Reaktionen 

Reaktionen (2002)

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Die an dieser Stelle wiedergegebenen feedbacks zum Projekt Partei Marx haben im Augenblick nur archivalischen Wert, da die eingangs geäußerte Faszination an demselben, bis auf die nachstehend dokumentierten Ausnahmen, fast auf Null gesunken ist.

Daher verweisen wir auf die REFLEXIONEN, KRITIK und DEBATTE, worin wir uns mit unseren Kritikern und Autoren kritisch auseinandersetzen, die zu der Thematik, mit der wir uns zu beschäftigen haben, in, wie wir meinen, besonderer Weise hervorgetreten sind.

Zu Dokumentationszwecken wurden einige Briefe aus der Zeit vor 2001 aufgenommen.

In der letzten Zeit (seit dem Frühjahr 2007) haben die REAKTIONEN den einseitigen Charakter einer Art ‚Flaschenpost’ angenommen, die, so ist zu hoffen, wieder einem regeren Meinungsaustausch Platz machen wird.

[Korrekturen sinnentstellender Fehler sowie Kürzungen werden in eckige Klammern gesetzt und folgen der klassischen Deutschen Rechtschreibung.]

Dieser Text ist auch als PDF-Datei verfügbar

 


An Django (10.01.2002):

An der Art Deiner Einwände ist mir aufgefallen, daß Du sehr abstrakt argumentierst oder, wie es mal früher hieß, ‚formalistisch‘ (ein Ausdruck, den ich nicht gerne benutze, weil derjenige, der ihn als Waffe gegen seine Feinde verwendet hatte, selbst der größte Formalist war – Du weißt, wen ich meine: unsern guten Jossip…). All diese Kosten-Nutzen-Kalküle zeichnen sich doch dadurch aus, daß sie mit dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft sehr oberflächlich umgehen oder besser: beides dichotomisch zu einander in Beziehung setzen.

Bei meiner Beschäftigung mit K[arl]. M[arx].s Kapital ist mir an mir selbst aufgefallen, daß ich bestimmte Überlegungen einfach deshalb zunächst nicht verstanden hatte, weil ich von dem Marxschen Argumentationsstil abweichend die Sache mit Hilfe eines erlernten Schematismus zu verstehen hoffte. (Wir sind ja damit aufgewachsen, mit gegebenen Begriffen und Schemata zu argumentieren, deren Ursprünge und Voraussetzungen nicht hinterfragt wurden oder werden sollten) Was diesen Argumentationsstil auszeichnet ist, daß K.M. seine Darstellung Schritt für Schritt so entwickelt als bewege er sich durch ein Minenfeld, also nicht stur geradeaus auf sein ins Auge gefaßtes Ziel zugehend, sondern immer wieder zurückblickend und die ganze Sache noch einmal bedenkend nach allen Seiten Ausschau haltend. Dadurch dient auch jeder Rückgriff auf schon Gesagtes als Ausgangspunkt des nächsten Argumentationsschrittes. Der Formalist, der ohne Zögern nach Mitteln und Wegen sucht, die Sache ökonomisch, also zeit- und kraftsparend hinter sich zu bringen, marschiert ohne nach links, rechts oder hinten zu schauen, auf sein Ziel zu.

Der Kommunismus, um auf den Kern Deines Einwandes zu kommen, als „Problemlösungskonzept“ wäre in der Tat ein ziemlich abstraktes Ding nach einem dualistischen Schema: hier haben wir also das Problem und da, schaut her, das „Problemlösungskonzept“, und zwar das von K.M., der den Anspruch hatte, „die neue Welt aus der Analyse der alten zu entwickeln“. (Hat er wirklich positivistisch die „alte Welt“ zuerst „analysiert“, um sie dann zu verändern oder impliziert die – dialektische – Methode seiner Kritik und die damit verbundene politischen Absicht seines theoretischen Hauptwerks nicht bereits die Möglichkeit der Veränderung der Welt? Vielleicht erinnerst Du Dich aus ganz alter Zeit an die „Hauptseite Theorie“: im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis stellt die Theorie (oder je nach Fraktion die Praxis) die „Hauptseite“ dar… Das war ein totes Rennen, weil beide Fraktionen in der Frage des „Parteiaufbaus“ nach einem formalistischen Schema vorgehen wollten, egal ob zuerst die Theorie oder die Praxis angesetzt werden sollte) Hier stellt sich nun die Gretchenfrage nach dem „Realität“sgehalt dieser Analyse und dem „Realität“shaltigkeit der Welt, mit der der Theoretiker konfrontiert ist. […] (Die Philosophie nach Nietzsche und Wittgenstein würde derartige Realitäts-Ansprüche schlichtweg leugnen).

Der Kommunismus ist, seinen theoretischen Realitäts-Anspruch vorausgesetzt, keine Wunschprojektion, keine Erlösungsphantasie („Paradies auf Erden!?“), sondern zu begreifen als eine unbedingt notwendige Konsequenz, die aus den Widersprüchen, den antagonistisch werdenden Konflikten, die die bürgerliche Gesellschaft in sich selber entwickelt und aus sich selbst hervorbringt, zwangsläufig folgt. Diese Widersprüche, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft so wenig aufzuheben sind, wie die Gravitationskraft auf der Erde, hat K.M. „analysiert“ – nicht „die Welt“ – und dabei zu fast hundert Prozent offengelassen, welche Schlußfolgerungen jeweils ‚die Betroffenen‘ daraus zu ziehen haben. In diesem Sinne ist „für Marx die Geschichte offen“ und, so würde ich fortfahren, auf welchem Weg die Menschen zum Kommunismus gelangen werden. Alles andere wäre Utopismus, sozialistisches ‚Opium für das Volk‘; und davon hat es verständlicherweise heute einen Kater, weil in den letzten Jahrzehnten allzu penetrant mit den sozialistischen Weihrauchfässern herumgewedelt worden ist.

Das meine vorläufige Antwort auf Deine Frage, ob es sich bei dem, „was wir ‚Marxisten‘ denken … um Hoffen, Träumerei … Religion, wenn auch hier säkularisiert…“ handelt. Religion wurde daraus entweder durch diejenigen, die aus K.M. einen Utopisten machen wollten oder die den Realitätsgehalt seiner Analyse nur sehr schematisch nachvollzogen und, auf unmittelbar umsetzbare Effekte zielend, den ‚Marxismus‘ als Dogma gepredigt haben. Wissenschaft unterscheidet sich bekanntlich von Religion dadurch, daß ihre Ergebnisse vielfältig interpretierbar und fortzuentwickeln sind; nur, daß es sich bei dieser Wissenschaft von der Gesellschaft (oder wie gesagt, von den immanent unüberwindlichen Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft, es sei denn durch eine soziale Revolution) um eine besondere Wissenschaft handelt, die sich in einem Punkt von allen anderen Wissenschaften dadurch unterscheidet, daß der Experimentator selbst Teil des „Experiments“ ist und daß sich dieses nicht wiederholen läßt, weil die Menschen ihre eigene Geschichte… aber nicht aus freien Stücken (machen), d.h. Geschichte sich nicht wiederholt.

Worin ich demnach nicht mit Deinen Schlußfolgerungen (die Punkte 1 und 2) übereinstimmen würde, wäre, daß Du die „Analyse der Realität“ und die „Befragung … von Marx“ getrennt von einander durchführen willst, während meiner Ansicht nach die „Befragung“ von Marx und „die Analyse der Realität“, wenn der wissenschaftliche Charakter und der Realitätsgehalt seiner „Analysen“ nicht in Frage steht, ein und dasselbe Ding sind. Die marxsche Befragung der Realität ist die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft „ohne Flausen“. Und alle Individuen, die über den Guerillakampf gegen ihre Lohnsklaverei hinausgehend, sich fragen, wohin diese Auseinandersetzung eigentlich führen soll, werden früher oder später auf diese Wissenschaft zurückgreifen müssen wie der künftige Physiker auf die Newtonschen Gesetze, weil darin sein Konflikt als Wesenselement des Kapitalismus in seiner Gesetzmäßigkeit analysiert ist und damit die Möglichkeit, ihn im Sinne der „Emanzipation des Individuums“ aufzuheben. Wie er dagegen die gewonnene Erkenntnis in die gesellschaftliche Praxis umsetzen wird, ist eine ‚Parteifrage‘, d.h. wie es ihm gelingt, das Wesen von der Erscheinung, die echten von den falschen Kommunisten zu unterscheiden und zugleich eine Klassenfrage. Denn jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf und die Organisation der Proletarier zur Klasse eine zur politischen Partei… (MEW 4, 471).

Daß Du, wie auch ich, ein „Nicht-Proletarier“ bist, will, zumindest in unseren Breiten, nur noch wenig besagen, oder wer ist hier noch einer? Wenn der Kapitalismus für den Weltmarkt produziert und sich über den Weltmarkt reproduziert, dann läßt sich dessen Bestimmung auch nur über den Weltmarkt herstellen (MEW 6, 539). Gemessen an der Ausbeutung der chinesischen Zwangsarbeiter und mexikanischen Fließbandarbeiterinnen in den Freien Produktionszonen, sind hier fast alle produktiven Arbeiter an der „Veredelung“ vorproduzierter Halbwaren beteiligt. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts beruht also nach wie vor auf „frühkapitalistischen“ Zuständen – nur, daß sich diese von England aus woanders hin verzogen haben… (Was auf der andern Seite natürlich nicht heißt, daß hier überhaupt kein Mehrwert mehr produziert wird).

[…] Es grüßt herzlich

Ernst-Ulrich


An Partei Marx (31.07.2002):

Ich habe soeben über die Sozialistische Studienvereinigung Deine Website erfahren! Sieht gut aus! Der Zeilenabstand müßte ein bißchen größer sein, denn so ist der Text sehr ermüdend zu lesen. Ich wünsche Dir für den morgigen Tag eine interessante Diskussion.

Ebenso etwas weniger Voreingenommenheit gegenüber dem globalisierten Kapitalismus und seinen von ihm selbst erzeugten Kritikern – es sind übrigens keine Globalisierungsgegner, sondern –kritiker.

Sie sind auch – ich übertreibe – das Einzige, was wir haben und vielleicht seine zukünftigen Totengräber. Mit diesen sollte man pfleglich umgehen und d.h. kritisch, aber nicht verachtend. Das können wir uns nicht leisten und ist auch von der Sache her falsch, denn es ist höchst albern, davon auszugehen, daß die Menschen bereits als Kommunisten geboren werden. Wenn das „linke Krisenmanagement“ die kapitalistische Krise so managt, daß es am Ende vielen Menschen besser geht als heute, dann war es Schweißes der edlen Verräter wert. Und der Kapitalismus hätte wieder einmal seinen Fundamentalkritikern und Katastrophenpropheten den Spiegel ihres Dogmatismus vorgehalten.

Hast Du einmal über die einfache Wahrheit nachgedacht, daß ein System nur verwerflich und aufgrund seiner Widersprüche verwerfbar ist, wenn es den Menschen ein Leben in Menschenwürde verwehrt – dies aber eine ganz konkrete Frage ist! Philosophen neigen von Berufs wegen dazu, von den konkreten Lebensumständen der Menschen zu abstrahieren und sich an ausgedachten Idealen, Überzeugungen und Prinzipien zu berauschen. Für den Slumbewohner in Rio de Janeiro aber ist es schon ein Fortschritt, wenn er fließend Wasser bekommt. Er wird die revisionistische Hilfsorganisation loben und preisen dafür. Demgegenüber wird er von den literarischen Handreichungen der partei Marx nicht satt: Er wäre verhungert, bevor er überhaupt zum Buch greifen könnte. An Revolution gar nicht zu denken.

Vor diesem Hintergrund ist eine Verächtlichmachung des „Überredens zur vernünftigen Regulierung des Elends auf dieser Welt“ eine politische Dummheit und blanker Zynismus zudem; abgesehen davon, daß es sich hierbei um ganz handfeste Kämpfe und mitnichten um Überredungsillusionen handelt, wie jeder sehen kann, der sehen will. Es ist aber auch in der Sache schlicht falsch. Denn das Elend wird ja nicht reguliert, sondern, wenn – so lehrt die historische Erfahrung – der Druck groß genug ist, reduziert.

Und möglicherweise schafft sich der Kapitalismus damit wieder – indem z.B. die konsumtive Nachfrage entgegen der eigentlichen Kapitallogik der Überproduktion (aufgrund des im kurzsichtigen einzelkapitalistischen Profitstrebens liegenden Widerspruchs zwischen Interesse an erweitertem Absatz einerseits und Interesse an Lohndrückerei, also Schwächung der Nachfrage andererseits) gestärkt würde – eine erweiterte Reproduktionsbasis, wie es bereits die englische Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert mit ihrem Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen – im Resultat die Fabrikgesetzgebung – in ihrer völligen Theorieferne und Geschichtsblindheit und ohne irgend einen Philosophen zu fragen, getan hat.

Auf Grund solcher Äußerungen ist es für mich ganz offensichtlich, daß es Dir gar nicht um die konkreten Menschen in ihren elenden Verhältnissen geht, sondern um diese „Spukgesellschaft“, die für den philosophierenden kritischen Kritiker an und für sich des Teufels ist. Jedwede Reform erscheint in diesem Licht zwangsläufig als der hinterhältige Versuch des Systems, sich durch Scheinzugeständnisse zu retten. Interessant und entlarvend dabei ist, daß das tatsächliche Zugeständnis, das konkreten Menschen das Leben etwas erleichtert, nur als Täuschung wahrgenommen werden kann – eben weil der Maßstab nur die Totalität des in der abstrakten Analyse alles für sich, selbst die Menschlichkeit für seine Zwecke letztlich instrumentalisierenden verhaßten Systems ist, nicht das Individuum!

Im Grunde handelt es sich dabei um die negative Anbetung des Systems als dem Subjekt der Geschichte.

Machen die Menschen nicht mehr ihre Geschichte selber?

Wenn sich unter dem Druck einer mächtigen weltweiten Reformbewegung die Dinge zum Besseren wenden lassen, sollten wir das ablehnen? Mit welchem Recht? Welche Gesetzmäßigkeit ist es, die uns dazu ermächtigt? Die, daß der Kommunismus mit Notwendigkeit kommen wird? Also wir in Kenntnis des objektiven Geschichtsverlaufs das arme Arschloch belehren und sagen müssen, daß es gefälligst noch ein paar Jährchen die Zähne zusammenbeißen muß, bevor er nach dem völligen Zusammenbruch der alten (also um den Preis unendlichen Leidens) und dem Aufstieg der Neuen Gesellschaft wie der Phoenix aus deren Trümmern schließlich in das kommunistische Paradies eintreten darf. Welche Beweise gibt es denn für einen solchen Geschichtsdeterminismus?

Historische Tatsache ist, daß der Kapitalismus z.B. der BRD sozialstaatlich reguliert ist, d.h. das Kapital ist nicht völlig frei, seiner ihm inhärenten Logik entsprechend zu agieren. Dies ist u.a. ein Ergebnis reformistischer Kämpfe. Seine Reformfähigkeit ist damit prinzipiell bewiesen. Nicht aber, wie weit er für Reformen in einem emanzipatorischen Sinne ist.

Wenn es im reinen Kapitalismus nur um die Kapitalverwertung geht – also dieser jede Menschlichkeit zum Opfer fällt bzw. untergeordnet ist, dann haben wir es realiter mit einer schmutzigen Version zu tun, in der in einem gewissen Maße Ressourcen via Staat und den Klassenkompromiß zwischen Kapital und Arbeit (Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie) zum Zwecke eines gewissen Wohlstands und einer gewissen sozialen Sicherheit, also der Stabilität des Systems, aber eben auch zum Nutzen vieler Menschen umgelenkt werden. Von den politischen Freiheitsrechten will ich hier nicht reden.

Im Grunde ist die Sache ganz einfach. Wenn die von Dir wegen ihres fehlenden Einblicks in den wahren Geschichtsverlauf verachteten Reformisten Erfolg haben über diese historische Tatsache hinaus (Ich sehe einmal davon ab, daß die Linke sich ja derzeit in der Defensive befindet), dann hat sich der Kapitalismus als weiterhin reformfähig erwiesen – und das solange und soweit, solange und soweit er sich reformieren läßt. Vielleicht schlägt er ja auch erst auf diesem Weg ab einem gewissen Punkt in eine neue Qualität um? Dann wäre er erst ab einem gewissen Punkt antagonistisch, d.h. innerhalb seiner Grenze ein ganz schönes Stück reformierbar, darüber hinaus aber nicht.

Wie dem auch sei: Wir werden es erst wissen, wenn wir es probieren.

Letztlich entschieden wird die Frage von der politisch-gesellschaftlichen Praxis.

„…man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte.“ (Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, EB Erster Teil, Seite 542).

Und ebenso albern ist es – und völlig unmarxistisch – zu glauben, daß man durch das Studium des Kommunistischen Manifestes allein zum marxistischen Kommunisten wird. Das kann man bekanntlich aus den unterschiedlichsten Interessen und Motiven lesen! Der kommunistische Erfolg auf der Grundlage des Kommunistischen Manifestes – was immer man darunter versteht – tritt aber erst dann ein, wenn sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten darin wieder finden, es als Orientierung zu begreifen, danach handeln und diese Orientierung auch noch eine richtige, d.h. realistische ist, d.h. Marx, Engels und ihre Gefolgsleute sich nicht irren in ihrer Analyse. Denn die Elenden auf dieser Welt sind schon oft falschen Propheten auf den Leim gegangen, weil sie in ihrer Verzweiflung für heroische Illusionen anfällig sind.

Übrigens: Wie sieht der Kommunismus eigentlich aus? Das müßtest Du beschreiben können, wenn Du doch davon sprichst, daß er eine unbedingt notwendige Konsequenz ist.

Sei weiterhin herzlich gegrüßt

Django


An Django (03.09.2002):

Leider mußtest Du Dich mit meiner Antwort auf Deine ausführliche Kritik an dem Projekt Partei Marx etwas gedulden. Da Du in Deinem Brief dieses grundsätzlich infrage stellst, war ich meinerseits herausgefordert, eine entsprechende Antwort zu finden, was einige Zeit in Anspruch genommen hat. Daher fange ich auch gleich mit den prinzipiellen Überlegungen an:

Die in Deiner Kritik vertretene Position erinnert stark an den in den 80er Jahren in ganz Westeuropa aufgekommenen Euro-Kommunismus. Die Euro-Kommunisten standen links von der S[ozialistischen] I[nternationale] und verstanden sich als Sozialisten bei gleichzeitiger Kritik an den pro-sowjetischen Beton-Kommunisten. Daß der Euro-Kommunismus in der damaligen Bundesrepublik nicht heimisch werden konnte, hatte unter anderen darin seinen Grund, daß an der Schnittstelle des Kalten Krieges der westdeutsche Kommunismus nur unter der direkten militärischen und geheimdienstlichen Direktive der Sowjetunion agieren sollte. Die in Reaktion darauf in den 70-er Jahren wie Pilze aus dem Boden schießenden ML-Parteien stellten dagegen keine wirkliche Alternative dar, schon weil deren Führungspositionen in den meisten Fällen ebenfalls von ehemaligen Beton-Kommunisten besetzt worden waren (einen neolithischen Rest aus dieser Zeit findest Du heute noch in der MLPD vor).

Der moderne Euro-Kommunismus, den Du in Deiner Kritik an der Partei Marx vertrittst, hat sich nach 1989 aus der Umklammerung der Beton-Kommunisten befreit, allerdings unter Duldung der unter diesem Banner in dieser Strömung überwinternden beton-kommunistischen ‚Einzelpersönlichkeiten‘ und Fraktiönchen, deren Bedeutung mit den Jahren, so rechnet man, naturbedingt abnehmen wird.

Als modernen Euro-Kommunismus würde ich Deine Position aber vor allem deshalb bezeichnen, weil sie mit der modernen Strömung der europäischen radikalen Linken korrespondiert, die zu charakterisieren auf Anhieb nicht so einfach ist. Daraus resultieren meine Schwierigkeiten bei meiner Antwort auf Deine Kritik.

Die europäische radikale Linke setzt sich zusammen aus einerseits den modernen Euro-Kommunisten, die eine Reformpolitik links von den Sozialdemokraten gegen die Auswirkungen des „neoliberalen“ Kapitalismus betreiben, d.h. diesem seine asozialen Allüren austreiben, dessen gewaltiges Modernitätspotential aber (woran es dem Beton-Kommunismus sowjetischer Provenienz immer grundlegend gemangelt hatte) im Interesse der werktätigen Bevölkerung, der künstlerischen und technischen Intelligenz „sozialistisch“ umfunktionieren wollen. Dieser moderne Reformismus, wovon der Tenor Deiner Kritik an dem Projekt Partei Marx bestimmt ist, wird von den übriggebliebenen Vertretern eines scheinbar kompromißlosen Beton-Kommunismus (DKP und Konsorten) verbal in Abrede gestellt, aber als Mittel zum Stimmen- und Dummenfang durchaus in Anspruch genommen. Insofern hattest Du mit Deiner gelegentlich geäußerten Einschätzung recht, daß die politischen Wirkungsmöglichkeiten dieser Fraktion des Kommunismus (zunächst) begrenzt sind. Nun scheinen sich bei ihnen die orthodoxe beton-kommunistische Fraktion mit einer anderen, die sich an den europäischen radikalen Linken orientiert und damit eine moderne Variante des Beton-Kommunismus darstellt, im Clinch zu liegen („Programmdebatte“).

Die Denkweise dieses modernen Beton-Kommunismus basiert (im Gegensatz zu derjenigen der orthodoxen Kommunisten, die als traditionelle Breshnewisten formal am XX. PT der KPdSU als Trennlinie festhalten) unmittelbar auf Stalins institutioneller Konterrevolution von 1934 (die Kinder von Stalin und Milosevic) und könnte (vielleicht gerade deshalb), wenn es ihm gelingt, sich (mit den wachsenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise) zu konsolidieren, zunehmenden Einfluß auf die europäische radikale Linke einschließlich der modernen Euro-Kommunisten nehmen, wodurch dieses historische „Erbe“ entgegen Deiner in dieser Beziehung reduzierten Wahrnehmung durchaus noch nicht zu den Akten zu legen ist.

Das entscheidende Kennzeichen dieses Pseudo-Kommunismus ist, daß seine ‚Revolution von oben‘ (nicht wie zu Lenins Zeiten revolutionär, sondern) konterrevolutionär durchgesetzt wird. Oder anders gesagt: war Stalins Putsch von 1934 eine Konterrevolution in der Revolution, so hätten wir von dem modernen Pseudo-Kommunismus eine Revolution in der Konterrevolution zu erwarten nach dem bekannten Muster, wonach mit dem Export der Revolution die Konterrevolution gleich mitgeliefert wird. (Einiges dazu könntest Du, wenn Dein Interesse für solche historischen Klamotten nicht so gering wäre, der home-page entnehmen).

Ich habe nun bei meinen Versuchen, mich mit Deiner Kritik auseinanderzusetzen, feststellen müssen, daß ich, entgegen meinen ursprünglichen politischen Überlegungen, wonach der moderne Euro-Kommunismus weit weniger konterrevolutionär (weil nur im üblichen bürgerlichen Sinn anti-kommunistisch) ist als der Pseudokommunismus, nicht darüber hinaus kam, die von Dir vertretene Reformpolitik (die nichts desto trotz bürgerliche caritas bleibt) anders als mit pseudokommunistischen Argumenten (seien sie auch mit Lenin und Mao unterfüttert) zu kritisieren.

In dem gleichen Dilemma, das nach Engels nur aufzulösen ist, wenn man es verläßt, verharrt in ständig bewegtem Stillstand die europäische Linke, ohne dieses allerdings als Manko zu empfinden: die modernen Euro-Kommunisten nicht, die nichts dagegen haben, daß sich ihre pseudokommunistischen Reformismus-Kritiker in ihren Selbstwidersprüchen totlaufen; die Pseudo-Kommunisten ebensowenig, die den Reformismus, den sie bei den Euro-Kommunisten kritisieren selbst als Taktik anwenden, um die Akzeptanz ihrer mit revolutionären Mitteln betriebenen Konterrevolution in der widerstrebenden Bevölkerung nach dem Muster der DDR zu erhöhen. Nur die Globalisierungsgegner verleihen diesem bewegten Stillstand mit einer aus den 60er Jahren entlehnten revolutionären Folklore scheinrevolutionäre Bewegtheit (wobei der bei jungen Leuten noch als authentisch, weil spontan in Erscheinung tretende Philanthropismus von den Altlinken für ihre Zwecke instrumentalisiert wird; vgl. die peinliche Unterhaltung des Trotzkisten Alex Callinicos mit Funktionären von Tute Bianchi auf einer der von Dir empfohlenen Websites). So bleibt nur noch die Frage spannend, wann die modernen Beton-Kommunisten, das beschriebene Reformismus-Dilemma verlassen werden, nachdem die Richtung durch ihre offene Sympathie für das anti-amerikanische Polit-Gangstertum von Leuten wie Milosevic, Kutschma, Lukaschenka, Mugabe, Chavez, etc seit langem entschieden ist.

Einen ersten Schritt auf dem langen Marsch, das besagte Dilemma auf revolutionäre Weise zu verlassen, findest Du [in folgendem]: Wenn, wie Lenin vielleicht heute sagen müßte, der Opportunismus in der revolutionären Arbeiterbewegung so tief in ihrer eigenen unbewältigten Historie verankert ist, dann hat jeder ernsthafte Versuch zu ihrer Reorganisation zu allererst darin zu bestehen, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie es zu dieser in ihrer Abgefeimtheit historisch unüberbotenen und damit auch neuen Form des ‚Opportunismus‘ in Gestalt der von Stalin zuerst verwirklichten revolutionären Konterrevolution kommen konnte, die sich gegenwärtig der europäischen Linken als Taktik zum Ausstieg aus ihrem eigenen Dilemma perspektivisch anbietet. Den alten dereinst von Lenin kritisierten Opportunismus zu durchschauen, ist inzwischen zur Volksweisheit abgesunken, die die Pseudokommunisten wortradikal wiederkäuen, ohne dem einen neuen Gedanken hinzufügen zu können. Den neuen Opportunismus durchschaubar zu machen, scheint nur den Allerwenigsten zu gelingen. Und zwar nur dann, wenn sie nach der Empfehlung von Friedrich Engels das besagte Dilemma und mit diesem die Linke, die es hegt und pflegt, verlassen.

Da Du Dich zu dem Projekt Partei Marx ‚in der Hauptsache‘ nicht geäußert, sondern Dich an einem Epiphänomen, der Kritik an den Anti-Globalisierern, hochgezogen hast, weiß ich leider nicht, in welcher Richtung Du das Dilemma, in dem Dein Euro-Kommunismus steckt, verlassen wirst.

Denn zu erwarten ist, daß mit der Verschärfung der globalen Krise des Kapitalismus und der akut drohenden Verwandlung des anti-islamistischen Verteidigungskriegs der ‚westlichen Welt‘ in einen Rassenkrieg der moderne Euro-Kommunismus zwischen Pseudokommunismus und Welt-Kapitalismus zerrieben wird, weil er nicht in der Lage ist, das Dilemma, zwischen Reformillusionen und Polit-Gangstertum hin- und hergerissen zu werden, zu beseitigen. Vielleicht wirst Du Dich dann an das Projekt Partei Marx erinnern.

Sei ebenfalls weiterhin gegrüßt […]!

Ulrich


Anmerkung zum kommentierten Veranstaltungs-Protokoll

[„Bericht ‚Partei Marx’…“ [1]] (10.11.2002):

Lieber Peter Christoph,

vielen Dank für die heutige E-Mail und das Protokoll!

Zunächst zum Protokoll: ich finde es sehr gut und bemerke, daß es auf eine Seite der Partei Marx eingeht, die Du als „Parteibildungsprozeß“ (wie bereits auf der Veranstaltung) bezeichnest. Diese Frage stand in der später zurückgestellten Urfassung dieses Projekts stärker im Vordergrund. Aber inzwischen, bin ich selbst darauf gekommen, sie nicht völlig außen vor lassen zu können. Andererseits liegt es nun einmal in der Natur der Sache, daß dazu noch vieles unentschieden bleiben muß, zumal der „Parteibildungsprozeß“ nicht an meinem oder Deinem Schreibtisch entschieden wird.

[So] … zielt die Neuschreibung der Geschichte der Partei Marx auf eine sich durch die Weltwirtschaftskrise mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ergebende neue Formierung der Arbeiterbewegung jenseits der tradierten Formationen. Dabei würde sich die deutsche Arbeiterbewegung mit gutem Gewissen so nur nennen dürfen, wenn sie sich positiv auf das über den Weltmarkt erzeugte (Welt-) Proletariat bezieht, genauer: wenn sie sich als der privilegierter Teil der im Weltmaßstab von der Welt-Bourgeoisie erzeugten Klasse begreift und nur dann! Das setzt eine Menge proletarischer Bewußtseinsbildung (eine Menge „Kritik am Gothaer Programm“) voraus, und wie wir sehen, agieren die in der Tradition der Dritten (und Vierten) Internationale ‚real existierenden‘ Arbeiterparteien genau entgegengesetzt dazu.

Bei aller Borniertheit, in der die deutsche/(n) Arbeiter/(klasse) von den ‚Arbeiterparteien‘ gehätschelt werden/(wird), muß der erste Schritt zu einer solchen Bewußtseinsbildung bei der Beantwortung der einen Frage ansetzen: was machen die Kommunisten anders als was in der DDR (SU o. ä.) gemacht worden ist und zum Beispiel am 17. Juni (der von der Bourgeoisie weidlich ausgeschlachtet worden ist) zur Entscheidung gestanden hat? Dazu müssen die Parteigänger der Partei Marx notgedrungen tief in die historische Kiste greifen, weil durch die üblichen linken Erklärungen die Fragenden entweder mit klassischer DDR-Propaganda („Konterrevolution“) oder mit sozialdemokratischen Trauergesängen abgespeist werden. Wenn Du so etwas als „theoriepraxis“ bezeichnest, o.k.! Darüber hinaus bleibt dieser Begriff mir noch reichlich unklar.

Der Abstieg der (klein-)bürgerlichen Intelligenz in das ‚Proletariat‘ war ohne Zweifel politisch eine Katastrophe: wie dereinst die russischen Bauern haben sich die deutschen Arbeiter an die Birne gepackt und die Absteiger gefragt, wie man so blöd sein kann und darauf verzichtet, seine Qualifikation als bürgerlicher Intellektueller nicht entsprechend zu versilbern. Während der Ausstieg aus dem Proletariat wiederum besonders zielstrebige (Polit-)manager hervorgebracht hat, die, weil sie mit allen Wassern in der Parteiintrige und der Propaganda gewaschen sind, die üblichen Aufsteiger um Längen überragen. Sonst ist dabei nichts herausgekommen. Den Universalgelehrten, der für die selbst denkenden Arbeiter eine wissenschaftliche Erklärung des Kapitalismus in radikaler Abgrenzung zu den gängigen Gebrauchsanweisungen der Profitmaximierung liefert und als solcher von der Arbeiterbewegung kooptiert wird, gibt es nicht mehr, kann es wahrscheinlich nicht mehr geben. Wenn solche Seitenwechsel vorkommen, landen diese Intellektuellen bei einer der traditionellen Arbeiterparteien, schon um ‚links‘ und bürgerlicher Intellektueller bleiben zu können.

Wir können die „Parteibildung“ nur mit dem ‚Kadermaterial‘ (ein wunderschöner Ausdruck!) bestreiten, das historisch/biographisch aus dem Umschmelzungsprozeß des „kurzen Jahrhunderts“ von Revolution und Konterrevolution als widerständiger Bodensatz übrig geblieben ist…

Wenn vom „Parteibildungsprozeß“ zu reden ist, dann in diesem konkreten Sinn, wobei er sich wohl komplizierter gestalten wird als diejenigen sich das vorstellen, die sich vor die Tore des Opelwerks stellen und der Arbeiterklasse den ‚Sozialismus‘ durch das Auslegen von ökonomistischen Leimruten schmackhaft machen wollen. Mit all unseren kleinbürgerlichen Krämpfen und Traumata sind wir schon mitten drin in diesem „Parteibildungsprozeß“, wenn wir aufhören, uns über uns selbst wie über diese äußerst ’schwierige Abteilung‘ des Welt-Proletariats irgendwelchen Illusionen hinzugeben…

Abgesehen von diesen näher zu bestimmenden Begriffen habe ich keine Probleme mit Deinem Protokoll; im Gegenteil: es ergänzt ein wichtiges von mir mehr oder weniger absichtlich beiseite gelassenes Problem.

[…]
Herzliche Grüße

Ernst-Ulrich

1) Text des Vortrags siehe: KRITIK 1, ANHANG 2


An Django (09.12.2002):

Vielen Dank für die freundliche Einladung [nach Porto Alegre]. Abgesehen von den finanziellen (Weihnachtsurlaub) sind Dir meine politischen Erwägungen hinlänglich bekannt, sodaß ich meine Absage nicht näher begründen muß.

Die gelegentlichen E-Mails habe ich erhalten und mir die j[unge] W[elt] einige Male gekauft. Abgesehen davon, daß sie als Sprachrohr der PDS-Minderheit ganz informativ ist, hat mich das Niveau ein wenig enttäuscht. So lese ich am Wochenende abwechseln ND und jW.

Vielleicht noch ein Hinweis: ein Brief von K[arl]. M[arx]. aus dem Jahre 1881 an Nieuwenhuis, auf den ich gerade gestoßen bin und [der] mir, was Deinen Vorschlag betrifft, sehr aus der Seele spricht (MEW 35, 160f.) [1]

Herzliche Grüße

Ulrich

1) »Die Frage des bevorstehenden Züricher Kongresses [Sozialistischer Weltkongreß vom 02.-04.10.1881 in Chur], die Sie mir mitteilen, scheint mir – ein Fehlgriff. Was in einem bestimmten gegebnen Zeitmoment der Zukunft zu tun ist, unmittelbar zu tun ist, hängt natürlich ganz von den gegebnen historischen Umständen ab, worin zu handeln ist. Jene Frage aber stellt sich im Nebelland, stellt also in der Tat ein Phantomproblem, worauf die einzige Antwort – die Kritik der Frage selbst sein muß. […] Nach meiner Überzeugung ist die kritische Konjunktur einer neuen internationalen Arbeiterassoziation noch nicht da; ich halte daher alle Arbeiterkongresse, resp. Sozialistenkongresse, soweit sie nicht auf unmittelbare, gegebne Verhältnisse in dieser oder jener bestimmten Nation beziehn, nicht nur für nutzlos, sondern für schädlich. Sie werden stets verpuffen in unzählig wiedergekäuten allgemeinen Banalitäten.«

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