der ‚Putin-Hilf‘-Rufer, der Linken und all der andern Putin-Freunde! Die kleinen grünen Männchen von der Krim und aus der ‚Ost-Ukraine‘ werden rechtzeitig per Express nachgeschickt.

Übrigens, wenn man die Landesbezeichnung für das Wort Ukraine vom Russischen ins Deutsche übersetzen wollte, dann bedeutet u-kraina: das, das am Rand (kraj) Liegende. Die Vorsilbe u– wird auch als besitzanzeigendes Fürwort verwendet; u menja heißt z.B., daß etwas bei mir ist, also mir gehört. Dazu paßt das russische Sprichwort: moja chata s kraju, ja ne ničevo ne snaju. Wörtlich: Meine Hütte ist irgendwo am Rande der Welt (s kraju), ich weiß nichts (oder: Mein Name ist Hase…usw.). Ein deutliches Zeichen, wie eng die in ihrer Hintergründigkeit hier kaum wahrgenommene Putinsche Propaganda sich mental an den alltäglichen Sprachgebrauch anzupassen versteht. Wenn sich meine Hütte im Land Nirgendwo (s kraju) befindet, dann kann ich mich, wenn es einen dort hin verschlägt, nur noch auf die Unsrigen (naši) verlassen. In diesem Sinne sind Staatsgrenzen Schall und Rauch. Wenn nach der Putinschen Analyse die Staatlichkeit der Ukraine in einem politischen Nirwana anzusiedeln sein soll, so hat die auf dem Majdan in Kiew stattgefundene politische Revolution dieser Denkweise eine eindeutige politische Grenze und gleichzeitig ein Ende gesetzt. In dieser Grenzsetzung durch eine politische Revolution, deren wichtigste politische Zielsetzung in der Definition der bestehenden Grenzen der ukrainischen Nation besteht, ist gleichzeitig das Ende der Herrschaft Putins, seines Kriegs gegen die Wahrheit und die bestehenden Grenzen in Europa vorgezeichnet. Die Verteidiger Putins berufen sich auf die große deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg, die der Ansicht war, daß die Ukraine schon immer eine Fiktion gewesen sei (und wohl nicht zufällig heißt der Think Tank der Partei Die Linke Rosa-Luxemburg-Stiftung). In der Logik der Putinschen Propaganda folgt daraus, daß alles, was in den nach Westen sich ausdehnenden grenzenlosen Randgebieten politisch gegen die Interessen Rußlands gerichtet ist, a. faschistisch sein und b. so bekämpft werden muß, als befände sich dieser Feind in Rußland selbst. So hielten es schon die alten Zaren im 18. und 19. Jahrhundert z.B. mit Polen und Finnland, die von Alexander I. eingemeindet wurden, sodaß zu Lebzeiten von Marx und Engels Rußland an Preußen und Sachsen grenzte. Der Hilferuf der Dresdner Montagsdemonstranten wäre damals auf der andern Seite der Grenze gewiß auf offene Ohren gestoßen.


II

Der Staatsvertrag, den die Republik Österreich vor kurzem mit dem türkischen Staat geschlossen hat und der die österreichischen Moslems in der Ausübung ihres Glaubens unter staatliche Aufsicht stellt, wird in der größeren deutschen Brudernation von vielen Kommentatoren als obrigkeitsstaatlich und quasi dem System Metternich verpflichtet kritisiert. Nur zeigt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Tragen einer religiösen Bedeckung (= das Kopftuch) durch islamische Lehrerinnen nur noch unter bestimmten Voraussetzungen „zur Wahrung des Schulfriedens“ untersagt werden darf, daß, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen auf unsere österreichische Brudernation werfen sollte. Deutsche wie Österreicher sind bei der Behandlung dieser diffizilen Problematik leider nicht über die Schullektüre der Lessingschen Ringparabel hinausgekommen, worin bekanntlich die Vertreter der Drei Buchreligionen, da sie vom gleichen monotheistischen Vater abstammen, auch gemeinsam einen bevorzugten Platz gegenüber den restlichen religiösen Sekten für sich beanspruchen. Dabei gibt es weder den Islam noch das Christentum, sondern jede Menge islamische und christliche Sekten; auch hat sich das Judentum schon immer durch eine lebhafte interne Sektenbildung ausgezeichnet. Dieser Mythos entstand im Schatten des nach dem 30-jährigen Krieg in den katholischen (habsburgischen) Süden und den protestantischen (preußischen) Norden gespaltenen Altdeutschen Reiches, dessen Erbe im Norden die BRD + DDR (= Rheinbund + Preußen) und im Süden das auf seine habsburgischen Stammlande geschrumpfte Österreich angetreten haben. Preußen wäre als Staat schon beinahe 1807 und ist 1945 endgültig untergegangen und durch die DDR ersetzt worden. Napoleons Rheinbund würde heute bis zur deutsch-polnischen Grenze reichen und hätte, was Zar, Metternich und Sir Castlereagh trotz divergierender Interessen gemeinsam zu verhindern wußten, ein dauerhaftes Bündnis von Rheinbund-Deutschland und Polens gegen Rußland ermöglicht. Dafür fehlten Napoleon einerseits die Zeit (deshalb die überhastete Kampagne gegen Rußland), aber auf die Dauer auch die notwendigen Ressourcen, die Metternich sich weitaus besser einzuteilen wußte. (Metternich war klar, daß man nach den gewaltigen Schlachten zwischen den europäischen Großmächten den österreichischen Bauernsöhnen die nötige Zeit geben mußte, um wieder nachzuwachsen.) Napoleon war als Begründer einer neuen Dynastie gezwungen, die Herrschaft seiner weit verzweigten Verwandtschaft noch zu seinen Lebzeiten Europa überzustülpen. (Er war sogar mit einer Habsburgerin verheiratet.) Er mußte gegen seine Hauptrivalen England und Rußland die Kriege führen, die das glückliche Österreich sich durch taktische Verheiratungen für gewöhnlich erspart hatte und die Napoleons Projekt der Errichtung eines französischen Weltmarktes mit allen Mitteln (und Metternichs heimlicher Unterstützung) zu torpedieren wußten.

Das 1815 in 28 Klein- und Mittelstaaten und zwei Großmächte zersplitterte Deutschland ist 1848, anders von Marx und Engels erhofft und erwartet, nicht vom Krähen des gallischen Hahns geweckt worden, sondern dem monotonen Gleichklang seiner Kirchenglocken erlegen und wird eines Tages, wenn es so weiter träumt, von dem Ruf des Muezzins aus dem Schlaf gerissen werden. Aber anstelle von „Wir sind Charlie“ erschallt aus dem sächsischen Mittelstaat, der auf dem Wiener Kongreß 1815 von den Großmächten zu einem Drittel an Preußen verfüttert wurde: „Wir sind das Volk“. Offenbar immer noch dasselbe „Volk“, das der in preußischen und russischen Diensten stehende Kleinadlige Freiherr vom Stein gegen Napoleon mobilisieren wollte, um die Einheit des monströsen Altdeutschen Reiches wiederherzustellen, dessen Kaiserkrone Habsburg zu schwer war und an dem sich alle europäischen Mittel- und Großmächte über Generationen zuvor die Füße abgetreten hatten? So gesehen ist das Hingezogensein der Dresdner Restpreußen zu Putin nicht wirklich verwunderlich.


III

Wenn der Plan des Bush-Sohnes verwirklicht worden wäre, in Polen anti-ballistische Raketen zu stationieren, von denen nicht nur iranische, sondern auch russische strategische Raketen hätten abgefangen werden können und Rußland als potentieller Welthegemonialmacht die Flügel beschnitten worden wären, hätte das der Ukraine die Annexion der Krim und alles weitere erspart, während sich Rußland mit der Rolle einer atomaren Mittelmacht, wie sie heute etwa Frankreich und England innehaben, hätte abfinden müssen. Dagegen erlaubte es die von der Partei Die Linke bis hinein in die Schrödersche Sozialdemokratie gerührte Anti-Bush-Trommel Putin, im Gegenzug zu dem Aufstand der ukrainischen Bevölkerung auf dem Majdan gegen Putins Statthalter in Kiew nach demselben Schema, nach dem Assad die Arabische Revolution in Syrien abgewürgt hatte, die Krim zu annektieren, seine tschetschenischen Shabbiha in den Donbass zu schicken und weitere Teile der Ukraine Stück für Stück vom Mutterland loszureißen.

Wer nun geglaubt hatte, daß die Europäer ihre Lektion aus ihrem passiven Verhalten gegenüber den eindeutigen Verbrechen gegen die Menschheit des Assad-Regimes gelernt hatten, täuschte sich auch hier gründlich. War es ihnen denn nicht schon einmal gelungen, das Sozialistische Lager mit ökonomischen Mitteln zur Kapitulation zu zwingen? Warum sollte das im Fall der Ukraine gegen Putins Rußland nicht ein zweites Mal funktionieren? Aber da das Sozialistische Lager inzwischen zum hybriden anti-‘westlichen‘ Lager bestehend aus China, Rußland und einigen Staaten der ‚Dritten Welt‘ mutiert ist und sich in seiner Zusammensetzung ständig ändert, ist es als Feind des ‚Westens‘ schwer greifbar. Das griechische Pendant zur deutschen Partei Die Linke, Syriza, läßt sich geschickt vom ‚Westen‘ aushalten, betreibt aber gleichzeitig eine Politik der Spaltung Europas, die hervorragend in Putins Konzept einer aggressiven Vorwärts-Strategie paßt.

Hinzukommt, daß heute, wie vor 80 Jahren, jeder Kapitalist und jeder Staat in der Weltwirtschaftskrise sich selbst der Nächste ist und gleichzeitig die aktuellen und potentiellen Welthegemonialmächte diese Krise nutzen, um ihre Weltmarkt- und Weltmachtposition als zukünftige Number One zu festigen oder wie im Falle Chinas überhaupt erst zu begründen. Aus chinesischer Perspektive befindet sich Rußland – für die Europäer mag der entgegengesetzte Eindruck entstanden sein – in der Rolle des Juniorpartners Chinas. Schon im Krieg der westlichen Allianz gegen die afghanischen Taliban konnte China in seinem südasiatischen Hinterhof punkten, obwohl es in seinen Westprovinzen ebenfalls mit (uigurischen) Islamisten konfrontiert ist, gegen die mit brutaler Entschlossenheit ein ‚Volkskrieg‘ geführt wird. Aus dem selben Grund wird das Assad-Regime mit politischen, diplomatischen, militärischen Mitteln von China, Rußland und nun auch den USA künstlich am Leben erhalten und vor der Arabischen Revolution geschützt. Die USA müssen in Zukunft einen Zweifrontenkrieg gleichzeitig im Atlantik und im Pazifik, im Nahen wie im Fernen Osten vermeiden. Von der Seite, der es gelingt, die andere einzukreisen, kann diese leichter vernichtet werden. In dieser Konstellation scheint sich Europa in der Mausefalle zu befinden; es kann nur darauf setzen, daß Rußland und China wegen Europa in Streit geraten, der sino-sowjetische Konflikt zu neuem Leben erwacht und China eine russische Hegemonie über die eurasische Landmasse vom Atlantik zum Pazifik auf die Dauer nicht dulden wird.

Rußland ist zunehmend, wie bereits von Lenin befürchtet, von einer europäischen zu einer (halb-)asiatischen Weltmacht und das übrige Europa zu einem Anhängsel der USA und Chinas geworden. Hitler meinte den Krieg gegen seine Erzfeinde, die USA und das jüdische Kapital, nur gewinnen zu können, wenn er die Weiten der Ukraine und Belorußlands nach der Versklavung, Vertreibung und Vernichtung der dort lebenden Bevölkerung mit den überzähligen deutschen Bauernsöhnen hätte besiedeln und zur Kornkammer Europas machen können. Putin benötigt das industrielle know-how Europas, um den Rhein zur deutschen Wolga zu machen, so wie Hitler die Wolga zum Mississippi Eurasiens machen wollte.

Was auch immer geschehen wird, eines ist sicher: Europa wird (schon zum wievielten Mal?) nicht mehr das sein, was es bisher war.

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